Schule der Schatten  - Die lautlosen Kämpfer - Andreas Langer - E-Book
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Schule der Schatten - Die lautlosen Kämpfer E-Book

Andreas Langer

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Beschreibung

Gehemnisvolle Einladung ins Ninja-Internat

Nori, Tenzo, Ryu und das Mädchen Asa werden zur Ausbildung in die »Schule der Schatten« eingeladen, wo der erfahrene Lehrmeister Sensei Okuse sie zu Ninja ausbilden will. Bei den ersten Lektionen geht es darum, »unsichtbar« zu werden. Um sich überall unbemerkt anschleichen zu können, müssen die Schüler die Umgebung ganz genau beobachten und unauffällige Fortbewegungsmethoden lernen. Bei einem Botengang für ihren Lehrmeister sehen die Schüler, wie ein Trupp feindlicher Männer aus dem Nachbarreich den Pferdehändler Kuro überfällt. Um den Freund ihres Lehrmeisters zu retten, müssen die vier die eben erst gelernten Lektionen anwenden ...

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Seitenzahl: 216

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ANDREAS LANGER

DIELAUTLOSEN KÄMPFER

Mit Illustrationen von Ulla Mersmeyer

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2021 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München)

Lektorat: Hjördis Fremgen

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski

Innenillustrationen: Ulla Mersmeyer

hf · Herstellung: bo

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27016-2V001www.cbj-verlag.de

Isantaj ist kein großes Land. Zwei, vielleicht drei Wochen – länger braucht niemand, um es zu Fuß zu durchqueren. Und dabei spielt es keine Rolle, welche Richtung man einschlägt. Es kommt nur darauf an, was man am Ende der Reise sehen möchte.

Denn während Isantaj im Norden, Süden und Westen von Meer umgeben ist, findet man im Osten nur noch Berge. Und hinter diesen Bergen liegt Kazara, ein weitaus größeres und mächtigeres Reich, als Isantaj es je war.

Im Augenblick herrscht Frieden zwischen den beiden ungleichen Ländern. Doch das war nicht immer so. Und wie Ninja-Meister Okuse fürchtet, wird es auch nicht ewig so bleiben …

Die erste Lektion

Nori blinzelte einmal, zweimal. Spielten seine Augen ihm einen Streich? Wie es den Anschein hatte, taten sie das nicht. In nicht allzu weiter Ferne war wirklich jemand zu sehen. Nori warf seinen Rucksack wieder über seine Schulter und beschleunigte seine Schritte.

Sechs Tage war es nun her, dass er sein Heimatdorf verlassen hatte. Sechs Tage, in denen er weit mehr von Isantaj gesehen hatte als in den dreizehn Jahren zuvor. Aber je länger er über staubige Wege und an endlosen Reisfeldern vorbeigewandert war, umso einsamer hatte er sich gefühlt. Das letzte Dorf lag schon Tage hinter ihm und die letzte Begegnung beinahe ebenso lange. Aber das da vorne war wirklich und wahrhaftig ein Mensch. Ein Mensch, der auf einem Pferd ritt. Vor allem aber ein Mensch, den er nach dem Weg fragen konnte.

Nori war seinem Ziel schon sehr nahe. Das verrieten ihm die Berggipfel, die am Horizont hoch aufragten. Aber wohin genau er sich nun wenden musste, um sein Ziel zu erreichen, das wusste Nori nicht. Und was noch schlimmer war: Die Zeit drängte. Bis zum Abend musste er sein Ziel erreicht haben.

Der Mann, auf den er zügig zuging, war mittleren Alters und saß auf einer kräftig gebauten Stute. Auf dem Kopf trug er einen Strohhut. Bekleidet war er mit einem einfachen Kittel und einer grob gewebten Hose. Nori war erleichtert. Der Kleidung nach zu urteilen, hatte er einen Bauern vor sich. Und vor einem Bauern brauchte er sich nicht zu fürchten.

Nori dachte an seine Eltern. Auch sie waren Bauern, die ihre Tage mit dem Reisanbau und der Viehzucht verbrachten. Nori hatte nichts gegen dieses Leben. Aber er wollte nicht werden wie sein Vater. Er wollte werden wie sein Großvater.

»Seid gegrüßt, Herr«, sprach Nori den Mann an und verbeugte sich leicht.

»Ich grüße dich auch, mein Junge«, erwiderte der Fremde freundlich. »Sag, was führt dich in diese entlegene Gegend?«

»Ich suche einen bestimmten Ort«, sagte Nori. »Die Schule der Schatten.«

Der Fremde zog eine Augenbraue hoch und musterte ihn misstrauisch. »Die Schule der Schatten … Warum suchst du sie?«

»Ich will ein Schatten werden. Genau wie mein Großvater«, platzte es aus Nori heraus.

»Hmm«, brummte der Mann und schwieg dann.

Nori fühlte sich auf einmal unsicher.

»Hast du denn eine Einladung in die Schule der Schatten bei dir?«, wollte der Mann wissen.

»Ja, die habe ich«, beeilte sich Nori zu sagen.

»Aber offenbar hast du sie nicht richtig gelesen«, antwortete der Fremde ernst. Dann schwang er sich aus dem Sattel. »Nun, in diesem Fall wird es Zeit für deine erste Lektion. Und die lautet: Sprich niemals mit Fremden über die Schule der Schatten! Niemals, hörst du!«

Die letzten Worte schrie er beinahe und Nori zuckte unwillkürlich zusammen.

Der Mann hatte recht. In Noris Einladung war ausdrücklich die Rede davon, dass er über die Schule der Schatten mit niemandem außer seinen Eltern sprechen dürfe. Und da stand auch, dass die Wegbeschreibung auf der Rückseite der Einladung einzig und allein für ihn bestimmt war – so geheim war dieser Ort, den er so dringend suchte.

Und eigentlich wusste Nori das auch. Er hatte das wenige, was auf dem Stück Papier stand, ja dutzendfach gelesen. Wenn nicht noch öfter. Doch er hatte es nicht beachtet. Nicht jetzt, da die Zeit mehr und mehr drängte und seine Zweifel, ob er auf dem richtigen Weg war, von Minute zu Minute wuchsen.

Der nur für ihn bestimmten Wegbeschreibung zufolge befand sich die Schule der Schatten in einem kleinen Tal zwischen mehreren Bergen. Die Frage war nur: zwischen welchen Bergen?

Auf einmal kam Nori ein Gedanke. Der Fremde hatte von seiner ersten Lektion gesprochen. Die erste Lektion … Bedeuteten diese Worte womöglich, dass die einfache Kleidung des Mannes nur eine Tarnung war? Könnte dieser Mann in Wahrheit gar kein Bauer sein, sondern der Ninja-Meister, von dem ihm einst sein Großvater erzählt hatte und den er nun so dringend suchte?

Nori schaute sein Gegenüber mit großen Augen an. »Seid Ihr Sensei Okuse?«

Der Mann erwiderte seinen Blick. Dann verfiel er in schallendes Gelächter. »Ob ich der Sensei bin? Das ist gut!«, prustete er los. »Das ist wirklich gut!«

Schlagartig verfinsterte sich Noris Miene.

»Tut mir leid«, entschuldigte sich der Fremde, noch immer lachend. »Aber für den Sensei hat mich noch niemand gehalten.« Belustigt schüttelte er den Kopf. »Ich bin Kuro, ein einfacher Pferdezüchter.«

Nori wäre am liebsten im Boden versunken. Er ärgerte sich maßlos über seine dumme Vermutung und seine dämliche Frage.

»Doch wie es der Zufall will«, sagte Kuro, noch immer grinsend, »bin ich ein guter Bekannter von Sensei Okuse.«

»Ihr kennt ihn also?« Nori schöpfte neue Hoffnung.

Kuro nickte. »Das tue ich. Aber sag mir erst, wie du heißt, mein junger, unbedachter Freund.«

»Nori. Ich heiße Nori.«

»Gut, dann hör mir zu, Nori.« Kuro wurde mit einem Mal wieder ernst. »Was ich vorhin gesagt habe, würde dir auch Sensei Okuse sagen: Sprich niemals mit einem Fremden über diesen Ort, den du zu finden hoffst. Niemals!« Er sah Nori eindringlich an. »Die Schule der Schatten liegt nicht ohne Grund zwischen Bergen versteckt. Sie soll nicht gefunden werden, verstehst du? Jedenfalls nicht von Leuten, die dort nichts zu suchen haben.« Er musterte Nori aufs Neue. »Aber ich nehme an, das gilt nicht für dich. Wärst du so freundlich, mir deine Einladung zu zeigen?«

Nori zögerte. »Nein«, antwortete er dann, »sie ist nicht für Euch bestimmt.«

Kuro lächelte zufrieden. »Gut, wie ich sehe, hast du aus deinem Fehler von eben gelernt. Aber keine Sorge, ich will nicht lesen, was auf der Einladung steht. Ich will nur die Unterschrift des Senseis sehen. Den Rest kannst du gerne mit deinen Händen abdecken.«

Nori überlegte. »Kennt Ihr denn die Unterschrift des Senseis?«

»Allerdings«, gab Kuro zur Antwort. »Ich würde sie unter Tausenden erkennen.«

Nori entschloss sich, Kuro beim Wort zu nehmen. Er schnallte seinen Rucksack ab und holte das mittlerweile schon reichlich zerknitterte Stück Papier hervor.

Ein Bote hatte es ihm vor etwa zwei Wochen überbracht. Zunächst war Nori felsenfest davon überzeugt gewesen, dass es sich um einen Irrtum handelte. Dass der große, dürre Mann, der auf einem Maultier dahergeritten kam, schlichtweg das falsche Haus erwischt hatte. Doch dann hatte Nori seinen Namen auf dem Papier gelesen und wäre fast in Ohnmacht gefallen. Die Botschaft war wirklich für ihn bestimmt gewesen – und sie war nicht weniger als eine Einladung in die Schule der Schatten. Nie zuvor in seinem Leben war Nori so stolz gewesen.

Am liebsten wäre er auf der Stelle aufgebrochen. Doch zuerst hatte er seine Eltern überzeugen müssen. Sein Vater und seine Mutter hatten ihn nicht gehen lassen wollen. Ein Leben als Bauer sei keine Schande, hatte sein Vater gesagt. Aber Nori war nicht umzustimmen gewesen, und schließlich hatten seine Eltern eingesehen, dass es keinen Zweck hatte.

Und nun stand er hier, am Rande von Isantaj, und hielt einem Pferdezüchter jenes Papier hin, das innerhalb von wenigen Tagen sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatte.

Wie Kuro ihm geraten hatte, deckte Nori die Vorderseite der Einladung so mit den Händen ab, dass nur der Name von Sensei Okuse zu sehen war.

Kuro warf einen Blick darauf und nickte sofort. »Das ist die Unterschrift des Senseis. Du kannst die Einladung wieder wegstecken.«

Nori gehorchte.

»Ich bin noch nie dort gewesen, in der Schule der Schatten«, sagte Kuro nachdenklich. »Ich weiß auch nicht, wo genau sie liegt. Aber eines weiß ich: Du bist deinem Ziel näher, als du glaubst.«

»Tatsächlich?« Noris Augen weiteten sich.

»Tatsächlich«, sagte Kuro ernst. »Aber du musst dich sputen, Nori. Du weißt, dass der Unterricht morgen beginnt?«

»Ja«, sagte Nori mit gesenktem Blick, »das weiß ich.« Dann sah er mit einem Mal vom Boden auf. »Aber woher wisst Ihr das?«

»Nun ja, ich bin ein guter Bekannter von Sensei Okuse«, wiederholte Kuro. »Er reitet eines meiner Pferde. Und seine Schüler tun dasselbe – zum Unterricht in der Schule der Schatten gehört nämlich auch das Reiten.« Dann sagte er erst einmal nichts mehr, sondern kratzte sich ausgiebig am Kinn.

»Na schön«, murmelte er schließlich, »das habe ich zwar noch nie getan, aber es gibt ja für alles ein erstes Mal, nicht wahr, Nori?«

»Ich verstehe nicht, was Ihr meint«, sagte Nori ehrlich.

»Natürlich nicht«, erwiderte Kuro schmunzelnd. »Aber das wirst du bald.« Er klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. »Komm mit, ich bringe dich auf den rechten Weg.«

Als sie am Fuß des lang gezogenen Bergrückens angekommen waren, blieb Kuro unvermittelt stehen. Nori verstand nicht recht, warum. Vor ihnen befand sich lediglich dichtes Gebüsch. Doch dann schob Kuro die Zweige eines Bambusstrauches zur Seite und ein schmaler Trampelpfad kam zum Vorschein.

»Wie ich schon sagte, Nori …« Kuro lächelte. »Du bist deinem Ziel näher, als du dachtest.«

»Hier muss ich hoch?«, fragte Nori ungläubig.

»Das ist dein Weg«, sagte Kuro und deutete auf den schmalen Pfad, der sich zwischen Sträuchern und Bäumen versteckt nach oben schlängelte. »Nicht, dass ich ihn schon einmal gegangen wäre. Aber ich weiß, dass er dich an dein Ziel bringen wird. Und das«, sagte Kuro ernst, »ist mehr, als die meisten wissen.«

Nori blickte zum Gipfel. »Kann ich sie von dort oben sehen, die Schu…« Er hielt inne. »Kann ich den Ort, den ich suche, von dort oben sehen?«

»Das weiß ich nicht, Nori«, erwiderte Kuro. »Aber ich nehme an, dass du mein kleines Haus sehen kannst, wenn du zurück nach Norden schaust. Es liegt unweit der Landstraße nach Kazara.« Er machte eine Pause. »Obwohl Tausende Stablängen zwischen uns liegen, sind Sensei Okuse und ich doch gewissermaßen Nachbarn. Außer uns hat sich niemand hier im Nirgendwo niedergelassen.«

»Ich werde Ausschau halten nach Eurem Haus«, versprach Nori. »Und vielen Dank. Für alles.«

Kuro nickte ihm freundlich zu, dann stieg er auf sein Pferd. »Ich denke, wir werden uns wiedersehen.« Ohne ein weiteres Wort galoppierte er davon.

Nori blickte ihm noch eine Weile nach, dann bog er auf den versteckten Pfad ein. In gewisser Weise war er stolz, dass er die Wegbeschreibung doch richtig gedeutet hatte und nicht blind durch die Gegend geirrt war. Andererseits musste er sich eingestehen, dass er diesen versteckten Pfad ohne Kuro wohl nicht gefunden hätte. Er musste aufmerksamer werden, so viel stand fest.

Nori setzte Fuß vor Fuß, während er seinen Gedanken nachhing und über das grübelte, was hinter ihm lag, und das, was kommen würde. Als er schließlich den Gipfel erreichte, blickte er gespannt nach unten. Doch von der Schule der Schatten war noch nichts zu sehen, zu hoch ragten die Nadelbäume auf dieser Seite des Berges auf.

Nori wollte schon weitergehen, als er sich der Worte des Pferdezüchters erinnerte. Er schaute in die Richtung, aus der er gekommen war, und konnte tatsächlich die Landstraße sehen, die in der einen Richtung tiefer nach Isantaj und in der anderen Richtung nach Kazara führte. Aus dieser Entfernung war die Straße nicht mehr als ein langer, dunkelgelber Strich, der im Osten zwischen den Bergen verschwand.

In der Nähe dieses Strichs, nicht weit von den Bergen, befand sich ein kleiner schwarzer Punkt. Das musste Kuros Haus sein. Sie würden sich wohl wiedersehen, hatte Kuro gesagt. Nori hoffte, dass der Pferdezüchter recht behalten würde. Er hoffte, dass seine Schulzeit nicht schon vorbei sein würde, wenn die anderen mit dem Reitunterricht begannen. Und er hoffte, dass er das Zeug mitbrachte, um ein Ninja zu werden.

Nachdenklich machte er sich an den Abstieg. Eine ganze Weile verlief der Trampelpfad zwischen hoch aufragenden Sicheltannen und Bergkiefern. Schließlich aber lichtete sich der Bewuchs. Stellenweise machten die Bäume Platz für dichte, aber niedrige Sträucher, die den Blick freigaben auf das, was sich weiter unten befand.

Eingerahmt von Bergen lag ein kleines Tal, in dem sich grüne Wiesen mit sorgsam angelegten Reisfeldern abwechselten. Und inmitten des Grüns befanden sich einige Gebäude. Das musste sie sein, die Schule der Schatten.

Nori fragte sich, wie viele Menschen wohl von diesem Ort wussten. Oder vielmehr: wie wenige. Denn um zu ahnen, was sich zwischen diesen Bergen verbarg, musste man schon einen von ihnen erklimmen – und dazu hatte in dieser abgelegenen Gegend wohl niemand einen Grund. Nori verstand augenblicklich, warum Sensei Okuse dieses Tal für seine Schule gewählt hatte. Für einen Ort, der geheim bleiben sollte, gab es wohl kaum einen besseren Platz.

Jetzt, wo er sein Ziel endlich vor Augen hatte, hielt Nori nichts mehr – außer den eigenen Zweifeln, die tief in ihm steckten. Würde er sich als gut genug erweisen? Hatte er, wie er glaubte, das Talent seines Großvaters geerbt? Oder wäre er doch besser beraten, wie sein Vater Felder zu bestellen? Nori schluckte. Hier oben, auf dem Berg, würde er die Antworten auf seine Fragen nicht finden, sondern nur dort unten im Tal. Er gab sich einen Ruck und ging weiter. Seine Gedanken kreisten ausschließlich um sein Ziel, dem dorthin führenden Weg schenkte er kaum Beachtung. Und so übersah er eine aus dem Boden ragende Wurzel, blieb hängen, verlor das Gleichgewicht und kippte vornüber.

Der plötzliche Schmerz in seinem rechten Knie ließ Nori laut aufschreien. Mit seiner Kniescheibe war er auf einen spitzen Stein aufgeschlagen. Nach einer Schrecksekunde rappelte er sich langsam auf und krempelte vorsichtig seine Baumwollhose hoch. Sein Knie war noch nicht geschwollen, blutete jedoch ziemlich stark.

Nori ärgerte sich über sich selbst. Schon wieder war er nicht aufmerksam genug gewesen. Er hatte sich in Gedanken verloren, statt auf den Weg zu achten. Fluchend und schimpfend drückte er den Stoff seiner Hose auf die Wunde, bis sie endlich aufhörte zu bluten. Dann setzte er seinen Weg fort. Diesmal achtete er auf jede Wurzel und jeden Stein. Keine Bodenunebenheit entging ihm.

Dafür entging ihm etwas anderes, weitaus Wichtigeres. Dass er nicht allein war, merkte Nori erst, als er etwas Hartes an seinem Rücken spürte.

»Keinen Schritt weiter!«, zischte jemand hinter ihm. »Und keine falsche Bewegung!«

Falsche Erwartungen

Noris Herz schlug ihm bis zum Hals. Er hatte keinen Schimmer, was das für ein Ding war, das er an seinem Rücken spürte. Er wusste nur, dass er überrumpelt worden war. Der Stimme nach zu urteilen, von einem Mädchen.

»Was hast du hier verloren?«, fragte die Unbekannte. »Verfolgst du mich?«

»Ich dich? Nein! Ich bin auf dem Weg zur Sch…«

Im letzten Moment erinnerte Nori sich an die mahnenden Worte des Pferdezüchters. Es hatte nicht viel gefehlt und er hätte sich abermals verplappert.

»Ich bin auf dem Weg zu einem Schweinehändler«, verbesserte er sich.

»Und diesen Schweinehändler suchst du hier in den Bergen?« Die Unbekannte gab ein grunzendes Geräusch von sich. »Ein seltsamer Ort, um Handel zu treiben.«

»Ich suche ihn nicht hier in den Bergen«, sagte Nori schnell. »Sondern jenseits davon. In Kazara.«

»Na, da hast du dir aber einen beschwerlichen Weg ausgesucht«, entgegnete das Mädchen. »Weißt du denn nicht, dass es weiter nördlich eine Landstraße gibt?«

»Doch, natürlich! Es ist nur … Weißt du, ich …« Nori fiel nichts mehr ein. Jedenfalls nichts, was sich glaubwürdig anhörte.

»Spar dir die Mühe. Ich weiß, wo du hinwillst«, sagte das Mädchen, das jetzt regelrecht vergnügt klang. »Du willst zur Schule der Schatten. Genau wie ich.«

Nori drehte sich ruckartig um. Das Ding, das er an seinem Rücken gespürt hatte, hatte er ganz vergessen. Doch jetzt sah er, dass es sich nur um einen einfachen Holzstock handelte, der nicht einmal spitz war. Das Mädchen, das ihn in der Hand hielt, grinste ihn fröhlich an.

»Du hast auch eine Einladung in die Schule der Schatten bekommen?« Nori war gleichermaßen erleichtert wie verblüfft.

»Allerdings«, sagte das Mädchen mit fester Stimme. »Bist du beim Abstieg gestürzt?« Sie zeigte auf die blutige Stelle an Noris Hose.

»Ja, ich … Ich bin über eine Wurzel gestolpert«, gestand Nori. Er musterte das Mädchen, das ihn so mühelos überrumpelt hatte. Sie war nicht so groß wie er, musste aber in seinem Alter sein. Ihr rotbraunes Haar trug sie zu einem Kranz geflochten und ihre blassen Wangen waren übersät von kleinen Sommersprossen.

»Ich habe deinen Aufschrei gehört«, sagte das Mädchen. »Deshalb habe ich mich in den Büschen versteckt. Ich wollte wissen, wer mir da auf den Fersen ist.« Sie betrachtete den Holzstock, den sie immer noch in der Hand hielt. »Aber als ich dich dann gesehen habe, war ich mir ziemlich sicher, dass ich von dir nichts zu befürchten habe.«

Nori machte ein beleidigtes Gesicht. Das wollte er nun auch nicht hören. War er denn so wenig furchteinflößend?

»Versteh mich nicht falsch«, schob das Mädchen hinterher. »Aber du bist ungefähr so alt wie ich – was solltest du in dieser entlegenen Ecke Isantajs suchen, wenn nicht die Schule der Schatten? Und ja, ich weiß, dass man über sie nicht mit Fremden sprechen soll. Aber so wie die Dinge stehen, sind wir uns ja nun nicht mehr fremd, oder?«

»Ich schätze nicht«, sagte Nori nachdenklich. »Eines verstehe ich aber nicht. Wenn du dir sicher warst, dass ich auch zur Schule der Schatten will – warum hast du mir dann einen Stock in den Rücken gebohrt?«

»Ich wollte herausfinden, ob ich es schaffe, mich unbemerkt an dich heranzuschleichen.« Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Schließlich sind wir ja beide hier, um Schatten zu werden, nicht wahr?«

Nori schluckte. Indem dieses Mädchen ihn so unbemerkt überrumpelt hatte, hatte es ihm einen weiteren Dämpfer verpasst. Wie es aussah, würde er weit mehr zu lernen haben als sie.

Das Mädchen schien seine Gedanken zu erraten. »Mach dir nichts draus. Schon bald wirst du derjenige sein, der sich heimlich an andere anschleicht.« Sie nickte ihm aufmunternd zu. »Ich bin übrigens Asa. Und wie heißt du?«

»Nori.«

»Gut, Nori, was hältst du davon, wenn wir weitergehen? Morgen beginnt unser Unterricht. Und ich brauche dir wohl nicht zu sagen, dass wir nicht zu spät kommen sollten!«

Gemeinsam setzten sie ihren Weg fort. Asa war schon seit zwölf Tagen unterwegs. Sie stammte aus der fruchtbaren Gegend nordöstlich von Nyaka, Isantajs Hauptstadt, die im Westen des Landes lag. Sie erzählte von ihrer Reise und auch ein wenig von ihrem Vater, einem Ninja, der vor vielen Jahren selbst die Schule der Schatten besucht hatte.

Nori fragte ihr Löcher in den Bauch, aber über ihre künftige Schule wusste Asa nicht mehr als er: Ihr Vater hatte sie bewusst im Unklaren darüber gelassen, was sie dort genau erwartete.

»Hat er dich in Ninja-Fertigkeiten unterrichtet?«, wollte Nori wissen.

»Mein Vater? Nur im Reiten. Er ist selten zu Hause.« Asa lächelte traurig. »Das bringt das Leben eines Schatten wohl mit sich.«

Nori nickte. Schatten führten kein Leben, das sich mit dem gewöhnlicher Leute vergleichen ließ. Nori hatte sicherlich weit mehr von seinem Vater gehabt als Asa. Doch während sein Vater ihm gezeigt hatte, worauf es beim Reisanbau und bei der Schweinezucht ankam, hatte Asa durch Erzählungen ihres Vaters bestimmt mehr über Ninja-Dinge gehört. Nori musste sich eingestehen, dass er neidisch war.

Die Tannen und Kiefern auf beiden Seiten des Trampelpfades machten nun immer häufiger Platz für Sträucher und Büsche. Nur noch selten ragte eine Wurzel aus dem Boden. Das Gelände flachte zunehmend ab und schließlich ließen Nori und Asa den Berg hinter sich. Sie standen am Rande des grünen Tals, das – mit Ausnahme einiger Ninja – wohl so gut wie niemand in Isantaj kannte. Nori ließ den Blick schweifen.

»Wer bestellt diese Reisfelder?«, wunderte er sich. »Sensei Okuse?«

Asa lachte. »Nein, ich denke nicht, dass unser Lehrmeister das selbst macht. Er wird Leute dafür haben.«

Noris Blick fiel auf die Gebäude, die inmitten von Reisfeldern und Wiesen lagen. Es handelte sich um vier Häuser und eine Scheune. Eines der Häuser war weitaus größer und höher als die anderen. In ihrer Bauweise aber unterschieden sie sich nicht. Sie alle waren aus Holz. An manchen Stellen waren die Außenwände mit Lehm verputzt, an anderen mit Bambus verkleidet. Und die steilen, mit Stroh gedeckten Dächer endeten erst knapp über dem Boden.

Nori schüttelte ungläubig den Kopf. Was sie hier sahen, waren Bauernhäuser. In Verbindung mit den Reisfeldern, die rundum angelegt waren, ähnelte dieser Ort seinem Heimatdorf weit mehr, als er sich je hätte träumen lassen.

»Ich habe mir die Schule der Schatten anders vorgestellt«, sagte er enttäuscht.

»Wie denn?«, fragte Asa.

»Ich weiß nicht. Anders als mein Zuhause.«

»Hier mag es aussehen wie fast überall in Isantaj«, sagte Asa nachdenklich. »Aber das bedeutet noch lange nicht, dass es auch wie überall ist.« Sie machte eine Pause. »Außerdem müssen wir auch etwas essen, Nori. Und wer keine eigenen Reisfelder hat, braucht Händler. Fremde.«

In dieser Hinsicht hatte Asa zweifellos recht. Dass sich die Schule der Schatten selbst versorgen musste, lag auf der Hand. Denn so waren Sensei Okuse und seine Schüler nicht auf andere angewiesen, ja sie brauchten nicht einmal Kontakt zu anderen. Und das wiederum machte es leichter, diesen Ort geheim zu halten.

»Außerdem sind gewöhnliche Häuser und Reisfelder eine hervorragende Tarnung.« Asa zeigte auf die Berge, die sie umgaben. »Sollte sich eines Tages doch einmal ein Spion aus Kazara auf einen dieser Gipfel verirren, dann sieht er hier nur einen einfachen Bauernhof.«

»Und schöpft keinerlei Verdacht«, murmelte Nori.

Asa nickte. »Ein Spion würde nie auf die Idee kommen, dass in diesen Bauernhäusern Ninja ausgebildet werden.« Auf einmal fing sie an zu strahlen. »So wie wir. Komm, unsere Schule wartet!«

Aufgeregt stürmte sie los. Eigentlich war der Weg noch zu weit, um ihn von hier aus rennend zurückzulegen, aber Asa kannte kein Halten mehr, und Nori ließ sich von ihrer Begeisterung anstecken.

Der Pfad, der zusehends breiter und ausgetretener wurde, führte mitten durch die kleine Siedlung. Dort angekommen, musste Nori erst einmal Luft holen. Schwer atmend nahm er seinen Rucksack ab und blickte sich um.

Auf der einen Seite des Weges befanden sich das größte der vier Häuser, die Scheune, ein Brunnen und ein Taubenschlag. Auf der anderen Seite waren die drei kleineren Häuser angeordnet. Aus einer Öffnung im Strohdach des mittleren Hauses drang dichter Rauch und durch ein Fenster strömte der Duft von frisch gebackenem Brot. Ein paar Hühner stoben gackernd auseinander. Unter dem gelben Blätterdach eines knorrigen Gingkobaumes grasten ein Esel, ein wunderschöner Schimmel und zwei Maultiere, eines grau, eines dunkelbraun.

»Herzlich willkommen!« Aus dem Haus, in dem offenbar gerade Brot gebacken wurde, trat eine Frau. Ihr weißes Haar fiel offen auf ihre Schultern. Um die Hüfte hatte sie sich eine Schürze gebunden.

»Ich bin Jotta. Ich sorge dafür, dass hier niemand verhungert. Und noch für das eine oder andere mehr.« Die Frau lächelte und um ihre Augen und Mundwinkel zeigten sich zahlreiche Falten.

»Ich bin Asa«, stellte sich Noris Begleiterin vor.

»Und ich Nori.«

»Freut mich, euch kennenzulernen«, sagte Jotta, die noch immer lächelte. »Seid ihr hungrig? Es gibt Pilzsuppe und Reisbrot, frisch aus dem Ofen.«

»Das klingt wunderbar!«, erwiderte Asa.

»Das tut es, ja«, bestätigte Nori, dessen letzte Mahlzeit einige Stunden zurücklag.

»Na, dann folgt mir.« Jotta ging auf das Haus zu, aus dem sie gekommen war.

Nori stutzte. »Wollt Ihr denn gar nicht die Einladungsschreiben sehen, die uns Sensei Okuse geschickt hat?«

Jotta drehte sich zu ihm um. »Du brauchst mich nicht so förmlich anzureden, Nori. Und um deine Frage zu beantworten: Nein, ich will eure Einladungsschreiben nicht sehen. Einer der wenigen Vorteile des Älterwerdens ist es, dass man lernt, ehrliche Menschen von unehrlichen zu unterscheiden.« Abermals legte sich ein Lächeln auf ihre Lippen. »Und jetzt kommt, solange das Reisbrot noch warm ist.«

In Jottas Küche war kein Platz für Gäste. Allein die hölzerne Spüle, der Herd und der tönerne Backofen nahmen mehr als die Hälfte des Raumes ein. Außerdem standen noch überall Speisefässer und große Krüge mit Brunnenwasser herum und auch die Treppe ins Obergeschoss nahm hier ihren Anfang.

Nori und Asa waren daher froh, dass Jotta sie nach nebenan, in den Wohn- und Aufenthaltsraum des Hauses, bat. Sie nahmen auf Sitzkissen Platz und langten ordentlich zu. Jottas Pilzsuppe war herrlich sämig, das Reisbrot knusprig und noch immer warm. Jotta aß nichts, schien sich aber aufrichtig über den gesegneten Appetit ihrer Gäste zu freuen.

»Müssen wir denn niemandem etwas übrig lassen?«, fragte Nori, als er seine Suppenschale zum wiederholten Mal leer gelöffelt hatte.

»Nein, keine Sorge. Das größte Kompliment, das man einer Köchin machen kann, sind leere Töpfe und Teller.« Jotta schenkte Nori, ohne zu fragen, Suppe nach. »Und deshalb koche ich für Aki und Ikki gerne noch einmal.«

»Aki und Ikki«, fragte Asa.

Jotta lachte. »Nein, Aki und Ikki kümmern sich um unsere Reisfelder. Sie sind Zwillinge, wie ihr unschwer erkennen werdet.«

»Sind unsere Mitschüler denn noch gar nicht da?«, fragte Nori.