Schwanenritter - Alma Bayer - E-Book

Schwanenritter E-Book

Alma Bayer

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Beschreibung

Mordermittlung am Chiemsee: Krimi mit Urlaubsfeeling Eine betrogene Reporterin, ein Märchenkönig und ein Toter im prunkvollen Schlafgemach: Die Journalistin Fanny Fischer steht vor den Ruinen ihres  Lebens: Sie hat den falschen Männern vertraut und haust deshalb jetzt in einem Wohnwagen. Auch aus ihrer Führungsposition bei den Chiemgauer Nachrichten wurde sie entlassen, angeblich hat sie ihren jüngeren Kollegen Tom Wildner sexuell belästigt. Als Fanny eben jenen tot im Prunkbett von Ludwig II. auffindet, fällt der Verdacht natürlich sofort auf sie. Schließlich arbeitet sie jetzt dort als Gästeführerin und hat als Ex-Geliebte auch ein gutes Tatmotiv. Damit nicht genug, verliebt sie sich in den zuständigen Kommissar. Als sie schließlich selbst zu ermitteln beginnt, stößt sie auf einen Geheimbund mit ganz eigenen Regeln. - Der erste Band der neuen Krimireihe von Alma Bayer an den Ufern des Chiemsees - Humorvoller Krimi mit einer Ermittlerin, die sich trotz allem nicht unterkriegen lässt - Die Guglmänner: Ihrem König Ludwig II. treu ergeben – und Mörder? - Perfekt für den nächsten Urlaub: Cosy Crime-Bücher mit Tatort in Bayern - Krimi am Chiemsee: Wer steckt hinter dem Geheimbund der Schwanenritter? Spannender Regionalkrimi um eine leidenschaftliche Reporterin Krimiautorin Alma Bayer war selbst 15 Jahre lang Journalistin. Sie hat mit der Protagonistin ihrer Chiemsee-Krimireihe eine liebenswerte, taffe und doch verletzliche Frau erschaffen, die vor allem eines will: Gerechtigkeit! Dazu eine Portion Schweinsbraten oder Weißwurst und Brezen und Fanny Fischer ist nicht mehr aufzuhalten! Ein Muss für alle Fans witziger Krimis mit bayerischem Lokalkolorit.

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Seitenzahl: 385

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Alma Bayer

SCHWANENRITTER

Ein Chiemsee-Krimi

Diese Geschichte ist frei erfunden. Tatsächlich existierende Personen und Firmen wurden verändert und/oder von der Autorin ausgedacht, Geschehnisse anderen und/oder fiktiven Personen zugeordnet. Verbleibende Übereinstimmungen mit etwaigen realen Personen wären somit rein zufällig und sind nicht gewollt.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlags ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2023

Copyright © 2023 by Alma Bayer

Copyright © Deutsche Erstausgabe 2023 Servus Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Palatino, Courier, Bauer Bodoni

Umschlaggestaltung: b3K design, Andrea Schneider, diceindustries

Umschlagmotive: Hintergrundbild: Karl Thomas / allOver / picturedesk.com; Schwan links: Nicolas B82 / shutterstock.com; Schwan rechts: ProDesign studio / shutterstock.com; König Ludwig (auf Schild): TV-yesterday / Interfoto / picturedesk.com; Schild: Jakub Krechowicz / Alamy Stock Foto

Autorenillustration: Claudia Meitert/carolineseidler.com

Karte in der Buchklappe: Nina Andritzky

Printed by CPI Books, Deutschland

ISBN 978-3-7104-0330-9

eISBN 978-3-7104-5074-7

INHALT

TEIL I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

TEIL II: Zwanzig Jahre zuvor

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

TEIL III: Zwanzig Jahre später

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 100

Kapitel 101

Kapitel 102

Kapitel 103

Kapitel 104

Kapitel 105

Kapitel 106

Kapitel 107

Kapitel 108

Kapitel 109

Kapitel 110

Kapitel 111

Kapitel 112

Kapitel 113

Kapitel 114

Kapitel 115

Kapitel 116

Kapitel 117

Kapitel 118

Kapitel 119

Kapitel 120

Kapitel 121

Kapitel 122

Kapitel 123

Kapitel 124

Kapitel 125

Kapitel 126

Kapitel 127

Kapitel 128

Kapitel 129

Kapitel 130

Kapitel 131

Kapitel 132

Kapitel 133

Kapitel 134

Kapitel 135

Kapitel 136

Kapitel 137

Kapitel 138

Kapitel 139

Kapitel 140

Kapitel 141

Kapitel 142

Kapitel 143

Kapitel 144

Kapitel 145

Kapitel 146

Kapitel 147

Kapitel 148

Kapitel 149

Kapitel 150

Kapitel 151

Kapitel 152

Kapitel 153

Kapitel 154

Kapitel 155

Kapitel 156

Kapitel 157

DANKE, OHNE NAMEN, ABER MIT LIEBE

TEIL I

1

Ihr neues Zuhause waren zehn Quadratmeter auf Rädern. »Von der Villa in den Wohnwagen«, fasste Fanny Fischer die vergangenen Monate zusammen. Mit einer Kaffeetasse in der Hand und nackten Füßen ging sie die wenigen Schritte von ihrem Wohnwagen zum Ufer des Chiemsees. Winzige Fische zogen ihre Schwanzflossen durch das changierende Grün des stillen Wassers. Wie sehr sie den See um seine innere Ruhe beneidete!

»Keine Tränen!«, ermahnte sie sich. Sie würde auch diesen Tag überstehen. Sie wusste, wie Durchhalten ging, das hatte sie in ihrer Ehe gelernt. Bis es nichts mehr gab, wofür es sich gelohnt hätte durchzuhalten. Mit geübtem Griff drückte sie Daumen und Zeigefinger auf ihre Tränenkanäle. Gefühle, Worte, Hoffnungen, sie hatte Jahre damit verschwendet. Am Ende half nur Tatkraft. Sie watete durch das seichte Wasser bis über die Grenze des Campingplatzes hinaus, um am Uferweg entlangzulaufen. Als ihr ein unangenehmer Geruch in die Nase stieg, erinnerte sie sich an einen Artikel, den sie vor langer Zeit für die Chiemgauer Nachrichten geschrieben hatte: »Der Tod treibt schöne Blüten«. Er handelte von Giftpflanzen. Zum ersten Mal an diesem Morgen lächelte Fanny Fischer und bückte sich über ein gefährlich weißes Blütenfeuerwerk, das dem der harmlosen Schafgarbe zum Verwechseln ähnlich sah.

2

Ein sanfter Morgenwind strich durch das Windspiel aus Treibholz und entlockte ihm tiefe, satte Töne, auf die ein Rotkehlchen ihr helles Gezwitscher legte. Die musikalische Improvisation drang durch eine Holztür, die verschlossen und verriegelt war. Niemand sollte den Raum betreten, in dem zu dieser frühen Uhrzeit hoch konzentriert gearbeitet wurde.

Vorsichtig lösten Hände in weißem Latex Samen aus ihrer Hülle und legten sie in die Keramikschale des Mörsers. Fingerspitzengefühl. Harmlos sahen sie aus, wie vergrößerter Kümmel. Aber wehe dem, der sie mit dem verdauungsfreundlichen Gewürz verwechselte! Ruhig griffen die Hände nach dem Stößel und drückten ihn kraftvoll auf die winzigen Samen. Nach und nach platzten sie auf und setzten ihren gefährlichen Inhaltsstoff frei. Ein Gramm genügte, um einen erwachsenen Mann zu töten. Die digitale Präzisionswaage zeigte bereits das Doppelte der benötigten Menge an. Jetzt bedurfte es nur noch einer geschmacksintensiven Flüssigkeit, um das tödliche Pulver aufzulösen und gleichzeitig seinen unangenehmen Geruch nach Urin zu überspielen. Wofür gab es Schnaps? Die Flasche stand griffbereit.

Der Verräter würde durch den Schierlingsbecher sterben, wie einst Sokrates, der große griechische Denker. Eine unverdiente Ehre, sicherlich, doch bei Todgeweihten sollte man ebenso großzügig sein wie bei der Dosierung des Giftes. »Nur kein Geiz!« Die Hände ließen das tödliche Pulver in den Flachmann rieseln und drehten den Verschluss fest zu. »Wohl bekomms! Auf das Leben! Auf die Liebe! Und auf den Tod!«

3

»Fanny! Post für dich!« Die beherzte Stimme mit bayerischem Sound gehörte Erna. Die gute Seele des Campingplatzes eilte auf dem schmalen Weg zwischen alten Wohnwägen, luxuriösen Wohnmobilen und Zelten auf Fanny zu, einen braunen DIN-A4-Umschlag schwenkend.

»Von deinem Mann!«

Obwohl sie die Wahrheit kannte, klang Erna, als wäre das eine gute Nachricht. Das mochte an ihrem scheinbar unerschütterlichen Grundoptimismus liegen.

»Der Kerl ist nur noch auf dem Papier mein Mann«, sagte Fanny.

»Das weiß ich doch.« Erna zupfte eine unsichtbare Fluse von ihrer karierten Trachtenbluse und legte Mitgefühl in ihren Blick. Fannys Ex, der Immobilienhändler Sepp Fischer, chauffierte jetzt eine zwanzig Jahre jüngere Frau auf seiner Harley-Davidson durch den Chiemgau und pflegte bei jedem Halt sein Image als bedauernswerter, betrogener Ehemann, dem das neue Glück zu gönnen war.

»Mein Ruf ist ruiniert und niemand interessiert sich für die Wahrheit, weil Sepp mit seiner Story die bessere Show abzieht: Schamlose Ehefrau betrügt treuen Mann mit jungem Kollegen, dessen Vorgesetzte sie obendrein ist.«

»Ach Fanny! So wie der junge Kollege aussieht, kann dir das doch niemand verübeln! Wie war er denn so, also im Bett meine ich, der Wildner Tom …« Den Namen flüsterte Erna mit glänzenden Augen.

»Wie er überall sonst auch war: Ein rücksichtsloser Egoist.«

Erna nickte enttäuscht. »Es hat sich also nicht gelohnt?«

Fanny schüttelte den Kopf und riss Erna den großen Umschlag aus der Hand.

4

Der Anwalt hatte in tiefgekühltem Bürokratendeutsch formuliert, was Sepp Fischer wollte: alles! So klar wie er rückblickend die Rollen in ihrer Ehe verteilte – Fanny war die Böse, er der Gute –, so klar wollte er verteilen, was sie gemeinsam an Vermögen aufgebaut hatten: Fanny Fischer, die Frau, die zwei Jahrzehnte ihr Leben mit ihm geteilt hatte, sollte nichts bekommen.

Sie saß vor dem Inhalt des großen Kuverts und schnappte nach Luft wie eine ins Netz gegangene Chiemsee-Renke, die man mit Schwung auf den harten Boden eines Fischerboots klatschte. In ihrer Erinnerung tauchten die glitzernden Fische auf, die ihr Opa früher im Morgengrauen gefangen hatte. Er ließ die Tiere nie lange zappeln, bevor er sie mit einem Holzknüppel erschlug, um ihnen anschließend mit einem sauberen Kiemenschnitt den Rest zu geben. »Wenn es darauf ankommt, darfst du nicht zögern, Fanny! Merk dir das fürs Leben!«, hatte er immer wieder betont. Ihr Opa! Wie sie ihn vermisste!

Sie legte den Oberkörper auf die kalte Tischplatte. Salzwasser lief über ihre Wangen und tropfte einen kleinen See. Fanny glaubte, die Form des Chiemsees zu erkennen. Brezen-Brösel vom gestrigen Abendessen bildeten seine drei Inseln, bevor sie von weiteren Tränen geflutet wurden. Noch immer schnappte Fanny nach Luft. Sie war den falschen Männern ins Netz gegangen. Männern, die etwas von Netzwerken verstanden. Der große Name des Anwalts auf dem Briefkopf gehörte dazu.

5

Tom Wildner legte den Füller beiseite, einen Montblanc, Modell »Meisterstück«. Mit ihm protokollierte er sein Leben. Irgendwann würden ihm die schwarzen Hefte, die er Tag für Tag mit schwungvoller Schrift füllte, eine wertvolle Quelle sein. Noch war er Lokaljournalist bei den Chiemgauer Nachrichten, aber nicht mehr lange. Dafür hatte er alles eingesetzt und alles gegeben. Sogar seinen Körper. Letzteres war ihm leichtgefallen. »Raffiniert wie ich bin, habe ich das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden«, lobte er sich selbst. Nach einer Fehlinvestition in seine ehemalige Vorgesetzte würde sich sein Einsatz nun endlich auszahlen. Tom vergewisserte sich, dass seine Nachricht für den Notfall sicher in der Kuverttasche am Ende des schwarzen Heftes steckte und ging ins Schlafzimmer. Nicht mehr lange und er würde auf der Herreninsel residieren wie ein König, dachte er.

Der großformatige Wandspiegel verdoppelte Tom Wildners breites Siegerlächeln. Er hätte sich auch aufs Boxspringbett werfen können, um sich mit einem Blick nach oben zu bewundern. Das Schlafzimmer war sein privater Spiegelsaal und bei seiner Gestaltung war ihm der Spiegel über dem Bett am wichtigsten gewesen. Künftig würde er sich vor allem mit Luisa darin spiegeln. Er wollte die Schöne mit der perfekten Figur tatsächlich heiraten, nachdem er Geld in den Verlobungsring investiert hatte. Schließlich war es nicht damit getan gewesen, heimlich einen Diamant-Ohrstecker einzustecken. Nein, das Schmuckstück hatte einer teuren Umarbeitung bei einem Goldschmied bedurft. Nun, vieles sprach für eine Ehefrau wie Luisa: Sie war attraktiv, anpassungsfähig und ordentlich. Zudem brachte ihr Beruf interessante Fachkenntnisse mit sich und sie pflegte ihn liebevoll, wenn ihn eine Erkältung quälte. Von ihren Plänen, sich zur Naturheilpraktikerin ausbilden zu lassen, sobald sie wieder genug gespart hatte, hielt er wenig, was er sich jedoch nicht anmerken ließ. Luisa bewunderte ihn und er nannte sie »seinen Engel«, auf Bairisch »mei Engerl«. Wie sehr sich sei Engerl über den Antrag und den Diamantring gefreut hatte! Wenn es darauf ankam, zeigte Tom Wildner Herz und Entschlossenheit.

»Ein gstandenes Mannsbild, ein geiler Typ«, versicherte er seinem Spiegelbild. Heute Abend würde er es beweisen und das angekündigte Aufnahmeritual mit Anstand überstehen. Ein Mann wie er wollte keine Storys aus der Provinz schreiben, sondern Geschichte.

6

Seit dem Morgen hatte Fanny ihren Wohnwagen nicht verlassen. Sie hatte geweint, gewütet, Pläne geschmiedet und wieder verworfen, bis sie erschöpft zurück ins Bett gekrochen war. Während draußen die Sonne strahlte, fühlte sie den Herbst. Ihre leichte Sommer-Bettdecke lastete wie ein dunkler Blätterhaufen auf ihr. Entschlossen schüttelte sie das Gewicht und ihre schwere Stimmung ab, sprang auf, griff nach ihrer Western-Gitarre und stimmte die Dixie Chicks an: »There’s your Trouble!« Ärger war das Mindeste, was sie ihm bescheren konnte.

Die Post von Sepp lag zerrissen auf dem Boden. »Hintafotziger Sauhund!« Um den durchtriebenen Mistkerl würde sie sich morgen kümmern. Jetzt musste Fanny ihren Job erledigen. Obwohl sie erst seit wenigen Wochen als Gästeführerin auf Schloss Herrenchiemsee arbeitete, hatte man angeblich speziell nach ihr gefragt, aber wahrscheinlicher war, dass keine der altgedienten Kolleginnen und Kollegen Lust hatte, am Abend noch einmal auf die Insel zu schippern. Ihr sollte es recht sein. »Ich bin jung und brauch das Geld«, murmelte sie selbstironisch, griff in die aufgerissene Tüte mit den Salzbrezeln, um das Loch in ihrem Magen zu füllen, stieg über die Papierfetzen am Boden hinweg und öffnete die Wohnwagentür.

Draußen hatte sich die Stimmung gedreht: Ein kalter Wind zog über den Chiemsee und schaukelte Wellen auf, während sich am Himmel Gewitterwolken türmten und die Abendsonne verstellten. Allein die Sturmleuchten an der knapp vierundsechzig Kilometer langen Uferlinie erhellten die Atmosphäre mit ihrem nervösen Blinken. Kritisch betrachtete Fanny die Szenerie. Nein, sie würde sich nicht einschüchtern lassen, weder vom Wetter noch von Sepp. »Ist ja nur eine kurze Strecke bis zur Insel«, beruhigte sie sich.

Ihr Stand-up-Board mit den bunten Blumen und der Aufschrift »Aloha!« lehnte lässig am Wohnwagen. Andere fuhren mit dem Auto in die Arbeit oder mit dem Fahrrad, aber Fanny Fischer paddelte, seit sie auf der Herreninsel Gäste durch das Schloss führte. Sie klemmte sich ihr Board unter den Arm und griff nach dem Paddel. Für eine Schifffahrt war es ohnehin zu spät.

7

Langsam drängte die Zeit. Tom Wildner schlüpfte in eine schwarze Designer-Unterhose. Er rückte den Inhalt zurecht und dankte dem lieben Gott für seine Großzügigkeit. Der Herr im Himmel hatte dafür gesorgt, dass ihn Männer ebenso begehrten wie Frauen. Es reichte, sein Interesse zu signalisieren und Hoffnungen zu wecken. Menschen machten es ihm leicht. Menschen wie Fanny Fischer, seine ehemalige Vorgesetzte. Nachdem sie ihr Mann für eine Jüngere verlassen hatte, hielt Tom seine starken Arme auf und bot ihr Trost. Anfangs hatte ihn Fanny abgewehrt: »Vergiss es! Das Abhängigkeitsverhältnis! Der Altersunterschied! Du bist viel zu jung für mich!« Mit Hartnäckigkeit, Charme und mithilfe eines Liebesgedichts von Erich Fried hatte Tom ihren Widerstand schließlich gebrochen: »Es ist Unsinn, sagt die Vernunft. Es ist, was es ist, sagt die Liebe …« Er blieb hartnäckig und charmant, sie wurde weich. Nach einem langen Arbeitstag, allein in der Redaktion, ließ er sich nicht mehr abweisen, sondern gab ihr, wonach sie sich so offensichtlich sehnte. Die Kamera seines Laptops ließ er dabei unbemerkt mitlaufen. Das Video wurde die Nummer eins im Ordner »Die Vorgesetzte«. Fortsetzungen folgten. Ein weiterer Ordner trug die Bezeichnung »Der Schwan«. Von den Aufnahmen, die er im Schwanen-Ordner ablegte, würde er wirklich profitieren. Trotzdem ließ Tom Wildner die Videos der »Vorgesetzten« laufen, wenn er sich stimulieren wollte, weil Fanny Fischer wie eine Frau vögelte, die nichts mehr zu verlieren hatte, während der Schwan von der Angst bestimmt war, alles zu verlieren.

Wildner knöpfte die enge Markenjeans zu und schlüpfte in ein weißes Hemd. Körperbetont. Luisa, sein Engerl, hatte es für ihn gebügelt. »Fesch!«, lobte er sein Spiegelbild. Ach, Fanny hätte dankbar sein sollen für seine Anstrengungen, betrachtete man das Alter und die Lage der Frau: Falten, Hängepartien und ein Selbstwertgefühl, das in Trümmern lag. Sie hätte seine Aufbauarbeit und die Rosenblätter auf der Matratze würdigen sollen, anstatt ihn weiterhin mit Artikeln über Kleintierzüchter, Landfrauen und Provinzkünstler zu beauftragen.

Unfassbar, wie schnell ihn Fanny abserviert hatte, anstatt ihn zu befördern. »Nimm’s nicht persönlich!«, hatte sie ihn gebeten. Ach ja! Wie sollte er es sonst nehmen? Es war persönlich! Er rächte sich für die Demütigung, und sie verlor ihre geliebte Arbeit. »Selber schuld! Es ist ihr recht geschehen«, beruhigte er sein Gewissen, noch bevor es sich regen konnte. Es regte sich ohnehin selten.

Er öffnete die oberste Schublade seines Nachtkästchens, hob den doppelten Boden an und holte einen USB-Stick heraus. Männer wie Tom Wildner sicherten sich nach hinten ab, während sie sich nach vorne arbeiteten.

An Deck des Schiffes zur Herreninsel fing er die wenigen Sonnenstrahlen ein, die es schafften, sich an den riesigen Gewitterwolken vorbeizudrängen. Fahrtwind blies ihm die dunklen Locken aus dem Gesicht und Seeluft füllte seine Lungen. Mit einem Griff in die Innentasche seines Jacketts vergewisserte er sich der Eintrittskarte. Als er das dicke Büttenpapier mit dem Relief des geprägten Schwans fühlte, sagte er sich: »Alles wird gut!« Da fielen die ersten Regentropfen.

8

»Zefix!«, fluchte Fanny und strich sich nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht. Schon im nächsten Moment klatschte sie ihr der Regen wieder vor die Augen. Das Unwetter war schneller über den Chiemsee hereingebrochen, als sie erwartet hatte. Aggressiver Wind peitschte die Wellen auf und trieb sie gnadenlos vor sich her über den dunklen See. Am Ufer warfen die Drehscheinwerfer der Sturmleuchten hektisch mit Lichtsignalen um sich, neunzig pro Minute, die höchste Warnstufe. Die meisten Segelboote und Ausflugsschiffe lagen vertäut in den Häfen. Ihre Skipper und Kapitäne wussten: Das Wetter am Chiemsee drehte sich schneller als eine Ballerina und schlug stärker zu als ein Boxer. Fanny blickte besorgt zu den Chiemgauer Alpen, zu den dunklen Wolken, die sich von den Gipfeln ins Tal senkten. »Das sieht nicht gut aus!«, seufzte sie. Ein Blitz zuckte großspurig sein Licht über den Himmel.

»Spotlight für das Bummerl!«, brummte sie. Eine war ja immer das Bummerl, die unbedarfte, tollpatschige Idiotin, über die alle anderen nur den Kopf schütteln konnten. Was für eine depperte Idee, zur Arbeit zu paddeln, anstatt das Schiff zu nehmen oder an Land zu bleiben! Jetzt kämpfte sie auf halber Strecke zur Insel gegen den Wind und die Wellen und riskierte ihr Leben. Wozu? Um in einem historischen Kostüm für wenig Geld sogenannte VIPs durch die Privaträume des Königs zu führen?

Wieder wischte sich Fanny nasse Strähnen aus dem Gesicht und wieder klatschte sie der Wind im nächsten Moment zurück. Sie hingen über ihren Augen und klebten an ihren Wangen. Ein Haargummi oder -reifen wäre ein Rettungsring, aber sie hatte wieder einmal keines von beiden zur Hand. »Zefix!«

Seit Fanny erst ihren untreuen Ehemann und dann ihren Job als Journalistin verloren hatte, verdiente sie ihren Lebensunterhalt als Gästeführerin auf Schloss Herrenchiemsee. Eine Idee ihres alten Freundes und Kollegen Klemens Gruber. »Du musst endlich wieder unter die Leute, Fanny!«, hatte er gemeint. Außerdem brauchte sie dringend Geld für die Stellplatzmiete und die Lebensmittel, weil ihr Ex die ehelichen Bankkonten gesperrt hatte. »Ist dir nie aufgefallen, dass sie auf meinen Namen laufen?« Sie hatte ihm vertraut, und er hatte sie mit den Worten verabschiedet: »Fanny, du hast deine besten Zeiten hinter dir.« Wie recht Sepp hatte: Ihre besten Zeiten waren dort zurückgeblieben, wo sich ihre Jugend davongestohlen hatte. Jetzt sah sie alt aus, aber das war nun auch schon wurscht.

Der nächste Blitz zuckte durch die Wolken. Fanny begann zu zählen: »Einundzwanzig …« Sie kam nicht weit. Bei »zweiundzwanzig« setzte der Donner ein. Den kalten Metallgriff umklammernd, stach sie ihr Paddel entschlossen ins Wasser. Immer wieder. »Ruhig bleiben und durchziehen, kräftig durchziehen.« Mit Mühe und Not versuchte sie auf dem SUP die Balance zu halten, äußerlich wie innerlich. Ihr geliebter See, in dessen weichem Wasser sie sich bei freundlichem Wetter so sicher fühlte, verwandelte sich unter ihrem Board in einen gefährlichen Schlund, der sie zu verschlingen drohte. Wie kurz und verletzlich ein Menschenleben doch war, dachte Fanny, im Vergleich zu diesem wassergefüllten Relikt aus der Eiszeit, das seit Jahrtausenden seinen Platz behauptete. »Bild dir bloß nichts ein! Du hast über die Jahre mächtig an Größe eingebüßt«, brüllte sie den See an, aber ihre Großmäuligkeit half ihr in diesem Fall nicht über die Angst hinweg, die sich in ihr Herz krallte. Ein Moment nach dem anderen starb. Der Tod war stärker als das Leben. Am Ende gewann immer er. Wer würde um sie weinen? So fühlte sich Einsamkeit an. Sie war verloren.

»Geh, Fanny! Erzähl dir doch keinen Schmarrn! Reiß dich zusammen!«, ermahnte sie sich. »Du bist allemal ein paar Tränen wert!« Und wenn schon nicht ihr Ex Sepp, so würde doch wenigstens ihr guter Freund Klemens um sie weinen, aber dazu durfte sie ihm keinen Grund geben.

Sie griff nach der silbernen Bärin, die ihr Klemens vergangene Woche feierlich um den Hals gelegt hatte. »Dein Totemtier. Möge es dir Kraft geben und dich schützen!«, hatte er sie beschworen. Obwohl Fanny nicht an den Zauber von Klemens, dem Freizeit-Schamanen, glaubte, murmelte sie: »Dein Einsatz, große Bärin!« Auch wenn ein Delfin in diesem Moment vermutlich die bessere Wahl gewesen wäre. Wie schade, dass es keine Delfine im Chiemsee gab und auch keine Bärinnen, dachte Fanny, als eine Welle ihr Board anhob.

9

Luisa kontrollierte vorsichtshalber ihr Make-up mit der Selfie-Funktion ihres Smartphones, dann klingelte sie an Toms Tür. Seinen Schlüssel durfte sie nur in Notfällen benutzen.

»Weißt, mein Engerl, das ist romantischer und respektvoller, solange wir noch nicht verheiratet sind«, betonte er gerne. »Außerdem mag ich keine Überraschungen!« Papperlapapp, dachte Luisa. Tief in ihrem Inneren, dort wo ihr großes Herz seinen Platz hatte, wusste sie es besser: In Wahrheit hatte ihr Verlobter Angst vor Nähe. Mit dieser Erkenntnis entschuldigte sie sein Verhalten, seinen Ehrgeiz, seine Schulden und diese blöde Affäre mit seiner Vorgesetzten. Aus Liebe wollte er sie abschrecken und auf Abstand halten. Insgeheim, vielleicht ohne sich dessen bewusst zu sein, befürchtete Tom, ihr nicht gerecht zu werden, daran hegte sie keinen Zweifel. »Ich bin nicht perfekt, Luisa, manchmal sogar ein Arschloch, aber du machst mich zu einem besseren Menschen«, hatte er gesagt. Schlau war er, ihr Tom, und so reflektiert. Ein Mann mit Tiefgang, der etwas von Psychologie verstand – und von Frauen. Sie liebte ihn! So einfach war das. Und er liebte sie! Glücklich las sie noch einmal die Textnachricht, die er ihr vor wenigen Minuten geschickt hatte, garniert mit einem Selfie: Tom auf dem Schiff, der Wind wühlte seine Locken auf, seine vollen Lippen formte er zu einem Kuss für sie. Er war definitiv nicht in seiner Wohnung. Sie konnte sich beruhigt Zutritt verschaffen.

Luisa suchte in ihrer Gucci-Tasche, einem Geschenk von Tom, um das sie ihre Kolleginnen sicher beneideten, den Schlüssel für die »Notfälle«. Dies war ein Notfall. Sie wollte heute Nacht in seinem Bett schlafen, unter seiner Decke, geborgen in seinem Geruch.

Sie öffnete die Tür. Langsam und leise.

Da stand er.

In voller Größe.

Am Ende des Flures.

Und lächelte.

Luisa warf dem lebensgroßen Foto ihres Liebsten ein Küsschen zu. Der Künstler Ferdinand Meixner hatte das Bild aufgenommen, als Dankeschön für die wohlmeinenden Artikel und Online-Beiträge, mit denen Tom seine Arbeit unterstützte. Der Künstler und der Journalist hatten sich angefreundet. Tom würde nach der wichtigen Veranstaltung im Schloss Herrenchiemsee bei Ferdinand auf der Insel übernachten, was er häufiger tat und mit der Einsamkeit seines Freundes begründete: »Betrachte es als gutes Werk, Engerl, weil, er hat ja sonst niemanden.« Zum Frühstück wollte Tom zurück sein und frische Semmeln mitbringen, das hatte er versprochen. Bis dahin musste Luisa wieder in ihrer eigenen Wohnung sein und alle Spuren verwischt haben, aber jetzt wollte sie die Zeit nutzen, um sich bei ihrem schönen, geheimnisvollen Verlobten ein wenig umzusehen.

10

Fannys Stand-up-Board wackelte gefährlich auf den Wellen. Wasser peitschte an ihren Waden hoch wie die Fangarme gieriger Seeungeheuer. Ihr geliebter Chiemsee hatte seine heitere Gelassenheit aufgegeben und brachte mit grausamer Gleichgültigkeit seine dunkle Seite an die Oberfläche. Es regnete in Strömen, der Wind hatte Orkanstärke angenommen, und wieder drosch das Wasser gegen ihre Beine, die dem schaukelnden Board kaum mehr standhalten konnten. Plötzlich wurde ihr klar, wer an ihrer Notlage schuld war: Tom Wildner. Ohne ihn würde sie jetzt trocken und sicher in der Redaktion der Chiemgauer Nachrichten am Schreibtisch sitzen und an einem Artikel arbeiten. Kein anderer als Tom Wildner hatte ihren beruflichen Untergang zu verantworten und wenn sie heute selbst unterging, trug auch er daran schuld. »Dafür wirst du …!« Ein starker Wind wischte ihr über den Mund und erstickte den Rest des Satzes. Von wegen, man sollte die Schuld immer bei sich suchen! So etwas Dummes glaubten nur Frauen. Frauen wie Fanny. Und vielleicht noch Männer wie Klemens. Wie oft hatte er ihr in den Ohren gelegen mit der Aufforderung: »Lass es raus, Fanny! Du musst es rauslassen!« Jetzt war sie bereit dazu. In diesem Moment ließ Fanny alles raus. Sie brüllte sich zwanzig Ehejahre mit Sepp Fischer aus dem Leib und zwei Monate mit Tom Wildner. Sie brüllte und schimpfte auf einem Niveau, das tiefer als der Chiemsee war, und der Donner rollte ihre Worte in die Weite. Das Gewitter war jetzt direkt über ihr. »Sollen das jetzt meine letzten Worte gewesen sein?« Schnell schob Fanny ein »Zefix!« hinterher, um wenigstens mit einem bayrischen Fluch auf den Lippen unterzugehen, wenn es denn sein musste. »Zefix! Halleluja!«

11

Die Tür zu Tom Wildners Arbeitszimmer stand ausnahmsweise offen. Er hatte es wohl eilig gehabt. Auf dem Schreibtisch sah Luisa sein heiliges schwarzes Heft. Aufgeschlagen. Daneben der Stift, den nur er verwenden durfte. »Engerl, da bin ich eigen. Mein Stift ist meine Waffe. Verstehst?« Sie nickte, obwohl er sie nicht sehen konnte, und schlich in sein Büro, obwohl er sie nicht hören konnte. Das Notizheft zog sie magisch an. Irgendwann würde ihr Liebster seine Notizen für einen Roman oder ein Drehbuch verwenden und ihr die Geschichte widmen, hatte er ihr versprochen. Manchmal las er ihr aus seinen Aufzeichnungen vor, bevorzugt die heißen Kapitel, die sich zum Vorspiel eigneten. So kam sie am besten in Fahrt. Tom wusste das. »Im Grunde schreib ich meine Geschichten nur für dich, Engerl. Als Vorspiel.« Es waren pornografische Fantasien, inspiriert von echten Menschen, hatte er erklärt und gleichzeitig versichert, sie sei seine größte Inspiration. Trotzdem fragte sie sich manchmal, ob die Sex-Szenen wirklich frei erfunden waren. »Sowieso, Engerl! Langweilige Realität weitergedacht und spannend gemacht, das ist mein Job«, behauptete Tom. Aber warum nur verwendete er seinen eigenen Namen in den Geschichten, aber nie den ihren? »Ein Kunstgriff«, hatte er sie beruhigt, »damit ich mich besser in die Figuren einfühlen kann. Dich hab ich ja bei mir und dich will ich nicht teilen, nicht einmal in meiner Fantasie.« Luisa seufzte und begann, seine dynamische Handschrift zu lesen. Die Buchstaben neigten sich weit nach rechts, als wollten sie sich selbst überholen. Gehetzte Wörter. Sie begann zu lesen.

»Du willst dich hochschlafen!« Seine Chefin sah ihn kritisch an, aber er erkannte die Verletzlichkeit und die Hoffnung hinter ihrem Misstrauen. Entschlossen drückte er ihre Arme auf den Schreibtisch, beugte sie vorne über und …

Luisa schlug mit klopfendem Herzen das schwarze Heft zu. Wie ekelhaft! Sie hatte die Zeilen, die folgten, nur kurz überflogen. Darin beschrieb Tom detailreich sein Schäferstündchen mit seiner Ex-Chefin. Ihr schwindelte.

Er hatte ihr die Affäre gebeichtet, als es nicht mehr zu verheimlichen gewesen war, und sie hatte sich von Tom einreden lassen, dass er ein Opfer sei. Seine Vorgesetzte habe ihn belästigt und zum Sex gezwungen, indem sie ihn erpresste. Was sie hier las, klang aber anders. Misstrauisch begann sie, die Wohnung ihres Verlobten zu durchsuchen. Wer war der Mann wirklich, dem sie das Versprechen geben wollte, »bis dass der Tod euch scheidet«?

12

»Ich lass mich nicht unterkriegen! Nicht von euch!« Noch lebte Fanny, und sie überlegte, ihr Paddel aus Metall in den See zu werfen, um die restliche Strecke bis zur Herreninsel zu schwimmen. Instinktiv berührte sie ihr Amulett. Die Bärin. »Bären sind ausgezeichnete Schwimmer«, sprach sie sich Mut zu. Da hörte sie ein Geräusch.

Die Bärin brüllte! War es Wunschdenken? Wurde sie verrückt vor Angst? Nein! Sie hörte etwas. Ein Motorboot. Es beschleunigte und das Aufheulen des Motors drang durch Wind und Wetter zu Fanny. Was für eine Erleichterung! Sie war doch nicht allein auf dem See! Hatten sie die Mitglieder der Wasserwacht in ihrer Not entdeckt? Fanny war nur zu bereit, sich von ihrem alten Verein retten zu lassen, auch wenn sie sich anschließend vermutlich einen Vortrag über fahrlässiges Verhalten anhören musste. Zu Recht! Sie legte ihr Ruder aufs Brett und winkte wild mit den Armen. Hilfe! Sie brauchte Hilfe! »Hier! Hier!« Sie stand auf, schwenkte die Arme noch stärker über ihrem Kopf, wankte auf dem Board und verlor den Kampf um ihre Balance. Fanny platschte ins Wasser und sank. Dunkelheit. Kälte. Sie musste sich nach oben strampeln. Auftauchen. Schnell. Ihr Board. Wo war es? Da! Eine Armlänge entfernt. Sie versuchte, danach zu greifen. Griff nicht weit genug. Das Board trieb ab. Weg von Fanny. Kraulen. Sie musste kraulen. Wellen. Sie schluckte Wasser. Husten schüttelte ihren Körper. Sie wollte atmen, aber schluckte Wasser. Ihr war bewusst, sie musste sich an der Wasseroberfläche halten. Durfte nicht unter die Grenze zwischen Leben und Tod sinken. Wo blieb das Motorboot? Kraulen. Sie musste kraulen. Im Notfall bis ans Ufer. Noch einen Versuch. Das SUP. »Los, Fanny! Du schaffst das!« Sie hatte keine Ahnung, woher die Stimme in ihrem Kopf kam, aber sie klang nach ihrem Großvater. »Reiß dich zusammen! Du packst das!« Noch ein Griff. Diesmal erwischte sie die Leine, deren Befestigungsstreifen sich von ihrem Fußknöchel gelöst hatte. Geschafft! Gleich würde das Motorboot näherkommen. Der Fahrer musste sie doch gesehen haben! Mit letzter Kraft zog sich Fanny aus dem Wasser auf ihr Board und sah, wie das Motorboot abdrehte und in die entgegengesetzte Richtung fuhr, zurück ans Festland. Es war nicht die Wasserwacht. Wer sonst wagte sich unter diesen Umständen aufs Wasser? Wer auch immer, er würde Fanny nicht retten, das begriff sie in diesem Moment. Sie musste sich selbst retten, wenn sie überleben wollte.

13

Ferdinand Meixner sah durch ein Fenster seiner Wohnung nach draußen ins Gewitter, das die Bäume der Herreninsel durchkämmte, seiner geliebten Insel, die wenigstens nachts einsam war. In der Hand hielt er ein Gemisch aus Rum, Tee und Zucker.

»Wir leben am Bayrischen Meer«, hatte sein Vater zu sagen gepflegt, »da ist Grog das passende Getränk.«

Jeder Schluck, den er nahm, füllte Ferdinand mit Wärme und Erinnerungen. Er hob sein Glas zum Himmel. »Prost, Babba!« Seit dem Tod seines Vaters schienen dessen Angewohnheiten auf ihn überzugehen. »In mir bleibst am Leben, Babba! Und auf unsere Insel pass ich auf!«

Ferdinand hätte den Grog gerne mit Tom Wildner getrunken, aber sein Freund war in Eile gewesen, wie meistens. Er war aus der bescheidenen Dienstwohnung des Inselgärtners gegangen, die Ferdinand von seinem Vater übernommen hatte, ohne dessen Tätigkeit fortzusetzen. Für den Sohn hatte man den Posten des »Inselfotografen« geschaffen, der ihm glücklicherweise genug Zeit für seine eigene Kunst ließ.

Enttäuscht dachte er an Toms Bitte, sich beim gleich stattfindenden Fest in den Spiegelsaal des Schlosses zu schleichen, um heimlich Fotos zu schießen.

»Eine private Veranstaltung! Eine grandiose Party!«, hatte der Freund geschwärmt und »pikante Fotos« versprochen. Ferdinand hatte abgewehrt: »Ich bin Künstler, kein Paparazzo!«

Doch Tom hatte insistiert und von »großen Tieren« erzählt, die dort feierten, ohne verbergen zu können, wie gerne er selbst zu diesem Zoo gehören würde. Trampelte er deshalb wie ein Elefant auf den Gefühlen anderer herum?

»Ach Ferdinand, alter Romantiker! Es geht ums Überleben und Weiterkommen. Um Ziele!« Sein herablassender Ton hatte verraten, wie überlegen sich Tom Wildner fühlte. Wäre er freundlicher gewesen, hätte ihn Ferdinand in seinem Golfcart von den Wirtschaftsgebäuden hinter der Anlegestelle, unterhalb des ehemaligen Augustiner-Chorherrenstifts und der Stiftskirche, bis zum Schloss kutschiert. So musste Wildner die Kilometer zu Fuß gehen, die zwischen dem Schloss und den anderen Gebäuden auf der Insel lagen. Kein Vergnügen bei dem Unwetter.

Seufzend setzte sich Ferdinand in seinen roten Ohrensessel, der alt und gebraucht war wie alles in der Wohnung. Sollte Tom doch selbst fotografieren! Wieder einmal fühlte er sich von Wildner ausgenutzt, denn natürlich hatte sich dieser nicht mit der Absage zufriedengegeben. Laut imitierte er den Journalisten: »Jetzt zier dich nicht so! Betrachte es als Freundschaftsdienst, von dem am Ende auch deine Kunst profitiert! Du weißt doch, wie es läuft. Ferdi!« Wie er es hasste, »Ferdi« genannt zu werden, aber Tom kümmerte es nicht, egal wie oft Ferdinand ihn korrigierte.

Mit dem Verweis auf Ferdinands Karriere hatte Tom schon so manchen Gefallen eingefordert und Kunstwerke abgestaubt. Andererseits war es Toms Artikeln in den Chiemgauer Nachrichten zu verdanken, dass sich inzwischen auch einflussreiche Menschen wie Marlene Stauber für Ferdinands Fotografien interessierten. Marlene! Sie meinte es wirklich gut mit ihm, obwohl es bei dem einen Mal geblieben war, als sie sich unversehens nähergekommen und im Bett gelandet waren. In ihrem aufgewühlten Zustand danach hatte sie von einem geheimen Hotelprojekt auf der Insel gesprochen, aber gleich wieder einen Rückzieher gemacht, als er erstaunt mehr wissen wollte. »Meine Leidenschaft macht mich zu offenherzig, verstehst?! Ich red dann immer so einen Schmarrn«, hatte sie sich anschließend entschuldigt. Er solle nichts von dem glauben, was sie erzählt hatte. »Ein Luftschloss! Mehr nicht!«

Ferdinand hätte Marlene nur zu gerne geglaubt, aber er war misstrauisch geworden und hatte gehofft, Tom Wildner würde sich als Journalist der Sache annehmen. »Wie stellst du dir das vor?«, hatte dieser gemeint. »Ich arbeite für eine Zeitung der Staubers! Außerdem liegt doch auf der Hand, dass die ganze Sache nur dummes Weibergeschwätz ist.«

Als Ferdinand sein Glas wieder auffüllen wollte, sah er das Kuvert auf dem Tisch liegen, das ihm Wildner mit theatralischer Geste zum Abschied in die Hand gedrückt hatte.

»Pass gut darauf auf. Das ist meine Lebensversicherung«, hatte Tom Wildner gesagt. Ferdinand versuchte, den Inhalt zu ertasten. Ein USB-Stick. Morgen wollte Wildner das Kuvert wieder abholen. Wasserdampf!, dachte Ferdinand.

14

Erschöpft hievte Fanny Fischer ihr Stand-up-Board aus dem Wasser. Sie hatte es ans Ufer geschafft! Lebend! Jetzt musste sie nur noch durch den Park zum Schloss laufen. Dort würde sie das nasse Häufchen Elend, das aus dem Chiemsee gekrochen war, kostümieren, um es in eine aufrechte, strahlende Prinzessin zu verwandeln, und eine Gruppe exklusiver Gäste durchs Schloss führen. VIP-Touren waren Trinkgeld-Touren, und sie war auf diese Extra-Einnahme angewiesen.

Hinter den großen Fenstern des ersten Stockes brannte Licht. Offensichtlich feierten die VIPs im Spiegelsaal. Es war nicht einfach, dafür eine Genehmigung zu bekommen, wusste Fanny. Als sie sich nach dem Veranstalter erkundigt hatte, hieß es, er wolle inkognito bleiben, ebenso wie die Gäste.

Auch Rupert Rieser, der freundliche Mann aus der Putzkolonne, der alles über den König und das Schloss zu wissen schien, hatte nur ein Wort ausgespuckt: Großkopferte, was das bairische Wort für einflussreiche Persönlichkeiten war. »Vielleicht erkennst ja selbst den einen oder anderen.«

»Schau mer mal, dann seng ma scho!«, sagte sich Fanny und freute sich auf den Kaffeeautomaten im Personalraum. Warmer Kaffee schmeckte zu jeder Tageszeit.

Vorsichtig schlüpfte sie in das glänzende Kostüm aus dem Fundus für besondere Führungen und rümpfte die Nase. Es muffelte nach altem, ungewaschenem Stoff, und – viel schlimmer – der Schnitt erinnerte Fanny an ihr Hochzeitskleid: weit, lang, aufgebauscht und angeblich romantisch. Wie gemacht für eine Prinzessin, die den traditionellen Vorstellungen gerecht werden sollte, aber leider sah Fanny selbst mit trocken geföhnten Haaren noch aus wie ein begossener Pudel, den sein Frauchen oder der liebe Gott kurz vor dem Ertrinken aus dem Chiemsee gezogen hatte.

»Wow! Wirklich wow!«, bellte sie ihrem Spiegelbild ironisch zu. Entweder sie zauberte schnellstens eine Visagistin aus dem Ärmel oder sie brauchte eine Maske, um ihr Gesicht zu verstecken. »Ich hab’s! Das ist die Lösung!« Für einen Moment fühlte sie sich wie Wickie, nachdem er sich an seiner Nase gerieben hatte. Bevor sie ihre Hand stoppen konnte, imitierte sie nachträglich die typische Bewegung ihres Kindheitshelden. Anschließend öffnete sie die Schublade des Kostümschranks, wo sie fündig wurde. Ein Schmetterling aus weißer Seide glitzerte ihr entgegen, mit Strass-Steinen besetzt und Spitzen verziert. Fanny legte ihn über ihr Gesicht, froh, dass die Öffnungen für die Augen gut gesetzt waren. »Auf geht’s, Prinzessin!« Es war an der Zeit, zum Treffpunkt zu gehen.

15

Tom Wildner bemühte sich um Coolness, Abstand und einen klaren Kopf, trotzdem überwältigte den Journalisten die Kulisse. Er fühlte sich wie in einem üppig ausgestatteten Historienfilm, und für einen sehr langen Moment nahm ihn die Magie der vielen Lichter gefangen, die ihn umgaben und die von den Spiegelwänden reflektiert wurden. Sie hatten jede einzelne der rund tausendachthundert Kerzen angezündet. Verteilt auf ausladende Kronleuchter und goldene Standlüster erleuchteten sie den knapp hundert Meter langen Spiegelsaal des Königsschlosses. In seinem Zentrum tanzten Menschen, an seinen Rändern standen Gruppen. Die meisten trugen historische Kostüme und ihre Gesichter waren unter schwarzen Seidenmasken verborgen. Tom Wildner vermutete einige der reichsten und mächtigsten Männer Bayerns unter der Verkleidung. Eine stämmige politische Figur, die das Kostüm eines Edelmanns aus dem 18. Jahrhundert zu sprengen drohte, glaubte Wildner am stapfenden Gang zu erkennen, dessen mutmaßliche Kabinettskollegin verriet sich durch ihren breiten Hüftschwung, den sie einzusetzen schien wie andere ihre Ellenbogen. Den Charakter eines Menschen kann eben keine Maske verbergen, dachte Wildner und erfreute sich an seiner Erkenntnis, die bestätigte: Ihm konnte keiner etwas vormachen. Tom Wildner selbst trug keine Maske und erstmals auch nicht die Kleidung der Bediensteten, die Champagner und Häppchen servierten. Seine Zeit als Kellner für Feinkost Feistinger war abgeschlossen. Er rückte auf. Zur Feier des Tages hatte man ihn in die Gala-Uniform des Königs gesteckt: blauer Samtrock, rote Schärpe und einen Gürtel aus Silber. Auf die Perücke hatte er verzichten können, da sich sein volles dunkles Haar wellte wie einst die Locken des jungen Monarchen: Ludwig II.

Es gab nur einen Haken: In seiner Rolle als bayerischer König musste Tom Wildner dem Volk zu Diensten sein, in jeder gewünschten Form. Sie nannten es »Initiationsritual«. Es war die Aufnahmebedingung in ihren erlauchten Kreis. Als ihm das Kostüm in die Hand gedrückt und die Einzelheiten erklärt wurden, war er für einen Moment versucht gewesen, ein Journalist mit kleiner Reichweite zu bleiben. Andererseits, was war ein Abend sexueller Dienstleistung im Vergleich zum restlichen Leben? Im Gegensatz zu seiner glücklosen Affäre mit Fanny Fischer würde es sich diesmal wenigstens auszahlen. Selbstbestimmte Prostitution war nichts Ehrenrühriges, sondern ein fairer Handel. Die ganze Welt war ein Geschäft, das hatte Tom Wildner bereits auf dem Schulhof gelernt, und die Menschen verließen den Schulhof nie wirklich. Dank entscheidender Einsichten wie dieser würde er es endlich aufs gesellschaftliche Parkett schaffen, ohne dabei ein Tablett mit Gläsern balancieren zu müssen. Nun war es an ihm, sich bedienen zu lassen. Er winkte einen jungen Kellner in Livree heran und erkannte in ihm den neuen eifersüchtigen Lover des Caterers. Schnell griff er sich ein Glas Champagner, bevor dieser ihm – wie zu erwarten – die kalte Schulter zeigen konnte.

»Du siehst nicht so aus, als hättest du alles im Griff«, kritisierte er Feistingers Liebhaber. Dessen lächerliche Drohung, Tom würde es mit ihm zu tun bekommen, wenn er Feistinger nicht in Ruhe ließe, hatte er nicht vergessen. Jetzt war eine gute Gelegenheit, den Kerl dafür zu bestrafen, dass Feistinger nicht mehr so großzügig wie früher war. Tom Wildner drückte mit seinem Zeigefinger auf den Rand des Silbertabletts, auf dem mindestens zehn gefüllte Champagnergläser standen. Das angetippte Tablett neigte sich schneller, als der junge Kellner gegensteuern konnte. Klirrend stürzten die vollen Gläser zu Boden. »Hoppla!«, kommentierte Tom Wildner und fügte in spitzem Ton hinzu: »Glaub mir, mein Service war besser!« Ein laszives Zwinkern über die Schulter, dann schritt Wildner zu einem der großen Bogenfenster des Spiegelsaals, sein Champagnerglas wie ein Zepter tragend.

Die Fensterscheibe reflektierte die Gäste in ihren Kostümen: tief dekolletierte, historische Seidenkleider, royaler Putz und hautenge Lederkluft. Freddie Mercury meets Kaiserin Sisi, dachte Wildner. Eine Kleiderordnung schien es nur für die Angestellten zu geben, für die Kellner, die Liebesdiener und für ihn, den Anwärter, den Neuzugang.

Lautes Klopfen lenkte Wildners Aufmerksamkeit zum Saaleingang, wo ein livrierter Diener wie der heilige Nikolaus mit einem Stab auf den Boden pochte, um ein Paar anzukündigen, das im Türrahmen stehen blieb wie die gemeißelte Skulptur eines Königspaares und die Aufmerksamkeit genoss. Ein Raunen ging durch den Saal, manche Gäste klatschten, als sich die beiden endlich wieder bewegten. In Samt und Seide gehüllt betraten Georg und Marlene Stauber den Saal.

»Das Herrscherpaar«, murmelte Wildner beeindruckt und prostete den beiden zu.

Es dauerte nicht lange, bis der Champagner wirkte und zusammen mit der Musik die Menschen lockerte. Auch Wildners Körper wurde vom Rhythmus des Party-Orchesters ergriffen und begann, sich im Takt zu bewegen. Leicht, beschwingt, geradezu euphorisch. Die allgemeine Stimmung wirkte auf ihn wie eine Droge oder war da was im Champagner? Egal, dachte er, als er eine synchrone Bewegung an seinem Rücken fühlte, die Körperwärme eines anderen Menschen. Wildner begann zu schwitzen. Es war so weit. Eine Hand fasste ihm in den Schritt, eine Stimme hauchte ihm ins Ohr: »Begib dich ins königliche Privatschlafzimmer.« Tom Wildner wusste, was er zu antworten hatte und sprach die Worte beflissen: »Zu Diensten!«

16

Fanny Fischer sollte im Vestibül, also in der repräsentativen Eingangshalle des Schlosses, ihre VIP-Gruppe treffen. Wie verabredet stand sie neben der königlichen Monumentalvase mit den Pfauen und ging im Geiste die Informationen für ihre Gäste durch: Die Vase aus Marmor war dreieinhalb Meter hoch, und das porzellanene Federvieh darauf und daneben wog bis zu hundertfünfzig Kilogramm. Fette Viecher, deren Aufgabe es war, die Königswürde von Ludwig II. zu symbolisieren. Über Jahre hinweg taten sie dies in ziemlich angeschlagenem Zustand, ihr Alter und die Berührungen von Touristen hatten ihnen zugesetzt, aber dank einer teuren Restaurierung, konnten sich die Pfauen inzwischen wieder sehen lassen.

»Frau Fischer! Fanny Fischer!« Wie aus dem Nichts erschien eine von Kopf bis Fuß schwarzgewandete Gestalt. Selbst ihr Gesicht war unter dunklem Stoff verborgen, bei dem nur die Sehschlitze ausgespart waren. Erschrocken musterte Fanny ihr Gegenüber. Stimme und Größe ließen auf einen Mann unter der Maske schließen. Instinktiv nahm Fanny eine breitbeinige Haltung ein, wie sie es in einem Selbstverteidigungskurs gelernt hatte. Sie erinnerte sich: Ein stabiler Stand und eine feste Stimme waren entscheidend. Entsprechend bemühte sie sich, angstfrei zu klingen: »Ein Guglmann! Ja da schau her!« Als Tourguide wusste sie: Guglmänner waren die Totenwächter König Ludwigs II.

Die Kapuze nickte und machte eine Ansage. Dumpf drangen Worte durch ihren Stoff: »Ihre Tour fällt leider aus, Frau Fischer.«

»Schlechter Scherz! Dann wäre ich ja ganz umsonst durchs Gewitter gepaddelt.«

»Aber nein! Keine Sorge! Sie sind nicht umsonst hier!« Hörte sie Spott in seiner Stimme schwingen oder einen Unterton Bosheit? Fanny konnte ihr ungutes Gefühl nicht deuten, und im nächsten Moment zog der Guglmann ein Kuvert aus den Stofffalten seines Gewandes.

»Ein großzügiges Ausfallhonorar, das weit über dem vereinbarten Preis liegt. Selbstverständlich wurde auch an das Wassertaxi gedacht, das Sie brauchen werden. Sobald das Gewitter nachgelassen hat, wird es am Steg bereitstehen.« Zu erschöpft, um zu diskutieren, griff Fanny nach dem Umschlag. Insgeheim war sie erleichtert, nach der lebensgefährlichen Überfahrt keine Tour geben zu müssen. Sie würde sich aus ihrem Prinzessinnenkostüm schälen und im Personalraum warten. Oder sollte sie sich die Menschen genauer ansehen, für die sie sich über den See gekämpft hatte, nur um dann zu erfahren, dass sie nicht gebraucht wurde?

Fanny ließ sich auf einer Bank nieder und betrachtete die restaurierten Pfauen. Sie hatten ein zweites Leben geschenkt bekommen und erstrahlten in neuer Pracht. An den Viechern sollte sie sich ein Beispiel nehmen. »Aufrichten! Federn spreizen! Farben zeigen und mit Stolz durch die Welt spazieren!«, sagte sie sich. »Die beste Zeit ist immer jetzt!« Und die Bedingungen passten: Sie trug ein Prinzessinnenkleid, sie kannte die Geheimgänge durch das Schloss, und sie wollte ihr Leben wieder feiern. »Auf zum Spiegelsaal!« Sie hob ihr Kleid an und machte sich auf den Weg zu den tausend Lichtern, die durch die Fenster im ersten Stock geleuchtet hatten.

17

Niemand hatte sie gesehen, aber sie sah alle: Fanny drückte ihren Kopf an das kleine Guckloch in dem Geheimgang hinter dem Spiegelsaal und beobachtete die Maskierten. Prächtige Kostüme, raschelnde Seide, Männer in Fantasieuniformen, dazwischen eng anliegend Lack und Leder auf blanker Haut. Es war kein Motto zu erkennen, außer vielleicht, »falle aus deiner Rolle und falle auf«, dachte Fanny und versuchte zu enträtseln, welche Rollen die Partygäste im wirklichen Leben spielten. Dezente Gespräche am Rand, wilde Tänze in der Mitte des Saales. Häppchen auf großen Silbertellern, die von livrierten Dienern gereicht wurden. Weiches Kerzenlicht zu harten Beats aus den Lautsprechern. Neben einem der großen Lüster stand ein Mann, dessen Körperhaltung sie an ihren Ex Sepp erinnerte. Sofort wanderte ihr Blick zu den Schuhen. Auch auf die Entfernung glaubte Fanny zu sehen, wie sich der Kerzenschein im schwarzen Leder der Haferlschuhe spiegelte, die Sepp immer minutiös gepflegt hatte. »Du spinnst doch!«, brachte sie sich lautlos zur Raison. Vermutlich lag ihr Ex mit seiner jungen Geliebten in dem Bett, das Fanny noch vor wenigen Monaten als ihr eigenes betrachtet hatte. »Immobilien sind verlässlicher als Menschen«, war einer seiner Lieblingssprüche im Verkaufsgespräch. Sie hätte ihrem Mann, dem erfolgreichen Makler, besser zuhören sollen. Zu spät! Sie zwang ihren Blick weg von der unidentifizierten Rückenansicht und lenkte ihre Aufmerksamkeit zur Fensterfront. Da sah sie ihn! Den König, in Bayern gerne Kini genannt, Ludwig II. Er strich sich durch die dichten, dunklen Locken. Eine Bewegung, die Fanny bekannt vorkam. Im nächsten Moment drehte sich der König in den Raum, und sie erkannte sein wahres Gesicht: Es gehörte Tom Wildner. Sie hatte es geküsst und gestreichelt, in den wenigen Nächten, in denen sie seine Worte ernst genommen und seine Gefühle missdeutet hatte. Als sie glauben wollte, was sie besser hätte wissen müssen. Da stand er und spielte den König. Wie im richtigen Leben maßte er sich mehr an, als er verdiente, und feierte im Königsschloss, anstatt in der Hölle zu schmoren. Sie würde dieses Spiel nicht länger mitansehen. Sie löste ihren Blick vom Guckloch und rauschte mit ihrem Kleid durch den Geheimgang. »Der König ist tot. Es lebe die Königin!«

18

Tom Wildner legte sich im privaten Schlafgemach des Königs aufs royale Bett und starrte hoch zum blauen Baldachin. Er war bereit für die Liebesdienste, die von ihm erwartet wurden. Um sicherzugehen, dass er eine gute Figur abgab, griff er nach der blauen Tablette in seinem Jackett. Viagra. Vorsichtshalber. Der Champagner in seinem Glas reichte gerade noch, um die Garantie für seine Standfestigkeit in den Magen zu schwemmen. Hoffentlich hielt das Mittel sein Versprechen. Noch wichtiger: Hoffentlich hielten sie ihr Versprechen, ihn in ihre erlauchte Runde aufzunehmen. Alles andere wäre unritterlich und sie würden es büßen, denn selbstverständlich hatte Tom Wildner noch einen Trumpf im Ärmel. Er war ja nicht blöd! Nur aufgeregt. Nervös. Wer wohl kommen würde? Wildner wischte sich den Schweiß von der Stirn und verteilte ihn in seinen Locken. Da endlich öffnete sich leise die hohe Flügeltür. Ein Mensch blieb effektheischend im Türrahmen stehen, die Arme ausgebreitet, als würde er Applaus erwarten.

»Du?«, fragte Tom Wildner verblüfft.

»Mit mir hast du jetzt nicht gerechnet.«

»Kommt noch jemand?« Tom versuchte, seine Stimme zu kontrollieren, die vor Aufregung vibrierte.

»Ist eine Ménage-à-trois eine weitere deiner heimlichen Fantasien?«

Tom nickte reflexartig und fügte süffisant an: »Und ich dachte immer …«