Schwarze Assassine: Erwachen - Sophia Arím - E-Book
SONDERANGEBOT

Schwarze Assassine: Erwachen E-Book

Sophia Arím

0,0
4,49 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,49 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Fremde, auf der Suche nach ihrer Vergangenheit. Ein Verrat, der einst unverbrüchliche Bande zerstört. Eine Finsternis, die Herzen zu Asche verbrennt. Eine junge Frau erwacht ohne Erinnerungen an der schottischen Küste. Sie trifft auf Fremde, die zu Freunden werden und findet in einem Fischerdorf ihre neue Heimat. Doch ihr Leben ändert sich schlagartig, als sie in jahrhundertealter Erde eine mystische Waffe entdeckt und kurz darauf brutal angegriffen wird. Ein Kampf auf Leben und Tod entbrennt und ruft sie in eine Vergangenheit, die voller Grausamkeit, Intrigen und Schmerz ist. »Zögern ist Schwäche. Und Schwäche bringt dir den Tod.«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Eine Warnung der Autorin
PROLOG
Kapitel 1
Die Fremde
Kapitel 2
Thyra
Kapitel 3
Timothy
Kapitel 4
Thyra
Kapitel 5
Timothy
Kapitel 6
Thyra
Kapitel 7
Amael
Kapitel 8
Timothy
Kapitel 9
Thyra
Kapitel 10
Timothy
Kapitel 11
Lorcan
Kapitel 12
Thyra
Kapitel 13
Amael
Kapitel 14
Pete
Kapitel 15
Thyra
Kapitel 16
Timothy
Kapitel 17
Thyra
Kapitel 18
Timothy
Kapitel 19
Thyra
Kapitel 20
Timothy
Kapitel 21
Thyra
Kapitel 22
Amael
Kapitel 23
Thyra
Kapitel 24
Pete
Kapitel 25
Thyra
Kapitel 26
Amael
Kapitel 27
Lorcan
Kapitel 28
Thyra
Kapitel 29
Thyra
Kapitel 30
Thyra
Kapitel 31
Timothy
Kapitel 32
Thyra
Kapitel 33
Thyra
Kapitel 34
Amael
Kapitel 35
Timothy
Kapitel 36
Thyra
Kapitel 37
Amael
Kapitel 38
Thyra
Kapitel 39
Thyra
Kapitel 40
Lorcan
Kapitel 41
Thyra
Kapitel 42
Timothy
Kapitel 43
Amael
Kapitel 44
Thyra
Kapitel 45
Thyra
Kapitel 46
Timothy
Kapitel 47
Thyra
Kapitel 48
Thyra
Kapitel 49
Amael
Kapitel 50
Thyra
Kapitel 51
Thyra
Kapitel 52
Amael
Kapitel 53
Thyra
Kapitel 54
Thyra
Kapitel 55
Thyra
Kapitel 56
Timothy
Kapitel 57
Thyra
Kapitel 58
Amael
Kapitel 59
Thyra
Fortsetzung folgt …
Personenverzeichnis
Glossar
Triggerwarnung
Danksagung
Weitere Bücher von Sophia Arím
Autorenvita

Sophia Arím

 

 

 

Schwarze Assassine

Erwachen

 

 

 

Impressum:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

 

© 2024 Sophia Arím

Lektorat: Carina Krämer

Covergestaltung / Illustrationen: Mandy Apel

Satz & Layout: Mandy Apel; Sophia Arím

Unter Verwendung mehrerer Motive von @freepik.de

 

Impressum: Sophia Arím

C/o WirFinden.Es

Naß und Hellie GbR

Kirchgasse 19

D-65817 Eppstein

 

ISBN: 9783759273949

Veröffentlicht über tolino Media

Dieses Buch ist auch als Print erhältlich

 

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung,

Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Weil nicht alle Helden gütig sind ...

Eine Warnung der Autorin

 

 

Willkommen in der Welt hinter dem Schleier!

 

In diesem Buch triffst du auf Kreaturen, deren Seelen von Untaten geschwärzt sind, in einem Universum, dessen Zentrum verrottet ist.

Eine reine Weste trägt hier niemand, und eines ist gewiss: Die Schwarze Assassine wird dich finden. Sie wird dir Verderben, Sünde und Wahnsinn zeigen, ebenso wie Begierde und Sehnsucht.

Sei bereit dafür, deine eigenen Moralvorstellungen in Frage zu stellen und reines Entsetzen sowie gleichsam Faszination zu fühlen. Doch sei achtsam, hüte dein Herz und zögere nicht. Denn Zögern ist Schwäche. Und Schwäche bringt dir den Tod.

 

Solltest du genauere Informationen über die im Buch enthaltenen Gefahren erhalten wollen, findest du eine Triggerwarnung hinten im Buch. Aber sei dir bewusst, dass diese Liste den Inhalt spoilert.

 

Und nun wappne dich und bleibe standhaft. Wir sehen uns auf der anderen Seite.

 

Sophia Arím

 

 

 

 

 

 

PROLOG

 

 

Blitze zuckten über den wolkenverhangenen Himmel der Feenlande, Donner grollte über der leuchtenden Stadt und raubte den Einwohnern Shahin-las den Schlaf. Regentropfen prasselten zu Boden und sammelten sich in Pfützen auf der aufgeweichten Erde. Auf leisen Sohlen schlich ein Mann durch die Gärten des Königspalasts, eine tief ins Gesicht gezogene Kapuze verdeckte seine Züge, die schweren Stiefel hinterließen Abdrücke im Schlamm. Über seiner Schulter hing ein filigraner Jagdbogen.

Die Magie in seinem Inneren surrte, Adrenalin schoss durch seine Adern. Auf diese Nacht, auf diesen einen entscheidenden Moment hatte er jahrzehntelang hingearbeitet. Alles war bereit. Nun lag es an ihm.

Er huschte durch den hohen Bogengang zum Hintereingang des Palasts. Sein Herz flatterte wild, als wollte es aus seiner Brust springen. In wenigen Minuten drehten die Wachen ihre Runden, entdeckten sie ihn, hatte er versagt. Mit einem Wink sandte er seine Magie aus, ein leises Klicken ertönte und die prunkvolle Tür schwang auf. Der Weg war frei.

Das Herrscherschloss lag in bedrohlicher Stille da. Ein einziger Laut vermochte ihn zu verraten und all seine Träume zu zerschlagen.

Im Schutz der Dunkelheit rannte er lautlos die vielen Stufen zur Galerie hinauf und ließ seinen Blick schweifen. Die Empore war ein Ort der Kunst, der Sprache und Literatur. Antike Statuen, aufwendig verzierte Vasen und Ölgemälde der verstorbenen Prinzessin sowie des lebendigen Zweigs der Königsfamilie fanden hier ihren Platz. In den deckenhohen Regalen standen Bücher, Pergamente und Schriftrollen eng beieinander, viele von ihnen unter einer dicken Staubschicht begraben.

Hinter den blauen Büchern des Koboldkönigs gibt es einen vergessenen Gang. Früher wurde er genutzt, um die Herrscher im Falle eines Angriffs in Sicherheit zu bringen. Heute findet man dort nur noch Spinnen und deren Netze.

Das waren ihre Worte gewesen. Worte, an die sie sich nicht mehr erinnerte und die sie dennoch alles kosten konnten.

Er ließ seine Finger über das alte Holz der Möbel gleiten, als warmer Schein magischer Fackeln die Dunkelheit erhellte. Hastig presste er sich an die Wand und lauschte.

»Es ist alles ruhig«, sagte eine Frauenstimme, die ihm bestens vertraut war. Ein nagendes Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus und er schluckte schwer.

Man hatte ihm verschwiegen, dass sie heute Dienst hatte.

»Wie jede Nacht«, bestätigte eine männliche Stimme, dessen tiefer Timbre ihm stets Schauer über das Rückgrat sandte. Auch den Mann kannte er gut. Schritte kamen näher, ein sachter Lichtschein beleuchtete die Regale und im Licht des Feuers entdeckte er, was er begehrte.

Götter der Freiheit, das ist es!

Zwei Bücher, in der Farbe des tiefsten Blau des Ozeans, bestickt mit goldenen Lettern und so groß wie der Kopf eines Ristarakwolfes, standen gegenüber von ihm in einer Vitrine.

Wie hab ich sie nur übersehen können?!

Die zwei Wächter kamen näher. Bald würden sie ihn entdecken!

Der Puls wummerte in seinen Ohren. Er duckte sich, stieß sich von der Wand ab und huschte auf die andere Seite der Galerie.

Hinter den Koboldbüchern gibt es einen Gang …  Da!

Hinter dem Glaskasten glänzte ein winziger Hebel. Rasch betätigte er ihn. Nichts geschah. Der Mann leckte sich über die Lippen, linste über seine Schulter. Der Lichtschein wurde heller und er bildete sich ein, bereits den Atem der beiden Wachen zu hören ...

Ein hauchfeines Rattern erklang und ein Spalt öffnete sich in der Wand. Er warf sich regelrecht hinein, verschloss die Tür und versank in Finsternis. Regungslos lauschte er. Die Schritte der Wachen klangen merkwürdig dumpf, ihre gemurmelten Worte waren unverständlich. Sanfter Fackelschein fiel durch den winzigen Schlitz des Geheimganges.

Bitte, geht weiter! Dies darf nicht das Ende sein!

Seine Glieder protestierten gegen die unbequeme Haltung, doch er wagte nicht, sich aufzurichten. Die Wächter verharrten vor dem Zugang, als lauerten sie auf einen Hinweis, ein falsches Geräusch.

Das Licht wurde erst dutzende Atemzüge später schwächer und erstarb. Dunkelheit umfing ihn.

Ein kurzer Stich des Bedauerns durchfuhr ihn, gepaart mit dem Schmerz eines betrogenen Herzens. Eines Tages, wenn die Vier Lande von der Willkürherrschaft des Monarchen befreit waren, würde er mit jener einen alles bereinigen.

Eines Tages sind wir wieder zusammen.

Steif erhob er sich und tastete sich vorsichtig durch die Schwärze. Er verhedderte sich in Spinnweben, Staub kroch in seine Lungen und das Rauschen des Blutes in seinen Ohren verstärkte sich mit jedem Atemzug. Er hasste die Enge des Korridors, der nicht einmal breit genug war, um beide Arme auszustrecken, und liebte den Gang dennoch für seine Existenz.

Am Ende des Flures fand er einen weiteren Hebel, betätigte ihn und trat wieder hinaus in das offene Innenleben des Palasts. Wenige Meter vor ihm ragten zwei große Statuen auf, sie flankierten die verzierte Flügeltür zu den privaten Gemächern des Königs. Siegessicher grinste er. Alles verlief perfekt!

Geschwind trat er an das nächste Fenster und öffnete es. Darunter lag Shahin-la. Die leuchtende Stadt hielt dem tosenden Gewitter mit stoischer Schönheit stand. Regen peitschte ihm entgegen und tränkten seine Kleidung, während er Pfeil und Bogen zückte und die Sehne spannte. Er versetzte das Gefieder des Fluggeschosses mit Magie und öffnete seinen Griff. Die Sehne schnalzte gegen seine Wange und der Pfeil explodierte am Nachthimmel zu einer gleißend hellen Wolke, deren Funken gemächlich gen Boden segelten.

 

Sie sah gespannt zum Firmament. Der Palast des Königs ragte bedrohlich über ihr auf und der Regen hatte sie bis auf die Haut durchnässt. Die Mauer in ihrem Rücken vermochte das Wetter der tobenden Götter nicht aufzuhalten. Die Fünf waren wütend und ließen es die Feen spüren.

Ihre Zähne klapperten und ihre Muskeln zitterten bei dem Versuch, das wenige an Wärme in ihrem Leib zu behalten. Müdigkeit beschwerte ihre Lider und kämpfte mit Hoffnung, Vorfreude und Furcht. Unablässig ließ sie ihren Blick über die königliche Fassade wandern, suchte nach jenem Zeichen, das ihr Erlösung versprach.

Hoch oben, im mittleren Turm des Schlosses, wurde ein Fenster geöffnet. Gespannt fixierte sie den Punkt. Etwas schoss hinaus in die Dunkelheit und ein gleißender Energieball durchbrach die Finsternis des Sturms.

Das ist das Signal!

Sie wirbelte herum und sprintete durch die schmale Gasse, sprang auf das Dach eines leer stehenden Gebäudes und stieß einen durchdringenden Pfiff aus.

Hundertfach wurde ihr Pfiff erwidert, von Mauern zurückgeworfen, drang in jeden Winkel der Stadt, gehört und doch mit Sicherheit unerkannt von der Palastwache. Einzig, wer um den wahren Willen der Götter wusste, vermochte das Zeichen zu interpretieren.

Magie ließ die Luft knistern, Metall schabte über Metall. Aus den Schatten der Straßen, aus Häusern und Abwasserkanälen, aus Bäumen, Büschen und Kellern strömten die Mitglieder der Schwarzen Lilie dem Sitz des Monarchen entgegen, bereit, für Rache, Gerechtigkeit und Freiheit zu kämpfen.

Dies war die Nacht, die alles veränderte.

Dies war die Nacht der Rebellion.

Tod dem König!

Kapitel 1

 

Die Fremde

 

 

Eine sanfte Brise liebkoste ihre Haut. Vögel zwitscherten eine flotte Melodie und irgendetwas krabbelte mit flinken Füßchen über ihr Bein. Die Luft roch salzig frisch, als wäre sie nicht weit vom Meer entfernt. Sie schlug die Augen auf. Schwaches Licht fiel durch das Geäst einer großen Eiche auf sie herab.

Wo bin ich?

Sie hob den Kopf und sofort wurde ihr schwindelig. Unwillig stöhnte sie und kniff die Augen zusammen, bis sich der Schwindel legte und ihre Sicht sich schärfte. Vor ihr lag eine Wiese, das hohe Gras wogte sacht im Wind, Bienen flogen eifrig von Blüte zu Blüte und hoch oben in der Luft zogen kreischende Möwen ihre Kreise.

Ihr Puls schnellte in die Höhe und Adrenalin rauschte durch ihre Adern. Ein vages Gefühl der Gefahr stieg in ihr auf und Unruhe erfasste ihre Nerven. Es war, als hätte sie etwas Wichtiges vergessen, doch je mehr sie sich darauf konzentrierte, desto dichter wurde der Nebel in ihrem Verstand.

Ich kann hier nicht verweilen.

Sie wusste nicht, woher dieser Gedanke rührte.

Ungelenk kam sie auf die Füße. Einschießender Schmerz ließ sie zusammenzucken und sie sah an sich hinab. Ihre schwarzen Hosenbeine waren zerfetzt und dunkles, fast schwärzliches Blut quoll aus einem Schnitt an ihrer linken Wade. Langsam tropfte es zu Boden, der dort, wo sie gelegen hatte, bereits dunkel verfärbt war. Sie stieß einen Fluch aus.

Woher kommt diese Verletzung?

Sie zögerte kurz, bevor sie einen schmalen Streifen Stoff von ihrem Oberteil abriss und ihn behelfsmäßig um ihr Bein band. Es war eine Notlösung, das Oberteil starrte vor Schmutz und der Verband linderte keineswegs die Schmerzen. Doch sie brauchte das Gefühl der Kontrolle. Etwas, dass sie tun konnte, weil alles an ihrer Umgebung ihr fremd erschien und sie auf Hilfe angewiesen war, die sie nicht erhielt.

Wie bin ich nur hier gelandet?

Kritisch suchte sie mit den Augen die Wiese ab, doch wie es schien, war sie ohne Hab und Gut unterwegs. Beklemmung verengte ihre Brust. Sie biss die Zähne zusammen und humpelte los. Sobald sie den kühlen Schatten der Eiche verlassen hatte, brannte die Sonne unbarmherzig auf sie herab und Schweiß trat auf ihre Stirn, rann nur Sekunden später ihre Schläfen hinunter.

»Es ist ganz schön heiß«, grummelte sie und bereute es sofort. Ihre Stimme klang rau und ihre Kehle schmerzte. Sie leckte sich über die spröden Lippen und schmeckte Eisen. Die zarte Haut war aufgeplatzt. Sie schluckte schwer und zwang sich, die aufkeimende Panik zu ignorieren.

Was ist nur mit mir geschehen?

Im Gebüsch neben ihr knackte etwas. Ihr Herz machte einen Satz und sie riss die Fäuste in die Höhe, ignorierte den Schmerz, den die ruckartige Bewegung verursachte.

Was war das?

Erneut knackte etwas, dann huschte eine Maus an ihr vorbei. Sie stieß einen erleichterten Seufzer aus.

»Es ist alles gut. Nur eine Maus«, sagte sie, weil es das war, dass sie zu jemand anderem gesagt hätte, doch ihr Puls beruhigte sich kaum. Das Gefühl von Gefahr klebte weiter auf ihrer Haut wie geschmolzenes Pech. Bevor sie weiterhumpelte, hielt sie inne und blickte von links nach rechts. In beiden Richtungen erwartete sie eine Einöde.

Ich bin allein.

Verlassen.

Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle.

Wohin soll ich gehen?

Zehn Atemzüge lang rang sie mit sich, bevor sie zittrig den Atem ausstieß und sich nach links wandte. Sie hinkte durch die karge Landschaft, stolperte über staubigen Schotter und vertrocknetes Gras, bis sie auf eine asphaltierte Straße stieß, breit genug, damit zwei Kutschen nebeneinander herfahren konnten. Sie beschloss, der Straße zu folgen.

Dem Sonnenstand nach zu urteilen war sie mindestens eine Stunde in der Hitze unterwegs, als sie einen Wegweiser fand.

»St. Abbs in vier Kilometern«, las sie laut, und Hoffnung ließ ihr Herz hüpfen. Vielleicht konnte ihr dort jemand helfen, die umfassende Leere zu ergründen, die sich wie ein alles fressender Parasit in ihrem Innersten ausbreitete.

Wer bin ich?

Lautes Röhren riss sie aus ihren Gedanken. Sie schrak zusammen, ihr Puls beschleunigte sich und ihr Blick flog über den Asphalt.

Was zur ...?

Ein orangefarbenes Gefährt auf vier Rädern raste auf sie zu. Für eine Sekunde war sie wie erstarrt, dann humpelte sie los, stürzte zum Straßenrand. Im selben Moment quietschte es laut, der Wagen bremste und stinkender Qualm stieg auf.

»Sind Sie noch ganz dicht? Warum stehen Sie denn mitten auf der Straße? Ich hätte Sie überfahren können!« Sie wandte sich um, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie sich ein Kopf aus dem Fenster des Gefährts schob. Der Mann hatte schon viele Winter gesehen, sein Haar war an den Schläfen ergraut und tiefe Falten prägten sein Gesicht mit erbost blitzenden, braunen Augen.

»Ich …« Sie hielt inne.

Was soll ich ihm sagen? Dass ich weder weiß, was ich hier mache, noch, wo ich überhaupt bin?

Ihr Zögern schien den Fremden zu irritieren. Er musterte sie und sein Blick wurde wärmer, bevor er seufzte und ausstieg.

»Geht es Ihnen gut? Hatten Sie einen Unfall? Großer Gott, ist das Blut?«

Instinktiv wich sie zurück, hinein in das Unterholz neben der Straße.

»Bitte, haben Sie keine Angst.« Der Mann präsentierte ihr seine leeren Handflächen. »Ich werde Sie nach St. Abbs mitnehmen und dort einem befreundeten Arzt vorstellen. Sie brauchen dringend medizinische Hilfe, und eine Dusche wird sicher auch nicht schaden.«

Sie schielte zu dem orangefarbenen Wagen und Misstrauen erwachte in ihr. Nicht dem Mann gegenüber, vielmehr dem seltsamen Gefährt.

»Damit?«

Ein gutmütiges Lächeln ließ das Gesicht des Mannes erstrahlen. »Mit dem Auto ginge es deutlich schneller, als wenn Sie zu Fuß gehen.«

Er hatte wahrscheinlich recht. Natürlich hatte er recht. Jede Faser in ihrem Körper flehte sie an, das Angebot anzunehmen. Sie seufzte und fasste sich ein Herz. »Also gut.«

 

In dem schwarzen Fußraum des Gefährts fand sich nicht ein Erdkrumen. Die Armaturen waren blank poliert und unverfängliche Musik drang von irgendwoher.

»Mein Auto ist so etwas wie mein Baby«, erklärte der Mann, führte den Sicherheitsgurt über seine Brust und ließ ihn einrasten. Sie tat es ihm gleich und schwieg. Er deutete auf das Handschuhfach vor ihr. »Da ist Wasser drin, falls Sie Durst haben.«

Die Aussicht darauf, ihren ausgetrockneten Mund zu befeuchten, ließ sie beinahe aufjubeln. Hastig riss sie das kleine Fach auf und öffnete die Flasche. Erleichterung flutete ihren Verstand, als sie das lauwarme Nass kostete und sie ließ sich tiefer in den Sitz fallen.

Der Fremde räusperte sich und streckte ihr die Hand entgegen, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. »Ich bin Mr. Gibbins, aber Sie können mich Pete nennen. Verraten Sie mir Ihren Namen?«

Sie starrte erst auf seine Hand und blickte dann auf ihre eigenen Hände hinab. Unter ihren Nägeln klebte Dreck und rostrote Spuren zwischen den Fingern erinnerten an Blut. Verzweifelt forschte sie in ihrem Verstand nach der Antwort auf die einfachste Frage der Welt. Gähnende Leere in ihrem Geist verspottete sie.

»Ich fürchte, ich kann Ihrer Bitte nicht nachkommen, Pete. Ich … scheine meinen Namen vergessen zu haben.«

Pete stockte. »Sagen wir ›Du‹ zueinander«, schlug er dann vor. Sie nickte bloß stumm, froh, dass Pete den Großteil der Konversation auf sich nahm. Von ihm gesiezt zu werden, kam ihr merkwürdig vor.

»Dir muss etwas wahrlich Grauenhaftes widerfahren sein …« Er drehte an dem Rad, über welches er den Wagen steuerte. Eine Weile sagte keiner von ihnen etwas und Pete schien in Gedanken versunken.

Sie sah aus dem Fenster und versuchte, in der vorbeifliegenden Landschaft etwas Vertrautes zu finden, doch die Leere in ihr blieb und mit jedem Atemzug verstärkte sich ihr hämmernder Kopfschmerz.

»Wie wäre es, wenn ich dich bis auf weiteres Mary nenne?« Petes Stimme riss sie aus grauem Nichts eines traumlosen Dämmerzustands. Sie musste für einen Moment eingenickt sein. »Nur, bis du dich wieder an deinen eigenen Namen erinnerst, natürlich«, fügte er schnell hinzu.

»Das wäre ... schön«, krächzte sie und zwang sich, dankbar zu lächeln. Mary. Der Name war schlicht und passte nicht recht, doch schien es ihr besser, einen falschen Namen zu haben, als auf der vergeblichen Suche nach ihrem eigenen in ihrem Geist verloren zu gehen.

 

»Ihr Zustand ist katastrophal, Pete. Sie hat einen massiven Flüssigkeitsmangel und zahlreiche Wunden überall an ihrem Körper. Prellungen, Quetschungen und Schnittverletzungen, einige sind erst vor wenigen Stunden entstanden, andere hingegen sind Wochen oder gar Monate alt. Dazu kommen mehrere kaum verheilte Rippenfrakturen und diese Narben … Nicht einmal bei Mordopfern habe ich Vergleichbares gesehen.«

Die Stimme des Arztes drang durch den Türspalt. Mary befand sich in Petes Gästezimmer, einem kleinen Raum mit einem hohen Schrank und einem schmalen Bett. Links davon führte eine weitere Tür in einen Raum, den Mary noch nicht betrachtet hatte und von den Fenstern aus konnte sie direkt auf den Garten schauen, in dem Hühner und Ziegen wild hin- und herliefen. Hier hatte der Arzt, ein dicklicher Mann in den Vierzigern, sie untersucht. Dabei hatte er immer wieder geflucht oder entsetzte Laute von sich gegeben. Anschließend hatte er Pete in den Flur des kleinen Hauses gebeten, offenbar in der Annahme, dass Mary sie dort nicht hören würde.

»Ich habe sie auf der Straße nach St. Abbs gefunden, sie irrte dort ohne Sinn und Verstand herum. Was sollen wir mit ihr tun?«

»Wo auch immer sie herkommt, so ein Körper entsteht durch Misshandlung.« Der Arzt räusperte sich. »Ich melde ihren Fall der Polizei. Eigentlich gehört sie zur stationären Überwachung in ein Krankenhaus, doch sie hat allem Anschein nach Vertrauen zu dir gefasst und ist traumatisiert, daher überlasse ich sie deiner Obhut – sofern es dir recht ist.«

Pete gab ein zustimmendes Geräusch von sich. »Seit Sarahs Tod ist es ohnehin zu still in diesem Haus.«

»Gut. Madelaine wird euch Medikamente bringen und ich werde in einigen Tagen wieder nach ihr sehen. Wenn bis dahin etwas geschehen sollte, zögere nicht, anzurufen.«

Mary entspannte sich ein wenig. Sie wollte gern bei Pete bleiben. Er schien ein netter Mensch zu sein.

Außerdem weiß ich nicht, wohin ich sonst gehen soll.

Der Arzt fragte Pete, wie es ihm in den letzten Wochen ergangen war, und als Mary sicher war, dass die Männer nicht mehr über sie sprachen, trat sie von der Tür zurück. Sie stützte die Ellbogen auf der Fensterbank ab und beobachtete die Ziegen beim Grasen, während ihre Gedanken leerliefen. Erst als die Tür erneut aufschwang und sich der köstlich herzhafte Duft von warmem Käsetoast im Zimmer ausbreitete, löste sie sich von dem tierischen Treiben.

Jetzt, wo sie sich einigermaßen sicher fühlte, spürte sie den Hunger, der so stark war, dass ihr Magen schmerzte. Sie griff nach dem Toast und biss hinein. Der krümelige Teig und der Käse, der Fäden zog, schmeckte wie der Himmel auf Erden. Verzückt schloss sie für einen Moment die Augen.

Pete stellte das Tablett auf der Matratze ab und deutete auf die Tür neben dem Bett. »Im Badezimmer kannst du dich waschen, frische Kleidung habe ich dir mitgebracht. Ich werde mich jetzt ins Wohnzimmer zurückziehen, doch wenn du noch etwas benötigst, komm jederzeit zu mir.«

Mary nickte, ohne die Aufmerksamkeit von den knusprigen Sandwiches zu lösen, und Pete verließ das Zimmer. Nachdem sie alles restlos verspeist hatte, betrat Mary das Bad. Es war fast so groß wie das Gästezimmer. Weiß getünchte Wände und ein rundes Milchglasfenster sorgten für eine behagliche Atmosphäre, kalte graue Fließen beruhigten Marys Herzschlag. Sie entdeckte eine Dusche, ein Waschbecken, das sich direkt daneben befand, und einen Wandschrank am hinteren Ende des Raumes. Angespannt schlich sie näher, als wollte sie sich vergewissern, dass von dort keine Gefahr für sie ausging, und riss die Türen auf. Niemand sprang heraus, einzig ein kleines Handtuch fiel ihr entgegen. Mary atmete durch und lockerte ihre verkrampften Schultern, bevor sie an das Waschbecken trat und in den darüberhängenden Spiegel blickte.

Mandelförmige Augen mit sturmgrauen Iriden blitzen ihr entgegen, umrahmt von rabenschwarzem, verfilztem Haar. Ihr Gesicht war schmutzig, die hohen Jochbögen ließen ihre Wangen eingefallen wirken und ihr klägliches Erscheinungsbild wurde vollendet von dünnen, rissigen Lippen. Eine lange weiße Narbe erstreckte sich von ihrem rechten Kieferwinkel den Hals hinunter bis zu ihrem Schlüsselbein. Die vage Erinnerung an einen schneidenden Schmerz durchzuckte sie und sie schüttelte sich.

 

Warmes Wasser ergoss sich über Marys Körper und löste ihre verkrampfte Muskulatur. Eine ganze Weile stand sie unter dem stetigen Schauer und sah dabei zu, wie Dreck, Blut, Gräser und ein toter Käfer im Abfluss verschwanden. Bis der Schmutz unter ihren Fingernägeln fortgespült war, vergingen siebzig Atemzüge. Siebzig Atemzüge, in denen Mary die Tür des Badezimmers kaum aus den Augen ließ. Sie wusste nicht, wovor sie sich fürchtete, sie wusste nur, dass es nicht an Pete lag, der ihr mit so viel Wärme und Freundlichkeit begegnet war.

Nachdem sie aus der Dusche gestiegen war, trocknete sie sich ab und erkundete ihren Körper, als gehörte er nicht zu ihr. Ihre Glieder waren sehnig und ihre Haut von unzähligen alten Verletzungen gezeichnet. Da war diese dünne Narbe an ihrem linken Unterarm und eine weitere, gezackte Narbe, die quer über ihren Bauch verlief. Viele kleine und größere Narben zierten ihre Beine und sogar auf ihrem Rücken fühlte sie wulstig-striemige Veränderungen. Es sah fast so aus, als sei sie ausgepeitscht worden.

Einige Zeit später betrat sie, in die neue Kleidung gehüllt, das Gästezimmer. Die Nacht war hereingebrochen, der Mond funkelte silbrig durch die Fenster und spendete gerade genug Licht, um den Weg zu ihrer Schlafstatt zu weisen. Kraftlos sank sie auf die weiche Matratze und schloss die Augen. Nicht einmal zehn Atemzüge später war sie eingeschlafen.

 

Das laute Krähen eines Hahns weckte Mary. Sie rieb sich die Augen und streckte sich. Ein Stöhnen entfuhr ihr. Hatte sie geglaubt, die Schmerzen gestern wären höllisch gewesen, wurde sie jetzt eines Besseren belehrt. Jede Zelle schmerzte, als hätte sie am vorigen Tag eine Schlacht geschlagen.

Sie ächzte und setzte sich auf, lauschte ihrem eigenen Herzschlag und wartete, bis ihre Gedanken sich beruhigten. Heftige Albträume hatten sie gequält, sie war zornig gewesen wie ein blutrünstiges Tier, doch im Sonnenlicht des neuen Tages konnte sie sich an keine Details mehr erinnern. Mary schüttelte den Kopf und stieg aus dem Bett.

Es waren nur Träume, weiter nichts.

Von Hunger getrieben ging sie in die Küche, wo ein gut gelaunter Pete auf sie wartete.

»Guten Morgen. Ich habe dir einen Tee gekocht, Kaffee ist auch in der Kanne, falls dir der lieber ist. Wie geht es dir?«, grüßte er sie.

Überfordert mit der Schnelligkeit seiner Worte, setzte sich Mary an den reichlich gedeckten Tisch und rieb sich die Augen. Dann begann sie zu essen. Erst zögerlich, doch nach wenigen Bissen merkte sie, wie ausgehungert sie war und schaufelte immer mehr Nahrung auf ihren Teller »Mein Gedächtnis ist nicht zurückgekommen, doch ich fühle mich erholt«, log sie zwischen zwei Bissen. »Ich mache mich heute wieder auf den Weg und falle dir nicht länger zur Last. Vielleicht tragen meine Füße mich nach Hause.«

»Blödsinn, du bleibst hier, bis es dir besser geht! Eine Freundin hat mir Medikamente für dich überbracht und der Doktor sieht in ein paar Tagen nochmal nach dir. Außerdem kann ich eine helfende Hand gut gebrauchen und mit ein bisschen Zeit und Ruhe wird dir sicherlich wieder einfallen, wer du bist und was du hier wolltest.«

Es widerstrebte Mary, Petes Gutherzigkeit auszunutzen, doch andererseits war sie froh, dieser Welt, die ihr auf eine unerklärliche Art fremd vorkam, vorerst zu entgehen. Zudem hatte sie keine Ahnung, wo sie überhaupt mit der Suche nach ihrer Vergangenheit beginnen sollte.

Nur eines wusste sie. Sie musste herausfinden, wer sie war.

 

Mary blieb bei Pete. Nach einigen Tagen kam der Arzt vorbei und erteilte ihr regelrecht den Befehl, sich weiter zu erholen, bis ihre Wunden auskuriert und ihre Erinnerungen zurückgekehrt waren.

Aus Tagen wurden Wochen und aus Wochen wurden Monate. Der Sommer strich ins Land, wich einem eisigen Winter, der nach langer Dunkelheit einem bunten Frühling Platz machte. In ihrem zweiten Sommer in St. Abbs hatte Mary sich in das Leben in dem kleinen Fischerdorf eingefügt. Zwischen ihr und Pete hatte sich eine herzliche Freundschaft entwickelt und Mary hatte ihren Plan, fortzugehen, längst verworfen. Sie half im Haus sowie in Petes kleinem Lebensmittelgeschäft, kaufte ein, versorgte die Hühner und Ziegen und abends kochten sie gemeinsam ausgefallene Gerichte, um diese zu verspeisen, während sie sich Krimiserien oder Cowboyfilme aus dem Wilden Westen ansahen. Als die Temperaturen fielen und sich Thyras zweiter Herbst in Schottland ankündigte, hackte sie Holz für den großen Kamin im Wohnzimmer des Häuschens und schnitzte Kürbisse, die sie vor die Eingangstür stellte.

Je länger die junge Frau in dem kleinen Dorf blieb, desto mehr kam sie zur Ruhe. Der einzige Dämpfer blieb ihr fehlendes Gedächtnis, denn bis auf ihren wahren Namen, der ihr eines Mittags beim Hühnerfüttern eingefallen war, bahnte sich kein weiterer Hinweis aus ihrem alten Leben aus den tiefen Abgründen ihres Verstandes. Und so gab Mary, die sich fortan wieder Thyra nannte, die Suche nach ihrer Vergangenheit auf.

Kapitel 2

 

Thyra

 

 

Ein erstickter Schrei riss Thyra aus dem Schlaf. Noch bevor sie ihr volles Bewusstsein erlangt hatte, stand sie vor dem Bett, die Hände zu Fäusten geballt. Adrenalin schoss durch ihre Adern, das Herz pochte heftig in ihrer Brust.

Was war das?

Ein dumpfes Geräusch, gefolgt von unterdrückten Worten, brach erneut die Stille der Nacht. Thyras Nackenhaare stellten sich auf, ein merkwürdig vertrauter Schauer rann über ihr Rückgrat. Im Dunkeln tastete sie nach dem Kerzenständer, den sie vor wenigen Wochen auf das Fensterbrett gestellt hatte. Sie mochte es, abends bei Kerzenschein zu lesen, anstatt das Licht anzuschalten. Pete nannte es altmodisch, doch das gemütliche Licht gab ihr ein Gefühl von zu Hause.

Lautlos schlich sie durch das verwinkelte Haus, folgte den harschen Worten bis zum Wohnzimmer. Der anfängliche Schreck, der sie aus dem Land der Träume gerissen hatte, war tödlicher Ruhe gewichen. Das Gewicht des Kerzenständers in ihrer rechten Hand nahm sie kaum wahr, ihre Brust hob und senkte sich gleichmäßig, sämtliche Sinne waren auf das vor ihr Liegende gerichtet. Vorsichtig linste sie durch die offene Tür in den Raum.

Pete saß mit dem Gesicht zur Tür auf der Couch, seine sonst so gutmütigen Züge waren verzerrt, die Augenbrauen wütend zusammengezogen. Ein fremder Mann mit schmalen Schultern stand bei ihm. Er trug einen perfekt sitzenden Anzug und eine schwarze Sporttasche lag neben dem Sofa.

»… lass mich hierbleiben! Die Geschäfte laufen miserabel, du brauchst meine Hilfe!«, forderte der Fremde, dessen Gesicht Thyra nicht sehen konnte. Pete schüttelte vehement den Kopf.

»Auf gar keinen Fall! Rede mit Vanessa und erklär ihr die Situation. Sie ist das Beste, was dir je passiert ist. Ich komme zurecht.«

Zornig zischte der junge Mann und hieb auf ein Dekokissen ein. Pete schrak zusammen und Thyra biss die Zähne zusammen.

Mistkerl!

Impulsiv stürmte sie vor, sprang auf den Choleriker zu und zog ihm die improvisierte Waffe hart über den Schädel.

»Thyra, nicht!«, Petes Ruf schallte zu spät durch das Wohnzimmer, der Fremde sackte getroffen zu Boden. Blut floss aus einer Platzwunde auf den hellen Teppich. Thyra sah zu Pete, entzweigerissen zwischen dem Triumph, ihren Gegner besiegt zu haben, und der Sorge, die auf dem Gesicht ihres Freundes stand.

»Pete, was ...?«

»Bist du wahnsinnig geworden?« Pete kniete sich neben den Bewusstlosen. Fahrig tastete er nach dem Puls, feine Schweißperlen traten auf seine Stirn. »Du hast soeben meinen Sohn zusammengeschlagen!«

Seinen Sohn?!

»Es … tut mir leid, ich wusste nicht … Du hast ihn nie erwähnt, und ihr habt gestritten … Ich wollte dich nur beschützen, also –« Thyra unterbrach ihr wirres Gestammel. Nichts, was sie sagte, vermochte die Situation zu ändern. Wortlos half sie Pete, den jungen Mann auf die Seite zu drehen und registrierte erleichtert das Flattern seiner Lider. Sie hatte ihn nicht getötet.

Pete tätschelte ihm immer wieder die Wange. »Timothy lebt in London, ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen, es gab keinen Grund, dir von ihm zu erzählen«, sagte er knapp. »Dass der Junge mich mitten in der Nacht aus dem Bett holt, um mir zu verkünden, dass er sich von seiner Verlobten getrennt hat, konnte ich schlecht ahnen.«

Hitze stieg Thyra in die Wagen. Ohne Zweifel hatte sie überreagiert. Timothy stöhnte.

»Er wacht auf!« Thyra setzte hastig ein entschuldigendes Lächeln auf. Petes Sohn durfte sie einfach nicht hassen, denn Petes Freundschaft war alles, was sie auf der Welt hatte.

Timothy fasste sich an den Schädel. Sein Blick fiel auf Thyra und den Kerzenständer, den sie noch immer in der Hand hielt. Erschrocken wich er zurück und Scham ließ Thyras Wangen brennen.

»Was für eine Irre hast du dir jetzt angelacht, Dad? Anstatt mich niederschlagen zu lassen, hättest du sagen können, dass ich nicht willkommen bin!«

Ich kann ihm die Reaktion nicht einmal vorwerfen.

Sie verzog bedauernd den Mund und entledigte sich schnell ihrer Waffe. »Sorry«, murmelte sie und versuchte sich erneut an einem gewinnenden Lächeln. »Ich wusste nicht –«

Pete unterbrach Thyra. »Ich wusste nicht, dass in der jungen Frau, die ich seit über einem Jahr beherberge, eine solch unerschrockene Kriegerin steckt.« Er schüttelte den Kopf, als könne er die Ereignisse selbst nicht begreifen, dann kniff er die Augen zusammen. »Der Schlag war nicht von schlechten Eltern. Ist dir übel? Hast du Kopfschmerzen?«

»Nein, es geht schon. Es ist nur eine Platzwunde.« Timothy warf Thyra einen bitterbösen Blick zu. »Stell mir lieber meine Angreiferin vor, bevor sie ihr Werk noch beendet.«

Thyra schlug die Augen nieder. »Es tut mir wirklich leid«, beteuerte sie. »Ich wusste selbst nicht, was ich vorhabe und ... es gibt keine Entschuldigung dafür. Ich heiße Thyra.«

»Interessanter Name.« Der Mann rappelte sich auf und Pete und Thyra taten es ihm gleich. Erst jetzt fiel Thyra die Ähnlichkeit zwischen den beiden Männern auf. Beide besaßen die gleichen dunklen Augen und störrischen Augenbrauen. Einzig Timothys Lippen waren voller als die von Pete.

»Timothy.« Petes Sohn reichte ihr die Hand und sein Blick bohrte sich in den ihren. Kaum verhohlene Wut saß in seinen Augen. Thyra schluckte, reckte jedoch das Kinn.

Ich habe einen Fehler gemacht, aber einschüchtern lasse ich mich nicht!

»Also gut«, mischte sich Pete ein. »Timothy, das Gästebett ist bereits belegt, du wirst mit der Couch vorliebnehmen müssen. Ich bringe dir ein Pflaster und morgen früh werde ich den Doktor herbestellen, er soll sich deinen Kopf ansehen.« Pete gähnte ausgiebig, schenkte Thyra ein Lächeln und verließ den Raum. Thyra wollte sich ebenfalls für die Nacht verabschieden, da schoss Timothys Hand vor und legte sich unangenehm fest um ihren nackten Oberarm.

»Mein Vater hatte schon immer ein Herz für Streuner und du bist bei weitem nicht die Erste, die er angeschleppt hat. Mach es dir nicht zu gemütlich in meinem Bett, denn ich werde dafür sorgen, dass du bald von hier verschwindest.«

Thyras Herz stolperte, instinktiv riss sie sich aus seiner Umklammerung. Sie hatte sich diesem Mann gegenüber ohne Zweifel schrecklich benommen, aber Timothy überschritt eine Grenze, die ihren Stolz aufbegehren ließ.

»So einfach, wie du niederzuschlagen bist, habe ich keine Angst vor dir«, zischte sie und stapfte davon, ohne Timothy die Gelegenheit für eine Antwort zu geben. Diesen Respekt hatte er nicht verdient.

Kaum in ihrem Zimmer angekommen, verschloss Thyra die Tür, zündete eine Kerze an und setzte sich auf ihr Bett. Sie zitterte wie Espenlaub, und je länger sie darüber nachdachte, desto mehr bereute sie ihr Verhalten Timothy gegenüber. An Schlaf war nicht zu denken. Pete hatte keinerlei Andeutungen gemacht, dass er Thyra den Ausrutscher nicht verzieh, aber ihr Herz krampfte sich dennoch zusammen.

Ich kenne nur das Leben hier und habe niemanden außer Pete. Morgen sollte ich mich bei Timothy entschuldigen.

Fünf Tage später betrat Thyra um kurz nach sieben Uhr die Küche, und wie stets in den letzten Tagen, frühstückten Pete und Timothy bereits. Nur noch ein schmales Pflaster erinnerte an Thyras überzogene Reaktion in jener Nacht. Dennoch plagten sie beißende Schuldgefühle.

»Morgen«, grummelte sie und griff nach der Kaffeekanne. Oftmals war ihr das Bohnengebräu zu bitter, aber heute sehnte sie sich nach der wach machenden Wirkung. Der Gedanke, dass Pete sie fortschicken würde, weil sie seinen Sohn verletzt hatte, hatte sich in den vergangenen Tagen Stück für Stück in ihrem Kopf verankert.

Nicht, das Pete etwas Derartiges angedeutet hätte.

Nein, im Gegenteil. Pete hatte unerträglich viel Verständnis für Thyras Reaktion gezeigt und sie am nächsten Morgen innig umarmt, als sie unter Tränen zu ihm gegangen war, um sich zu erklären. Aber Thyra konnte es nicht darauf beruhen lassen. Sie hatte einen Fehler gemacht und würde dazu stehen. Die Situation musste sich ändern, koste es, was es wolle.

Sie setzte gerade dazu an, etwas zu sagen, da brach Pete die morgendliche Ruhe.

»Ich habe heute für den Laden ein wichtiges Meeting in Edinburgh. Timothy wird mich begleiten und mit seinem Wissen über Verhandlungstaktiken unterstützen«, sagte Pete und reichte ihr den Brotkorb. »Möchtest du ebenfalls mitkommen? Du könntest dir Edinburgh Castle ansehen und am Abend gehen wir gemeinsam essen. Was sagst du?«

Sie sah zu Timothy hinüber, dessen finsterer Blick sie festzutackern schien. Er wirkte alles andere als begeistert von der Aussicht ihrer Gesellschaft. Ein provokanter Spruch lag ihr auf den Lippen, doch sie schluckte ihn hinunter. Stattdessen hielt sie den Blickkontakt und lehnte sich leicht vor.

»Ich begleite euch gern«, sagte sie ernst, »doch ich werde nur mitkommen, wenn du einverstanden bist, Timothy. Mein Verhalten, als du hier eingetroffen bist, tut mir aufrichtig leid und mir bleibt nur, dir zu beweisen, was für ein Mensch ich wirklich bin. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.«

Timothys Kiefermuskel zuckte. Kurz schnellte sein Blick zu Pete, dann seufzte er und winkte ab. »Längst verziehen. Ist wirklich halb so schlimm«, grummelte er. Pete lächelte Thyra wohlwollend zu und der Stolz in seinen Augen ließ sie befreit aufatmen.

Vielleicht darf ich wirklich bleiben.

 

Eineinhalb Stunden später ragte Edinburgh Castle in all seiner imposanten Schönheit vor Thyra auf. Ehrwürdig thronte die Burg auf dem Fels hoch oben über der Stadt und erinnerte an vergangene Schlachten und Fehden.

Pete hielt das Auto an und er, Timothy und Thyra stiegen aus. Kühle Luft umfing Thyra, während sie neugierig den Hals reckte, um all die kleinen Details der Stadt zu betrachten.

»Wow, das ist … fantastisch!« Sie atmete tief ein und saugte das Ambiente der schottischen Metropole in sich auf. Edinburgh roch nach Whisky und Zigarren, altertümliche Volksmusik drang an ihre Ohren und vereinte sich mit dem Straßenlärm zu einem malerischen Orchester. Das erste Mal seit langer Zeit fühlte sich Thyra, als sei sie auf dem richtigen Weg. Als wäre sie auf dem Weg nach Hause.

Womöglich war ich schon einmal hier ...

Gleich darauf kamen die Schuldgefühle. St. Abbs war ihr Zuhause. Sie brauchte nichts anderes als ihr friedliches Leben in dem kleinen Dorf.

Timothy schnaubte abfällig und unterbrach so ihre Gedanken. Auf der Fahrt hatte er kein Wort mit ihr gewechselt und auch jetzt hatte er nur einen verächtlichen Blick für Thyra übrig. »Können wir los, Dad? Eine Verspätung ist unprofessionell.«

»Ja, ja, sicher, einen Moment noch.« Pete eilte um seinen orangefarbenen Kleinwagen herum und drückte Thyra einige Geldscheine in die Hand, während Timothy bereits wieder in das Auto stieg. »Du wirst den Eintritt bezahlen müssen. Und solltest du Hunger bekommen, zögere nicht, dir etwas zu Essen zu kaufen. Hast du dein Handy noch?«

Sie nahm die Scheine entgegen und drückte Pete kurz an sich. »Das Handy ist kaputt«, gestand sie verlegen. Es war bereits das zweite Modell, dass Pete ihr gekauft hatte, und wie sein Vorgänger, hatte es unerwartet den Geist aufgegeben. »Ich danke dir. Eines Tages zahle ich dir alles zurück.«

»Oh, nun denn. Wenn wir zu Hause sind, bekommst du ein neues.« Pete lächelte noch einmal und nahm auf dem Fahrersitz platz. Thyra sah ihm und Timothy nach. Der Stich, der sie durchfuhr, als der Wagen in der nächsten Kurve verschwand, ignorierte sie verbissen und wandte sich wieder der Burg zu, die ihren Namen zu rufen schien.

 

Der Ausblick vom Castle Rock war sagenhaft. Die Stadt lag zu Thyras Füßen, der Water of Leith zog träge an der Burg vorbei, Schiffe fuhren auf dem Flusslauf ihrem Ziel entgegen und tausende Touristen wanderten durch die Straßen und Gassen Edinburghs.

Diese Stadt trägt einen ganz eigenen Zauber in sich.

Thyra schlenderte auf die Burg zu. Über dem großen Zugangstor hing das Wappen des schottischen Königreichs, ein roter Löwe auf goldenem Grund, dessen Haupt eine Krone schmückte. Scharenweise drängten sich die Besucher über eine Holzbrücke und erstanden ihre Tickets bei einem freundlich aussehenden Mann mit schwarzem Schnurrbart. Thyra reihte sich in die Schlange der Wartenden ein und durchschritt wenig später das Falltor, gewappnet mit einem Lageplan und einem klopfenden Herzen.

Sie betrat einen kleinen Hof, der von hohen Mauern gesäumt war. Obwohl es nur alte Steine waren, überkam Thyra Ehrfurcht vor der Geschichte dieses Ortes.

Hier ist sicher viel Blut vergossen worden. Und doch ist es heute ein perfektes Ausflugsziel, geeignet für Menschen aller Altersklassen.

Thyras Weg führte sie an einem Hofladen vorbei, in dem allerlei Souvenirs verkauft wurden. Sie würdigte den Ramsch keines Blickes. Andächtig streifte sie mit ihrer Hand über die rauen Steinwände der Burg und bewunderte die Baukunst des Altertums. Dutzende in den Fels eingelassene Tafeln erinnerten an bedeutende Menschen der Vergangenheit.

›In memory of Sir William Kirkcaldy of Grange‹, entzifferte Thyra eine von ihnen. Ohne Zweifel war er ein verdienter Soldat seines Reiches gewesen. Einem Impuls folgend nickte sie der Tafel zu, bevor sie ihre Erkundung fortsetzte.

Sie passierte ausgestellte Kanonen und ein Kriegsmuseum, entdeckte einen kleinen Laden, der mehr Alkohol beinhaltete als alle Haushalte in St. Abbs zusammen, und besichtigte einen Friedhof, auf dem nur Hunde ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten.

»Merkwürdige Menschen, diese Schotten«, murmelte Thyra amüsiert und blieb kurz darauf abrupt stehen. Ein heißes Brennen erwärmte ihre Brust, ihr Herzschlag beschleunigte sich. Unerklärliche Sehnsucht breitete sich schwallartig in ihren Adern aus.

»Was zur ...?« Ungekannte Energie schoss in ihre Glieder und zwang sie regelrecht, sich in Bewegung zu setzen. Achtlos schob sie sich durch die Menschenmenge, als würde sie sich an einem unsichtbaren Seil entlanghangeln. Erst vor dem Military Prison blieb sie stehen, außer Atem und vollkommen verschwitzt. Der Zug an ihren Gliedern hatte nachgelassen, nicht aber das Brennen in ihrer Brust.

Was geschieht hier?

Ein dunkelhaariger Mann hatte neben der geöffneten Tür Stellung bezogen und deutete mit einer einladenden Geste in das schummrige Zwielicht des Gebäudes.

»Einst war dies eines der schaurigsten Gefängnisse Schottlands, Ma’am. Viel Blut ist hier geflossen, Krankheit und Tod waren jahrhundertelang zu Gast. Tretet näher und taucht ein in die harte Welt der Landesverräter und Rebellen.«

Thyra schenkte ihm ein abwesendes Lächeln und huschte an ihm vorbei. Abgestandene, kühle Luft empfing sie. Menschen bewunderten leise flüsternd die ausgestellten Gegenstände in den gläsernen Vitrinen. Das Brennen in Thyras Brust schwoll an, gleich einer Flamme in trockenem Geäst, und die Sehnsucht in ihr zerrte sie in den nächsten Raum.

Der Geruch von längst geronnenem Blut, Schweiß und Exkrementen drohte sie zu überwältigen. Thyra würgte und presste den Ärmel ihrer Jacke vor Mund und Nase, der Puls rauschte in ihren Ohren.

»Dies waren einst die Quartiere der Gefangenen. Hier hausten sie, eng zusammengepfercht, tagelang vergessen von ihren Wächtern, ohne Privatsphäre und Würde …« Ein Fremdenführer stand inmitten des Gestanks und schwadronierte über die früheren Tage, als hätte er sie selbst erlebt.

Thyra polterte an ihm vorbei. Die Sehnsucht in ihrem Inneren glich einem Waldbrand, gierig darauf, alles zu verzehren. Nie hatte sie etwas Derartiges erlebt und sie rang gleichsam mit Faszination und Panik. Sie verschwendete keinen Blick auf die Ausstellungsstücke und achtete kaum auf die Unterhaltungen um sich herum. Einige Wortfetzen über Legenden, Flüche und Kindergeschrei drangen an ihr Bewusstsein. Sie blieb nicht stehen. Sie konnte nicht stehen bleiben. Getrieben von dem Wunsch, etwas zu finden, dass sie nicht kannte, womöglich gar nicht finden wollte, stromerte sie weiter.

Ich bin so nah dran! Ich kann es spüren.

Sie kam an einem abgesperrten Bereich vorbei und bremste ab. Ihr Herz drohte, ihr aus der Brust zu springen.

Hier ist es!

Es musste so sein.

Unauffällig spähte sie zu beiden Seiten, aber niemand schenkte ihr Beachtung.

Jetzt oder nie!

Binnen eines Wimpernschlags überwand sie die Absperrung und stand am Absatz einer langen Treppe, die nach unten in die Dunkelheit führte. Sie hetzte die Stufen hinab und … krachte im vollen Lauf gegen harte Gitterstäbe.

»Autsch!«, fluchte sie und rieb sich die Stirn. Das Brennen in ihrer Brust breitete sich wellenartig über ihren gesamten Körper aus, verschlang sie mit Haut und Haaren. Ihre Glieder zitterten, Schweiß benetzte ihre Haut.

Ich muss da hinein, koste es, was es wolle!

Thyra ließ ihre Hände über die Tür gleiten und stieß auf eine Verschlussvorrichtung. Sie lehnte sich vor und versuchte, die Dunkelheit mit ihren Blicken zu durchdringen. Erst, als sich ihre Augen an das wenige Licht gewöhnt hatten, das durch die Gitterstäbe fiel, gelang es ihr. Die Vorrichtung war ein altes Vorhängeschloss, das Unbefugte fernhalten sollte.

Wenige Sekunden später klickte das Schloss leise und gab dem Drängen von Thyras Haarnadel nach, die sie genau deswegen stets bei sich trug. Man wusste nie, wann man wo einbrechen musste. Pete wäre entsetzt gewesen, wüsste er von ihrer Fingerfertigkeit, die sie vor rund sechs Monaten entdeckt hatte, als sie ihren Haustürschlüssel vergessen, und Pete nicht hatte anrufen wollen.

Gut, dass er nie davon erfahren wird.

Sie lächelte bei dem Gedanken an den raubeinigen Schotten, der ihr ein wahrer Freund war, und schüttelte dann den Kopf.

Ich sollte mich auf das Hier und Jetzt konzentrieren.

Entschlossen öffnete sie die vergitterte Tür und trat in eine kleine Zelle mit niedriger Decke. Fahles Licht fiel durch ein winziges Loch im oberen Drittel der von Moos und Schimmelpilzen überwucherten Wand und präsentierte festgetretenen Lehmboden.

Die Sehnsucht in ihr brüllte auf. Sie war hier richtig. Doch was suchte sie?

Unruhig ließ sie ihren Blick durch die Zelle wandern, suchte nach Unregelmäßigkeiten in den Wänden, tastete nach einem Spalt oder einem geheimen Mechanismus. Sie fand einzig Staub und Dreck. Thyra knurrte frustriert, drehte sich um die eigene Achse und legte entnervt den Kopf in den Nacken. Erstarrt verharrte sie.

»Was ist denn das?« In der oberen Ecke der Zelle, am Übergang zur Decke, schien etwas versteckt worden zu sein. Sie trat näher und betastete die besagte Stelle. Ihre Finger gruben sich in den harten Dreck, ihre Fingernägel brachen ab, doch es war ihr egal. Sie musste ...

Endlich traf sie auf Widerstand. Sie umfasste den Gegenstand mit ihrer Hand, zog ihn mit einem kräftigen Ruck aus der Wand, stolperte rückwärts und rang für einen Moment um Balance. Als sie das Objekt schließlich in das schwache Tageslicht hielt, erfasste sie ein unerklärliches Kribbeln.

Der schlanke Dolch lag perfekt in Thyras Hand, die goldene Schneide blitzte sanft. Verträumt strich sie über die eingearbeiteten Runen am Heft der Waffe.

»Was machen Sie hier?«

Thyra wirbelte herum. Der Mann mit dem Schnurrbart stand in der Zellentür.

»Dieser Bereich ist nicht Teil der Ausstellung, Sie haben hier nichts verloren!« Er packte sie am Arm und zerrte sie die Treppe hinauf. Hastig schob Thyra das Fundstück in ihre Jackentasche und stolperte hinter dem Mann her, versuchte nicht, sich ihm zu entziehen. Sollte er sie doch rauswerfen. Das Brennen, die Sehnsucht hatte sich gelegt und Thyra wusste: Der Grund, warum die Burg ihren Namen gerufen hatte, befand sich in ihrem Besitz.

Kapitel 3

 

Timothy

 

 

Unauffällig lugte Timothy unter den Tisch und erhaschte einen Blick auf sein Handy. Es war Viertel nach zwei. Er steckte seit mehreren Stunden in der Konferenz seines Vaters fest, dabei hatte er einen Auftrag zu erledigen.

Als letzte Nacht sein Handy geklingelt hatte, war er versucht gewesen, den Anruf zu ignorieren, und ein Teil von ihm wünschte, er hätte der Versuchung nachgegeben.

Dann hätte er Arthur MacLeod, seines Zeichens Clanführer der MacLeods, niemals von der merkwürdigen kleinen Streunerin erzählt, die bei Pete wohnte.

Und Timothy hätte keinen Auftrag erhalten, der gegen jede Moral verstieß und seine Loyalität seinem Vater gegenüber auf eine harte Probe stellte.

Aber man ignoriert Arthur MacLeods Anrufe nicht, wenn man bei klarem Verstand ist.

Das Risiko, dass seine Männer wenige Stunden später in den eigenen vier Wänden standen, war groß. Und da Timothy gerade bei Pete lebte, und dieser nichts von den Verwicklungen seines Sohnes mit den MacLeods ahnte, war das Risiko zu groß.

Also war er rangegangen.

Und jetzt fühlte er sich wie ein Verräter.

Er seufzte schwer und schluckte hart. Es wurde Zeit, dass er tat, was von ihm erwartet wurde. Ungeduldig ließ er seinen Blick über den runden Tisch gleiten, auf den sein Vater vehement bestanden hatte.

„Timothy“, hatte er gesagt, „wenn wir Erfolg haben wollen, müssen wir uns an den Größten unserer Geschichte orientieren. Bereits in der Tafelrunde von König Artus beruhte der Verhandlungserfolg auf der absoluten Gleichstellung aller Beteiligten.“

Es war lächerlich. Sein Vater tat, als ginge es um Milliardengeschäfte, dabei handelte es sich um eine erste Unterredung, um die Konditionen einer möglichen Expansion des Fischhandels von St. Abbs nach Edinburgh auszuloten.

»Timothy, wie stehst du zu diesem Angebot?« Pete riss ihn aus seinen Gedanken. Sowohl er als auch die Geschäftspartner seines Vaters, zwei bierbäuchige Schotten, einer mit langem roten Haar und bleicher Haut und der andere mit dunklem Schopf und olivfarbenem Teint, wandten sich ihm zu.

Verdammt, worüber haben sie gesprochen?

Timothy räusperte sich und lehnte sich vor. »Nun ich … Du solltest darauf eingehen, Dad. Es ist ein großzügiges Angebot.« Die Verwunderung in Petes Gesicht war ausreichend, um ihm zu versichern, dass er das Thema nicht ansatzweise getroffen hatte. Schweiß brach ihm aus, seine Ohren wurden heiß. »Entschuldigen Sie mich, ich muss –« Ohne den Satz zu beenden, erhob er sich, richtete sein Jackett und eilte aus dem Konferenzraum. Jedes Mal, wenn er seinen Vater zu einem Geschäftstermin begleitete, fühlte er sich wieder wie ein kleiner Schuljunge und nicht wie der erfahrene Geschäftsmann, der seine Konkurrenten zur Aufgabe zu zwingen vermochte.

Seine Schritte hallten laut durch die Gänge des gläsernen Bürogebäudes, bis er vor einem geöffneten Fenster stehenblieb. Wie gern würde er jetzt eine Zigarette rauchen! Doch er hatte Vanessa, seiner ehemaligen Verlobten, versprochen, die Sucht zu besiegen. Scheiterte er, gab es keine Möglichkeit mehr, sie zurückzugewinnen.

Timothy atmete tief ein und sah hinab auf die Straße. Das Wetter war umgeschlagen und der Himmel war nun grau und wolkenverhangen, wenig überraschend für Schottland im November. Die hohen Klinkerbauten gegenüber verdunkelten das Stadtbild zusätzlich.

Er atmete tief durch, zückte sein Handy und wählte die Nummer, die Arthur ihm gestern Nacht geschickt hatte. Alles war bereit. Es fehlte nur noch sein Befehl. Es klickte in der Leitung und er hörte den behäbigen Atem einer Person am anderen Ende.

»Es ist Zeit. Tu es.«

Kapitel 4

 

Thyra

 

 

Thyra stand auf dem Vorplatz von Edinburgh Castle, Wind zerrte an ihrem Haar. Der Schnurrbärtige hatte sie des Burgkomplexes verwiesen. Als wäre sie die einzige Touristin, die je abseits der offiziellen Pfade gewandert war!

Doch mein kleines Geheimnis hat er nicht gefunden.

Bei dem Gedanken glitt ein Lächeln über ihre angespannten Züge. Sie straffte die Schultern und setzte sich in Bewegung, fort von Edinburgh Castle, runter vom Castle Rock, weg von all den Touristen, die trotz des plötzlichen Wetterumschwungs noch immer durch die Straßen schlenderten.

Sie kam an einer alten Kirche vorbei, an deren hohem Turm eine Uhr befestigt war. Gingen die Zeiger richtig, war es kurz nach fünf Uhr und ihr blieben noch fast vier Stunden, bis sie sich mit Pete und Timothy zum Abendessen treffen sollte.

Die rechte Hand fest um den Dolch in ihrer Tasche geschlossen, wanderte sie durch die Straßen. Immer wieder sah sie sich um, wählte bewusst die kleineren Wege und gelangte so in ein Viertel, das nichts mehr mit der charmanten Innenstadt Edinburghs gemein hatte.

In ihrem Kopf herrschte Chaos. Jetzt, wo sich die Sehnsucht gelegt hatte, war Thyra entsetzt über ihr Handeln. Im Eifer des Gefechts hatte sie einige Regeln gebrochen. Wüsste Pete davon, wäre er enttäuscht von ihr.

Sie seufzte tief.

Die Regeln zu brechen, war falsch gewesen. Doch sie hatte diesen Dolch finden und mitnehmen müssen. Sie konnte es nicht erklären, doch es erschien ihr absolut lebensnotwendig.

Thyra drückte die Schultern durch und bog in eine weitere kleine Gasse. Sie ertrug die Neugier kaum noch, doch eine dumpfe Ahnung warnte sie davor, den Dolch anderen zu präsentieren.

Nicht einmal Pete würde sie die Waffe später zeigen.

Erst in einer kleinen Sackgasse, fernab der Hauptverkehrsstraßen, blieb sie stehen. Es roch nach vergammelten Lebensmitteln und Müllsäcke stapelten sich auf dem Bürgersteig, zusammen mit leeren Glasflaschen und Dosen. Thyra sah sich um und lauschte. Die Nacht war hereingebrochen und vereinzelt blitzten Sterne zwischen den dichten Wolken hindurch. Bis auf entfernte Motorgeräusche und das Bellen eines Hundes hörte sie nichts.

Ich bin allein.

Perfekt.

Bedächtig zog sie die Waffe hervor. Obwohl der Dolch im tiefsten Dreck Edinburghs verborgen gewesen war, haftete kein Erdkrume daran.

Vorsichtig tippte sie auf die Spitze. Sofort quoll ein Blutstropfen aus ihrer Fingerkuppe.

»Er ist noch scharf!«, fluchte sie und lutschte an der Wunde, als sie ein Scharren vernahm.

Thyras Kopf ruckte automatisch hoch, mit ihrem Blick scannte sie die Umgebung. Instinktiv nahm sie einen breiteren Stand ein, ihr Herz pumpte kräftig. »Ist da jemand?«

Schon in der Sekunde, in der sie die Frage stellte, kam sie sich dumm vor. Kein Angreifer würde das Überraschungsmoment aufgeben, um ihr zu antworten.

Vielleicht war es nur ein Tier auf der Suche nach Nahrung.

Vorsichtig verstaute sie den Dolch in ihrer Tasche und pirschte durch die Gasse. Ein weiteres Mal scharrte etwas.

Thyra wirbelte herum und erstarrte. Ein großer, breitschultriger Mann schälte sich aus den Schatten.

»Hey, was –?«

Ein mächtiger Fausthieb traf ihren Kiefer und ihr Kopf flog nach hinten, ehe sie realisierte, was geschah. Der Geschmack von Eisen explodierte in ihrem Mund und sie stolperte rückwärts. Ein weiterer Schlag traf ihre rechte Flanke, die Wucht des Treffers riss sie von den Füßen und der Schmerz ließ sie wimmern. Thyra wirbelte herum und keuchte auf, Panik tränkte ihren Verstand. Kleine Steinchen bohrten sich in ihre Handflächen, auf allen Vieren krabbelte sie von ihrem Angreifer weg. Ein von unten ausgeführter Tritt traf sie im Magen und Magensäure schoss in ihren Mund. Sie spuckte aus, brach zusammen und würgte, als ein weiterer Tritt sie in der Kniekehle traf. Die rohe Gewalt des Angriffs und die Pein der Verletzungen trieben ihr Tränen in die Augen.

Thyras Blick fiel auf die schmale Narbe, die ihren Unterarm zierte und die Welt fror ein. Ein Nebel in ihrem Geist, den sie bisher nie wahrgenommen hatte, lichtete sich. Ruhe erfasste sie, gleich dem Rückzug des Wassers vor einer Tsunamiwelle, und sie spürte die Anwesenheit des Mannes wie eine körperliche Berührung hinter sich. Kraftvoll sprang sie auf, schnellte herum. Die Angst war wie weggeblasen.

Der Mann stürzte auf sie zu, die Faust hoch erhoben. Kontrolliert duckte sich Thyra, blockte den Angriff und fühlte die abgefangene Energie ihre Knochen erschüttern. Gleichzeitig trat sie ihrem Gegner hart gegen das linke Knie, ein Knirschen erklang und ein unterdrückter Schmerzenslaut hallte durch die schmale Gasse.

»Du hast dich mit der Falschen angelegt!« Thyra folgte den schwankenden Bewegungen des Mannes, Adrenalin rauschte durch ihre Adern und weckte ihre Lebensgeister.

Der Fremde zog das linke Bein nach, brach seinen Angriff aber nicht ab. Er griff nach ihr und sie erkannte, dass er sie zu Boden zerren wollte.

Bastard!

Dort wäre er ihr aufgrund seiner Masse deutlich überlegen. Nahezu empört schnaufte Thyra, drehte sich aus seiner Umklammerung und rammte ihm den Ellbogen auf den Solarplexus. Ihr Gegner rang nach Luft. Unerbittlich setzte Thyra ihm nach, hieb auf ihn ein, wieder und wieder. Die Haut an ihren Knöcheln platzte auf, warmes Blut verteilte sich an ihren Händen. Ihre Arme zitterten vor Anstrengung, doch es war ihr gleichgültig.

Das Schwein soll bluten!

Euphorie und Zorn tanzten miteinander, Thyra verfiel der Raserei.

---ENDE DER LESEPROBE---