Schule der Schatten  - Die schwimmende Festung - Andreas Langer - E-Book

Schule der Schatten - Die schwimmende Festung E-Book

Andreas Langer

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Beschreibung

Neue Herausforderung für die Ninja-Schüler

Nach der Rückkehr in die »Schule der Schatten« geht für Nori, Tenzo, Asa und Ryu der Unterricht weiter. Ihr Lehrmeister Sensei Okuse will ihnen die Kunst des Versteckens im und unter Wasser beibringen. Unterdessen treffen Brieftauben mit besorgniserregenden Nachrichten ein: Eine Bande von Flusspiraten soll im Nordosten des Landes ihr Unwesen treiben. Auch die berüchtigte »Schwimmende Festung« soll dort gesichtet worden sein ... Doch das ist längst nicht alles: Der König von Isantaj scheint in großer Gefahr zu schweben. Während Sensei Okuse ihm zur Hilfe eilt, wollen sich die jungen »Schatten« für ihr Land nützlich machen und geraten in ein lebensgefährliches Abenteuer ...

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Seitenzahl: 225

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ANDREAS LANGER

DIE SCHWIMMENDE FESTUNG

Mit Illustrationen von Ulla Mersmeyer

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2022 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren-

und Projektagentur Gerd F. Rumler

Lektorat: Hjördis Fremgen

Umschlaggestaltung Alexander Kopainski

Innenillustrationen: Ulla Mersmeyer

hf · Herstellung: ast

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27017-9V001www.cbj-verlag.de

Isantaj ist kein großes Land. Zwei, vielleicht drei Wochen – länger braucht niemand, um es zu Fuß zu durchqueren. Und dabei spielt es keine Rolle, welche Richtung man einschlägt. Es kommt nur darauf an, was man am Ende der Reise sehen möchte.

Denn während Isantaj im Norden, Süden und Westen von Meer umgeben ist, findet man im Osten nur noch Berge. Und hinter diesen Bergen liegt Kazara, ein weitaus größeres und mächtigeres Reich, als Isantaj es je war.

Im Augenblick herrscht Frieden zwischen den beiden ungleichen Ländern. Doch das war nicht immer so. Und wie Ninja-Meister Okuse fürchtet, wird es auch nicht ewig so bleiben …

Helden von gestern

Plötzlich war da ein riesiges Loch in Noris Bauch. Zuerst wunderte er sich darüber, doch dann fiel ihm wieder ein, wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte: ziemlich genau vor einem Tag, kurz bevor die aufregendsten Stunden seines Lebens begonnen hatten. Während jener Stunden hatte er nicht einen Gedanken an etwas derart Gewöhnliches wie Essen verschwendet, jetzt aber schrie sein Magen nach Nahrung.

Seinen Mitschülern ging es genauso. Asa schaufelte in einem solchen Tempo Suppe in sich hinein, dass die Brühe bis auf ihre Sommersprossen spritzte. Tenzo richtete seine blauen Augen ohne Unterlass auf den rasch weniger werdenden Fisch. Und Ryu widmete sich ausnahmsweise nicht seinem Hund, sondern dem zügig zusammenschrumpfenden Berg Reis. Ihre Gastgeberin ließ ihnen Zeit. Erst als sich die leeren Schälchen turmhoch stapelten, richtete Jotta, die gute Seele der Schule der Schatten, das Wort an sie.

»Nun bin ich aber neugierig«, sagte sie. »Was, um alles in der Welt, hat sich bei Kuro zugetragen?«

Nori überlegte, wo sie anfangen sollten. Wie Jotta bereits wusste, hatte Kuro, der Pferdezüchter, die vier Schüler auf seinen Hof eingeladen, damit sie die für sie bestimmten Pferde abholten. Und genau das hatten sie im Sinn gehabt, doch dann hatten sich die Ereignisse überschlagen.

»Wir waren gerade auf der Koppel, als sich auf einmal Reiter näherten«, begann Asa. »Sie kamen aus Kazara, was Kuro sofort in Alarmbereitschaft versetzte.«

Aus gutem Grund, dachte Nori. Die meisten Menschen in Isantaj fürchteten Kazara, das große Reich im Osten, das dem kleinen Isantaj vor etwa 20 Jahren den Krieg erklärt hatte. Im Augenblick herrschte zwar Waffenstillstand zwischen den ungleichen Nachbarn, doch niemand konnte mit Gewissheit sagen, wie lange dieser Zustand anhalten würde.

»Kuro hat uns hinter Strohballen in seiner Scheune versteckt, bevor diese Männer uns zu Gesicht bekommen haben«, fuhr Asa fort. »Und das war unser Glück. Denn die Fremden knebelten und fesselten Kuro.«

Jotta gab einen erschreckten Laut von sich.

»Während wir hinter den Strohballen verborgen waren«, erzählte jetzt Tenzo weiter, »bekamen wir mit, wie der Anführer der Reiter ankündigte, dass er am nächsten Morgen Kuros beste Pferde stehlen und danach den Hof in Brand stecken wollte. Und das konnten wir natürlich nicht zulassen.«

»Na ja, ganz so war es nicht«, sagte Nori und fing sich einen zornigen Seitenblick Tenzos ein. Aber er wollte sich vor Jotta nun mal nicht als entschlossener, keine Sekunde zaudernder Ninja aufspielen, denn das war er nicht gewesen.

»Wir hatten natürlich Angst«, gab auch Asa zu. »Riesenangst.«

»Ich nicht«, behauptete Tenzo.

Asa rollte mit den Augen. »Wir alle hatten Angst, aber wir konnten Kuro ja nicht einfach seinem Schicksal überlassen. Denn dann … wäre er in den Flammen umgekommen.«

Eine Weile war es still in dem kleinen Raum, in dem für gewöhnlich Jotta und ihre beiden Mitbewohner Aki und Ikki speisten. Nori hing seinen Gedanken nach und nahm an, dass Asa, Tenzo und Ryu dasselbe taten. Keiner von ihnen hatte auch nur im Entferntesten damit gerechnet, derart bald in eine Situation wie der auf Kuros Hof zu geraten. Sie waren schließlich neu auf der Schule der Schatten, Ninja-Schüler, die noch ganz am Anfang standen, und weit davon entfernt, echte Schatten zu sein.

Und doch war es in der letzten Nacht um nichts weniger als um Leben und Tod gegangen. Nicht nur ihr eigenes Leben, auch das von Kuro hatte auf einmal von den Lektionen ihres Lehrmeisters abgehangen – den wenigen Lektionen, die Sensei Okuse sie bis dahin gelehrt hatte.

»Das war sehr mutig von euch«, brach Jotta das Schweigen. »Niemand hätte euch einen Vorwurf gemacht, wenn ihr geflohen wärt. Aber das seid ihr nicht. Was also habt ihr getan?«

»Erzähl du, Nori«, forderte Asa ihn auf. »Du hast am meisten zu sagen über das, was sich in Kuros Haus zugetragen hat.«

Nori zögerte einen Moment, dann berichtete er Jotta, wie sie sich ins Haus geschlichen und herausgefunden hatten, dass es sich bei den Fremden um Soldaten aus Kazara handelte, wie er beinahe entdeckt worden wäre, wie sie Kuro befreit hatten und welchen Namen Mardok, der Anführer mit der Narbe im Gesicht, im Schlaf genannt hatte – den Namen ihres Lehrmeisters, Sensei Okuse.

Jotta wurde nachdenklich, sprach aber nicht aus, was ihr durch den Kopf ging.

»Jedenfalls wollte Kuro, dass wir alle Pferde mitnehmen«, fuhr Nori fort. »Seine eigenen und die der Eindringlinge. Er hoffte, dass die Soldaten unverrichteter Dinge in ihre Heimat zurückkehren müssten.«

»Weshalb sind sie überhaupt nach Isantaj gekommen?«, fragte Jotta.

»Das konnten wir nicht in Erfahrung bringen. Dieser Mardok …« Nori stockte einen Moment. »Er hatte es offenbar nicht einmal seinen eigenen Männern verraten.«

Den nächsten Teil der Geschichte wollte Nori Asa und Tenzo überlassen, denn die beiden hatten eine wesentliche Rolle darin gespielt. Und Tenzo ließ sich nicht zweimal bitten. Wortreich erzählte er, wie er an der Spitze der Herde geritten war, während Kuro sämtliche Pferde aus der Koppel getrieben hatte. Asa, die ebenfalls eine erfahrene Reiterin war, hatte das Ende der Herde gebildet, erwähnte das aber erst auf Jottas Nachfrage.

»Jedenfalls wäre Kuros Plan ohne Asa und mich zum Scheitern verurteilt gewesen«, brüstete sich Tenzo. »Nori und Ryu können ja noch nicht reiten.«

Sein herablassender Ton stieß Nori sauer auf. Er überlegte, ob er etwas entgegnen sollte, doch dann sprach der Junge, der bis dahin still gewesen war.

»Nein, ich kann noch nicht reiten. Und ich habe ohnehin nicht viel getan gestern Nacht. Ich bin nicht einmal in Kuros Haus geschlichen. Wir beide«, Ryu blickte zu seinem Hund, »wir beide standen nur Wache. Und das hätte Bax auch ohne mich hinbekommen.«

»Das stimmt doch nicht, Ryu!«, protestierte Asa. »Du hattest genauso deinen Anteil am Gelingen der Aktion wie wir anderen.«

»Nein, hatte ich nicht«, erwiderte Ryu ruhig. »Aber es stört mich auch nicht. Wir sind alle mit dem Leben davongekommen, nur das zählt.«

Und damit, fand Nori, hatte Ryu recht. Er suchte seinen Blick, doch Ryus Augen waren auf Bax geheftet, der schlafend zu seinen Füßen lag. Kein Wunder, dass der Shikoku-Hund erschöpft war. Er hatte eine beträchtliche Strecke zurücklegen müssen auf dem Rückweg zur Schule der Schatten.

Mit einem Mal übermannte auch Nori die Müdigkeit. Er versuchte gerade ein Gähnen zu unterdrücken, da flog die Tür auf, und herein drängten zwei lange, spindeldürre Männer, die sich aufs Haar glichen. Die beiden entdeckten die Schüler, grinsten breit und gaben den Blick auf ihre Zähne frei: das einzige körperliche Merkmal, das sie unterschied.

»Oh, die Schüler!«, jauchzte Ikki, der Zwilling mit der Zahnlücke.

»Die Helden, Ikki, die Helden«, verbesserte ihn sein Bruder Aki.

»Wir sind keine Helden.« Asa lachte.

»Oh doch, das seid ihr«, beharrte Ikki.

»Ihr wisst also bereits, was sie für Kuro getan haben?«, fragte Jotta.

»Aber ja«, sagte Aki, »der Sensei hat es uns erzählt, bevor er uns den Auftrag erteilt hat, einen wichtigen Auftrag. So wichtig, dass er nicht warten kann, doch erst müssen noch ein paar Dinge zusammengepackt werden. Dinge und Brieftauben, hihi.«

»Ihr nehmt Brieftauben mit?«, fragte Nori verblüfft. »Wohin geht ihr?«

»Wir gehen nicht. Wir reiten. Auf unseren Maultieren«, kicherte Ikki, der seine Antwort offenbar ziemlich amüsant fand.

»Aber wir reiten nicht zusammen, nein«, sagte Aki. »Unsere Wege trennen sich, sobald wir an der Landstraße angelangt sind.«

»Schhhh«, machte Ikki. »Wir verraten nichts, Aki, nicht einmal den Helden. Unser Auftrag ist geheim, ja, das ist er.«

»Was soll das denn heißen?«, blaffte Tenzo.

»Ich bin mir sicher, Tenzo, der Sensei wird euch morgen früh sagen, was ihr wissen müsst«, schaltete sich Jotta ein.

Tenzo schüttelte zornig den Kopf. Geduld war nicht seine Stärke, so viel hatte Nori bereits mitbekommen.

»Wann kehrt ihr zurück?«, wandte sich Jotta an Aki und Ikki.

»Hmm, das lässt sich schlecht sagen.« Aki wirkte mit einem Mal bekümmert, genau wie sein Bruder.

»Macht euch keine Sorgen wegen der südlichen Reisfelder«, sagte Jotta schnell. »Um die Ernte kümmere ich mich.«

Schlagartig heiterten sich die Mienen der Zwillinge auf. Wie Nori mittlerweile wusste, kümmerten sich Aki und Ikki hingebungsvoll um die Reisfelder, die die Schule der Schatten umgaben und gewährleisteten, dass sie alle genug zu essen hatten, ohne auf Kontakt zu Händlern oder fremden Bauern angewiesen zu sein. Schließlich sollte die Schule geheim bleiben, und das gelang am besten, wenn möglichst wenig Leute von ihr wussten.

»Oh, das ist großartig«, sagte Aki. »Aber auch viel Arbeit. Viel Arbeit für eine Person.«

»Wir können Jotta doch helfen«, schlug Asa vor. »Nicht wahr?«

»Ja, natürlich«, sagte Nori. Mit dem Ernten von Reis kannte er sich aus. Seine Eltern waren Bauern und er war ihnen in den letzten Jahren tagtäglich zur Hand gegangen.

Auch Ryu nickte, Tenzo jedoch runzelte die Stirn. »Wir sind hier, um Schatten zu werden. Nicht, um auf den Feldern zu arbeiten. Das können andere machen.«

Asa stöhnte auf. »Was denkst du eigentlich? Dass du nie einen Finger krumm machen musst, nur weil dein Vater ein reicher Großgrundbesitzer ist?«

Tenzo funkelte sie streitlustig an. Doch zu Noris Überraschung sprang ihm Jotta bei.

»Tenzo hat recht«, sagte sie ruhig. »Ihr habt anderes zu tun. Und wie eure Begegnung mit den Soldaten aus Kazara gezeigt hat, duldet eure Ausbildung keinerlei Aufschub. Unser Land muss auf der Hut sein. Wir alle müssen auf der Hut sein.« Die Falten auf Jottas Stirn waren tief wie Ackerfurchen. Doch dann legte sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. »Keine Bange, ich schaffe die Ernte alleine. Und nun zieht euch zurück, liebe Schüler. Aki und Ikki müssen ihren Aufbruch vorbereiten und ihr solltet euch ausruhen. Morgen früh geht euer Unterricht weiter.«

Nori nickte müde. Bestimmt taten sie gut daran, Jottas Rat zu befolgen. Sensei Okuse hatte sie nach ihrer Rückkehr zwar ausdrücklich gelobt, und vielleicht hatten auch Aki und Ikki nicht ganz unrecht mit dem, was sie gesagt hatten. Vielleicht hatten er und seine Mitschüler in der letzten Nacht tatsächlich heldenhaft gehandelt. Aber selbst wenn – morgen würden sie wieder Schüler sein. Und der Sensei würde sie gewiss nicht schonen.

Die Bedeutung der eigenen Sinne

Tenzo konnte nicht lange an sich halten. Kaum hatten sie ihrem Lehrmeister einen guten Morgen gewünscht, platzte es auch schon aus ihm heraus.

»Wohin habt Ihr Aki und Ikki geschickt, Sensei?«

»Du bist noch nicht lange hier, Tenzo, und doch habe ich dir nicht erst einmal gesagt, dass du dich in Geduld üben musst. Geduld verleiht einem innere Stärke. Und: Man kann sie lernen. Lerne, geduldig zu sein, Tenzo, denn ein Ninja-Schüler, dem diese Eigenschaft fehlt, wird es als Schatten nicht weit bringen.« Der Sensei sah ihn streng an, dann wandte er sich allen zu.

»Wohin Aki und Ikki unterwegs sind, ist schnell erklärt. Ich habe sie auf ihren Maultieren zu Kuros niedergebranntem Hof geschickt. Aki wird der Landstraße von dort nach Osten folgen, Ikki nach Westen und beide werden die Augen nach Spuren von Mardok und seinen Männern offen halten. Denn wir müssen wissen, was sie im Schilde führen. Wir müssen wissen, ob sie sich ohne ihre Pferde nach Kazara zurückziehen oder ob sie tiefer in das Landesinnere von Isantaj eindringen. Und falls Letzteres der Fall ist, kann es für unser Land von äußerster Bedeutung sein, sich an ihre Fersen zu heften.«

»Aber warum habt Ihr Aki und Ikki geschickt?«, fragte Tenzo. »Warum sind keine Schatten damit betraut worden?«

»Weil die Zeit drängt, Tenzo. Natürlich habe ich sofort nach eurer Rückkehr eine Brieftaube nach Nyaka geschickt und um die Entsendung von Schatten gebeten. Aber wenngleich eine Brieftaube nur vier Stunden benötigt, um von hier in die Hauptstadt zu fliegen, brauchen Menschen auf Pferden mindestens vier Tage, um von Nyaka in den Osten Isantajs zu gelangen. Aki und Ikki jedoch erreichen schon in ein paar Stunden Kuros Hof.«

»Aber sie sind keine Schatten«, wandte Tenzo ein. »Können sie überhaupt Spuren lesen?«

»Im Spurenlesen sind Aki und Ikki nicht geschult. Und sie sind auch keine schnellen Reiter«, gab Sensei Okuse freimütig zu. »Aber sie können elf marschierende Männer erkennen und ihnen in ausreichendem Abstand folgen. Sie können Erkundigungen einholen. Sie sind in der Lage, Briefe zu schreiben und Brieftauben auf den Weg zu schicken.«

»Wie oft werden sie Tauben senden?«, wollte Asa wissen.

»Das kommt ganz darauf an, was sie in Erfahrung bringen.«

»Aber was kann das schon sein?«, sagte Nori. »Wir haben Mardok und seinen Männern ihre Pferde genommen. Und ohne Pferde müssen sie doch nach Kazara zurückkehren, oder etwa nicht?«

Der Sensei ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »Ihr habt selbst gesehen, dass diese Männer nicht wie Soldaten gekleidet waren. Nichts hat sie äußerlich als solche verraten – nur das eingravierte Wappen in ihren Schwertscheiden. Mardok und seine Männer wollten nicht auffallen, bei dem, was sie vorhatten. Oder vielleicht sollte ich eher sagen, noch immer vorhaben. Denn leider müssen wir davon ausgehen, dass Mardok seinen ursprünglichen Plan weiterhin in die Tat umsetzen will. Er und seine Männer haben keine Pferde mehr, das ist wahr. Aber sind fehlende Reittiere für Männer, die ein Ziel verfolgen, wirklich ein Grund, unverrichteter Dinge nach Hause zurückzukehren? Was meint ihr?«

»Ich weiß nicht«, sagte Nori ehrlich. Nach ihrer Flucht von Kuros Hof hatte er geglaubt, dass sie die Pläne der Männer aus Kazara durchkreuzt hatten. Aber jetzt war er sich da nicht mehr so sicher.

Tenzo zuckte mit den Schultern. »Wer ist dieser Mardok überhaupt? Ihr wolltet uns doch von ihm erzählen, Sensei.«

»Diese Geschichte zu erzählen, braucht Zeit. Zeit, die wir heute Abend haben werden«, sagte Sensei Okuse. »Doch nun, meine Schüler, werden wir euren Unterricht fortsetzen. Folgt mir nach draußen.«

Nori trat vor die Schülerunterkunft und ließ den Blick über die kleine Siedlung schweifen. Die vier Häuser, die Scheune, der knorrige, alte Gingkobaum, der Taubenschlag, der Brunnen – das alles gehörte zu dem Ort, von dem nur sehr wenige in Isantaj wussten. Einem Ort, der streng geheim gehalten wurde, versteckt in einem verborgenen Tal zwischen Bergen, auf die sich keine Menschenseele verirrte.

Nori erinnerte sich noch genau daran, wie enttäuscht er bei seiner Ankunft gewesen war. Er konnte nicht genau sagen, wie er sich diesen Ort vorgestellt hatte, aber Bauernhäuser, wie er sie aus seinem Heimatdorf kannte, hatte er nicht erwartet. Doch, wie er mittlerweile wusste, kam es nicht darauf an, wie die Schule der Schatten nach außen hin wirkte, sondern welchem Zweck sie diente: Hier bildete Sensei Okuse im Auftrag des Königs von Isantaj Jungen und Mädchen aus, die ihrem Land als Ninja dienen durften. Und Nori hatte sein halbes Leben lang davon geträumt, einer dieser wenigen Auserwählten zu werden.

Nun war er tatsächlich hier und auf dem Weg, ein richtiger Schatten zu werden – sofern er sich als würdig erweisen würde. Ein vertrautes, unangenehmes Gefühl kroch in ihm hoch. Nicht zum ersten Mal zweifelte er, ob er gut genug war, ob er das Talent seines Großvaters geerbt hatte, ob er …

Halt, sagte sich Nori, nicht schon wieder.

Wie hatte Asa sich ausgedrückt, als sie nach Kuros Befreiung auf ihrem Pferd über die Wiesen geritten waren?

Du brauchst nicht länger zu zweifeln, Nori. Du bist zu Recht auf der Schule der Schatten.

Nori warf einen verstohlenen Blick auf das einzige Mädchen in ihrer kleinen Gruppe. Er war froh, dass es sie gab, dass sie mit ihm an diesem Ort war. Sie verlieh ihm Mut und Kraft. Er atmete tief durch und das unangenehme Gefühl in seinem Bauch verschwand.

Der Sensei war inzwischen auf dem schmalen Weg angelangt, der mitten durch die kleine Siedlung verlief. Auf der einen Seite des Weges befanden sich die drei Wohnhäuser. Eines beherbergte die Schüler, im mittleren lebten Jotta, Aki und Ikki und im kleinsten, am Ende der Reihe, der Sensei. Wie ein Bauernhaus, aber ein weit geräumigeres, mutete auch das große Haus auf der anderen Seite des Weges an. Aber der Schein trog, denn in Wahrheit handelte es sich hier um ein Ninja-Haus mit geheimen Gängen, versteckten Durchlässen und verborgenen Treppen. Sie hatten hier schon die ein oder andere schwierige Übung bewältigt. Nun jedoch schienen sie nicht dorthin zurückzukehren, denn der Sensei blieb unvermittelt stehen.

»Vor eurem Aufbruch zu Kuro habe ich euch in die Kunst des Versteckens eingeführt, und ihr habt geübt, euch zu Land und in der Luft zu verbergen. Heute Nachmittag werden wir uns ins Wasser begeben. Um die Kunst des Versteckens zu meistern, ist es jedoch auch notwendig, seine eigenen Sinne zu schulen. Nur wer begreift, wie sich Entfernungen, Geräusche und Gerüche auswirken, kann diese Dinge beachten und selbst unsichtbar werden.«

Der Sensei lief den schmalen Weg entlang und gebot ihnen, stehen zu bleiben und auf seine Schritte zu hören.

Nori lauschte und vernahm deutlich das Geräusch, das die Sandalen des Senseis machten, wenn sie auf den harten, platt getretenen Untergrund trafen.

»Legt euch hin und haltet ein Ohr auf den Boden!«, rief der Sensei ihnen zu, als er sich bereits ein gutes Stück entfernt hatte und seine Schritte nicht mehr zu hören waren.

Nori befolgte seine Anweisung – und tatsächlich: Nun vernahm er die Schritte ihres Lehrmeisters wieder.

»Und wie steht es jetzt?«, rief der Sensei, der ihnen nun wieder entgegenkam. Allerdings nicht auf dem Weg, sondern daneben.

Nori presste sein Ohr auf den Boden, aber das Gras schluckte die Schritte ihres Lehrmeisters.

»Und nun, meine Schüler, kehre ich auf den Weg zurück. Diesmal allerdings ohne Sandalen.«

Sensei Okuse zog seine Schuhe aus und ging weiter in ihre Richtung, jetzt wieder auf dem festgetretenen, mit Steinen durchsetzten Weg. Obwohl er immer näher kam, war er nicht zu hören. Nori erhob sich und klopfte den Staub von seinem Kittel.

»Nachdem ihr einen Eindruck davon gewonnen habt, wie verräterisch unachtsame Schritte sind, will ich euch nun zeigen, wie es um unachtsame Worte bestellt ist.« Der Sensei kehrte ihnen den Rücken zu, dann eilte er schnell und geschmeidig davon. »Bleibt, wo ihr seid«, wies er sie an, ohne sein Tempo zu verlangsamen, »wartet ein wenig und unterhaltet euch dann in gewöhnlicher Lautstärke!«

»Na schön«, sagte Tenzo und zog eine Augenbraue hoch, »unterhalten wir uns, während der Sensei seinen Morgensport betreibt. Wisst ihr, was ich mich frage? Wo stecken eigentlich unsere Pferde?«

»Hmm, gute Frage.« Nori hatte an diesem Morgen noch gar nicht an seinen Lichtfuchs gedacht.

»Vielleicht«, sagte Ryu, »sind sie ja im Ninja-Haus.«

Erstaunt glotzten sie ihn an.

»War das etwa ein Witz?«, stieß Tenzo aus »Du bist tatsächlich in der Lage, einen Witz zu reißen, Ryu?«

»So ungefähr einmal im Monat«, erwiderte Ryu trocken.

Asa lachte, Nori stimmte mit ein, und Tenzo schüttelte ungläubig den Kopf.

»Ha, ich glaub’s nicht! Ryu, der große Schweiger, hat tatsächlich einen Witz gerissen. Dieser Tag wird in die Geschichte Isantajs eingehen!«

Bax knurrte ihn grimmig an.

»Schon gut, Bax, schon gut!« Tenzo hob entschuldigend die Hände, ein Grinsen im Gesicht. »Ich sehe, du magst es nicht, wenn man sich über Ryu lustig macht. Hiermit gelobe ich feierlich, das nie wieder zu tun! Mit Ryus Witzen können meine ohnehin nicht mithalten.«

Ryu entgegnete nichts, doch als er Bax übers Fell strich, schmunzelte er.

Ryu war immer für eine Überraschung gut, dachte Nori und erinnerte sich an dessen Gefühlsausbruch ein paar Tage zuvor. Ryu hatte den Sensei regelrecht angeblafft, ehe er zornig davongerannt war. Vermutlich hatte sein Verhalten an jenem Tag mit seinem Vater zu tun, der ebenfalls ein Schatten gewesen war. Doch Nori wusste nahezu nichts über ihn, denn Ryu hatte ihnen nichts erzählt. Nur eines schien klar: Ryus Vater musste ein schlimmes Schicksal ereilt haben.

Eine vertraute Stimme riss Nori aus seinen Gedanken.

»Ihr fragt euch, wo eure Pferde sind? Nun, nicht im Ninja-Haus! Sie genießen ihre Freiheit«, erklärte der Sensei, der nun am Rande eines Reisfelds stand. »Kuros Koppel ist groß, aber dieses Tal, so klein es auch sein mag, ist doch um einiges weitläufiger. Aber seid ohne Sorge, sie werden zurückkommen.«

»Was glaubt ihr, wie viele Stablängen sind es von uns bis zum Sensei?«, fragte Asa in die Runde.

Stablängen waren die gängige Maßeinheit in Isantaj, und Nori überschlug eilig, wie viele davon ihr Lehrmeister entfernt sein mochte. Doch er war nicht schnell genug.

»Ich würde sagen, so an die 120 Stäbe.« Die Antwort kam von Sensei Okuse selbst. Er stand noch immer am Rande des Reisfelds.«

»Unglaublich«, staunte Asa. Und dann rief sie laut: »Ich hätte nie gedacht, dass Ihr uns aus solch einer Entfernung hören könnt, Sensei!«

»Du brauchst nicht zu schreien, Asa«, entgegnete der Sensei. »Seht euch lieber die Grashalme an. Seht ihr, in welche Richtung sie sich neigen?«

Noris Blick ging zu einer Stelle, an der das Gras etwas höher stand. Die Halme bogen sich in die Richtung, in der sich ihr Lehrmeister befand.

»Der Wind trägt Geräusche weit. Und er muss dazu noch nicht einmal stark sein«, fuhr der Sensei fort. »Ein Schatten muss stets wissen, in welche Richtung der Wind weht, und ihn entsprechend berücksichtigen. Und nun unterhaltet euch wieder, aber diesmal flüsternd. Ich werde auf euch zulaufen, bis ich nah genug bin, um euch zu hören.«

»Gut, ich habe auch schon eine Idee, über was wir sprechen könnten«, flüsterte Tenzo. »Wie wir jetzt wissen, sind unsere Pferde irgendwo in diesem Tal. Wir selbst sind in diesem Tal, der Sensei ist in diesem Tal, und die weißhaarige Köchin ist in diesem Tal.«

»Sie heißt Jotta!«, herrschte Asa ihn an. »Ich habe dir schon mal gesagt, dass du sie beim Namen nennen sollst!«

»Psst!«, machte Tenzo. »Wir wollen doch nicht, dass der Sensei uns jetzt schon hören kann. Also, worauf ich hinauswollte, ist Folgendes: Wir alle sind in diesem Tal, nur die beiden Reisbauern sind es nicht.«

»Auch sie haben Namen, Tenzo!« Diesmal hielt Asa ihre Stimme im Zaum.

»Aki und Ikki, ich weiß.« Tenzo verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Was ich jedoch nicht verstehe, ist, warum der Sensei sie geschickt hat und nicht uns! Die beiden sind keine Schatten, was können sie schon tun?«

»Einiges«, ertönte die feste Stimme von Sensei Okuse. »Sie können einiges tun.«

Tenzo lief rot an. Offenbar hatte er nicht im Entferntesten damit gerechnet, dass der Sensei ihn hören könnte. Und Nori ging es nicht anders. Wie weit war ihr Lehrmeister noch von ihnen entfernt? 60 Stäbe vielleicht? Und doch hatte er verstanden, was Tenzo im Flüsterton gesagt hatte.

»Aki und Ikki sind Reisbauern, ja. Aber sie sind noch um einiges mehr.« Sensei Okuse sah Tenzo zornig an, während er zügig auf sie zukam. »Sie sind meine Boten und meine Kundschafter. Und, wie ich euch schon einmal gesagt habe, meine beiden besten Männer.«

»Verzeiht, Sensei«, sagte Tenzo leise. »Ich habe nur gedacht, dass …«

»Genug davon«, sagte Sensei Okuse streng. Tenzo blickte schuldbewusst zu Boden und der Sensei wandte sich wieder an sie alle. »Nun, meine Schüler, ihr habt gemerkt, dass auch Geflüster über weite Strecken zu hören ist, wenn der Wind ungünstig steht und man an eine aufmerksame Wache gerät. Aus diesem Grund ist es meist besser, Handzeichen zu benutzen, statt sich verräterischer Worte zu bedienen.«

Nori dachte daran, dass sie in Kuros Scheune miteinander geflüstert hatten, ehe sie ins Haus geschlichen waren. Gehört hatte sie die Wache auf ihrem Kontrollgang nicht. War sie nicht aufmerksam genug gewesen? Hatte der Wind günstig gestanden? Nori konnte es nicht sagen, sie hatten nicht darauf geachtet. Vermutlich hatten sie einfach Glück gehabt, doch darauf konnte man natürlich nicht bauen.

»Neben Geräuschen spielen für Schatten auch Gerüche eine wichtige Rolle.« Der Blick des Senseis verweilte einen Moment auf Bax, der zu Ryus Füßen lag. »Hunde haben eine feine Nase – und nicht nur du, Ryu, hast einen vierbeinigen Begleiter, auch manche Wachen. Dann ist es stets am besten, sich gegen den Wind zu nähern. Und darauf zu achten, dass man möglichst wenig Gerüche absondert. Was nichts anderes heißt, als dass ihr euch stets gründlich waschen solltet.«

Nori lächelte verlegen. Von ihrem Lehrmeister dazu angehalten zu werden, reinlich zu sein, war ihm nicht gerade angenehm. Er war froh, dass der Sensei dieses Thema nicht näher ausführte.

»Sehen, hören, riechen – all diese Sinne sind von Bedeutung. Ein Schatten muss um ihre Wirkung wissen und sie gezielt schulen. Und das werden wir nun tun.«

Sensei Okuse ging zielstrebig auf sein eigenes kleines Häuschen zu. Dort angekommen, hob er etwas auf, das im Gras lag. Als er es ihnen hinhielt, sah Nori, dass es ein Fisch war.

Die letzte Warnung

»Da das eure erste derartige Übung ist«, erklärte Sensei Okuse, »habe ich diesen Fisch gestern früh in die Sonne gelegt, um ihn etwas reifen zu lassen.«

Das war noch milde ausgedrückt, fand Nori. Der Fisch hatte eine Duftnote entwickelt, die ihm Übelkeit verursachte.