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In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Die Kinder von Sophienlust hatten wieder einmal einen ganz besonderen Freudentag. Schwester Regine und die Heimleiterin waren mit ihnen nach Maibach gefahren. Dort gastierte der Wanderzirkus Beran. Für Zirkuskenner war er keine besondere Attraktion, weil ihm große Tiernummern fehlten, aber das machte den Kindern nichts aus. Sie freuten sich einfach über alles, was sie zu sehen bekamen, und sie hatten schon tagelang von diesem Besuch gesprochen. Die kleine Heidi tuschelte Pünktchen zu: »Ich bin schon so schrecklich neugierig auf das kleine Mädchen, das so gut reiten kann. Ich weiß auch, wie es heißt - Vivi,« »Ja, das wird die Abkürzung von Viviane sein«, meinte Pünktchen. »Ein schöner Name. Pass auf, Heidi, jetzt kommen schon die Ponys.« »Ja, und das kleine Mädchen.« Heidi konnte kaum ruhig sitzen, aber auch alle anderen waren neugierig. Sie hatten schon viel von der fünfjährigen Vivi gehört, die auf ihren Ponys so gewagte Kunststücke machte, wie es sonst nur erwachsene, geübte Kunstreiterinnen auf großen Pferden taten. Niemand wurde enttäuscht. Es war beinahe beängstigend, wie die kleine zarte Vivi von einem Pony zum anderen sprang und auf einem sogar den Handstand machte. Mit ihrem langen blonden Haar, in einem kurzen Röckchen mit einem Rüschenblüschen, sah sie ganz allerliebst aus. Schwester Regine aber sah sehr ernst und besorgt drein. Schließlich sagte sie leise zu Frau Rennert: »Es ist eine Schande, so ein kleines, zartes Kind derart zu strapazieren. Fünf Jahre soll das Mädchen alt sein?
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Seitenzahl: 144
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Die Kinder von Sophienlust hatten wieder einmal einen ganz besonderen Freudentag. Schwester Regine und die Heimleiterin waren mit ihnen nach Maibach gefahren. Dort gastierte der Wanderzirkus Beran. Für Zirkuskenner war er keine besondere Attraktion, weil ihm große Tiernummern fehlten, aber das machte den Kindern nichts aus. Sie freuten sich einfach über alles, was sie zu sehen bekamen, und sie hatten schon tagelang von diesem Besuch gesprochen.
Die kleine Heidi tuschelte Pünktchen zu: »Ich bin schon so schrecklich neugierig auf das kleine Mädchen, das so gut reiten kann. Ich weiß auch, wie es heißt - Vivi,« »Ja, das wird die Abkürzung von Viviane sein«, meinte Pünktchen. »Ein schöner Name. Pass auf, Heidi, jetzt kommen schon die Ponys.«
»Ja, und das kleine Mädchen.« Heidi konnte kaum ruhig sitzen, aber auch alle anderen waren neugierig. Sie hatten schon viel von der fünfjährigen Vivi gehört, die auf ihren Ponys so gewagte Kunststücke machte, wie es sonst nur erwachsene, geübte Kunstreiterinnen auf großen Pferden taten.
Niemand wurde enttäuscht. Es war beinahe beängstigend, wie die kleine zarte Vivi von einem Pony zum anderen sprang und auf einem sogar den Handstand machte. Mit ihrem langen blonden Haar, in einem kurzen Röckchen mit einem Rüschenblüschen, sah sie ganz allerliebst aus.
Schwester Regine aber sah sehr ernst und besorgt drein. Schließlich sagte sie leise zu Frau Rennert: »Es ist eine Schande, so ein kleines, zartes Kind derart zu strapazieren. Fünf Jahre soll das Mädchen alt sein? Ich hätte es auf höchstens vier Jahre geschätzt.«
»Ja, diese Vivi sieht geradezu unterernährt aus«, flüsterte Frau Rennert zurück. »Es müsste verboten werden, ein so kleines Kind zu derartigen Kunststücken zu missbrauchen. In dem lieben Gesichtchen ist nicht die geringste Freude zu erkennen, und der Applaus scheint Vivi nichts zu bedeuten. Auf mich macht sie den Eindruck eines unglücklichen und gequälten Kindes.«
Die Kinder von Sophienlust machten sich darüber keine Gedanken. Sie bewunderter Vivi und hätten sie am liebsten mehrere Male gesehen. Auf der Heimfahrt sprachen sie immer noch von ihr und erzählten Denise von Schoenecker in Sophienlust begeistert, was sie gesehen hatten. Als Filzchen, Dr. Anja Freys Töchterchen, ins Kinderheim kam, berichtete Heidi ihr von der kleinen Vivi. Die anderen Kinder unterstützten sie dabei.
»Das Mädchen will ich auch sehen«, sagte Filzchen. »Zu dumm, dass ich heute nicht mitkommen konnte. Aber ich werde meine Mutti und meinen Vati bitten, mit mir in den Zirkus zu gehen.«
Während sich die Kinder von Sophienlust noch immer an Vivis Kunststückchen begeisterten, saß die Kleine müde und erschöpft im Wohnwagen.
Die Vermutung von Schwester Regine und Frau Rennert stimmte. Dieses kleine Mädchen wurde jeden Tag überfordert. Nie durfte es Kind sein, immer wurde nur von der Arbeit gesprochen, stets musste es etwas Neues einüben, denn es war die Zugnummer des Zirkus.
Das kleine Unternehmen gehörte Bruno Beran, einem vierzigjährigen Mann, der sich in vielen Berufen geübt hatte, aber in keinem weitergekommen war, bis er die Idee gehabt hatte, einen kleinen Zirkus zu gründen.
Bruno war ein harter, zynischer Mann. Das bekam besonders seine Frau Ebba zu spüren. Sie passte nicht in diese Welt und hatte schon oft bereut, Brunos Frau geworden zu sein.
Die kleine Vivi trug zwar den Namen Beran, aber sie war nicht das leibliche Kind von Ebba und Bruno. Die beiden hatten sie adoptiert, aber sie waren Tante und Onkel der Kleinen. Vivi war das uneheliche Kind von Ebbas Schwester Stefanie. Diese lebte nicht mehr. Sie war zwei Jahre nach Vivis Geburt an Leukämie gestorben. Da niemand da gewesen war, der sich um Vivi hätte kümmern können, hatte sich Ebba der Kleinen erbarmt. Sie hing in großer Liebe an ihrer Nichte, die nun ihr Adoptivkind geworden war.
Bruno empfand nichts für das kleine Mädchen. Für ihn war es nur eine Zugnummer für seinen kleinen Zirkus. Immer von Neuem trieb er Vivi an und dachte sich ständig neue Nummern für sie aus. Aber eine jede war zu schwer und zu gefährlich für das zarte Kind.
Ebba konnte das kaum noch mit ansehen. Bei jedem Auftritt von Vivi fürchtete sie, dass ein Unglück geschehen werde, aber sie konnte sich nur selten gegen ihren robusten Mann wehren und durchsetzen.
An diesem Tag versuchte sie es wieder einmal. Sie bat: »Gönne Vivi doch etwas Ruhe, Bruno. Du musst nicht schon wieder eine neue Nummer mit ihr einüben. Was sie bis jetzt kann, ist genug. Eine mehr würde ihre Kräfte vollends überfordern. Wir haben doch eine Verantwortung übernommen, als wir Vivi adoptierten. Dieser Verantwortung werden wir nicht gerecht, wenn wir das Kind so strapazieren.«
Ebba strich sich das blonde Haar aus der Stirn. Ihr Gesicht sah abgehärmt aus. Man hätte sie auf vierzig schätzen können, aber sie war erst dreiunddreißig Jahre alt.
Bruno, ein untersetzter dunkelhaariger Mann, sah seine Frau spöttisch an. »Immer dasselbe Lied. Wann wirst du mir endlich wegen der kleinen Kröte nicht mehr in den Ohren liegen? Meinst du, ich wollte ein Wohltäter sein, als ich sie adoptierte? Es hat schließlich lange genug gedauert, bis sie für den Zirkus zu gebrauchen war. Jetzt aber will ich nutzen, dass sie uns zur Verfügung steht. Du solltest etwas vernünftiger sein, denn du jammerst doch stets darüber, dass wir immer so knapp bei Kasse sind. Ohne Vivi wäre es noch schlimmer.«
Ebba schien das alles nicht gehört zu haben. In ihren grauen Augen standen Tränen, als sie erwiderte: »Der Gedanke, dass Stefanies Kind so ausgenutzt wird, ist mir unerträglich. Was würde meine Schwester sagen, wenn sie das wüsste?«
Bruno lachte bösartig. »Stefanie hat sich von irgendeinem Mann ein Kind anhängen lassen und ...«
»Aber sie hat ihr Kind geliebt«, unterbrach seine Frau ihn. »Und ich liebe Vivi auch. Es ist, als ob sie ein leibliches Kind von mir wäre. Ich bitte dich, Bruno, nimm etwas mehr Rücksicht auf sie, sonst bricht sie eines Tages noch zusammen. Sie ist doch nur mehr ein Häufchen Elend. Ich beobachte oft genug, dass sie auf dem Rücken der Ponys schwankt. Jedes Mal stehe ich Todesangst aus, dass sie herunterstürzt.«
»Höre endlich mit diesem Gezeter auf! Ich habe anderes im Sinn, als dir zuzuhören.« Bruno warf die Hände hoch. »Ich bin ein gequälter Mann. Zuerst habe ich solch einen Missgriff mit dir getan - und nun das Theater um das Kind. Wann wirst du endlich begreifen, dass man in einem Zirkus aus etwas härterem Holz geschnitzt sein muss? Wenn du weiter so zimperlich bleibst, werde ich mich nach einer anderen Frau umsehen müssen, die besser zu mir passt.«
Schon wollte Ebba darauf antworten, dass es wohl am besten sei, sich zu trennen, denn sie traute sich zu, sich auch mit anderer Arbeit durchschlagen und für Vivi sorgen zu können, aber sie hatte wieder einmal nicht den Mut dazu. Zu stark stand sie unter dem Einfluss ihres Mannes. Er hatte ihr beigebracht, ihm immer zu Willen zu sein. Von Tag zu Tag spürte sie stärker, dass sie kaum noch einen Funken Selbstbewusstsein besaß.
Ebba redete auch jetzt nicht mehr auf Bruno ein, weil sie fürchtete, dass er dann ganz aus den Fugen geraten würde. Schon mehrere Male hatten sie und Vivi zu spüren bekommen, was das bedeutete. Bruno scheute sich nicht zuzuschlagen, wenn er in Wut geriet.
Nachdem er weggegangen war, holte Ebba Vivi aus dem Wohnwagen und sagte: »Komm, wir machen einen kleinen Spaziergang. Ich habe gerade etwas Zeit dazu.«
Sofort kam Vivi zu ihr gelaufen und schmiegte ihre kleine Hand fest in die ihre. Ihre blauen Augen hatten sich etwas aufgehellt. Sie sah jetzt nicht mehr so mitgenommen aus.
»Am liebsten bin ich mit dir allein, Mutti«, versicherte Vivi mit ihrer hellen Kinderstimme. Da sie Ebba seit ihrem zweiten Lebensjahr Mutti nannte, wusste sie gar nicht, dass Ebba eigentlich ihre Tante war. Niemand hatte ihr erzählt, dass ihre leibliche Mutter gestorben war. Sie hielt Bruno Beran auch für ihren Vater.
Ebba ging mit Vivi aus der Stadt hinaus, bis sie ins Grüne kamen. Vivi konnte sich über alles freuen, was sie zu sehen bekam. Plötzlich war sie ein anderes Kind, aber ganz konnte sie nicht vergessen, wie schwer ihr Leben sonst war. Zaghaft fragte sie: »Mutti, werden wir immer im Zirkus bleiben müssen? Ich muss doch auch bald in die Schule gehen.«
»Das hat noch etwas Zeit, Vivi«, antwortete Ebba. »Vielleicht wird es bis dorthin leichter für uns.«
Vivi schüttelte betrübt den Kopf.
»Das glaube ich nicht, Mutti. Vati wird immer so böse sein. Warum nur? Ich glaube, er hat uns gar nicht lieb. Hast du heute die Kinder im Zirkus gesehen? Die haben es sicher gut. Sie waren so lustig. Bestimmt haben sie ein festes Haus, in dem sie wohnen.« Vivi blieb stehen und sah Ebba mit großen Augen an. »Mutti, wünschst du dir nicht auch, in einem Haus mit Türen und Fenstern und einem festen Dach zu wohnen?«
»Ja, das wünsche ich mir auch.«
Ebba hatte diese Antwort nicht zurückhalten können, aber schon erschrak sie deswegen. Sie musste Vivi doch Mut machen, statt zuzugeben, wie auch ihr ums Herz war.
»Mutti, du hast doch gesagt, dass du früher in einem Büro gearbeitet hast. Das könntest du doch wieder tun. Dann hätten wir vielleicht eine kleine Wohnung, den Vati brauchten wir ja nicht. Er könnte mit seinem Zirkus weiterziehen.«
Ebba dachte: Nein, sie liebt Bruno nicht, sie kann ihn auch nicht lieben. Zu oft zeigt er ihr, dass sie ihm nur ein Klumpen am Fuß wäre, wenn sie nicht auftreten könnte.
»Warum sagst du nichts, Mutti?« fragte Vivi.‘
»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll«, bekannte Ebba ehrlich. »Es lässt sich nicht so leicht alles über den Haufen werfen, wie du meinst. Komm, wir müssen an den Rückweg denken. Die Tiere wollen ihr Futter haben, und das ist unsere Arbeit.«
Vivi gab es auf, ihrer Mutti von ihren Wünschen zu erzählen. Schon mehrmals hatte sie das ergebnislos versucht. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als von all dem, was sie sich so wunderschön vorstellte, zu träumen.
Ebba tat es weh, dieses müde Gesichtchen zu sehen. Jetzt machte sie nicht nur ihrem Mann den Vorwurf, dass er der Verantwortung gegenüber Vivi nicht gerecht werde, sondern auch sich selbst.
*
Filzchen hatte durchgesetzt, dass ihre Mutter mit ihr in den Zirkus ging. Es war der letzte Tag, den der Zirkus noch in Maibach gastierte. Schon am nächsten Morgen sollte es weitergehen.
Weil die Kinder von Sophienlust so viel von der kleinen Reitkünstlerin Vivi erzählt hatten, fieberte Filzchen dem Auftritt des Kindes entgegen. Als es so weit war, griff sie vor Erregung nach der Hand ihrer Mutter und flüsterte: »So ein liebes Mädchen, Mutti! Und was es alles kann!«
Dr. Anja Frey hörte ihrem Töchterchen kaum zu. Ihre Blicke hingen entsetzt an der kleinen Vivi, die erschreckend blass aussah. Anja Frey meinte Angst in ihren Augen zu erkennen.
Eben sprang Vivi von dem Rücken des einen Ponys auf den Rücken eines anderen.
Da geschah das Unglück. Vivi verfehlte den Aufsprung und stürzte in die Manege. Ein lauter wehklagender Schrei war zu hören. Erschrocken sprangen die Zuschauer auf. Die Ponys trabten gemütlich weiter, aber nun kam Bruno Beran in das kleine Manegenrund gelaufen. Sein Gesicht war vor Zorn rot angelaufen. Mitgefühl konnte Dr. Anja Frey darauf nicht feststellen.
»Bitte, bleib hier sitzen«, sagte die junge Ärztin zu Filzchen. »Ich muss mich um das Mädchen kümmern.«
Schon verschwand sie und stand gleich darauf vor Bruno Beran. »Ich bin Ärztin«, sagte sie. »Die Kleine braucht Hilfe.« Sie beugte sich zu Vivi hinab, die noch immer zusammengekrümmt auf dem Sandboden lag.
»Unsinn«, herrschte Bruno Beran die Ärztin an. »Sie soll aufstehen und weitermachen. Das sind wir dem Publikum schuldig. So was von Wehleidigkeit!«
Anja Frey richtete sich auf und sah Bruno Beran böse an. »Das Kind ist verletzt. Heben Sie es auf und tragen Sie es hinaus.«
Die wenigen Zuschauer waren unruhig geworden. Es wurden Schimpfworte gegen den Zirkusbesitzer laut, weil er zögerte, Hilfe zu leisten.
In diesem Augenblick kam Ebba Beran in die Manege gelaufen. Man hatte ihr draußen erst jetzt erzählt, was passiert war. Sie kniete neben Vivi nieder und streichelte sie.
»Kannst du nicht aufstehen?« fragte sie mit zitternder Stimme.
Vivi sah sie mit stumpfen Blicken an.
»Das Kind scheint eine Gehirnerschütterung zu haben und sich am Bein verletzt zu haben.« Dr. Anja Frey bückte sich und forderte Ebba auf, ihr zu helfen, weil sie sah, dass Bruno Beran nicht bereit war, etwas zu tun. Er dachte nur daran, dass die Vorstellung durch einen unliebsamen Zwischenfall unterbrochen worden war.
Anja Frey und Ebba Beran trugen die kleine Vivi gemeinsam in den Wohnwagen. Das Kind gab keinen Laut von sich, aber sein schmales Gesicht war schmerzverzerrt.
Nach kurzer Untersuchung sagte Anja Frey: »Helfen Sie mir, das Kind in meinen Wagen zu tragen. Ich fahre es zum Krankenhaus. Das Bein scheint gebrochen zu sein. Es muss sofort geröntgt werden.«
Als die beiden Frauen Vivi vorsichtig zum Wagen trugen, kam Bruno angerannt. »Was soll das?« schrie er. »,Vivi hat hierzubleiben. Die Leute sollen sehen, dass ihr bei ihrem großen Patzer nicht viel passiert ist.«
»Geben Sie den Weg frei«, forderte Anja Frey ihn energisch auf. »Das Kind muss ins Krankenhaus. Wenn Sie uns daran hindern, werde ich Sie anzeigen.«
Mit zornigem Gesicht trat Bruno zur Seite. Erst nach einigen Minuten besann er sich darauf, dass die Vorstellung auch ohne Vivi weitergehen musste.
Zu dieser Zeit hatte Anja Frey ihr Töchterchen schon aus dem Zirkus geholt. Es sollte mit zum Krankenhaus fahren.
Während Ebba im Fond des Wagens saß und Vivis Kopf in ihren Schoß gebettet hatte, setzte sich Filzchen neben ihre Mutter. Sie sah aber immer wieder nach hinten und sagte schließlich: »Es wird nicht so schlimm sein, Vivi. Ich heiße Felicitas, aber alle rufen mich nur Filzchen.« Vivi sah Filzchen an, aber noch immer sagte sie nichts.
»Warum spricht sie nicht?« fragte Ebba. Sie war die personifizierte Angst.
»Sie steht unter einem Schock«, antwortete Anja Frey. »Zudem dürfte meine Vermutung, dass sie von dem Sturz eine Gehirnerschütterung davongetragen hat, stimmen. Wir sind schon da. Ich werde die Pfleger oder Schwestern herbeirufen. Sie können Vivi sachgemäßer tragen als Sie.«
Auch das ließ sich Vivi gefallen, dass sie von zwei fremden Männern in die Ambulanz getragen wurde. Man hörte sie nur manchmal unterdrückt stöhnen. Anja Frey begleitete sie. Die Kollegen im Maibacher Krankenhaus waren ihr ja gut bekannt. Ebba blieb zusammen mit Filzchen auf einer Bank im Flur sitzen. Zwischendurch sahen die beiden nur, dass Vivi auf einem fahrbaren Bett in den Röntgenraum gerollt wurde und später wieder zurückkam. Danach dauerte es nicht lange, bis Anja Frey aus der Ambulanz kam.
Erst jetzt fragte sie: »Sind Sie Frau Beran, Vivis Mutter?«
Ebba nickte. Sie hatte die Hände zusammengepresst. »Was ist Vivi passiert?«
Anja Frey machte ein sehr ernstes Gesicht.
»Ich bringe keine gute Nachricht, Frau Beran. Es stimmt, dass Vivi eine Gehirnerschütterung hat. Zudem hat sie einen Unterschenkel gebrochen und ein Knie schwer verletzt. Sie wird einige Wochen im Krankenhaus bleiben müssen und in einen Streckverband kommen.«
»Um Himmels willen«, stöhnte Ebba. So groß ihre Sorge um Vivi war, sie musste jetzt an ihren Mann denken. Er würde toben, wenn er diese Diagnose hörte.
Anja Frey tröstete sie. »Hier ist Vivi in den besten Händen, Frau Beran.« »Aber wir müssen weiterziehen. Soll ich Vivi allein zurücklassen? Das geht doch nicht.« Ebba sprang auf. »Jetzt wird Vivi gebracht.« Sie lief zu dem Bett, mit dem eine Schwester das verletzte kleine Mädchen zum Lift rollte.
»Vivi, bitte, sag doch etwas!« bat Ebba, während sie die Hand der kleinen Kranken drückte. »Ich darf hierbleiben, Mutti.« Das waren Vivis erste Worte seit dem Unfall. »Ich muss nicht mehr auftreten.«
Ebba senkte den Kopf. Sie konnte jetzt die Tränen nicht mehr zurückhalten. Zu sehr schnitt es ihr ins Herz, dass es für Vivi trotz ihrer Schmerzen eine Erlösung war, nicht mehr ihre Kunststücke vorführen zu müssen.
Anja Frey legte den Arm um Ebbas Schultern. »Kommen Sie, wir begleiten Ihr Töchterchen. Übrigens habe ich mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Dr. Anja Frey aus Wildmoos. Zufällig war ich mit meinem Töchterchen im Zirkus.«
»Das war gut so«, sagte Ebba, während sie sich die Tränen abwischte. »Danke, Frau Doktor, dass Sie gleich eingesprungen sind.« Vivi wurde in ein Zimmer gebracht, in dem bereits zwei andere Kinder lagen, die schon auf dem Weg der Besserung waren. So konnten sie der neuen Patientin beistehen, wenn es nötig sein sollte.
»Vivis Bein wird erst morgen eingegipst«, sagte der Arzt, der jetzt ins Zimmer kam und sich der Mutter vorstellte. Sie blieb noch bei Vivi, während sich Anja Frey und ihr Töchterchen verabschiedeten.‘
Als die beiden schon an der Tür waren, fragte Vivi: »Filzchen, gehörst du zu den Kindern, die vor ein paar Tagen im Zirkus waren?«
Sofort lief Filzchen zurück. Sie freute sich ja so darüber, dass sich Vivi ihren Namen gemerkt hatte und sie nun ansprach.
»Nein, ich gehöre nicht ganz zu ihnen«, sagte Filzchen, »aber ein bisschen. Weißt du, die anderen kamen alle aus einem sehr schönen Kinderheim. Es ist gar nicht weit von Maibach entfernt. Ich bin oft dort, weil meine Mutti die Ärztin der Kinder ist. Viele sind meine Freunde. Wir spielen oft miteinander. Du, Vivi, das ist immer sehr schön.«
Vivis Augen begannen zu glänzen.