Schutzlos - In deinen Händen - Dana Summer - E-Book

Schutzlos - In deinen Händen E-Book

Dana Summer

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Beschreibung

Durch Zufall stößt Lara auf geheime Dokumente, die ihrem Exfreund gehören. Dokumente, die niemals für fremde Augen bestimmt waren. Laras Leben ist in Gefahr und so bleibt ihr keine andere Wahl: sie muss sich in die Obhut von Ryan, einem Ex-Cop, begeben. Doch Ryan Carter ist genau die Sorte Mann, von der sich Frau lieber fernhalten sollte. Düster, geheimnisvoll, verdammt gutaussehend – und besitzt ein Geheimnis, das Lara um jeden Preis lüften will.  

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Dana Summer

Schutzlos - In deinen Händen

Liebesroman

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Kapitel 1

 

Erbarmungslos fährt der eisige Herbstwind durch mein Haar, zerrt an meiner Kleidung und lässt meine Hände, die meinen weinroten Schal festhalten, vor Kälte erzittern. Mir ist kalt, meine Füße schmerzen und meine Augen sind vom Weinen schon ganz rot. Aber das ist mir egal. Es ist mir auch egal, dass ich hin und wieder von Passagieren angerempelt werde, die schnellstmöglich in ihre warme Wohnung wollen, wo sie bestimmt von jemandem erwartet werden.

Auf mich wartet niemand mehr. Kein Paolo, der mich mit seinen warmen, haselnussbraunen Augen ansieht. Der mir mit seinen braungebrannten Händen durch das Haar fährt. Der Gedanke an Paolo, meinen Exfreund, schmerzt. Obwohl wir nur ein paar Monate zusammen waren, habe ich ihn mehr geliebt als alle anderen Männer, mit denen ich vorher zusammen war. Vermutlich deswegen, weil er genau die Sorte Mann ist, die mich so fasziniert. Er ist keiner dieser langweiligen „Normalos“, wie ich die Kerle nenne, die nichts anderes im Kopf haben als Karriere, Urlaub und Familienplanung. Männer, die man gerne seinen Eltern vorstellt, die einen aber auf lange Sicht langweilen. Von Anfang an war mir klar - Paolo ist anders. Er hat nie über Urlaub, seine Familie oder über seinen Job gesprochen. Unsere Gesprächsthemen waren eher karg, um nicht zu sagen, wir haben uns fast gar nicht unterhalten. Wir haben eher das getan, was zwei Verliebte nun mal tun.

Jetzt im Nachhinein könnte ich mich ohrfeigen. Wie konnte ich ihm nur blindlings, ohne ihn richtig zu kennen, vertrauen? Mich so schamlos von ihm ausnutzen lassen? Ich war dumm und verliebt. So dumm, dass ich ihn bei mir einziehen ließ, ohne dafür etwas zu verlangen, nicht mal Beteiligung an der Miete oder den eingekauften Lebensmitteln. Für Paolo war es selbstverständlich und ich habe mir nie darüber Gedanken gemacht, bis zu dem Zeitpunkt, an dem mein Leben aus der Bahn geworfen wurde.

Es ist keine drei Tage her, dass ich für meine Naivität bestraft wurde. Der Klassiker. Der Albtraum jedes Verliebten. Vor meinem inneren Auge steigt das Bild von seinem nackten Rücken auf, von seinem Hinterteil, das gerade dabei ist, auf das Bett - mein Bett - zuzugehen, um die Frau, die darin liegt, zu beglücken. Ich sehe mich immer noch wie versteinert im Türrahmen stehen, wo ich mit ansehen muss, wie die Schlampe ihre Finger nach ihm ausstreckt. Nach meinem Freund! Nur noch schemenhaft kann ich mich daran erinnern, was danach passiert ist. Ich weiß noch, dass ich wie eine Verrückte gebrüllt habe. Dass ich geweint habe. Paolos Kleider genommen und aus dem Fenster geworfen habe. Dass er mir mit dem üblichen Spruch: „Es ist nicht so, wie du denkst“, gekommen ist. Ich habe ihn angeschrien, er solle verschwinden oder ich würde die Polizei rufen. Daraufhin sind er und seine Tussi gegangen und ich war allein. Allein in meiner Wohnung mit seinem Geruch, der wie ein Nebel im Raum hing.

 

Das Klingeln meines Handys, welches andeutet, dass ich eine SMS bekommen habe, reißt mich aus meinen Gedanken. Mit eiskalten Händen ziehe ich es aus meiner Jackentasche, drücke auf den Knopf und sehe, dass es sich um eine Nachricht von ihm handelt.Babe, lass uns reden. Ich möchte dir erklären, warum es passiert ist. Love, Paolo

„Dieser verdammte Arsch“, fluche ich. Bis jetzt ist es mir gelungen, seine Anrufe und SMS zu ignorieren. Doch ich weiß, dass ich das nicht mehr kann. Noch immer sind seine Sachen bei mir und wenn ich sie nur einen Tag länger in meiner Wohnung sehen muss, dann drehe ich womöglich durch. Meine Schritte beschleunigen sich, tragen mich durch die nur schwach beleuchteten Straßen, auf direktem Weg zu meiner Wohnung. Während ich wütend vor mich hin stolpere, verfasse ich noch eine kurze Antwort für ihn:In einer Stunde kannst du deinen Scheiß vor meiner Tür abholen. Und wage es ja nicht, mir noch einmal unter die Augen zu treten.

 

Achtlos werfe ich seine Klamotten in einen Pappkarton und gebe mir die größte Mühe, meine Nase nicht in seinem grauen Wollpullover, der mir immer so gut an ihm gefallen hat, zu vergraben. Jedes seiner Kleidungsstücke, das ich berühre, hinterlässt ein unangenehmes Gefühl auf meiner Haut. So, als ob ich meine Finger daran verbrennen würde - was natürlich völliger Quatsch ist. Und doch schmerzt es mich so sehr. „Nur noch eine Schublade, dann hast du es geschafft“, flüstere ich mir selbst zu und reiße besagte Schublade auf. Leicht ziehe ich meine Nase hoch beim Anblick seiner Unterwäsche. Ich schließe meine Augen, greife hinein und hole jedes Teil Stück für Stück heraus. Unglaublich, wie viel Unterwäsche ein Mann haben kann, schießt es mir durch den Kopf. Die Schublade ist beinahe leer, als meine Hände etwas Kaltes, Lederartiges berühren. Meine Hände ertasten dieses seltsame Objekt, das definitiv nichts in einer Schublade voll Boxershorts zu suchen hat und sich anfühlt, als ob es zwischen der Spalte der Rückwand und dem Boden festhängen würde. Ich beuge mich nach vorn, schiebe die restliche Wäsche zur Seite, um besser sehen zu können. Obwohl ich das seltsame Objekt noch nicht sehe, ertasten meine Hände es. Ganz deutlich. Vorsichtig ziehe ich es heraus und bin erstaunt, wie schwer es ist. Vor Überraschung lasse ich mich nach hinten an das Bettgestell aus Holz sinken und begutachte die Ledermappe auf meinen Oberschenkeln.

Was sich auch immer in der Mappe befindet, Paolo wollte sicher nicht, dass ich es entdecke, schießt es mir durch den Kopf und ich spüre, wie mein Herz vor Aufregung etwas schneller schlägt. Ich fahre über die raue Oberfläche des Ledereinbandes und öffne ihn. Sofort springt mir ein seltsamer Zahlencode ins Auge.

Was soll das denn sein?

Die roten Zahlen stechen mir ins Auge: „33450“, flüstere ich leise und blättere weiter.

Auf den nächsten Seiten sehe ich verschiedene Zahlencodes und dahinter Daten. Allesamt Zeitpunkte, die in der Zukunft liegen. Meine Neugierde ist geweckt und so durchforste ich die Blätter nach irgendetwas anderem außer Zahlen und Daten. Lange muss ich nicht suchen. Hinter den Zahlencodes sind Lieferscheine. Lieferscheine mit Substanzen, die ausnahmslos an ein verlassenes Fabrikgebäude, keine halbe Stunde von hier entfernt, geliefert wurden. Auch wenn ich nur die Hälfte von dem verstehe, was da steht, spüre ich genau, dass Paolo irgendwelche krummen Dinger dreht. Und dann fällt mir ein, was ich ihm vor einer guten halben Stunde geschrieben habe. „Ganz großes Kino“, fluche ich leise und springe vom Fußboden auf. Paolo wird sicher keine Stunde warten, um seine Sachen zu holen. Erst recht nicht, wenn er solche Unterlagen in meiner Wohnung versteckt. Wie ein aufgeschrecktes Huhn renne ich durch meine Wohnung. Ich muss meinen Bruder anrufen. Er ist im Moment meine einzige Chance, aus der Nummer irgendwie rauszukommen.

Bereits nach dem vierten Klingeln nimmt er ab.

„Young“, hallt die beruhigende Stimme meines Bruders durch das Handy.

„Aiden, ich brauche deine Hilfe. Sofort.“ Meine Stimme überschlägt sich beinahe.

„Lara, was ist denn los? Wo bist du? Steckst du in Schwierigkeiten?“, will er fürsorglich wissen.

„Ich glaub schon. Ich bin in meiner Wohnung und … Aiden, ich habe keine Zeit, dir alles am Handy zu erklären.“

Leicht schiebe ich den Vorhang an meinem Fenster zur Seite, blicke nach unten auf die beinah menschenleere Straße. „Kannst du vorbeikommen?“

„Ich bin schon fast im Auto. Gib mir zehn Minuten.“

„Ok“, flüstere ich leise und lege auf.

Noch immer halte ich die Mappe in meiner Hand, erwäge, die Blätter darin zu kopieren. Sollte mir etwas passieren, dann hätte Aiden … „Denk gar nicht daran“, spreche ich laut aus und versuche, die Gedanken zu verdrängen. Meine Augen bleiben an der

Wanduhr hängen, fixieren den großen Zeiger, als ob ich ihn durch reine Willenskraft zu schnelleren Umdrehungen anspornen könnte. Die Zeit zieht sich endlos dahin, wie ein Bindfaden, der einfach nicht enden will. Ich stehe auf, setze mich hin und stehe wieder auf. Nervös tippe ich mit meinen Füßen auf den Boden. Gespannt lausche ich, nehme jedes Geräusch auf dem Flur vor meiner Wohnung wahr. Selbst eine Tür, die ein Stockwerk unter mir ins Schloss fällt, lässt mich aufschrecken.

Die Mappe in meiner Hand fühlt sich kalt an und erst jetzt spüre ich, dass ich sie die ganze Zeit krampfhaft festgehalten habe. Es vergeht keine Minute, da höre ich schnelle Schritte, die die Treppe empor eilen, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, und ich weiß sofort, dass er es ist.

„Verflucht!“ Leicht panisch sehe ich mich in meiner kleinen Wohnung um. Ich muss die Mappe irgendwo verstecken, doch leider habe ich keine große Auswahl. Genau in diesem Moment klingelt es an meiner Wohnungstür und mein Blick huscht zu meinem Sofa. Schnell beuge ich mich nach unten und schiebe die Mappe unter das blickdichte Polster. Und was jetzt? Die Mappe ist sicher. Zumindest sicher genug, um nicht gleich entdeckt zu werden. Ich ignoriere Paolo, tue so, als ob ich ihn nicht hören würde. Doch meine innere Stimme schleicht sich in meinen Kopf und höhnt: Genau. Paolo weiß, dass du zu Hause bist, und wenn du ihm nicht öffnest, dann sucht er sich auf andere Weise Einlass. Vermutlich mit Gewalt.

Meine einzige Möglichkeit ist, auf Zeit zu spielen. Paolo solange hinzuhalten, bis Aiden hier ist. Ein weiteres Mal klingelt es und gleich darauf folgt ein energisches Klopfen gegen die Tür.

„Babe, ich weiß, dass du da bist. Mach die Tür auf“, schallt die mir so vertraute Stimme durch den Raum.

„Du bist zu früh“, rufe ich zurück, schnappe mir eine der drei Kisten voller Klamotten und zerre sie zur Tür.

„Ich weiß. Babe, lass mich nicht wie einen Trottel vor deiner Tür stehen.“ Seine Stimme klingt ungeduldig.

„Einen Moment noch.“ Ich blicke auf die Uhr. Mein Bruder müsste jeden Moment hier sein.

„Babe, jetzt mach schon.“

„Ja doch.“ Langsam und mit einem unguten Gefühl drehe ich den Haustürschlüssel um, drücke die Türklinke nach unten und öffne meine Schutzmauer, die Tür.

„Hey Babe.“ Lässig lehnt Paolo am Türrahmen. Seine mokkafarbene Haut schimmert im Schein der Deckenlampe verführerisch und sein schmaler Mund ist zu einer Art Lächeln verzogen. Paolo lächelt so gut wie nie. Er hat einmal behauptet, es liege an seinen Zähnen. Er hat gesunde Zähne, die allerdings nicht wirklich ebenmäßig sind. Mein Blick bleibt an seinem rappelkurzen, schwarzen Haar hängen, das aussieht, als ob es noch leicht feucht wäre. Auch der Duft von Duschgel bestätigt meine Vermutung. Ich habe ihn mit meiner SMS mitten beim frischmachen gestört. Bei seinem Anblick stolpert mein Herzschlag und ich muss mich dazu zwingen, wegzusehen.

„Können wir reden?“ Paolo stößt sich vom Türrahmen ab, kommt einen Schritt auf mich zu.

„Ich wüsste nicht, was wir noch zu bereden hätten. Nimm dein Zeug und verschwinde aus meinem Leben“, fauche ich ihn an und bleibe starr auf meinem Platz stehen. Ich weiß genau, würde ich nur einen Zentimeter weichen, würde er es als Zeichen zum Eintreten nehmen.

„Babe, das alles ist ein Missverständnis und hat mit meiner Arbeit zu tun“, behauptet er und bleibt dicht vor mir stehen. Paolo ist einen guten halben Kopf größer als ich, was für einen Mann nicht gerade groß ist, denn ich selbst gehöre mit einem Meter siebenundfünfzig zu der kleineren Sorte Bevölkerung. Aber für einen Südländer - halb Mexikaner, halb Spanier - hat er eine Durchschnittsgröße. Abwehrend verschränke ich die Arme vor meinem flachen Bauch. „Ein Missverständnis, das mit deiner ominösen Arbeit zu tun hat?“

Die letzten Worte kommen mir über die Lippen, bevor ich recht weiß, was ich sage. Paolo kneift kurz die Augen zusammen.

„Ist es dein Job, die weibliche Anatomie zu erforschen, oder was?“, fauche ich ihn an.

„Wo sind meine Sachen?“ Paolos Blick verfinstert sich und ich spüre, wie sein eben noch versuchtes ‚Situation erklären’ in Hochspannung umschwenkt. Ich deute mit dem Kopf auf die Kisten neben mir.

„Ist da alles drin? Hast du alle Schubladen ausgeräumt?“ Er sieht gar nicht auf seine Sachen, nur auf mich, und ich spüre, wie sich mein ungutes Gefühl mehr und mehr verstärkt. Ich war noch nie eine gute Lügnerin. Meine Eltern behaupten immer, man könne die Wahrheit in meinen rauchgrauen Augen lesen. Ich nicke und kann nur hoffen, dass Paolo die Wahrheit nicht erkennt.

„Hast du meine Unterwäsche ausgeräumt?“, will er nun wissen und ich habe das Gefühl, dass seine Augen mich hypnotisieren wollen. Er weiß es, schießt es mir durch den Kopf. Er weiß, dass ich die Unterlagen gesehen habe.

„Ähm, ja, warum sollte ich deine Unterwäsche auch nicht ausräumen?“ Ich höre meine Stimme deutlich zittern, was Paolo nicht zu entgehen scheint. Noch bevor er etwas sagen kann, erscheint Aiden auf der Treppe und ich atme erleichtert aus.

„Hey Lara.“ Aiden kommt auf uns zu, bleibt neben Paolo stehen. „Du musst Laras Freund sein, Paolo.“ „Exfreund“, beeile ich mich zu sagen, und bin froh, dass mein Bruder genau in diesem Moment aufgetaucht ist. Ich habe Paolo absichtlich nicht Aiden oder dem Rest meiner Familie vorgestellt, weil ich wusste, dass sie unsere Beziehung nicht gutheißen würden. Aiden nimmt jeden meiner Freunde ganz genau unter die Lupe, was vermutlich an seinem Job als FBI-Agent liegt, sodass viele daraufhin die Flucht ergreifen. Paolos Gesicht nimmt eine leicht kränkliche Blässe an. Er weiß, was mein Bruder beruflich macht.

„Nun, dann nehme ich meine Sachen und verschwinde.“ Paolo greift sich gleich zwei Kartons auf einmal. Für seine Größe besitzt er doch recht viele Muskeln.

„Dann helfe ich dir.“ Aiden wirft einen Blick zwischen meinem Ex und mir hin und her, schnappt sich den dritten Karton und folgt Paolo nach unten. Hinter ihnen schließe ich die Tür, lehne meinen Kopf gegen das kalte Holz und atme tief ein. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn Aiden nicht genau in diesem Moment gekommen wäre.

 

Zum dritten Mal an diesem Abend hämmert es gegen meine Tür und da ich weiß, dass es sich um meinen Bruder handelt, öffne ich sofort. Mit schnellen Schritten kommt er herein und nimmt mit seiner großen muskulösen Gestalt den halben Raum ein. Bei seinem Anblick muss ich wieder einmal feststellen, wie ungerecht unsere Erbanlagen verteilt wurden. Mein Bruder misst einen guten Meter fünfundachtzig. Er hat dasselbe honigfarbene Haar wie ich, nur ist seines so kurz, dass die Farbe kaum erkennbar ist. In seinen ebenfalls rauchgrauen Augen schimmern noch kleine hellblaue Farbreflexe.

„Du warst nicht ernsthaft mit diesem Typen zusammen?“ Aiden sieht mich streng an.

„Ich fürchte doch.“ Ich gehe zu meinem Sofa, lasse mich auf die Knie sinken und linse nach der Mappe.

„Und warum sagst du mir das nicht? Mensch, ich bin dein fünf Jahre älterer Bruder. Es steht mir zu, zu wissen, mit wem sich meine zweiundzwanzigjährige Schwester trifft.“ Aiden spielt mal wieder den beschützenden großen Bruder. Das tut er mit Vorliebe und immer bringt er dabei unseren Altersunterschied mit ein, wenn er sich aufregt. So, als ob ich noch ein sechszehnjähriger Teenager wäre.

„Kannst dir doch denken, warum ich nichts gesagt habe. Paolo wäre nicht der Erste, den du mit deinem Beschützerinstinkt in die Flucht getrieben hättest. Außerdem wusstest du von ihm. Zumindest ein wenig.“ Ich ziehe die Mappe hervor und wische mit dem Handrücken kleine Staubflöckchen weg.

„Zu Recht. Du triffst dich ja auch nur mit solchen Möchtegern-Angebern.“ Aiden lässt sich auf mein Sofa sinken und streckt die Füße weit von sich.

„Überhaupt nicht“, verteidige ich mich, „von allen fünf Jungs, mit denen ich etwas hatte, war dir keiner gut genug.“

„Ich dachte immer, es waren vier“, höre ich Aiden knurren.

„Paolo mit eingeschlossen, fünf.“

„Wie dem auch sei. War er der Grund, warum ich so schnell kommen sollte?“, will er nun wissen.

„Jupp, und es wird dir nicht gefallen, was ich beim Packen seiner Sachen gefunden habe.“ Ich reiche Aiden die Mappe und während er sie aufschlägt, gehe ich zum Kühlschrank und hole zwei Flaschen Bier heraus. Stumm sitzt er da, seine Augen werden mit jeder Seite, die er umblättert, noch größer. Seine geöffnete Bierflasche rührt er erst gar nicht an. Als er fertig ist, streicht er sich über sein glattrasiertes Kinn und atmet tief aus: „Weißt du, was das ist?“

„Nicht so recht.“ Ich gönne mir einen Schluck von dem malzhaltigen Getränk.

„Das hier“, er deutet auf das seltsame Symbol gleich auf der ersten Seite, über den roten Zahlen, „ist ein Symbol des Pires-Clans.“

Ich betrachte das Zeichen. Ein großes P mit einem verschnörkelten Kreis drum herum. Ein für mich völlig unbedeutendes Symbol. „Und was oder wer ist dieser Pires-Clan?“ Aiden erhebt sich, läuft zu dem Fenster, das hinunter auf die Straße führt. „Wir wissen nicht genau, wer diesen Clan anführt, oder was sie genau sind. Wir wissen nur, dass sie vermutlich in ziemlich üble Geschäfte verwickelt sind. Prostitution, Drogendealen - diesen Unterlagen zufolge stellen sie sogar Drogen her. Auch ungeklärte Morde werden ihnen zugeschrieben.“

„Handelt es sich um die Mafia?“ Der Gedanke jagt mir einen Schauer über den Rücken.

„Das versuchen wir noch herauszubekommen.“ Aiden blickt starr nach draußen.

„Habt ihr denn irgendwelche Beweise? Ich meine für die ganzen Delikte, die ihr diesem Clan zuschreibt?“

„Nur sehr spärlich. Aber mit dieser Mappe“, er klopft kurz mit dem Zeigefinger dagegen, „ist uns ein enormer Schritt nach vorn gelungen.“

Aiden atmet hörbar aus. „Paolo weiß, dass du die Mappe hast. Er wird wiederkommen und nicht eher ruhen, bis er sie hat.“

„Okay.“ Etwas Besseres fällt mir dazu nicht ein.

„Lara, ich sage es nur ungern, aber du solltest packen. Und zwar sofort. Wenn Paolo wiederkommt, dann nicht allein. Er wird weitere Mitglieder dieses Clans mitbringen und dann …“

„Moment“, ich springe auf, „soll das heißen, ich muss hier weg?“

„Ja. Pack nur das Nötigste ein, ich muss telefonieren.“ Mit diesen Worten holt er das Handy aus seiner hellgrauen Lederjacke.

„Aiden …“, versuche ich es, doch er fährt mir dazwischen: „Geh. Oder soll ich für dich packen?“

Ich kann in Aidens Augen den Ernst der Lage erkennen und so mache ich mich, wenn auch nicht begeistert, an die Arbeit.

Es vergehen keine zehn Minuten, da steht mein Bruder mitten in meinem Zimmer und beugt sich zu meinem Koffer.

„Halt, ich bin noch nicht fertig!“, protestiere ich lautstark, doch er ignoriert es, lässt mein Koffer zufallen und verschließt ihn mit dem Reisverschluss. „Du kannst dir neue Sachen kaufen. Komm jetzt mit. Wir müssen sofort zur FBI- Dienststelle. Mein Chef wartet auf uns.“

 

Die Autofahrt verläuft in gespenstischer Stille, ich spüre Aidens Anspannung. Immer wieder blickt er in den Rückspiegel, beobachtet jedes Auto, das uns folgt. Er scheint erst wieder richtig zu atmen, als wir in dem nach Kaffee und Zigaretten riechendem Büro seines Vorgesetzten sitzen. Aidens Vorgesetzter, der sich mit Special Agent Meyer vorstellt, sieht nicht wirklich wie ein FBI-Agent aus. Ein Herr mitten in den Fünfzigern mit grauem Haar und einem Wohlstandsbauch, der sich durch sein hellblaues Hemd deutlich abzeichnet. Auf der Nase trägt er eine Brille, die vielleicht vor dreißig Jahren mal modern war. Seine olivfarbenen Augen blicken mich aufmerksam an. Dabei kratzt er sich immer wieder an seinem viel zu langen Bart.

„Diese Mappe Ihres Exfreundes ist von großer Bedeutung für das Gesetz.“

Was bitte soll ich darauf antworten? ‚Gern geschehen’? Stattdessen nicke ich nur.

„Jedenfalls ist es uns möglich, die nächsten Delikte aufzuspüren und einige dieser Männer festzunehmen, sobald wir die Codes entschlüsselt haben“, fährt er fort.

„Entschlüsselt?“, hake ich nach.

„Ja. Die Beliebtheit solcher Codes ist in den letzten Jahren enorm angestiegen. Der Verbrecherkreis will sich, in so einem Fall wie hier“, er deutet auf die mittlerweile kopierten Papiere von Paolos Unterlagen, „schützen. Die Codes zu entschlüsseln ist nicht ganz einfach, aber wir haben die besten Leute dafür.“

„Habe ich das richtig verstanden, jeder dieser Zahlencodes steht für ein Verbrechen?“, vergewissere ich mich.

Als Agent Meyer nickt, würde ich zu gerne erfahren, wie das Entschlüsseln funktioniert. Allerdings bleibt mir keine Zeit, danach zu fragen, denn Aidens Vorgesetzter kommt schon wieder mit der nächsten Frage. „Hat Ihr Exfreund jemals Besuch in Ihrer Wohnung empfangen? Besuch, von dem Sie nichts mitbekommen sollten?“ Sofort fällt mir der Abend ein, an dem ich früher von der Arbeit gekommen bin und ich ihn mit dieser Frau erwischt habe. Doch es ist mir zu peinlich, zu gestehen, dass ich betrogen wurde.

„Nun, ab und an haben ihn Freunde besucht“, antworte ich stattdessen.

„Was für Freunde? Freunde aus dem Clan?“, will nun Aiden wissen, der hinter mir steht. Unruhig rutsche ich auf meinem Stuhl herum. „Woher soll ich das wissen? Bis vor einer Stunde wusste ich noch nicht mal, dass Paolo ein Verbrecher ist.“ Aiden will darauf etwas sagen, doch Agent Meyer hebt ermahnend die Hand. „Haben Sie diesen Paolo überrascht, als er sich mit seinen Freunden getroffen hat?“

„Ich weiß es nicht. Kann gut sein. Jedenfalls sind sie immer gleich gegangen, wenn ich gekommen bin.“

Agent Meyer nickt und spricht dann zu Aiden: „Wir können nicht ausschließen, dass es sich ebenfalls um Mitglieder des Clans handelt.“

„Könntest du Paolos Freunde identifizieren?“ Aiden nimmt auf dem Stuhl neben mir Platz. Er sieht noch beunruhigter aus als noch vor zehn Minuten.

„Ich denke schon“, nicke ich und langsam steigt die Angst wieder in mir hoch.

Ich blicke zu Aidens Vorgesetzten, der zufrieden nickt. Für ihn scheint meine Aussage der Sechser im Lotto zu sein. Er greift nach seiner Zigarettenschachtel und holt sich eine heraus. Dann streckt er sie mir entgegen.

„Danke, ich rauche nicht“, lehne ich ab. Er zündet sich die Zigarette an und nimmt genüsslich einen tiefen Zug. „Aiden, du weißt, was du zu tun hast.“ Tiefe Sorgenfalten zeichnen sich auf Aidens Stirn ab, als er sich erhebt und mich mit seinem Chef allein lässt.

„Nun Lara. Ich darf Sie doch Lara nennen?“ Agent Meyer beugt sich vor und klopft die Asche in den überfüllten Aschenbecher.

Ich nicke.

„Du musst wissen, dass du mit deinem Wissen, deiner Aussage, für den Pires-Clan sehr gefährlich bist. Bis jetzt war es uns nicht möglich, besonders viele Details über sie zu erfahren. Aber just in diesem Moment läuft eine Großfahndung nach Paolo an. In diesem Moment wird die Fabrik, zu der all die Substanzen geliefert werden, durchsucht“, er grinst zufrieden, „und ich hoffe, dass wir einige der Mitglieder festnehmen können.“

„Äh, und was hat das jetzt mit mir zu tun?“ Mein Hirn fühlt sich leer an, vom Zigarettenrauch vernebelt.

„Paolo weiß, dass du der Grund dafür bist - dass du zu uns gekommen bist. Der Anführer des Clans wird darüber nicht erfreut sein. Er wird seine Männer nach dir suchen lassen.“

„Ich … nein …“ Benommen schüttele ich den Kopf. Das muss ein Albtraum sein. Ich will nicht von irgendwelchen Bösewichten verfolgt werden.

„Leider doch. Uns bleibt keine Wahl, dir bleibt keine Wahl. Du musst dich in Personenschutz begeben.“

„Aber das könnte doch Aiden machen, er ist ausgebildet und …“, beeile ich mich zu sagen.

„Aiden ist dein Bruder. Einen Familienangehörigen zu beschützen, ist so ziemlich das Dümmste, was ein Agent machen kann. Man ist nicht Herr seines Verstandes. Emotionen und Gefühle haben in diesem Job nichts zu suchen.

Nur so kann man jemanden beschützen“, spricht er mit ruhiger Stimme.

Kapitel 2

Völlig aufgewühlt, mit zum Zerreißen gespannten Nerven, eile ich aus Meyers Büro. Ich muss mit Aiden sprechen. Bis vor drei Tagen war meine Welt noch in Ordnung. Kein Paolo, der mich betrügt, der, wie sich herausstellt, in kriminelle Machenschaften verwickelt ist, in meiner Wohnung Unterlagen versteckt und mir - wenn Agent Meyer Recht hat - eine Horde von Verbrechern auf den Hals hetzt. Auf dem hellerleuchteten Flur herrscht reger Verkehr. Man denkt kaum, dass es kurz nach einundzwanzig Uhr ist. Ich sehe Aidens Büro im hintersten Teil des Flures, das nur noch ein paar Schritte entfernt ist, sehe die leicht geöffnete Tür. Hier wird auch das Stimmgewirr ruhiger. Vor der großen Grünpflanze bleibe ich stehen und blicke durch das kleine Fenster in das Büro. Dort sitzt mein Bruder, vor ihm der Schreibtisch, seine Augen auf den PC-Bildschirm gerichtet. Seine Hände wählen auf dem Telefon eine Nummer und kurz darauf höre ich durch die Freisprechanlage das Tuten. Bereits nach dem dritten Klingeln wird abgenommen.

„Carter.“

„Hey Ryan, hier ist Aiden.“ Aiden drückt mit seinem Rücken die Lehne des Schreibtischstuhles nach hinten.

„Aiden, du lebst also noch.“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung spricht so emotionslos, dass ich mich frage, ob dieser Ryan es ernst oder nur so zum Spaß meint.

„Sieht wohl so aus. Wie geht es dir?“

„Wie immer. Viel Arbeit. Aber du rufst mich wohl kaum an, um zu plaudern.“ Ein Seufzer entweicht Aiden: „Nein, um ehrlich zu sein nicht. Ich brauche deine Hilfe.“

„Ah“, kommt es nicht sonderlich freundlich von diesem Ryan.

„Es geht um einen Personenschutz.“

„Und? Ich bin seit Monaten raus aus der Nummer.“

Aiden schließt die Augen, dabei verschränkt er seine Handflächen hinter dem Kopf. „Ich weiß und ich würde dich nicht anrufen, wenn es mir nicht verdammt wichtig wäre. Ryan, du bist der Beste …“

„Ich war der Beste“, unterbricht dieser meinen Bruder.

„Hör es dir doch wenigstens an.“

Ein tiefes Schnauben ist durch die Leitung zu vernehmen. „Also gut. Um was geht es?“

„Wir haben Beweise. Beweise, die den Pires-Clan gewaltig belasten. Eine Zeugin, die Mitglieder des Clans identifizieren kann.“

„Eure Zeugin steckt in verdammt großen Schwierigkeiten. Noch nie hat es ein Zeuge gewagt, gegen den Pires-Clan auszusagen, und das aus guten Gründen.“ Der Typ wird mir von Minute zu Minute unsympathischer. Ein verzweifelter Gesichtsausruck zeichnet sich auf Aidens Gesicht ab und ganz leise sagt er: „Ich weiß. Aber du musst mir helfen.“

„Aiden, ich habe damit nichts mehr zu tun. Es tut mir leid.“

„Ryan, bitte, tu es mir zuliebe.“

„Was hat die Sache denn mit dir zu tun? Wirst du dann befördert oder was?“

„Nein ... bei der Zeugin handelt es sich um meine kleine Schwester.“

„Oh verdammt.“ Betroffenes Schweigen am anderen Ende.

Kurz wartet Aiden, dann fragt er vorsichtig: „Und Ryan? Machst du es?“

„Scheiße, ja. Aber eines sag ich dir: du schuldest mir was“, flucht er durch den Hörer.