Schulratgeber ADHS - Kathrin Hoberg - E-Book

Schulratgeber ADHS E-Book

Kathrin Hoberg

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Beschreibung

In fast jeder Schulklasse gibt es unaufmerksame, impulsive und hyperaktive SchülerInnen. Doch was steckt eigentlich hinter der Diagnose ADHS und wie können LehrerInnen im Unterricht damit umgehen? Die Autorin liefert kompaktes Basiswissen für Lehrkräfte, die SchülerInnen mit ADHS unterrichten. Sie schildert anschaulich und praxisnah viele konkrete Maßnahmen für den Unterricht, die sowohl die SchülerInnen selbst stärken als auch das Lernklima in der Klassengemeinschaft verbessern. Ein Erste-Hilfe-Teil für Problemverhalten in der Schulklasse rundet das Buch ab und macht es zu einer wertvollen Fundgrube für alle LehrerInnen.

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Kathrin Hoberg ist als Diplom-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin im Sozialpädiatrischen Zentrum in Aachen tätig. Sie gibt regelmäßig Fortbildungen für LehrerInnen zum Thema ADHS.

Hinweis: Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass die Autoren große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. – Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03226-6 (Print)

ISBN 978-3-497-61804-0 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61805-7 (EPUB)

© 2023 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

Cover unter Verwendung eines Fotos von ©istockphoto.com / stray_cat

Alle Fotos im Innenteil von Marcus Gloger

Illustrationen im Innenteil von Pit Flick

Layout der Abbildungen 3–5, 12–13 und der Piktogramme in Kapitel 5 von Eva Osburg

Satz: Sabine Ufer, Leipzig

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Vorwort zur dritten Auflage

Einleitung

1 Das Störungsbild

1.1 Leitkriterien der ADHS

1.2 Der Weg zu einer fundierten Diagnose

1.2.1 Die Exploration der Familie

1.2.2 Die Exploration des Umfelds

1.2.3 Die Exploration des Kindes

1.3 Differentialdiagnostik

1.3.1 Das Vorliegen einer „tatsächlichen“ ADHS

1.3.2 Begleitende Störungen und Krankheitsbilder der ADHS

1.4 Häufigkeit

1.5 ADHS über alle Lebensphasen

2 Das Erklärungsmodell

2.1 Ursachen

2.2 Prozesse

2.2.1 Exekutive Funktionen

2.2.2 Motivationale Funktionen

3 Der Behandlungsplan

3.1 Maßnahmen bei den Eltern

3.2 Maßnahmen im Umfeld

3.3 (Psycho-)therapeutische Maßnahmen und Trainings beim Kind

3.3.1 Maßnahmen beim Vorschulkind

3.3.2 Maßnahmen beim Schulkind

3.4 Medikamentöse Behandlung

3.4.1 Medizinische Basisfakten

3.4.2 Die verschiedenen Präparate

4 Maßnahmen in der Schule

4.1 Grundlegende Maßnahmen

G1 Sich selbst stärken

G2 Die Beziehung zum Schüler stärken

G3 Der Kreislauf des Misserfolgs

G4 Klassenzimmer und Sitzplatz

G5 Bewegung und Entspannung

G6 Sondervereinbarung

G7 Beurteilungskarten

G8 Klassengespräch

G9 Klassenwechsel

G10 Unterrichtsstrategien

G11 Hausaufgaben

G12 Elternkontakt

G13 Kontakt zu den Fachleuten

G14 Selbstinstruktion

G15 Der Konsequenzenpool

4.2 Spezifische Maßnahmen

S1 Loben

S2 Blick- und Körperkontakt

S3 Sprachfrei Arbeiten

S4 Zeichen setzen mit Konsequenz

S5 Ignorieren (mit positivem Modell)

S6 Time Out

S7 Handeln statt Erklären

S8 Broken Record Technik

S9 Wirksam Durchsetzen

S10 Klassenregeln

S11 Verstärkersysteme

5 Erste Hilfe bei problematischem Verhalten

5.1 Erste Hilfe bei Aufmerksamkeitsproblemen

A Der Schüler führt einfachste Arbeitsanweisungen nicht durch

B Der Schüler fängt seine Aufgaben nicht an

C Der Schüler vergisst viel

D Der Schüler packt nicht ein oder zieht sich nicht an

E Der Schüler bleibt in der Bearbeitung von Aufgaben nicht dran

F Der Schüler ist unempfänglich für Erklärungen

G Der Schüler schaut ab

5.2 Erste Hilfe bei motorischer Überaktivität

H Der Schüler zappelt, wippt und wackelt mit den Füßen

I Der Schüler fällt ständig vom Stuhl

J Der Schüler steht auf und läuft herum

K Der Schüler klettert exzessiv in der Pause und beim Sportunterricht

L Der Schüler rempelt andere Kinder an

5.3 Erste Hilfe bei impulsivem Verhalten

M Der Schüler beginnt die Bearbeitung der Aufgabe, ohne zu überlegen oder zu wissen, was er eigentlich tun soll

N Der Schüler explodiert bei Ermahnungen oder Kritik

O Der Schüler redet permanent

P Der Schüler diskutiert endlos

Q Der Schüler verletzt sich ständig ungewollt

R Der Schüler redet ständig dazwischen und platzt mit den Antworten heraus

5.4 Erste Hilfe bei oppositionellem und aggressivem Verhalten

S Der Schüler gehorcht nicht

T Der Schüler ist ständig in Rangeleien verwickelt

U Der Schüler sagt Schimpfworte

V Der Schüler streitet seine Beteiligung am Geschehen ab

W Der Schüler tritt oder schlägt absichtlich andere

X Der Schüler widersetzt sich Gesagtem

Y Der Schüler kaspert und spielt den Klassenclown

Z Der Schüler entzieht sich der Bestrafung

Literatur

Internet-Adressen

Sachregister

Auf der Homepage des Ernst Reinhardt Verlages (www.reinhardt-verlag.de) finden Sie bei der Darstellung dieses Buches ein ausführliches Fallbeispiel eines Schülers mit ADHS inklusive der möglichen Vorgehensweisen und Lösungsstrategien der Lehrerin sowie die Inhalte der Abbildungen 10–13 als Kopiervorlagen für Arbeitsblätter im DIN-A4-Format zum Download.

Vorwort zur dritten Auflage

Die täglichen Anforderungen im Bereich Schule sind komplex und steigen fortlaufend an. Das Wissen um das Störungsbild ADHS ist dabei erfreulicherweise in den letzten Jahren gewachsen und hat im schulischen Bereich eine wohltuende „Unaufgeregtheit“ mit sich gebracht. Gleichwohl stellt es weiterhin eine große pädagogische Herausforderung dar, einen Schüler oder eine Schülerin mit ADHS im Unterricht zu haben. Ziel dieses Buches soll es daher sein, allen Lehrerinnen und Lehrern, die mit ADHS-Schülern und -Schülerinnen zu tun haben oder glauben, es mit ihnen zu tun bekommen zu können, Mut zu machen und Sicherheit zu geben.

Aufgezeigt werden ökonomische und effektive Strategien im Umgang mit den betroffenen Schülerinnen und Schülern im Unterricht, die sich gut umsetzen lassen. Diese Maßnahmen werden so beschrieben, dass sie sich problemlos aus dem zweidimensionalen Rahmen der Buchform in den dreidimensionalen Raum des Unterrichtsalltags übersetzen lassen und daher tatsächlich einfach anwendbar sind. Das Buch wendet sich vorrangig an Lehrerinnen und Lehrer der Primarstufe. Aber auch an weiterführenden Schulen, insbesondere in den Eingangsklassen, sind die praktischen Hilfen gut einsetzbar, denn viele Maßnahmen haben allgemeingültigen Charakter. Auch werden, wann immer möglich, Tipps für den Umgang mit älteren von ADHS betroffenen Schülerinnen und Schülern gegeben.

Die Erstauflage dieses Buches von 2007 ist direkt aus der Praxis entstanden. Im Sozialpädiatrischen Zentrum des Universitätsklinikums Aachen diagnostizieren und behandeln wir seit über 25 Jahren Kinder und Jugendliche mit ADHS. In diesem Zuge stehen wir mit den Lehrerinnen und Lehrern der betreffenden Schüler und Schülerinnen in ständigem Austausch, befragen und beraten sie.

Ursprünglich haben wir daher gemeinsam mit Herrn Dr. phil. Diplom-Psychologen Michael Simons und Frau Diplom-Sozialarbeiterin Andrea Nierhaus die Lehrerfortbildung „ADHS im Schulalter“ entwickelt, die auch weiterhin durchgeführt wird. Herr Dr. Simons hat auch für dieses Buch alle psychologischen und therapeutischen Aspekte kompetent begleitet, Frau Nierhaus hat durch Anregungen und Textbeiträge den Entstehungsprozess des ersten Bandes unterstützt. Der Förderverein des Sozialpädiatrischen Zentrums Aachen hat die Entwicklung der zugrunde liegenden Seminarkonzeption und die Durchführung der Lehrerfortbildungen durchgängig ermutigt und finanziell unterstützt. Die konstruktive Kritik und das offene Einbringen eigener Erfahrungen der Lehrerinnen und Lehrer, die an unseren Seminaren teilgenommen haben, sind es wiederum, die diesem Buch zugutekommen. Diese Fortbildung wurde im Jahr 2004 durch das Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Nordrhein-Westfalen als bereichernd für das Gesundheitswesen des Landes bewertet und beispielhaft in den Projektverbund „Gesundes Land NRW“ aufgenommen. Ein wissenschaftlicher Beirat aus der Praxis hat die Alltagstauglichkeit und Wissenschaftlichkeit sichergestellt. Für die Betreuung der medizinischen Aspekte danke ich Privatdozent Dr. Kristian Holtkamp, Chefarzt der DRK Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bad Neuenahr. Ich bedanke mich herzlich bei Frau Professorin Dr. Kerstin Konrad, Klinische Neuropsychologie des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Aachen, für die Bearbeitung der neuropsychologischen Grundlagen. Die kritische Überprüfung der Inhalte aus pädagogischer Perspektive wurde von Renate Bähren, Anne Frank Gesamtschule Viersen, und Hella Kugler, ehemalige Schulleiterin der Grundschule Karlschule in Bonn, vorgenommen.

Frau Schwarz hat mit ihrer Schulklasse die Fotoaufnahmen an der Gemeinschaftsgrundschule Brühlstraße in Aachen-Eilendorf möglich gemacht. Herzlichen Dank an den Bonner Fotografen Marcus Gloger für seine lebendigen Fotos und an Pit Flick für seine Karikaturen. Bei Eva Osburg bedanke ich mich für die kreative Gestaltung des ersten Manuskripts und bei Fria Flaschka für dessen Überarbeitung.

Ich freue mich mit dieser Neuauflage, in der die aktuellen Entwicklungen und Erkenntnisse berücksichtigt sind, den Bedarf an Informationen zum Thema ADHS und an echten Hilfen im schulischen Bereich weiter aufgreifen zu dürfen.

Aachen, im Frühjahr 2023

Kathrin Hoberg

Einleitung

Wenn man über die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, kurz ADHS, schreibt, muss man davon ausgehen, dass vieles bereits bekannt ist, denn bei einem Thema von dieser Aktualität und gesellschaftlichen Relevanz fängt niemand bei null an. Gleichwohl sind die Grundlagen zur Thematik in den ersten drei Kapiteln noch einmal dargestellt, da sonst für Lehrkräfte wesentliche und wissenswerte Informationen fehlen würden.

Die letzten beiden Kapitel sind ausschließlich praxisorientiert und anwendungsbezogen. Es wird ein ausführlicher Überblick über die möglichen Maßnahmen mit einer Vielzahl von praktischen Tipps gegeben. Zusätzlich wird man darin unterstützt, die für sich und den betreffenden Schüler geeigneten Maßnahmen herauszufiltern und zusammenzustellen, um damit nach Belieben „switchen“ und kombinieren zu können. Und hier im Überblick, was die einzelnen Kapitel beinhalten:

Im ersten Kapitel wird eine Schneise durch den Begriffsdschungel geschlagen, damit ein komplexes Thema wie das Störungsbild ADHS besser durchschaubar ist. Es wird beschrieben, wodurch sich die Kinder mit ADHS, insbesondere im Schulalltag, auszeichnen und wie sie sich in den einzelnen Lebensabschnitten präsentieren. Hier werden auch die Kriterien anschaulich dargestellt, die Lehrkräften helfen können, einen von ADHS betroffenen Schüler zu identifizieren und aufgezeigt, wie es zur Stellung der Diagnose durch die Kliniker kommt.

Im zweiten Kapitel werden die für die Entstehung einer ADHS vermuteten Ursachen und Prozesse in einem Erklärungsmodell transparent gemacht. Aus dem Modell wird erkennbar, warum sich die Kinder mit ADHS so verhalten, wie sie es tun.

Im dritten Kapitel wird gezeigt, welchem Behandlungsplan der Umgang mit der ADHS-Problematik folgen sollte. Es wird veranschaulicht, welche Möglichkeiten bei den Kindern, ihren Familien und im Umfeld bestehen, um die Symptomatik in den Griff zu kriegen und im Alltag besser damit zurechtzukommen.

Im vierten Kapitel werden Strategien und Techniken aufgeführt, die im Umgang mit von ADHS betroffenen Schülern angewandt werden können. Ihre Durchführung wird genau beschrieben. Das Kapitel bietet einen grundlegenden Überblick über das gesamte Repertoire an Maßnahmen im Schulalltag und über den damit einhergehenden Handlungsspielraum, unabhängig von den individuellen Problemen des einzelnen Schülers. Die Interventionen gehen von den elementaren über die spezifischen Voraussetzungen weiter ins Detail. Sie sind durch eine bestimmte Kennung bezeichnet, um sie anschließend besser nachschlagen zu können:

■Unter „G“ finden sich die „Grundlegenden Maßnahmen“ zur Erleichterung des Unterrichtsalltags. Es wird beschrieben, wie man sich selbst im Umgang mit den schwierigen Schülern „wappnet“ und die Beziehung zum Schüler wird beleuchtet. Grundlegende Voraussetzungen, beispielsweise im Hinblick auf Klassenraumgestaltung, bewährte Unterrichtsstrategien, Hausaufgabensituation, Bewegungsangebote und Kommunikation mit der Klasse, sind hier Thema, aber auch die Gestaltung des Kontakts zu den Eltern und zu den Fachleuten.

■Weiterführende Spezifische nonverbale und verbale Interventionen werden unter „S“ dargestellt. Es handelt sich um spezielle Techniken, die bei der Arbeit mit von ADHS betroffenen Schülern verstärkt zum Einsatz kommen sollten. Entsprechende Checklisten helfen jeweils bei der Umsetzung der Maßnahmen.

Im fünften Kapitel wird eine Art Erste Hilfe bei problematischem Verhalten dargestellt. Hier kann man auf einen Blick die passenden Vorgehensweisen und Strategien zu ganz speziellen Fragestellungen und Problemschwerpunkten des eigenen Schülers finden.

Ein typisches Fallbeispiel eines Schülers mit ADHS können Sie zusätzlich zum Buch unter www.reinhardt-verlag.de finden. Anhand eines fiktiven, aber realistischen Falls wird dort sehr anschaulich gezeigt, wie man im ganz normalen Stress des Schulalltags Schritt für Schritt vorgehen kann, um den Verhaltensweisen eines Schülers mit ADHS im Unterricht effektiv zu begegnen.

In den Literaturhinweisen wird die diesem Buch zugrunde gelegte Literatur aufgeführt. Hier ist zusätzlich die Literatur zum Thema ADHS entsprechend markiert, die speziell für die Pädagoginnen, aber auch für die Eltern sowie die Schüler selbst empfehlenswert ist. Entsprechende Links sind dort ebenfalls zu finden. Spezielle Begriffe können im Sachregister nachgeschlagen werden.

Es ist selbstverständlich, dass Lehrerinnen und Lehrer gleichermaßen angesprochen sind und dass Schülerinnen mit ADHS und Schüler mit ADHS in gleicher Weise berücksichtigt werden. Um den Lesefluss nicht zu stören, werde ich im fortlaufenden Text von Kindern mit ADHS oder von Schülern mit ADHS sprechen, wobei sowohl Jungen als auch Mädchen gleichermaßen gemeint sind. Entsprechend möchte ich die Lehrer herzlich bitten, sich angesprochen zu fühlen, wenn außer von Lehrkräften auch von Lehrerinnen und Pädagoginnen gesprochen wird. Zudem wird auf Seiten der Fachleute von Untersuchern und Diagnostikern gesprochen, wobei Untersucherinnen und Diagnostikerinnen immer mit gemeint sind.

1 Das Störungsbild

In diesem Kapitel wird gezeigt,

■wie bestimmte Verhaltensmuster als Störungsbild ADHS erkannt wurden,

■wie sich das Bewusstsein der Gesellschaft dieser Störung gegenüber ändert,

■welche Symptome speziell in der Schule beobachtbar sind und auf ADHS schließen lassen,

■wie eine solide und seriöse Diagnostik erfolgen sollte,

■wie man dabei herausfindet, was eine ADHS ist und was nicht,

■wie sich eine ADHS über die gesamte Lebensspanne äußert.

Bekannt ist das „Phänomen ADHS“ schon sehr lange. Spätestens seit Ende des 18. Jahrhunderts zieht es sich, zunächst beschreibend und ohne dass es als Erkrankung oder als speziell behandlungsnotwendig erachtet wurde, durch die Jahrhunderte. Häufig wird in diesem Zusammenhang auf den „Zappelphilipp“ und den „Hans guck in die Luft“ von Hoffmann aus dem Jahre 1844 verwiesen. Das belegt anschaulich, dass es die Kinder, von denen wir sprechen, immer schon gab. Aber auch wissenschaftlich wurde bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts von dieser Störung berichtet und entsprechend geforscht (Lange et al. 2010).

Dem Störungsbild wurden im Laufe der Zeit viele verschiedene Namen gegeben, die sich aufgrund immer neuerer, fundierterer Erkenntnisse gewandelt haben, so sprach man von „Minimaler cerebraler Dysfunktion“, „Hyperaktivität“ oder „Hyperkinetischer Störung“. Seit bekannt ist, dass die ursprünglich im Fokus stehende motorische Überaktivität in der Regel mit verstärkter Impulsivität und einem starken Aufmerksamkeits- und Konzentrationsdefizit einhergeht, entstanden die Begriffe „Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom“ oder „Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom“ bis hin zur heutigen Bezeichnung, der „Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung“.

Es mag beklagt werden, dass mit dem Begriff ADHS doch nur alter Wein in neuen Schläuchen präsentiert wird, was dann die Motivation, sich mit diesem Störungsbild zu beschäftigen, herabsetzt. Aus klinischer Sicht ist es jedoch ein ganz normaler Vorgang, dass Störungsbilder erst mit zunehmenden Erkenntnissen in Forschung und Wissenschaft über die Zeit spezifiziert und eindeutiger zugeordnet werden können. Mit diesem zunehmenden Wissen ist immer auch ein Erkenntniswandel möglich, der von daher zu begrüßen ist.

Auch bei der ADHS ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Hier wird es weiterhin erkenntnisbedingte neue Ein- und Unterteilungen geben. Wenn man sich aber mit dem jeweils aktuellen Kenntnisstand befasst hat, kann man mögliche Neuentwicklungen problemlos einordnen. Es handelt sich nicht um eine klinische „Böswilligkeit“, sondern um Veränderungen, die der Diagnostik und damit der Behandlung der Betroffenen zugutekommen werden.

Die Diagnose ist in den Diagnosekatalogen – seit 1978 im ICD und seit 1980 im DSM – zu finden. Zurzeit hat man sich auf zwei unterschiedliche Benennungen geeinigt:

■„Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung“ ist die Benennung nach dem amerikanischen Klassifikationssystem DSM 5 und so nach den aktuellen Entwicklungen als offizieller Begriff Konsens (Falkai / Wittchen 2014).

■Aktuell befinden wir uns bei der diagnostischen Einordnung der ADHS im europäischen und deutschsprachigen Raum auf dem Übergang von der ICD-10 (Graubner 2011) zur ICD-11 (WHO 2015). Letztere ist seit Anfang 2022 gültig und lehnt sich an das zuvor erschienene amerikanische DSM 5 an. Damit wird die Störung inzwischen auch bei uns als „Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS)“ bezeichnet.

Mit dem Wandel der Anforderungs- und Arbeitsschwerpunkte über die Zeit erlangte das Störungsbild ADHS mehr und mehr an Bedeutung. Früher war die Ausbildung der handwerklichen Fertigkeiten durch Beobachten und direktes Ausprobieren, das heißt durch praktisches Lernen, geprägt. Dabei gab es mehr Bewegungs- und Aktivitätsräume. Unsere heutige Gesellschaft hingegen ist zunehmend zu einer Theorie-Gesellschaft geworden, das heißt auch: Konzentration auf Kopf- und Schreibtischarbeit und erheblich längere schulische Ausbildung. Hierin liegt zunächst keine Wertung, es ist jedoch eine Erklärung dafür, dass Kinder mit einer ADHS in der heutigen Zeit mehr auffallen als früher.

Aufgrund der derzeitigen gesellschaftlichen Bedingungen, bei hoher Schnelllebigkeit mit raschen Wechseln in Terminen, Verkehr, Technik und Medien, erweist es sich zudem für jedes Kind als schwieriger, sich durchweg aufmerksam und konzentriert zu verhalten. Es wird nicht nur ein anderes Lernen verlangt, sondern gleichzeitig sind, rein körperlich, die Bewegungsräume und -möglichkeiten der Kinder stark eingeschränkt. Bereits in den Kindergarten werden die Kinder mit dem Auto gefahren. Spazieren gehen, Fahrrad fahren und auf den Spielplatz gehen sind fast schon „Luxusaktivitäten“, da auch den berufstätigen Eltern während der Woche wenig Zeit bleibt. Unter der auf acht Jahre verkürzten Gymnasialzeit haben bereits 5.-Klässler in der Schule mindestens eine 35-Stunden-Woche, Hausaufgaben und Lernzeiten noch nicht dazu gerechnet. Der Trend geht aber auch wieder in die andere Richtung, diesen Schülern neun Jahre Zeit zu geben. In der Vergangenheit wurden die Strukturen und Rituale des täglichen Lebens sehr viel strenger eingehalten als heute. Zudem gab es eher rigorose bis züchtigende Erziehungsmethoden. Unsere heutige Gesellschaft erzieht freier und selbstbestimmter. Die Kinder müssen sich nicht mehr „zusammenreißen“, um körperliche Züchtigung abzuwenden. All dies zusammengenommen bewirkt, dass mehr Kinder auffällig erscheinen und dass der Eindruck entsteht, es gäbe heute mehr von ADHS betroffene Kinder als in der Vergangenheit.

Die „echten“ ADHS-Fälle haben es heute ungleich schwerer als früher. Da eine ADHS für die Betroffenen und ihr Umfeld ein größeres Problem darstellt als noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts, interessiert sich die Gesellschaft mehr dafür und fordert Hilfen und Maßnahmen. Im Gegenzug rückte das Störungsbild selbst mehr in den Fokus der medizinischen Forschung. Forschungsergebnisse wiederum gehen wieder zurück an die Öffentlichkeit, womit sich ein weiterer Popularitätsschub des Themas ADHS ergibt. In der Konsequenz werden mehr Kinder mit ADHS „aufgespürt“ und behandelt. Parallel dazu gibt es Kinder, die sich zunehmend aufmerksamkeitsgestört und motorisch unruhig verhalten, ohne eine ADHS zu haben.

In diesen Rahmen kann die Frage eingeordnet werden, ob ADHS eine Modediagnose ist. Die Verfechter dieser Behauptung bemängeln, es seien seit Beginn des 21. Jahrhunderts alle nur erdenklichen kleineren und größeren Verhaltensauffälligkeiten als ADHS benannt worden, und jedes Kind, das etwas zappele oder verträumt vor sich hinstarre, würde gleich als „ADHS-Kind“ bezeichnet. In der Vergangenheit gab es sicherlich tatsächlich einige Fehldiagnosen. Mit besseren diagnostischen Verfahren und breiterer Erfahrung der Diagnostiker ist jedoch die Fehlerrate zurück gegangen und es gelingt zunehmend besser, zum einen ADHS zuverlässig zu entdecken und zum anderen Kinder ohne ADHS sicher von der Diagnose auszuschließen.

Die Hypersensibilisierung mit ihren möglichen Fehldiagnosen ist wohl der Preis, den man für den Bekanntheitsgrad zahlen muss. In der Praxis zeigt es sich tatsächlich, dass zunehmend mehr Kinder mit einem Verdacht auf ADHS vorgestellt werden. Bei vielen dieser Kinder stellt sich aber, nach einer genauen Diagnostik, ein ganz anderer Problemschwerpunkt heraus. Allerdings muss man fairerweise sagen, dass die Wahrscheinlichkeit, eine ADHS zu diagnostizieren, obwohl es keine ist, über der Wahrscheinlichkeit liegt, eine ADHS fälschlicherweise zu übersehen (Bruchmüller / Schneider 2012). Inzwischen ist in der Schule in dieser Hinsicht eine starke Beruhigung eingetreten. Pädagoginnen sind selbst sensibilisierter für Schüler, die möglicherweise an einer ADHS leiden, und die Kooperation mit den diagnostizierenden und therapierenden Fachleuten gehört fast schon zum schulischen Alltag.

 

Aufgrund der Veränderungen in Gesellschaft und Familie zeigen viele Kinder vermehrt Aufmerksamkeitsstörungen und motorische Unruhe. Die Zahl der „echten“ Diagnosen von ADHS bei Kindern ist vermutlich aber nicht gestiegen. Diese Kinder fallen heute nur eher auf und werden somit unter verbesserten diagnostischen Möglichkeiten zu Recht als solche diagnostiziert. Dass auch Kinder fälschlich diagnostiziert werden, berechtigt nicht dazu, von einer Modediagnose zu sprechen, sondern zeigt deutlichen Handlungsbedarf in Richtung Aufklärung über das Krankheitsbild und in Richtung einer einheitlichen, leitlinienbasierten, umfassenden und fundierten Diagnostik.

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1.1 Leitkriterien der ADHS

Wenn man Eltern oder Lehrerinnen bittet, die Eigenschaften ihres von ADHS betroffenen Kindes zu beschreiben, gibt es eine riesige Sammlung verschiedenartigster Verhaltensmerkmale und Symptome. Einige treffen nur auf wenige Kinder zu, einige Symptome charakterisieren den größten Teil der Kinder mit ADHS.

Bei der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung können die einzelnen beobachtbaren charakteristischen Symptome, also Krankheitszeichen, zusammengefasst und dann drei gemeinsam auftretenden übergeordneten Leitkriterien zugeordnet werden:

A Aufmerksamkeitsstörung

B motorische Überaktivität

C Impulsivität.

Im Folgenden soll ein Überblick über die spezifischen Symptome dieser drei Leitkriterien gegeben werden. Dazu sind in der linken Spalte der Tabellen 1–3 die allgemein beobachtbaren Symptome aufgezeigt (nach ICD-10-GM / ICD-11 und DSM 5). In der rechten Spalte werden diese Symptome durch ihre speziellen Verhaltenspendants im Unterrichtsalltag ergänzt.

A Aufmerksamkeitsstörung

Eine Aufmerksamkeitsstörung ist dadurch gekennzeichnet, dass sowohl die Aufnahme als auch die Verarbeitung von Informationen im Alltag nicht adäquat und zeitnah geleistet werden kann. Eine gleichbleibende wache innere Gespanntheit ist nicht gewährleistet. Bei Anforderungen oder Aufgaben, für die eine gezielte Fokussierung der Aufmerksamkeit benötigt wird, ist keine langfristige Konzentration und damit kein Durchhaltevermögen vorhanden. Kleinste Anweisungen werden überhört und vergessen, das Arbeitsgedächtnis arbeitet defizitär. Die Kinder sind hochgradig ablenkbar. Sie können sich gegen unwichtige Informationen von außen nicht abschirmen. Diese Außenreizanfälligkeit bewirkt, dass alles gleichzeitig auf sie einprasselt und als gleich wichtig bewertet und beantwortet wird. Aus diesem Grund ist übrigens die parallele Aufmerksamkeit für alles, was so nebenher passiert – und was die Kinder womöglich gar nicht mitbekommen sollen – erstaunlich gut. Aber auch innere Störreize – z. B. der Gedanke an die nachmittägliche Reitstunde – lenken ab. Die Kinder driften innerlich weg und geraten ins Träumen.

Es gibt verschiedene Arten von Aufmerksamkeitsleistungen und damit auch von potentiellen Aufmerksamkeitsstörungen, auf die weiter unten gesondert eingegangen wird.

Tab. 1: Aufmerksamkeitsstörung

Aufmerksamkeitsstörung

im Allgemeinen

besonders in der Schule

Der Schüler

achtet nicht auf Einzelheiten, macht Flüchtigkeitsfehler bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten

ist unaufmerksam gegenüber Details oder macht Sorgfaltsfehler bei den Schularbeiten und sonstigen Arbeiten und Aktivitäten

●übersieht einen wichtigen Nachsatz in der Arbeitsanweisung

●addiert weiter, obwohl in der nächsten Aufgabe subtrahiert werden muss

●macht viele Fehler beim Abschreiben oder in Diktaten, die sogar an eine Lese-Rechtschreib-Schwäche denken lassen

●lässt ganze Absätze oder Aufgaben aus

ist nicht in der Lage, Aufmerksamkeit und Konzentration bei Aufgaben und beim Spielen aufrechtzuerhalten

●starrt tatenlos auf sein Blatt oder in der Gegend umher (gut beobachtbar während Stillarbeitsphasen oder in Klassenarbeiten)

●unterbricht ständig die ihm gestellten Aufgaben

●verliert leicht den Überblick

●ist am Platz mit anderen Dingen beschäftigt

●hält nicht durch

●lenkt sich und andere ab

hört scheinbar nicht, was ihm gesagt wird

●nimmt gesprochene Worte einfach nicht wahr (selbst den eigenen Namen nicht)

●ist unempfänglich für Erklärungen

●wirkt tagträumend

führt Aufträge anderer nicht vollständig durch und kann Arbeiten oder Pflichten nicht zu Ende bringen

kann oft Erklärungen nicht folgen oder seine Schularbeiten, Aufgaben oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht erfüllen

●beginnt seine Arbeit oftmals nicht zeitnah oder gar nicht

●ist auffallend langsam und schafft zumutbare Mengen an Arbeit nicht

●braucht mehr Zeit als vorgesehen

●„friert“ die Tätigkeit sofort ein, wenn die Lehrkraft nicht mehr daneben steht

●bleibt (nach Ablenkungen) nicht fortfolgend „dran“, kann somit nicht kontinuierlich arbeiten

Der Schüler

ist häufig beeinträchtigt, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren

●kann nur schwer Abläufe strukturieren (z. B. Aus- und Anziehen zur Sportstunde, Wochenplan, Stationen arbeiten)

●hat Chaos im Ranzen und auf dem Schreibtisch

●sucht ständig seine Sachen

●holt die falschen Materialien heraus

vermeidet ungeliebte Aufgaben, wie Hausaufgaben, die häufig geistiges Durchhaltevermögen erfordern

●wehrt sich vehement gegen schriftliche Arbeiten, Kopfrechnen und Hausaufgaben

●sucht sich derartige Aufgaben auch nicht selbst

●ermüdet bei geistigen Anstrengungen sehr viel schneller als seine Klassenkameraden

verliert häufig Gegenstände, die für bestimmte Aufgaben wichtig sind, z. B. für Schularbeiten

●verliert Arbeitsmittel auf unerklärliche Weise

●lässt Brotdosen, Sportzeug, Handschuhe entweder zu Hause oder in der Schule liegen

●verliert auch von ihm geliebte Dinge

wird häufig von externen Stimuli abgelenkt

●wird von jeglichen Nebengeräuschen abgelenkt

●bleibt mit den Augen an Nebensächlichkeiten hängen

●auch innere Reize – Gefühle oder Gedanken – lenken ab

●findet danach nur schwer zur jeweiligen Tätigkeit zurück, weiß nicht, wo er dran ist

ist im Verlauf von alltäglichen Aktivitäten oft vergesslich

●vergisst Informationen im gleichen Augenblick

●vergisst an sich wohl bekannte Abläufe

●vergisst, wo er seine Dinge ablegen soll, und dementsprechend auch, wie er sie wiederfinden kann

●vergisst, für die Schule erforderliche Dinge mitzubringen (Geld für die Klassenklasse)

B Motorische Überaktivität

Hiermit ist die Hyperaktivität der Kinder gemeint, die der Störung ursprünglich ihren Namen gab. Es zeigt sich ein deutlich höherer Aktivitätslevel als bei anderen Kindern, der sich über die verschiedenen Lebensphasen jeweils anders darstellt (g 1.5). Bei kleineren Kindern ist die motorische Aktivität am deutlichsten, aber auch Schulkinder hält es oft kaum auf dem Stuhl, und sie wackeln und zappeln ständig herum. Dabei sind nicht alle Kinder mit ADHS wesentlich zappeliger als ihre Altersgenossen, aber es zeigt sich eine deutliche Situationsunangemessenheit. Sie können sich insbesondere dann nicht still verhalten, wenn es die Umstände erfordern.

Tab. 2: Motorische Überaktivität

Motorische Überaktivität

im Allgemeinen

besonders in der Schule

Der Schüler

fuchtelt mit Händen und Füßen oder windet sich auf dem Sitz

●wippt mit Fuß oder Bein und windet sich unendlich auf dem Stuhl, ohne jemals die richtige Position zu finden

●sitzt schräg oder falsch herum auf seinem Stuhl

●fällt mit dem Stuhl um

●wedelt andauernd mit dem Bleistift

verlässt seinen Platz im Klassenraum oder in anderen Situationen, in denen Sitzen bleiben erwartet wird

●verlässt tatsächlich seinen Platz

●hebt einen Bleistift auf, wirft etwas in den Papierkorb oder sucht einen Mitschüler auf, um mit ihm zu reden

●springt im Sportunterricht von der Wartebank auf

läuft herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist

●läuft ständig herum oder klettert, z. B. im Bus, im (Sport-)Unterricht oder auf dem Schulhof

●klettert auch auf Dinge, die verboten sind

●bringt sich durch Klettereien in Gefahr

Der Schüler

zeigt ein anhaltendes Muster exzessiver motorischer Aktivitäten, das durch den sozialen Kontext oder Verbote nicht durchgreifend beeinflussbar ist

●kann nach Ermahnung nicht lange ruhig sitzen bleiben (auch wenn er eigentlich gerne gehorchen möchte)

●zeigt eine körperliche Spannung und deutliche Ruhelosigkeit

ist häufig unnötig laut beim Spielen oder hat Schwierigkeiten bei leisen Freizeitbeschäftigungen

●spielt alle Spiele laut

●ist immer überall herauszuhören

●summt, singt und schnalzt während des Unterrichts

●macht andere Geräusche während der Erledigung von Arbeitsblättern

●trommelt kontinuierlich mit dem Stift

C Impulsivität

Eine schlechte Impulskontrolle bedeutet, dass die Kinder unmittelbar auf jeden Reiz, der sich ihnen bietet, reagieren müssen. Die Kinder können einfach nicht in Ruhe nachdenken oder die innere Spannung aushalten, bevor sie etwas tun. Planvolles Handeln ist von daher erschwert. Es besteht eine „Direktschaltung“ vom Gehirn zum Mund, im Sinne von: „Woher soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage?“ Dies ist in der Kommunikation ausgesprochen schwierig, da die Kinder andere häufig unterbrechen und dabei selbst reden wie ein Wasserfall. Es kann auch zu gefährlichen Situationen kommen, da das Kind die Konsequenzen der spontanen Einfälle, die sofort in die Realität umgesetzt werden, kaum abschätzen kann.

Tab. 3: Impulsivität

Impulsivität

im Allgemeinen

besonders in der Schule

Der Schüler

platzt häufig mit der Antwort heraus, bevor die Frage beendet ist

●kann nicht aufzeigen und warten, bis er dran ist

●muss die Lösung immer sofort reinrufen

●macht unangemessene Zwischenkommentare

●beginnt die Bearbeitung von Aufgaben, ohne zu überlegen oder zu wissen, was er eigentlich tun soll

kann häufig nicht in der Reihe warten oder warten, bis er bei Spielen oder Gruppensituationen an der Reihe ist

●möchte immer sofort dran sein

●drängelt sich vor, im Spiel, im Sportunterricht, beim Verteilen angenehmer Dinge

●erwartet, dass man seinen Forderungen immer sofort entspricht

unterbricht oder stört andere häufig

●platzt in die Unterhaltungen, Beschäftigungen und Spiele anderer hinein

●macht ständig unpassende Kommentare über andere, auch wenn er nicht gefragt ist

●kann keine Bedürfnisse aufschieben

redet häufig exzessiv, ohne angemessen auf soziale Beschränkungen zu reagieren

●redet ohne Punkt und Komma

●kommt „vom Hölzchen aufs Stöckchen“

●stellt ständig irgendwelche Fragen, die er an sich gar nicht beantwortet haben will

●muss rigoros unterbrochen werden, um überhaupt aufhören zu können

●hat so etwas wie „Sprechdurchfall“

Die Trias der Leitkriterien macht deutlich, was im Alltagsgeschehen manchmal so schwer nachzuvollziehen ist: Die motorische Unruhe und die Impulsivität machen das Verhalten der Kinder mit ADHS hektisch, unruhig, unüberlegt bis hin zu sozial unverträglich. Gleichzeitig aber sind sie im Arbeitsverhalten so extrem langsam und trödelnd, dass man ihnen gleichsam „im Gehen die Hose flicken“ kann, wofür die Aufmerksamkeitsstörung verantwortlich ist. Im Unterricht hat man also das ganze Spektrum von teilnahmslosen, geistig abwesenden Verhalten bis hin zu ständig störendem Gebaren.

Wie weiter unten ausführlich beschrieben, wird der Diagnostiker nun in einem ersten Schritt schwerpunktmäßig versuchen, zu entscheiden, ob entsprechend den Aussagen der Eltern, des Umfeldes, gegebenenfalls des Kindes oder Jugendlichen selbst und nach den eigenen Verhaltensbeobachtungen Aufmerksamkeitsstörungen, motorische Überaktivität und Impulsivität vorliegen. Oftmals soll die Ausprägung der einzelnen Symptome auf einer Fragebogen- oder Beobachtungsskala von 0 bis 3 eingeschätzt werden. Diese Einschätzung ist schwierig, weil zum einen bei der direkten Beobachtung einige Signale wesentlich besser sichtbar sind, wie Zappeln und Dazwischenreden, während sich andere, wie Teilnahmslosigkeit und Unaufmerksamkeit, nicht immer richtig erfassen lassen. Zum anderen spielt bei der Beurteilung der Symptome auch die subjektive Haltung der Beurteiler eine Rolle, die für den Diagnostiker nicht immer offensichtlich ist.

Zur Diagnosestellung einer ADHS ist es nicht erforderlich, dass sämtliche der oben angeführten Symptome vorhanden und gleich stark ausgeprägt sein müssen. Je nachdem, wie viele einzelne Symptome jeweils der Aufmerksamkeitsstörung, der motorischen Überaktivität und der Impulsivität in stark ausgeprägter Form gegeben sind, gilt dieses Leitkriterium als erfüllt. Wie bei vielen Krankheitsbildern sind die Grenzen von normalem zu auffälligem Verhalten fließend. Es gibt also keinen fest definierten „kritischen“ Wert, ab dem man von einer ADHS spricht. Man stellt sich eher ein Kontinuum vor, auf dem unterschiedliche Ausprägungsgrade der einzelnen Symptome und Leitkriterien auftreten können. Von Kind zu Kind kann sich die Intensität der Aufmerksamkeitsstörung, der motorischen Überaktivität und der Impulsivität unterscheiden, was zu individuellen „Profilen“ und auch zu unterschiedlichen Ausprägungsgraden von ADHS führt. Manche Kinder sind deutlich einem impulsiven Typ zuzuordnen. Das Ausbleiben von motorischer Überaktivität und Impulsivität hingegen spricht nicht grundsätzlich gegen eine ADHS, wenn beispielsweise die vorwiegend unaufmerksame Variante vorliegt.

Auch im schulischen Bereich ist es hilfreich, die Bezeichnungen der Klassifikationssysteme (g Tab. 4) zu kennen, damit man vor Missverständnissen gefeit ist.

Klassifikationssysteme

Fachleute legen in internationaler Zusammenarbeit Kriterien für die Diagnostik sämtlicher körperlicher und psychischer Erkrankungen fest. Zu jeder Erkrankung gibt es eine aktuelle Auflistung an Symptomen, anhand derer man sie erkennen kann, und eine spezielle Nummer. Diese Kriterien sind in allgemein gebräuchlichen Nachschlagewerken wie dem ICD-10 /ICD-11 (International Classification of Diseases der Weltgesundheitsorganisation) und dem DSM 5 (Diagnostical and Statistical Manual der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung aufgelistet. Die Kataloge werden durch internationale Fachkommissionen überarbeitet und erscheinen in bestimmten Abständen als aktuelle Revisionen neu. Es ist üblich, dass sich Mediziner, Vertreter von Krankenkassen und andere Fachleute im Gesundheitsbereich anhand dieser Verschlüsselung verständigen.

1. Bei der Diagnose eines gemischten Subtyps / Erscheinungsbilds sind Aufmerksamkeitsstörung, motorische Überaktivität und Impulsivität gleichermaßen beobachtbar.

2. Es kann der vorherrschend unaufmerksame Typ diagnostiziert werden. Hierbei ist die klinisch relevante Aufmerksamkeitsstörung das entscheidende Merkmal, motorische Unruhe und Impulsivität spielen nur eine untergeordnete Rolle. Es handelt sich sozusagen um eine ADHS ohne Hyperaktivität, wobei diese „Träumerle“-Variante gemeint ist, wenn man vom „ADS“ spricht (das Hyperaktivitäts-„H“ fällt dann weg). Oft wird hier auch der Begriff des hypoaktiven Kindes benutzt, der zusätzlich beinhaltet, dass dieser Typus wieder einen ganz eigenen, speziellen Charakter zu haben scheint, der sich von dem mit zusätzlicher hyperaktiv-impulsiver Symptomatik unterscheidet. Diese Kinder werden in der Regel nicht so schnell als von ADS betroffen erkannt. Sie fallen ja gerade nicht durch motorische Unruhe oder sozial unverträgliche Impulsivität auf und werden daher auch in der Schule zunächst übersehen, insbesondere wenn sie ihre Langsamkeit durch Intelligenz wettmachen können. Sie verhalten sich still, und der Lernstoff rauscht an ihnen vorbei, das Arbeitsgedächtnis wird nicht effektiv genutzt. Sie haben Schwierigkeiten mit Aufgaben zu beginnen, können ein Thema nicht konsequent zu Ende führen und fallen auf, weil sie deutlich langsamer arbeiten als ihre Mitschüler. Häufig haben diese Kinder im Vergleich zu den anderen ADHS-Typen ein geringeres Selbstbewusstsein, sie trauen sich an vieles nicht heran, weil sie meinen, es sowieso nicht schaffen zu können. Bei ihnen kommt es auch eher zu psychosomatischen Reaktionen wie Kopf- und Bauchschmerzen. Gleichzeitig sind sie oft sehr motiviert, willig und bemüht (Neuhaus 2003; Simchen 2009).

3. Als dritte Variante kann der vorherrschend hyperaktiv-impulsive Typ beschrieben werden. Hier erscheint die Aufmerksamkeitsstörung nur peripher, während motorische Überaktivität und Impulsivität massiv im Vordergrund stehen. Die hyperaktiv-impulsiven Kinder mit ADHS sind häufig die pfiffig-cleveren, die zwar im Stehen arbeiten müssen, aber ihre Aufgaben mal so eben nebenher erledigen können, das heißt tatsächlich auch problemlos anfangen und am Ball bleiben, bis sie fertig sind. Kinder von diesem Subtyp haben in der Regel trotz großer Defizite in den exekutiven Funktionen (Popow / Ohmann 2020) weniger Lernstörungen. Vergleichenden Studien zufolge zeigen sie aber später mehr delinquentes Verhalten als der gemischte Subtypus. Bei diesem vergleichsweise seltenen hyperaktiv-impulsiven Typus treten oftmals später mit Schulbeginn auch Aufmerksamkeitsstörungen auf, die sie zuvor durch gute Intelligenz kompensieren konnten, das heißt er mündet in den gemischten Subtypus.

Nach dem neu erschienen ICD-11 erfolgt die Diagnose einer ADHS analog zum DSM 5, was in Tabelle 4 „Klassifikationssysteme“ veranschaulicht ist.

Tab. 4: Klassifikationssysteme

nennt sich im DSM 5

nennt sich im ICD-11

Aufmerksamkeitsstörung

Motorische Überaktivität

Impulsivität

314.01 Gemischter Subtyp

6A05.2 Aufmerksamkeits- / Hyperaktivitätsstörung mit gemischtem Erscheinungsbild

Pure Aufmerksamkeitsstörung

314.00 Aufmerksamkeitsgestörter

Subtyp (ADS)

6A05.0 Aufmerksamkeits- / Hyperaktivitätsstörung mit vorwiegend unaufmerksamem Erscheinungsbild

Motorische Überaktivität

Impulsivität

314.01 Hyperaktiv-impulsiver Subtyp

6A05.1 Aufmerksamkeits- / Hyperaktivitätsstörung mit vorwiegend hyperaktiv-impulsivem Erscheinungsbild

1.2Der Weg zu einer fundierten Diagnose

In der Regel gibt es zunächst Personen im Umfeld, denen das Verhalten des Kindes auffällig erscheint. Dies sind neben den Eltern meist die Erzieherinnen und die Lehrerinnen oder aber Therapeutinnen, die bereits mit den Kindern arbeiten. Auch bei den Vorsorgeuntersuchungen durch die Ärzte für Kinder- und Jugendmedizin können motorische Unruhe und Impulsivität sowie schnelle Ablenkbarkeit festgestellt werden.

Wenn der Verdacht auf das Vorliegen einer ADHS geäußert wird, können sich die Eltern an qualifizierte Fachleute zur Diagnostik wenden. Diese Diagnostik wird meist durch spezialisierte Kinder- und Jugendärzte, niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater sowie Kliniken für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters oder Sozialpädiatrische Zentren durchgeführt.

Da es sich um eine neurobiologische Störung handelt, sollte die Diagnostik immer in den Händen eines Mediziners liegen. Psychologen, (Heil-) Pädagogen und andere spezialisierte Fachleute sind hierbei allerdings wichtige „Mitdiagnostiker“, die oftmals einen großen Teil der Untersuchungen und Befragungen übernehmen. Niedergelassene Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten benötigen bei der Erstellung einer Diagnose mindestens konsiliarisch einen Arzt.

Es besteht häufig das Missverständnis, man könne eine ADHS problemlos „austesten“ lassen. Eine ADHS lässt sich allerdings nicht objektiv aufgrund spezieller körperlicher Untersuchungen nachweisen oder „messen“. Es gibt keinen Gentest und keine bildgebende Untersuchung wie ein MRT oder ein CT, die eine ADHS feststellen könnten. Auch gibt es nicht „den einen Test“, der in der Lage ist, eine ADHS wirklich objektiv zu erfassen. Dies ist aber natürlich kein Argument dafür, dass es eine ADHS nicht gäbe. Eine ähnliche Situation liegt bei vielen anderen Störungsbildern, wie beispielsweise Autismus, Depression und psychotischen Erkrankungen vor, ohne dass deren reale Existenz angezweifelt würde. Es ist noch viel Forschung erforderlich, um eine sichere ADHS-Erkennung schneller, einfacher und zuverlässiger zu machen. Bis dahin wird eine ADHS weiterhin in einem sorgfältigen klinischen Entscheidungsprozess diagnostiziert.

Der optimale Weg zur Diagnosestellung ist eine multidimensionale Diagnostik, bei der man die Familie (g 1.2.1), das Umfeld (g 1.2.2) und natürlich das Kind selbst (g 1.2.3) gründlich betrachtet. Hierzu werden eingesetzt:

■körperliche Untersuchungen

■(anamnestische) Befragungen

■direkte Verhaltensbeobachtungen

■standardisierte Interviews

■standardisierte Fragebogen

■standardisierte Testverfahren

Ob eine ADHS vorliegt oder nicht, erkennt man nicht beim ersten Termin. Bei der Erstellung einer Diagnose ist es daher grundsätzlich sinnvoll, die erforderlichen Termine über einen längeren Zeitraum zu verteilen. Dies verhindert vorschnelle Schlüsse. Zum einen können Kinder mit ADHS sich in verschiedenen Untersuchungssituationen, insbesondere im Einzelkontakt, vollkommen angepasst verhalten. Zum anderen fassen Eltern, die ursprünglich angaben, eigentlich keine großen Probleme mit ihrem Kind im Alltag zu haben, nur langsam Vertrauen oder werden erst zunehmend dafür sensibilisiert, welche Schwierigkeiten das Kind tatsächlich hat bzw. sie mit dem Kind haben. In einem ersten Untersuchungsschritt werden die vielen Schilderungen, Beobachtungen und Daten, die in den umfangreichen Untersuchungen gewonnen wurden, dahingehend betrachtet, ob Symptome vorliegen, die sich den drei Leitkriterien, also Aufmerksamkeitsstörung, motorische Überaktivität und Impulsivität, zuordnen lassen. Im zweiten Untersuchungsschritt muss dann spezifiziert werden, ob es sich bei diesem gezeigten Verhalten auch tatsächlich um eine ADHS handelt. Die einzelnen „Puzzlesteine“ und Teilelemente aus den verschiedenen Datenquellen müssen dann vom Diagnostiker und seinem Team in der Gesamtschau erhoben, gesehen und schlüssig zusammengesetzt werden. Alle Beteiligten müssen sich darüber im Klaren sein, dass diese Diagnose sehr zeitaufwändig ist.

Eltern sollten eine gründliche, multidimensionale Untersuchung mit abschließender Diagnosestellung erwarten können. Mit der S3-Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF, https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/028-045) liegt die höchste Stufe einer Leitlinienentwicklung im Hinblick auf Evidenz- und Konsensentwicklung vor. Federführende Fachgesellschaften wie die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN) und die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e.V. (DGSPJ, Grosse / Skrodzki 2007) sowie 31 weitere Fachverbände erstellten diese mit systematischer Recherche, Auswahl und Bewertung der empirischen Literatur. In diese S3-Leitlinie wurden die zuvor bereits existierenden und angewandten internationalen Leitlinien, z. B. des National Institute for Health and Clinical Experience (NICE) und der American Academy of Pediatrics (AAP) integriert. Ein nur recht kurzes und individuelles Repertoire einzelner Diagnostizierender sollte schon seit langem der Vergangenheit angehören. Als Laie sollte man sich allerdings auch nicht durch etwaige in den Medien kursierende „informelle“ Diagnosestandards über das, was unweigerlich zu tun oder zu lassen sei, blenden lassen.

 

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1.2.1 Die Exploration der Familie

Ein umfassendes Anamnesegespräch mit den Eltern bezüglich der störungsspezifischen Entwicklungsgeschichte des Kindes ist immer erforderlich. Dabei werden auch familiäre Zusammenhänge, mögliche Belastungen und die Erziehungsstile der Eltern erhoben. Man sollte immer ein Augenmerk darauf richten, ob es Hinweise gibt, dass die Eltern selber an einer ADHS leiden. Es kann manchmal auch, je nach Alter, hilfreich sein, die Geschwister in die Befragung mit einzubeziehen.

Zur weiteren Einschätzung des Verhaltens des Kindes erfragt man bestimmte Alltagssituationen wie Anziehen, Essen, Spielen, Hausaufgaben, Einkaufen, Restaurantbesuch etc. Hierzu gibt es auch standardisierte Interviews. Zur Konkretisierung des ADHS-spezifischen Verhaltens kann man den Eltern Beobachtungsbogen mitgeben, in denen sie über einige Tage oder Wochen spezielle Verhaltensmerkmale der Kinder in ihrer Ausprägung bewerten können.

Zusätzlich lässt man die Eltern verschiedene Fragebogen ausfüllen. In diesen Diagnosechecklisten Hyperkinetischer Störungen, Fremdbeurteilungsbogen zu ADHS oder den Connors-Skalen wird zunächst ADHS-spezifisches Verhalten abgefragt. Mithilfe von weiteren Fragebogen werden aber auch noch andere mögliche Problemschwerpunkte des Kindes über die Eltern erhoben, wie z. B. ängstliches, depressives oder oppositionelles Verhalten.

Allerdings sind über Fragebogendaten allein keine absolut zuverlässigen Angaben zu erwarten. Erhebt man die Häufigkeit für ADHS ausschließlich aufgrund von Fragebogen ergeben sich bei den Eltern nahezu 5 %, d. h. doppelt so viele, zusätzlicher Verdachtsfälle (Schlack et al. 2007), während in einer früheren Studie rein aufgrund von Lehrerfragebogen eine Vorkommenshäufigkeit von 17,8 % nach DSM IV-Kriterien erhoben würde (Baumgärtel 1995). Dabei weichen die Einschätzungen ein- und desselben Kindes durch die verschiedenen Bezugspersonen noch dazu oftmals eklatant voneinander ab. Außerdem ist in der Fremdeinschätzung durch Eltern oder Lehrkräfte die Beurteilung der Aufmerksamkeit meist gekoppelt mit dem Erleben der motorischen Unruhe und Impulsivität. Werden also letztere als extrem empfunden, wird die Aufmerksamkeitsleistung auch als gestört bewertet. Verbessern sich motorische Unruhe und Impulsivität, wird auch die Aufmerksamkeit als verbessert beschrieben. Dies muss aber keineswegs der Realität entsprechen. So werden beispielsweise gerade die jüngsten Schüler einer Klasse durch die Lehrkräfte häufig im Sinne einer ADHS beschrieben und eingeschätzt, was vermutlich daran liegt, dass sie den Lehrkräften im Vergleich zu den anderen Kindern unreifer erscheinen und damit auch eine geringere motorische Reife aufweisen (Eldar 2010).

Der Diagnostiker hat also die Aufgabe, kritisch einzuschätzen, wie die Fragebogenergebnisse der Bezugspersonen zustande gekommen sind. Es kommen unterschiedliche Ergebnisse zustande, je nachdem, ob relevante Bezugspersonen große Toleranz, regelrechten Groll oder Desinteresse an den Tag legen, und auch in Abhängigkeit davon, ob sie eine medikamentöse Behandlung vollkommen ablehnen oder dringend erwarten. Die Haltung, die den Fragebogenergebnissen zugrunde liegt, kann nur mit berücksichtigt werden, wenn der Diagnostiker zusätzlich persönliche Gespräche mit den Eltern und Erzieherinnen oder Lehrerinnen führt. Aus diesen Gründen sind nach der neuen S3-Leitlinie Fragebogenverfahren zur Beurteilung der ADHS- und koexistierender Symptomatik hilfreich aber nicht ausreichend zum Stellen einer Diagnose.

Ergänzende Hinweise liefert immer auch die direkte Beobachtung der Interaktion zwischen den Eltern und dem jeweiligen Kind. Hierzu können zusätzlich Videoaufzeichnungen von zu Hause mitgebracht oder direkt vor Ort gemacht werden. Man beobachtet, wie die Eltern in verschiedenen Situationen, z. B. bereits im Wartezimmer oder in der gemeinsamen Spielsituation, beim Dazwischenreden, bei Verweigerung etc. mit dem Kind umgehen. Es ist aber nicht zulässig, daraus sofort einen direkten Wirkzusammenhang abzuleiten. Eltern sind beispielsweise nicht gleich inkonsequente, inkompetente Erziehende, wenn sie sich nicht gegen ein Kind durchsetzen, das seine Jacke nicht anziehen will. Vielleicht lässt sich das Kind aufgrund einer vorliegenden ADHS tatsächlich nur äußerst schwer bändigen, und die Eltern wollen in der Öffentlichkeit kein Theater oder haben bereits resigniert.

1.2.2 Die Exploration des Umfelds

Eine eingehende Befragung der weiteren Bezugspersonen, also der Erzieherinnen, Lehrerinnen und Therapeutinnen, erfolgt in Telefonaten oder im direkten Kontakt. Manchmal sind Lehrkräfte zwar irritiert dadurch, dass sie einen Anruf des Diagnostikers erhalten. Ein direkter Kontakt und die direkte Einschätzung des betreffenden Schülers durch die Lehrkräfte sind aber unverzichtbar. Wie noch geschildert werden wird, kann eine ADHS genau genommen gar nicht diagnostiziert werden, ohne überprüft zu haben, wie das Kind sich in (möglichst allen!) seinen Lebensschwerpunkten verhält.

Hierzu ist eine Hospitation vor Ort optimal, bei der man sich persönlich kennen lernen kann und die gleichzeitig „live“ die besten Beobachtungsmöglichkeiten für den Diagnostiker bietet. Leider ist das vom Aufwand her nicht immer zu realisieren.

Zusätzlich wird um eine Einschätzung des Verhaltens auf speziellen standardisierten Frage- bzw. Beobachtungsbogen gebeten. Zum Einsatz kommen ebenso Diagnosechecklisten Hyperkinetischer Störungen, Fremdbeurteilungsbogen zu ADHS oder Connors-Skalen. Diese fragen insbesondere die Symptome ab, die in den Tabellen 1–3 zu den Leitkriterien Aufmerksamkeitsstörung, Motorische Überaktivität und Impulsivität in der linken Spalte aufgelistet sind. Da diese etwas allgemein gehalten sind und mancher Lehrkraft zu (schul-) unspezifisch erscheinen mögen, ist es günstig, sich zur Beurteilung des Schülers die Merkmale der rechten Spalten vor Augen zu führen.

Falls Lehrkräfte den Eindruck haben, die gestellten Fragen gingen an der Realität des eigenen Schulalltags mit dem betreffenden Schüler vorbei, hilft es dem Diagnostiker auch, einen kurzen frei formulierten Bericht über die Problemschwerpunkte des Schülers zu erhalten. Auch wird er um die Zeugnisse der Kinder bitten und sich deren Arbeitshefte ansehen.

Hat mein Schüler eventuell ADHS?

Hat man als Lehrkraft den Verdacht, ein Schüler könne unter einer ADHS leiden, sollte man sich zunächst explizit einige Tage zur konkreten Beobachtung Zeit nehmen. Hierbei muss man sich nicht mit selbst angefertigten stündlichen oder täglichen Notizen verausgaben. Man fokussiert stattdessen möglichst ausschließlich auf die Symptome, die in der rechten Spalte der Tabellen 1–3 aufgelistet sind. Man kann hier beispielsweise über einige Tage Strichlisten über die Auftretenshäufigkeit der Symptome führen. Auch wenn man selbstverständlich expansives, also ausagierendes, unruhiges, sozial unangemessenes Verhalten mitzählt, sollte man sich dadurch nicht in die Irre führen lassen. Aussagekräftiger als dieser verhaltensproblematische Aspekt ist die Fokussierung auf die leistungsmindernden Aspekte. Daher achtet man während des Beobachtungszeitraums verstärkt darauf, ob bei dem betreffenden Schüler Symptome von Unaufmerksamkeit vorliegen. Eine Metaanalyse von Kofler et al. (2008) zeigte, dass Schüler mit ADHS übereinstimmend mehr unaufmerksames Verhalten im Unterricht zeigen. Während die Klassenkameraden zu 88 % der Zeit ihre Aufmerksamkeit auf die jeweiligen Aufgaben richteten taten dies Schüler mit ADHS mit 75 % der Zeit statistisch bedeutsam weniger. Günstig ist es auch, sich bei der Beobachtung zunächst jeglicher Interpretation zu enthalten. Zuschreibungen wie „er verweigert die Arbeit“ oder „er hat Angst zu versagen“ können den tatsächlichen Sachverhalt (z. B. „Der Schüler ist nicht in der Lage, Aufgaben von selbst zu beginnen“) verschleiern oder schlimmstenfalls ins Gegenteil verkehren.

Kommt man zu dem Schluss, dass ein Schüler die soeben geschilderten Symptome häufig und massiv zeigt, kann dies ein Indikator dafür sein, den Eltern nahe zu legen, ihr Kind untersuchen zu lassen. Die verfassten Strichlisten in Kombination mit den alltäglichen Beobachtungen über den Schüler sind eine solide Grundlage für ein Gespräch. Lehrkräfte haben darüber hinaus keine Verpflichtung, tiefer in die Materie einsteigen oder gar eine eigene Diagnose zu stellen. Erst wenn die Eltern eine Diagnostik in Angriff genommen haben, sollten die Lehrkräfte wieder aktiv werden, nämlich dann, wenn die diagnostizierenden Fachleute sie bitten, ihre eigenen Beobachtungen beizusteuern.

Wie der Kontakt zwischen Lehrkräften und Fachleuten befriedigend gestaltet werden kann, wird im vierten Kapitel genauer dargestellt ( G13).

1.2.3 Die Exploration des Kindes

Bei der Untersuchung des Kindes wird:

A eine körperliche Untersuchung,

B eine Untersuchung mit standardisierten Testverfahren und Fragebogen sowie

C eine (ständige) Verhaltensbeobachtung

durchgeführt.

A Körperliche Untersuchung

Die Diagnostik beginnt beim Kind selbst in Form einer eingehenden körperlichen Untersuchung. Überprüft wird der Entwicklungsstand des Kindes, Seh- und Hörvermögen und motorische Funktionen. Mithilfe eines EEGs können bei Bedarf mögliche hirnelektrische Veränderungen bis hin zu akuten oder chronischen zerebralen Erkrankungen erfasst werden.

B Standardisierte Testverfahren und Fragebogen

Ab Beginn des Vorschulalters gibt es inzwischen zunehmend mehr standardisierte Tests, die zur Diagnostik einer ADHS eingesetzt werden können. Die einzelnen Testverfahren im Bereich des Schulalters werden im Folgenden kurz benannt, um sie einordnen zu können.

Intelligenzdiagnostik: Eine ausführliche intelligenzdiagnostische Überprüfung des Kindes ist unabdingbar (z. B. K-ABC II, WISC-V etc.). Der ermittelte Gesamt-IQ-Wert gibt einen guten Anhalts- und Ausgangspunkt. Nur so kann abgeklärt werden, ob die gezeigten Verhaltensauffälligkeiten in Zusammenhang mit einer (schulischen) Über- oder Unterforderung stehen. Statistisch bedeutsame Unterschiede zwischen den einzelnen Untertests oder zwischen einzelnen Skalen bieten weitere Erklärungen für Lern- und Verhaltensauffälligkeiten oder Hinweise auf mögliche umschriebene Entwicklungsstörungen. Verfahren, die nur einen sehr kleinen Ausschnitt des Intelligenzspektrums repräsentieren, wie beispielsweise Matrizentests, sollten nicht allein zur Anwendung kommen. Veraltete Testverfahren (z. B. CFT 1, der den IQ-Wert deutlich überschätzt) sollten nicht mehr angewandt werden.

Erfassung umschriebener Entwicklungsstörungen: Zur Abklärung möglicher umschriebener Entwicklungsstörungen (früher auch Teilleistungsstörungen genannt) können bereits im Vorschulalter zunächst einzelne Funktionen, wie die Grob- und Feinmotorik, die visuelle Wahrnehmung, die visuomotorische Koordination, die sprachlichen Fähigkeiten sowie die auditive Merk- und Verarbeitungsfähigkeit mit verschiedenen Testverfahren überprüft werden. Werden hier Defizite festgestellt, können diese sich leicht im Schulalter zu gravierenden Störungen wie einer Lese-Rechtschreib-Störung oder einer Dyskalkulie entwickeln. Gibt es bei dem zu untersuchenden Schüler Hinweise auf das Vorliegen solcher umschriebener Defizite, kommen in der ADHS-Diagnostik standardisierte Lese-, Rechtschreib- und Rechentests zum Einsatz.