Schwarze Dünen - Nina Ohlandt - E-Book

Schwarze Dünen E-Book

Nina Ohlandt

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Beschreibung

An einem diesigen Herbstmorgen stürzt über Sylt ein Kleinflugzeug ab. Die Maschine geht in den Dünen von List nieder, die Pilotin und ihr einziger Passagier sind auf der Stelle tot. Die Untersuchung zeigt, dass die Cessna manipuliert wurde - handelt es sich also um Mord? John Benthien, Hauptkommissar der Kriminalpolizei in Flensburg, übernimmt die Ermittlungen. Welche Rolle spielte der mysteriöse Passagier, der offenbar unter falschem Namen reiste? Und wer war er in Wirklichkeit? Auch persönlich stellt der Fall John vor Probleme, denn die neue Staatsanwältin scheint ihn, anders als ihre Vorgängerin, nicht rückhaltlos zu unterstützen. In Benthien keimt ein folgenschwerer Verdacht ...

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorenTitelImpressumPrologErster Teil: Der Flug der Oliv Tuuli1 – Sanna Harmstorf2 – John Benthien3 – Lilly Velasco4 – Sanna Harmstorf5 – John Benthien6 – Sanna Harmstorf7 – John Benthien8 – Sanna Harmstorf9 – John Benthien10 – Lilly Velasco11 – Sanna Harmstorf12 – John Benthien13 – Sanna Harmstorf14 – John Benthien15 – Sanna HarmstorfZweiter Teil: Der Mann ohne Vergangenheit16 – John Benthien17 – Sanna Harmstorf18 – Lilly Velasco19 – John Benthien20 – Sanna Harmstorf21 – John Benthien22 – Sanna Harmstorf23 – Lilly Velasco24 – Sanna Harmstorf25 – John Benthien26 – Lilly Velasco27 – Sanna Harmstorf28 – John Benthien29 – Sanna Harmstorf30 – John Benthien31 – Lilly Velasco32 – John Benthien33 – Sanna Harmstorf34 – Lilly Velasco35 – John Benthien36 – Sanna HarmstorfDritter Teil: Die Spur führt zurück37 – John Benthien38 – Lilly Velasco39 – John Benthien40 – Sanna Harmstorf41 – John Benthien42 – Sanna Harmstorf43 – Lilly Velasco44 – John Benthien45 – Sanna Harmstorf46 – John Benthien47 – Lilly Velasco48 – Sanna Harmstorf49 – John Benthien50 – Sanna Harmstorf51 – John Benthien52 – Lilly VelascoVierter Teil: Das Versteck53 – Sanna Harmstorf54 – John Benthien55 – Lilly Velasco56 – Sanna Harmstorf57 – John Benthien58 – Sanna Harmstorf59 – John Benthien60 – Sanna Harmstorf61 – Lilly Velasco62 – John Benthien63 – Lilly Velasco64 – Sanna HarmstorfEpilog

Über dieses Buch

An einem diesigen Herbstmorgen stürzt über Sylt ein Kleinflugzeug ab. Die Maschine geht in den Dünen von List nieder, die Pilotin und ihr einziger Passagier sind auf der Stelle tot. Die Untersuchung zeigt, dass die Cessna manipuliert wurde – handelt es sich also um Mord? John Benthien, Hauptkommissar der Kriminalpolizei in Flensburg, übernimmt die Ermittlungen. Welche Rolle spielte der mysteriöse Passagier, der offenbar unter falschem Namen reiste? Und wer war er in Wirklichkeit? Auch persönlich stellt der Fall John vor Probleme, denn die neue Staatsanwältin scheint ihn, anders als ihre Vorgängerin, nicht rückhaltlos zu unterstützen. In Benthien keimt ein folgenschwerer Verdacht …

Über die Autoren

Nina Ohlandt, ausgebildete Sprachlehrerin, arbeitete in vielen Berufen, bis sie zu ihrer wahren Berufung zurückfand: dem Krimischreiben im Land zwischen den Meeren, dem Land ihrer Vorfahren. Nina Ohlandt starb 2020. Ihre Krimireihe wird von Jan F. Wielpütz fortgesetzt, der als Verlagslektor Krimi- und Thrillerautoren betreute und – teils unter Pseudonym – mehrere Bücher veröffentlichte, die auf der SPIEGEL-Bestsellerliste standen.

NINA

OHLANDT

JAN F. WIELPÜTZ

SCHWARZE DÜNEN

NORDSEE-KRIMI

John Benthiens neunter Fall

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.deunter Verwendung von Illustrationen von © shutterstock: Ryszard Filipowicz | Perfect Lazybones | jivacore | 1427503523 | LittlePerfectStock

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-2840-9

luebbe.de

lesejury.de

Prolog

Mittwoch, 18. September 1985

54°05´09.1 N 8°07´21.6 O

In der Nacht, an die Paula Feddersen sich ihr Leben lang erinnern sollte, stand sie auf dem Achterdeck der Alea Haien und flickte die Netze. Der Vollmond leuchtete am sternenklaren Himmel, kein Wind regte sich, und von oben betrachtet musste das Schiff auf der spiegelglatten Nordsee selbst aussehen wie ein kleiner Stern mitten im pechschwarzen Nichts.

Die Flutlichtstrahler erhellten das Deck. Paula konzentrierte sich auf ihre Arbeit. Netze stopfen. Mehr trauten die Männer ihr offenbar nicht zu. Im Stillen war Paula allerdings ganz froh, dass sie nicht unter Deck in der »Fabrik« stehen musste, wo der Fang sortiert und verarbeitet wurde. Der Kutter gehörte ihrem Onkel Nickels. Er hatte sie gleich am ersten Tag runter in die Fabrik geschickt, und Paula hatte es keine Viertelstunde im schwankenden Bauch des Schiffs ausgehalten. Unter dem Gelächter der Männer war sie nach oben gerannt und hatte sich übergeben. Vor allem Tore hatte sich amüsiert. Tore, der sich mit Onkel Nickels am Steuer ablöste und der ihr das Leben schwer machte. Tore war im gleichen Alter wie sie. Er meinte, seine Sticheleien dienten nur einem Zweck, nämlich, um sie abzuhärten. Paula wusste, dass es einen ganz anderen Grund gab. Er hatte ihr Avancen gemacht, doch sie hatte ihm klargemacht, dass sie kein Interesse an ihm hatte.

Das Flicken der Schleppnetze war eine verantwortungsvolle Aufgabe, hatte Onkel Nickels sie gemahnt. Der Fang hing davon ab, dass sie ihre Sache ordentlich machte. Schon ein zwei Finger breites Loch reichte aus, dass die Krabben durchschlüpften.

Paula kniff die geröteten Augen zusammen.

Am liebsten wäre sie jetzt in ihre Koje gefallen und hätte sich der Müdigkeit hingegeben, die wie ein schwerer Stein an ihr zog. In den zwei Wochen, die sie nun auf der Alea Haien war – das erste Mal, dass sie überhaupt so lange von zu Hause weg war –, hatte sie kaum mehr als eine Stunde am Stück geschlafen. Gearbeitet wurde selbst in der Nacht. Mit einem lauten »Reise, Reise« dröhnte dann Onkel Nickels’ Stimme aus den Lautsprechern unter Deck und beorderte alle an Deck zu einem neuen Fang.

Mutter hatte Paula gewarnt. Die Fischerei sei ein hartes Brot und obendrein eine Männerwelt. Doch das hatte Paula nicht aufgehalten.

Als Kind hatte Onkel Nickels Papa und sie einmal auf der Alea Haien mitgenommen, und Paula hatte sich augenblicklich verliebt – in den Kutter, das Meer, die salzige Luft, die grenzenlose Freiheit auf dem Wasser.

Wer sich einmal für die See entscheidet, hatte Onkel Nickels damals gesagt, der bleibt für immer. Und so war es auch gekommen. Nichts und niemand würde Paula davon abhalten, ihren Traum zu verwirklichen: ein eigener Kutter. Selbst wenn das bedeutete, nie wieder richtig zu schlafen und sich die Hände blutig zu schuften.

Paula sah ihren Fingern dabei zu, wie sie die Arbeit mittlerweile beinahe automatisch verrichteten. Sie musste sich ranhalten. Noch verarbeiteten die Männer in der Fabrik den letzten Fang. Der Beifang wurde aussortiert, die Krabben dann bei einhundert Grad gekocht, bevor sie in die Kühlkammer im Bauch des Schiffs wanderten. Doch es würde nicht lange dauern, bis sie die Netze wieder auswarfen. In der Nacht standen die Chancen auf reiche Beute am besten, hatte Onkel Nickels erklärt, da sahen die Krabben im dunklen Wasser die Netze nicht kommen.

Paula überprüfte die Stelle, die sie geflickt hatte, bevor sie sich dem nächsten Netz zuwandte. Plötzlich hielt sie inne. Ein Geräusch lag in der Luft. Es klang seltsam. Ein Rauschen. Dann ein lauter Knall, ganz so, als wäre etwas mit großer Wucht auf dem Wasser aufgeschlagen.

Paula warf das Netz beiseite und eilte zu dem Suchscheinwerfer hinüber, der auf dem Achterdeck montiert war. Sie schaltete ihn ein und ließ den Lichtstrahl über das Wasser wandern.

Hinter ihr öffnete sich die Tür, die zur Fabrik hinunterführte. Bram trat an Deck, zog seinen Tabakbeutel aus der Jackentasche und drehte sich eine Zigarette.

Bram war auf Paulas heimlicher Liste, auf der sie die Besatzung in Nette und Idioten einteilte, einer der Guten. Er war fast genauso alt wie Onkel Nickels und hatte selbst einmal einen Kutter gehabt. Doch irgendwie hatte er es nicht über die Runden geschafft. Die wenigen Jahre bis zur Rente verbrachte er nun auf der Alea Haien.

Zu Beginn ihrer Reise hatte Onkel Nickels den jüngeren Männern klargemacht, dass sie Paula zu achten und wie ein ganz normales Besatzungsmitglied zu behandeln hatten. Bram hatte hinzugefügt, dass er jeden, der es wagte, auch nur einen Finger an sie zu legen, eigenhändig über Bord befördern würde. Neulich hatte er tatsächlich Tore in den Schwitzkasten genommen, als dieser es zu weit getrieben hatte.

Bram trat neben sie und zündete sich die Zigarette an. »Was los?«

»Weiß nicht. Hab da was gehört«, antwortete Paula, während sie mit dem Strahler weiter das Wasser absuchte.

»Hm.« Bram zog an seiner Zigarette und ließ den Rauch durch die Nasenlöcher in die kalte Nacht aufsteigen. Dann meinte er plötzlich: »Was ist das?«

Paula folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger und richtete den Strahl aus. Das Wasser war glatt wie ein Spiegel. Etwas trieb an der Oberfläche.

»Ist das …?«

»Glaub schon«, brummte Bram.

Im Wasser trieb ein Mensch.

Bram schlug Alarm und machte sich sofort daran, die Rettungsmittel auszubringen. Tore streckte den Kopf aus dem Ruderhaus, und Bram signalisierte ihm, die Maschinen zu stoppen. Kurz darauf kamen die anderen Männer an Deck gestürmt.

Während sie sich mit Bram daranmachten, den Körper aus dem Wasser zu ziehen, ließ Paula den Scheinwerfer weiter über die See gleiten. Vielleicht waren noch mehr Menschen dort draußen, die Hilfe benötigten.

Dann hörte sie wieder das Rauschen.

Sie blickte in den Himmel. Zunächst wähnte sie sich in einem Albtraum gefangen, mochte nicht glauben, dass es erneut geschah. Doch das tat es, und es war real. Hoch oben, wo der Mond die Nacht erhellte, fiel der Körper eines Menschen aus großer Höhe auf das Meer zu.

Paula zuckte unwillkürlich zusammen, als der Körper mit einem Knall auf das Wasser aufschlug. Heute, am 18. September 1985, regnete es über der Nordsee Menschen.

Dann war da noch etwas. Ein anderes Geräusch, ein leises Brummen, das Paula in der allgemeinen Aufregung, die an Deck herrschte, bald wieder vergaß und an das sie sich erst viele Jahre später wieder erinnern würde, als sie selbst schon eine alte Frau war und sich den Traum vom eigenen Kutter erfüllt hatte.

Erster TeilDER FLUG DER OLIV TUULI

Flensburger Tageblatt

Vermisstes Mädchen nach Jahrzehnten wieder aufgetaucht

Flensburger Kripo gelingt Sensation in ungelöstem Fall. Aber noch sind viele Fragen offen.

Flensburg/Wyk auf Föhr. Der Flensburger Kriminalpolizei ist in einem alten ungelösten Fall, einem sogenannten Cold Case, ein ebenso überraschender wie auch kurioser Erfolg gelungen.

Im Herbst 1980 waren die fünfjährige Emma Ahlert und ihr Vater Mikkel bei einem Ausflug von der Insel Föhr auf das nahe Festland spurlos verschwunden. Alle Bemühungen der Polizei und der Küstenwache, die beiden zu finden, liefen damals ins Leere.

Doch nun konnte Hauptkommissar John Benthien von der Kripo Flensburg das vermisste Mädchen ausfindig machen. Benthien ist einer breiten Öffentlichkeit von Auftritten in Fernsehsendungen bekannt, vor allem aber durch den True-Crime-Bucherfolg seines Vaters Ben Benthien, der sich in seinem Werk mit den vielen erfolgreichen Ermittlungen seines Sohns beschäftigt.

In diesem Fall scheint Benthien jedenfalls der Zufall in die Karten gespielt zu haben. Denn wie sich herausstellte, lebt die inzwischen zur Frau herangereifte Emma Ahlert unter dem Namen Frede Junicke wieder auf Föhr – und zwar als Polizeichefin der Insel.

Vorausgegangen waren der Enthüllung ihrer wahren Identität Ermittlungen einer Mordkommission unter der Leitung von Benthien.

Gunilla Dornieden – ehemals Ahlert –, die Mutter von Frede Junicke (Emma Ahlert), war im Keller ihres Anwesens auf der Nordseeinsel tot aufgefunden worden. Als Tatverdächtiger muss Bosse W. gelten, ein zurückgezogen lebender Mann von der Insel, der festgenommen wurde. Über das Tatmotiv schweigt sich die Polizei aus. Interne Quellen lassen aber verlauten, dass es sich möglicherweise um einen misslungenen Erpressungsversuch handelte. Offenbar hatte die auf der Insel hoch angesehene Geschäftsfrau eine Affäre mit einem Kommunalpolitiker.

Allerdings deutet manches darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft selbst noch Zweifel hat, mit Bosse W. den Richtigen gefasst zu haben. Jedenfalls ist noch keine Anklage in dem Mord gegen ihn erhoben worden. Dennoch droht Bosse W. in anderer Sache eine lange Haftstrafe, denn die Ermittler entdeckten im Zuge seiner Festnahme kinderpornografisches Material in seiner Wohnung, mit dem der Mann offenbar einen regen Handel betrieb.

An der Festnahme von Bosse W. war auch Frede Junicke als Polizeichefin der Insel beteiligt.

Wie sich herausstellte, hatte sie ein persönliches Interesse an seiner Ergreifung, schließlich handelte es sich bei ihm um den Mörder ihrer Mutter. Dies war wohl auch der Grund, weshalb Junicke ihre wahre Identität zunächst vor den Kollegen verbarg, um nicht von den Ermittlungen ausgeschlossen zu werden. Es war Benthien, der die Wahrheit schließlich aufdeckte.

Aus einer Pressemitteilung der Behörden ist bekannt, dass Junicke inzwischen eine vollständige Aussage gemacht hat. Daraus geht hervor, dass sie im Herbst 1980 von ihrem Vater ohne das Wissen der Mutter zur Familie eines Freundes in Dänemark verbracht wurde. Weshalb Mikkel Ahlert diesen Schritt unternahm, ist unklar, ebenso sein Verbleib. Gerüchte, dass es sich bei einer zweiten, skelettierten Leiche, die im Haus von Gunilla Dornieden gefunden wurde, um ihn handelt, wollte die Polizei »aus ermittlungstechnischen Gründen« nicht bestätigen.

Klar ist nur, dass Emma Ahlert in Dänemark bei dem Freund ihres Vaters unter dem Namen Frede Junicke aufwuchs. Warum der Identitätsschwindel damals nicht offenbar wurde, soll nach Auskunft der Polizei Gegenstand einer innerbehördlichen Analyse sein. Als Junicke in späteren Jahren die Wahrheit über ihre Herkunft erfuhr, entschloss sie sich nach eigenen Angaben, Kontakt mit ihrer Familie aufzunehmen. Neben der Mutter lebte noch eine Halbschwester auf der Insel.

Konsequenzen dafür, dass sie ihre Identität weiterhin verschleierte und auch den Interessenkonflikt bei den Ermittlungen nicht offenbar machte, muss Junicke wohl nicht fürchten. Wie aus der Pressemitteilung zu entnehmen ist, sieht man aufgrund der besonderen Umstände und weil Junicke maßgeblich zum Ermittlungserfolg beitrug, von einem Disziplinarverfahren ab.

Vieles in diesem Fall wird ein Rätsel bleiben: das Schicksal von Mikkel Ahlert und der Grund, weshalb er die eigene Tochter verschleppte, ebenso wie die Frage, ob die Polizei mit Bosse W. tatsächlich den Richtigen gefasst hat oder wie es John Benthien überhaupt gelang, die wahre Identität von Frede Junicke zu offenbaren.

Denn zu diesem Punkt schweigt Deutschlands bekanntester Ermittler beharrlich. Laut der Pressesprecherin der Flensburger Polizei steht Benthien aktuell für keine Interviews zur Verfügung.

1    Sanna Harmstorf

Wieder war sie bei den Toten. Sie befanden sich am Ende eines langen Flurs hinter einer Doppeltür aus Metall. Die Wände waren weiß gefliest, an der Decke flackerten Leuchtstoffröhren.

Sannas Schritte hallten vom Boden wider. Sie packte den Griff eines Türflügels und schwang ihn auf, obwohl sie wusste, was sie dahinter erwartete.

Auf dem Obduktionstisch lag der Körper eines Mannes. Eine lange Naht zog sich vom Schambein zum Kehlkopf, von wo aus zwei weitere Schnitte zu den Schultern führten, sodass sich die typische Form eines T ergab.

Der Rechtsmediziner hatte seine Arbeit beendet. Er stand neben der Leiche und zog sich die Handschuhe aus.

Sie näherte sich dem Obduktionstisch und betrachtete den Toten. Sein Gesicht war ihr fremd geworden. Das Leben war daraus verschwunden und mit ihm auch der Mensch, den sie kannte und den sie geliebt hatte.

Das halblange schwarze Haar hatte man ihm abrasiert. Ein Schnitt reichte von Ohr zu Ohr quer über den kahlen Schädel – oder das, was davon noch übrig war. Vom unteren Teil des Hinterkopfes fehlte ein ganzes Stück. Ein Loch mit Knochensplittern, Hautfetzen und verkrustetem Blut klaffte dort.

Der Rechtsmediziner nahm einen Metallstab und führte ihn in die Eintrittswunde in der Stirn des Mannes ein, deren Ränder unregelmäßig verbrannt waren.

Ein angesetzter Schuss, schräg von oben,sagte er. Vermutlich hat er vor seinem Mörder gekniet. Eine Hinrichtung.

Sie hörte seine Worte wie aus weiter Ferne, bestätigte sie nur mit einem Nicken. Ja, so musste es gewesen sein. Eine Hinrichtung. Ihr Blick wanderte zu den Handgelenken, wo Kabelbinder in die Haut eingeschnitten hatten.

Bei ihm ist es dasselbe. Der Rechtsmediziner deutete auf den benachbarten Obduktionstisch, auf dem ein zweiter Männerkörper lag, ebenfalls mit einem Einschussloch in der Stirn.

Erneut der Rechtsmediziner, der sich wieder dem ersten Toten zugewandt hatte: Was hatte er überhaupt dort zu suchen? Er muss doch gewusst haben, in welche Gefahr er sich begab.

Sie öffnete die Lippen einen Spalt weit, brachte aber keinen Ton heraus.

Sie. Sie selbst war der Grund. Höchstpersönlich hatte sie sein Todesurteil unterzeichnet.

In diesem Moment schlug der Tote die Augen auf und sah sie an. Seine Lippen formten eine Frage.

Warum?

Sanna Harmstorf schreckte aus dem Schlaf hoch und schnappte nach Luft. Das Herz raste in ihrer Brust. Sie spürte, wie Panik in ihr aufstieg und sich zu einer Angstattacke auszuweiten drohte. Ihre Kehle schnürte sich zu.

Sie setzte sich auf die Bettkante und zwang sich, kontrolliert zu atmen, so wie sie es gelernt hatte.

Es ist in Ordnung, Angst zu haben, sagte sie sich. Angst ist nur ein Gefühl von vielen. Jeder verspürt sie dann und wann. In dir ist nichts kaputt. Akzeptiere die Angst. Sie ist dein Freund, sie sagt dir, wenn etwas nicht stimmt. Finde heraus, warum du dich gerade jetzt fürchtest, frage dich, ob es wirklich angebracht ist. Nein? Dann nimm die Angst, schieb sie sachte wieder in den Raum, aus dem sie hervorgekrochen ist, und verschließ die Tür.

Langsam beruhigte sie sich. Sie hatte dieses Mantra dutzendfach mit der Polizeipsychologin eingeübt. Manchmal half es, manchmal nicht.

Sanna stand auf, zog die Jalousie hoch und öffnete das Fenster. Mit beiden Händen stützte sie sich auf das Sims und sog die kühle Luft, die hereinwehte, tief in die Lunge. Ihr Blick wanderte hinaus über das gekräuselte Wasser der Flensburger Förde, dahinter die Häuser der Stadt, die sich auf dem Hügel dicht an dicht drängten. In den frühen Morgenstunden brannte nur in wenigen von ihnen Licht, und auch im Hafen regte sich rings um das Hausboot noch kein Leben. Der Frühling schickte zwar seine ersten Vorboten, doch zu dieser Jahreszeit lagen die meisten Segelschiffe und Motorboote verlassen da.

Sanna schloss die Augen.

Mario.

Atme weiter tief und ruhig und spüre, wie sich dein Herzschlag beruhigt.

Fast ein Jahr war vergangen, seit sie vor jenem Obduktionstisch im Rechtsmedizinischen Institut in München gestanden hatte. Es würde dauern, das Geschehene zu verarbeiten, hatte die Psychologin ihr erklärt, doch irgendwann würde sie damit klarkommen. Irgendwann. Sanna fragte sich noch immer, wann das sein würde.

Sie hatte lange über eine Versetzung nachgedacht, die Möglichkeit, das alles weit hinter sich zu lassen, den Schritt dann aber doch erst vor Kurzem gewagt.

Nun war sie wieder hier, in ihrer Heimat, seit zwei kurzen Wochen, und es fühlte sich gut an. Denn wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie den Norden vermisst. Sie mochte in München erfolgreiche Jahre gehabt haben, doch im Stillen war sie nie mit der Stadt warm geworden. Sie hatte sich nach dem salzigen, klaren Geruch des Meeres, dem Sand unter den Füßen und dem weiten Himmel ihrer Heimat gesehnt.

Sanna schloss das Fenster wieder und ging die paar Schritte hinüber in das Wohn- und Esszimmer. Das Hausboot, das sie im Jachthafen unterhalb der Marineschule angemietet hatte, bis sich etwas Besseres fand, war der neueste Versuch findiger Geschäftsleute, bei wuchernden Mieten und Immobilienpreisen auch noch auf dem Wasser Geld zu verdienen. »Minimalistisches Wohnen in der Natur«, hatten sie das Hausboot im Internet angepriesen. Die ehrliche Variante hätte gelautet: »Beengtes Wohnen zu unverschämten Preisen«. Doch Sanna war es egal. Sie lebte allein, verbrachte die meiste Zeit des Tages im Büro, und es war nur vorübergehend.

Das Hausboot bestand aus einem Schlafzimmer, einem Bad mit Dusche und dem relativ geräumigen Wohnraum mit Küchenzeile. Das alles in moderner quadratischer Bauweise.

Sanna lief vorbei an einem Stapel Umzugskartons, die sie noch nicht ausgepackt hatte, zur Küchenzeile, wo sie sich einen Kaffee machte. Während die Maschine spratzelte, warf sie einen Blick auf ihr Smartphone. Das Display zeigte eine eingegangene Nachricht. Abgeschickt gestern kurz vor Mitternacht, als sie bereits im Bett gelegen hatte.

Kommst du morgen?, fragte Jaane.

Ja. Später Nachmittag oder Abend. Okay?,schrieb Sanna ihrer Schwester zurück und steckte das Smartphone in die Hosentasche.

Nun, wo ihre Mutter nicht mehr lebte, würde sie sich um Jaane kümmern müssen. Ein weiterer Grund, in die Heimat zurückzukehren. Mama war vor wenigen Monaten gestorben. Plötzlich, aber nicht überraschend, wenn man sein Leben lang mindestens eine Packung Zigaretten am Tag rauchte und Sherry wie Sprudelwasser trank. So gesehen konnte man es schon als kleines Wunder betrachten, dass Mama überhaupt das Alter von zweiundsiebzig Jahren erreicht hatte.

Jaane war vor einigen Jahren wieder zu Mama in das kleine Haus in Munkmarsch auf Sylt gezogen. Und dort würde sie jetzt auch weiterhin wohnen, zumindest soweit es Jaane betraf.

Sanna zog sich einen Pullover über, nahm die Kaffeetasse und trat hinaus auf die Terrasse. Auf dem Weg schnappte sie sich noch die Tageszeitung von gestern, die ungelesen auf dem Wohnzimmertisch lag.

Das Hausboot war quer zur Landseite an einem Steg vertäut, sodass die kleine Holzterrasse nach Osten zeigte, wo die Flensburger Bucht sich weitete. Am Horizont war das erste Morgenrot zu sehen.

Sanna setzte sich auf einen der beiden Holzklappstühle, die sie in einem nahe gelegenen Baumarkt geholt hatte, trank einen Schluck Kaffee und stellte die Tasse auf dem Gartentisch neben sich ab.

Dann schlug sie die Zeitung auf. Die Titelseite beschäftigte sich neben politischem Geschehen mit dem Absturz eines Kleinflugzeugs auf Sylt. Der hatte vor wenigen Tagen offenbar für einigen Wirbel gesorgt, weil der Flughafen der Insel für mehrere Stunden hatte gesperrt werden müssen.

Sanna blätterte weiter zum überregionalen Teil.

Jaane hatte ihr empfohlen, sich die Zeitung zu besorgen. Dein Ruf eilt dir voraus, hatte sie gesagt.

Tatsächlich fand Sanna einen halbseitigen Artikel, in dessen Mitte ein Porträtfoto von ihr abgedruckt war. Eine Schwarz-Weiß-Aufnahme. Dennoch konnte man erkennen, dass ihr Haar sehr hell war, heller als das gewöhnlicher Menschen. Tatsächlich war es vollkommen weiß.

Das Bild zeigte sie beim Verlassen eines Gerichtsgebäudes. Sie trug einen Hosenanzug und hatte sich einen Stapel Akten unter den Arm geklemmt.

Sanna überflog die Zeilen, fand darin aber nichts Überraschendes. Der Artikel erzählte, wie sie einen korrupten Politiker überführt und vor dem Landgericht eine langjährige Haftstrafe erwirkt hatte. Der Autor verlor einige Sätze über Sannas Werdegang und schloss mit den Worten, dass sie unter Kollegen als besonders unerbittlich gelte, selbst wenn dies bedeute, gegen Leute aus den eigenen Reihen vorgehen zu müssen.

Sie faltete die Zeitung wieder zusammen und legte sie auf den Tisch. Was für ein pathetischer Müll. Ihre Arbeit als Staatsanwältin galt der Suche nach der Wahrheit. Sie ermittelte belastend und entlastend. Wenn die Indizien es hergaben, hatte sie keine Scheu, noch vor Gericht ihre Ansicht zu ändern und einen Freispruch zu beantragen. Belegten die Beweise hingegen eine Straftat, dann musste dem Recht Genüge getan werden, egal um wen es sich handelte. Vor Justitia waren alle gleich.

Sanna trank noch einen Schluck Kaffee.

In wenigen Stunden würde sie ihre neue Stelle bei der Staatsanwaltschaft Flensburg antreten. Sie machte sich keine Illusionen. Vermutlich würden der Oberstaatsanwalt und die neuen Kollegen sie nicht besonders willkommen heißen. Für ihre Versetzung hatte sie nämlich einen Gefallen einfordern müssen. Einen sehr großen Gefallen.

Sie ließ den Blick über das Wasser schweifen. In den Wellen der Förde spiegelte sich die aufgehende Sonne.

Ein neuer Tag, ein neues Leben. Vielleicht würde sie ihr altes ja tatsächlich irgendwann vergessen.

Zwei Stunden später saß Sanna dem Oberstaatsanwalt in seinem Büro gegenüber. Es befand sich im Gebäude der Staatsanwaltschaft am Landgericht Flensburg, einem Bau aus rotbraunen Backsteinen, der mit seinen Türmen an eine Burg erinnerte. Sanna hatte vor einem ausladenden Mahagonischreibtisch Platz genommen. Oberstaatsanwalt Bleicken wiegte sich auf der anderen Seite in einem Ledersessel und taxierte sie.

Sanna hatte sich bereits angehört, was von ihr erwartet wurde. Bleicken leitete die nördlichste Staatsanwaltschaft Deutschlands, eine der kleinsten, weshalb er von jedem Mitarbeiter höchsten Einsatz erwartete. Was für sie selbstverständlich war, deshalb hatte Sanna nur mit halbem Ohr zugehört und an den passenden Stellen genickt oder zustimmend gebrummt.

Doch nun ging es ans Eingemachte. Das erkannte Sanna an Bleickens Blick, der ernst wurde. Bisher war auch für ihn alles Formsache gewesen. Er richtete sich in seinem Stuhl auf und stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch.

»Ihr ehemaliger Vorgesetzter in München scheint einen guten Draht zu unserem Generalstaatsanwalt zu haben. Er hat Sie wärmstens empfohlen.« Bleicken machte eine Pause. Er trug seine grau melierten Haare altmodisch nach hinten gegelt. In den grünen Augen unter den buschigen Augenbrauen lag etwas Listiges. »Der Generalstaatsanwalt fand offenbar Gefallen daran, junges Blut in unsere Behörde zu bringen. Ich musste eine altgediente, sehr versierte Kollegin vorzeitig in den Ruhestand schicken. Also hoffe ich, dass Sie es wert sind …«

Die Bürotür öffnete sich, und die Assistentin streckte den Kopf herein. »Kriminalrat Gödecke wäre jetzt da.«

»Soll reinkommen.«

Ein massiger Mann mit Halbglatze und Schnauzer betrat den Raum. Er begrüßte den Oberstaatsanwalt und Sanna mit einem Nicken und setzte sich auf den Stuhl neben ihr.

»Schön, dass Sie es einrichten konnten«, sagte Bleicken.

Gödecke zog die braune Krawatte zurecht, die er zum blauen Zweireiher trug.

»Wir möchten Ihnen die Chance geben, sich zu bewähren.« Bleicken breitete die Hände in einer einladenden Geste aus. »Kriminalrat Gödecke hat ein etwas … ungewöhnliches Ansinnen.«

Gödecke wandte sich halb zu Sanna. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie nicht nur vor Gericht mit harten Bandagen kämpfen, sondern auch bei Ermittlungen ein gutes Gespür bewiesen haben, besonders … wenn Sie diese aktiv begleitet haben.«

Sanna musste an den Obduktionstisch denken. An die beiden leblosen Körper. Zwei Tote, das war das Ergebnis gewesen, als sie sich zuletzt aktiv an Ermittlungen beteiligt hatte. Sie atmete tief durch. »Ja. Das mag sein.«

Als Staatsanwältin leitete sie Ermittlungen, die Kriminalbeamten waren ihr unterstellt. Üblicherweise beschränkte sich diese Zusammenarbeit allerdings auf Weisungen und strategische Erwägungen, welche Spuren man verfolgte, und darauf, dass die Regeln eingehalten wurden. Die wenigsten Staatsanwälte mischten sich aktiv in die Ermittlungen ein oder begaben sich gar vor Ort.

Insofern war das Ansinnen des Kriminalrats tatsächlich ungewöhnlich. Allerdings hatte Sanna in der Vergangenheit in dem einen oder anderen Fall eine Ausnahme gemacht. Sie hatte sich eingemischt und damit manche Ermittlung zum Erfolg geführt.

»Wir möchten, dass Sie die Vorermittlungen in einem Fall übernehmen und feststellen, ob wir es mit einem Strafdelikt zu tun haben«, erklärte Bleicken. »Dabei sollen Sie eng mit den Kriminalbeamten zusammenarbeiten.«

»Kein Problem.« Was blieb ihr anders übrig.

»Es ist so …« Gödecke räusperte sich. »Wir glauben, dass Sie als Neue … als Außenstehende für diese Aufgabe am besten geeignet sind.«

»Und wie gesagt«, schob Bleicken hinterher, »Sie könnten sich damit profilieren. Allerdings möchten wir nicht verschweigen, dass sich die Sache vielleicht am Rande der Legalität bewegt. Es entspricht ganz gewiss nicht dem üblichen Vorgehen.«

Sanna sah die beiden abwechselnd an. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, endlich auf den Punkt zu kommen?«

Gödecke und Bleicken tauschten einen Blick.

Dann sagte der Kriminalrat: »Es geht um eine Gruppe von Beamten hier bei der Flensburger Kripo. Wir vermuten, dass sie Beweise unterschlagen und damit eine Ermittlung manipuliert haben. Sagt Ihnen der Name John Benthien etwas?«

2    John Benthien

John Benthien, erster Hauptkommissar der Flensburger Kriminalpolizei, öffnete den Kühlschrank und blickte auf leere Fächer. Seit Tagen war er nicht zum Einkaufen gekommen. Lediglich eine angebrochene Packung Vollmilch stand im Türfach. Nachdem er daran gerochen und sich überzeugt hatte, dass sie noch genießbar war, schloss er den Kühlschrank wieder und durchkämmte die Küchenschränke nach Lebensmitteln, die er mit der Milch kombinieren konnte. In einem der Oberschränke entdeckte er schließlich eine Müslipackung. Besser als nichts. Die Körnermischung stammte wohl noch aus jener – zum Glück nur sehr kurzen – Phase, als Ben, sein Vater, auf gesunde Ernährung geachtet hatte. Gott, er hätte nicht geglaubt, wie er die opulenten Frühstücke vermissen würde, die sein alter Herr ab und an zubereitet hatte.

Sie hatten sich die Altbauwohnung am Sank-Jürgen-Platz lange Zeit geteilt. Ben war vor etwa drei Monaten zu seiner Freundin Vivienne gezogen. Amors Pfeil hatte sich noch einmal tief in sein altes Herz gebohrt. John lebte seitdem allein in der großen Wohnung, ein Zustand, an den er sich noch immer nicht recht gewöhnt hatte. Das Verhältnis zu seinem Vater hatte sich über die Jahre gewandelt, je älter sie beide wurden. Von einem manchmal nervigen Vater zu einem besten Freund. Einem Freund, der nun fehlte.

Wobei er nicht der einzige Mensch war, den er vermisste. Frede fehlte ihm genauso sehr. Er musste an den Segeltörn denken, den sie gemeinsam unternommen hatten, eine Woche pures Glück. Er konnte kaum erwarten, sie wiederzusehen.

John schaltete das Radio auf dem Küchentresen ein und warf einen Blick auf die Uhr. Ihm blieben noch knappe zwanzig Minuten, bis er auf dem Präsidium sein musste. Er setzte sich und schaufelte rasch das Müsli in sich hinein. Mit der freien Hand nahm er die Postkarte, die auf dem Tisch lag, und betrachtete das Motiv. Ein Palmenstrand in der Karibik. Die Karte stammte von Ben und Vivienne.

John hatte seinem Vater vorgehalten, dass es vielleicht nicht die beste Zeit wäre, auf eine Karibik-Kreuzfahrt zu gehen, wegen des noch immer grassierenden Virus. Als Antwort hatte er eine empörte Tirade über Freiheit und Eigenverantwortung erhalten. Bislang war tatsächlich alles gut gegangen. Vielleicht hatte sein alter Herr recht, und er war wirklich etwas übervorsichtig.

Im Radio begannen die Nachrichten. John hatte einen Regionalsender eingeschaltet. Nach dem internationalen Geschehen widmete sich die Sprecherin hiesigen Ereignissen. Wenig überraschend wurde wieder das Flugzeugunglück erwähnt, das sich vor einigen Tagen auf Sylt ereignet hatte. John besaß ein altes Friesenhaus in den Dünen von List, und er war auf der Insel gewesen, um sich von Handwerkern einen Kostenvoranschlag für die Renovierung des Reetdachs machen zu lassen. Selbst aus der Ferne hatte er an jenem Morgen die schwarze Rauchwolke sehen können.

Im Radio berichtete die Sprecherin: Der Absturz einer Privatmaschine auf Sylt gibt den Unfallermittlern des Bundesamts für Flugunfalluntersuchung weiterhin Rätsel auf. Der Grund für das Unglück konnte nach wie vor nicht geklärt werden.

Es folgten das Wetter und die Staumeldungen.

John stellte die Müslischüssel auf die Spüle, als sein Handy klingelte. Es war Tommy, sein Freund und Kollege bei der Flensburger Kripo.

»Wo steckst du, John?«

»Bin schon unterwegs.«

»Beeil dich. Gödecke hat uns zusammengerufen. Die neue Staatsanwältin will ein Ermittlungsteam aufstellen.«

»Worum geht es?«

»Keine Ahnung.«

Er wollte noch etwas sagen, doch Tommy hatte das Gespräch bereits beendet. John legte das Handy beiseite, ging ins Schlafzimmer und zog sich eine Jeans an. Vom Stapel mit der Schmutzwäsche schnappte er sich ein Sweatshirt und streifte es über. Zum Wäschemachen war er in letzter Zeit auch nicht gekommen. Ein Fall, in dem ein Mann mehrere Frauen vergewaltigt hatte, hatte ihn in den vergangenen Wochen buchstäblich Tag und Nacht beschäftigt. John konnte sich schon nicht mehr erinnern, wann er zuletzt mehr als vier Stunden am Stück geschlafen hatte.

In der Diele nahm er seine schwarze Lederjacke vom Haken und wollte gerade nach der Türklinke greifen, als es klingelte.

Er öffnete die Tür und sah Celine vor sich stehen. Sie hatte wohl nicht erwartet, dass er so rasch aufmachte, und wich vor Schreck einen Schritt zurück.

»Oh, hi …«, stammelte sie und deutete mit dem Daumen ins Treppenhaus. »Die Haustür stand offen, also bin ich gleich rauf.«

»Kein Problem. Was treibt dich so früh hierher?«

Celine war seine Stieftochter. Karin, seine Ex-Frau und Celines Mutter, war vor einigen Jahren gestorben, und seitdem lebte das Mädchen bei ihrem leiblichen Vater, Paul Jacobs. Es war eine Art offener Feldversuch, da der Mann, ein Frachterkapitän, sich bis dahin kaum um sie gekümmert hatte.

Für Celine war John stets ihr wahrer Vater gewesen. Er genoss ihr Vertrauen, und wann immer sie ein Problem hatte, kam sie zu ihm. Dennoch hatten sie sich nun schon eine Zeit lang nicht gesehen. Celines Äußeres hatte sich verändert. Sie wurde dieses Jahr volljährig und war nicht mehr der Teenager, den John kannte. Vor ihm stand eine junge Frau, deren Gesichtszüge beinahe erwachsen wirkten – und die fast einen Kopf größer war als er. Celine trug eine schwarze Jeans und einen dicken Troyer in derselben Farbe. Die Haare hatte sie sich blond gefärbt, sie fielen lang auf ihre Schultern. Auf dem Rücken trug sie einen olivfarbenen Militärrucksack.

»Also«, begann sie, »Paul ist weg …«

Celine nannte ihren leiblichen Vater immer bei seinem Vornamen. John hatte noch nie gehört, dass sie zu ihm Papa oder Ähnliches gesagt hätte.

»Was heißt das, er ist weg?«

»Er muss wieder zur See fahren. Wegen der Marineschule … Also, das heißt, wenn er den Posten bekommt, wonach es aussieht … Deshalb ist er zur Reederei nach Kiel und … irgendwie … Ich weiß nicht …« Sie warf die Arme in die Luft.

John verstand nicht einmal die Hälfte von dem, was sie erzählte. »Entschuldige. Ich bin spät dran. Verrätst du mir, was ich für dich tun kann?«

Celine seufzte, senkte den Kopf, und als sie ihn wieder hob, lag in ihren Augen jener Blick, der Johns Herz jedes Mal aufs Neue schmelzen ließ.

»Daddy?« Sie dehnte die letzte Silbe. »Wenn Paul jetzt weg ist … ich meine, es sind gerade Ferien, und ich dachte …«

»Was?«

»Kann ich bei dir einziehen?«

3    Lilly Velasco

Oberkommissarin Lilly Velasco hatte ihren Dienst bei der Flensburger Kriminalpolizei wie so oft in den vergangenen Wochen in aller Frühe begonnen. Sie wachte neuerdings immer schon in den frühen Morgenstunden auf, und anstatt sich noch lange im Bett herumzuwälzen, konnte sie genauso gut aufstehen und ins Präsidium fahren. Lilly trank einen Schluck Tee – den Kaffee hatte sie sich abgewöhnt – und blätterte durch die Akte, die auf ihrem Schreibtisch lag. Sie mochte die Ruhe um diese Tageszeit, die Abteile neben ihr waren noch unbesetzt, wie immer füllte sich das Großraumbüro der Kripo an einem Montagmorgen erst langsam mit Leben.

Der Fall, den sie sich ansah, lag schon lange zurück.

Es ging um eine Frau und einen Mann, deren leblose Körper im September 1985 von der Besatzung eines Krabbenkutters aus der Nordsee geborgen worden waren. Auffallend waren die schweren Verletzungen der beiden gewesen. Es hatte unter anderem die Vermutung im Raum gestanden, ob sie von Deck eines großen Kreuzfahrtschiffes gefallen waren. Tatsächlich war es aber bis heute ein Rätsel geblieben, wie sie ums Leben gekommen waren. Auch hatte man die beiden Toten nicht identifizieren können.

Der Grund für ihr Ableben würde vermutlich ewig ein Rätsel bleiben. Neue Hinweise tauchten in solch alten Fällen nur selten auf.

Im Krabbenkutterfall, wie Lilly ihn bei sich nannte, gab es aber vielleicht Grund zur Hoffnung.

Vor vier Tagen hatte sich eine Frau gemeldet – leider ohne ihren Namen zu nennen –, die mit der zuständigen Ermittlerin über den Fall hatte sprechen wollen. Der Wachhabende hatte den Anruf entgegengenommen, Lilly war nicht an ihrem Platz gewesen. Die Frau wollte sich wieder melden, was sie aber nicht getan hatte.

Lilly klappte die Akte zu und legte sie auf den Stapel mit den vielen anderen Fällen, die man womöglich niemals aufklären konnte.

Sie hatte sich vor zwei Monaten zu den Cold Cases versetzen lassen. Eine Aufgabe, um die sie bislang wie alle anderen Kollegen einen großen Bogen gemacht hatte, da die Arbeit selten zu Ergebnissen führte und somit nicht sonderlich befriedigend war.

In Lillys Situation waren die Cold Cases allerdings eine gute Lösung gewesen. Und vor allem war es ihren Kollegen folgerichtig erschienen, dass sie sich dafür interessierte. Immerhin hatte sie bei ihren letzten Ermittlungen mit John Benthien und Tommy Fitzen im Fall Dornieden nicht nur einen Mord, sondern auch das Jahrzehnte zurückliegende Verschwinden eines Mädchens aufgeklärt. Für ungelöste Fälle schien sie also ein Händchen zu haben.

Der eigentliche Grund war natürlich ein ganz anderer.

Lilly war schwanger.

Und als werdende Mutter hatte sie draußen auf der Straße nichts zu suchen. Von den vielen langweiligen Aufgaben im Innendienst waren ihr die Cold Cases noch als die spannendste erschienen. Lilly hatte sich Kriminalrat Gödecke und der Personalerin anvertraut und sie um diese Lösung ersucht.

Jetzt bückte sie sich nach der untersten Schublade ihres Schreibtischcontainers. Darin befand sich eine Schachtel mit Petit Fours aus ihrer Lieblingspatisserie in Jürgensby. Sie nahm eines der kleinen Törtchen heraus und biss hinein. Die süße Geschmacksexplosion zauberte ihr ein Lächeln ins Gesicht.

Nun, da sie ein Kind erwartete, brauchte sie ohnehin nicht auf ihre Figur zu achten. Tatsächlich hatten die überflüssigen Pfunde sogar dazu beigetragen, die Schwangerschaft vor den Kollegen zu verbergen. Sie hatte nicht einmal Juri davon erzählt. Allerdings machte Lilly sich keine Illusionen. Sie war nun bald im dritten Monat, und lange würde sie ihren Zustand nicht mehr verheimlichen können.

Lilly sah, wie ihr Kollege Juri Rabanus das Großraumbüro betrat. Er ging zu seinem Abteil, hängte die Jacke über den Stuhl und verschwand dann in der Teeküche. Wenige Minuten später kam er mit einer dampfenden Tasse Kaffee zu Lilly herüber. Er begrüßte sie mit einem Lächeln und reichte ihr ein Briefkuvert. »Bitte sehr – oder vielleicht sollte ich lieber sagen: Værsågod!«

Neugierig nahm Lilly den Umschlag entgegen und öffnete ihn. Er enthielt zwei Karten für ein Konzert der färöischen Sängerin Eivør in Kopenhagen.

»Übernachtung in einem hübschen Hotel natürlich inbegriffen«, schob Juri nach.

Lilly blickte zu ihm auf. »Ich … weiß nicht, was ich sagen soll.« Es musste schon über zwei Jahre her sein, dass sie ein Konzert besucht hatte, und die ganze Zeit hatte sie sich danach gesehnt, Musiker nicht nur bei YouTube, sondern endlich wieder live auf der Bühne zu sehen.

»Nun«, Juri hob die Schultern, »dann sag doch einfach nichts und freu dich auf unsere Reise.«

»Was ist mit Amélie?«

»Ihre Großmutter passt auf sie auf.«

Lilly wusste, wie viel Juri an seiner Tochter lag und dass er am liebsten jede freie Minute abseits des Jobs mit ihr verbrachte. Umso höher rechnete sie ihm an, dass er sie für zwei Tage allein lassen wollte, um mit ihr das Konzert zu besuchen. Lilly stand auf, sah sich schnell nach allen Seiten um und drückte ihm dann einen Kuss auf die Wange.

Seit er seinen Bart lang wachsen ließ, pikste er nicht mehr gar so schlimm. Juri verdeckte damit einen Teil der Narbe, die quer über seine linke Wange verlief und die er bei ihren letzten Ermittlungen davongetragen hatte.

»Wir müssen los«, meinte Juri. »Gödecke und die neue Staatsanwältin wollen uns sehen. Wir sollen in den Besprechungsraum kommen.«

Lilly stand auf und folgte ihm.

Kriminalrat Gödecke erwartete sie bereits. Als Lilly in den Raum ging, sah sie aus dem Augenwinkel John ins Großraumbüro kommen. Er wirkte gehetzt und lief mit eiligem Schritt herüber. Als er an Lilly vorbei in das Konferenzzimmer trat, vermied er längeren Blickkontakt, sondern nickte nur kurz.

Lilly sah zu, wie er sich zu den anderen an den Besprechungstisch setzte. Dann zog sie langsam die Tür hinter sich zu. Sie hatte noch immer keine Entscheidung getroffen, wann sie John offenbaren würde, dass das Kind, das sie unter ihrem Herzen trug, das seine war.

Es gab Menschen, die waren einem auf Anhieb unsympathisch. Sanna Harmstorf, die neue Staatsanwältin, fiel für Lilly in diese Kategorie. Harmstorf betrat das Zimmer, nachdem sie die Gruppe eine geschlagene Viertelstunde hatte warten lassen. Mit einer leicht arroganten Geste strich sie sich den dunkelblauen Hosenanzug glatt, bevor sie sich neben Gödecke an den Kopf des Besprechungstischs setzte. Ihr langes Haar, das sie zu einem Zopf trug, und die Augenbrauen waren weiß, die Augen so blau wie der Himmel an einem besonders klaren Tag. Mit einem »Guten Morgen« fiel ihre Begrüßung denkbar knapp aus. Keine persönliche Vorstellung, kein Wort darüber, wie sie die weitere Zusammenarbeit gestalten wollte. Stattdessen kam sie direkt zur Sache.

Lilly musste an Harmstorfs Vorgängerin Tyra Kortum denken, zu der John und sie ein freundschaftliches Verhältnis gepflegt hatten. Sie würde sie sehr vermissen.

Aus dem Augenwinkel sah Lilly zu John hinüber. Sie kannte ihn lange genug, um in seinem Gesicht zu lesen, dass er ähnlich über die neue Staatsanwältin dachte. Außerdem schien ihn irgendetwas zu bedrücken. Vielleicht war es die Besetzung ihrer Runde. Neben John, Juri und Lilly saß auch Tommy Fitzen mit am Tisch. In dieser Zusammenstellung hatten sie seit den Ermittlungen im Fall Dornieden auf Föhr nicht mehr zusammengearbeitet. Was Lilly nur recht gewesen war, denn sie hatte ihrerseits den privaten Kontakt zu John abgebrochen.

Doch von alledem wusste die neue Staatsanwältin natürlich nichts. Wenn sie in dieser Konstellation als Team ermitteln sollten, würden sie alle Professionalität wahren.

Sanna Harmstorf schlug die Akte auf, die sie vor sich auf den Tisch gelegt hatte, und erklärte, dass sie Vorermittlungen in dem Flugzeugunglück aufnehmen würden, das sich vor vier Tagen – am Donnerstag vergangener Woche – auf Sylt ereignet hatte.

Lilly wusste, wovon sie sprach. Der Berichterstattung über den Absturz hatte man hier oben im Norden nicht entgehen können.

Harmstorf fasste dennoch zusammen, was sich ereignet hatte, damit alle auf demselben Stand waren.

»Am vergangenen Donnerstagmorgen ist ein einmotoriges Privatflugzeug gegen acht Uhr morgens vom Flugplatz Sylt gestartet«, sagte sie. »An Bord befanden sich eine Pilotin und ein Passagier. Kurz nach dem Start kam die Maschine in Schwierigkeiten. Nach derzeitiger Sachlage scheint es sich um einen technischen Defekt zu handeln. Der Motor setzte aus, und es gelang der Pilotin offenbar nicht, ihn wieder zu starten. Sie versuchte dann im Gleitflug zurück zur Insel zu gelangen und wieder auf dem Flugplatz Sylt zu landen.«

Das Ergebnis war bekannt, sie hatte es nicht geschafft. Die Pilotin war beim Aufprall aus der Maschine geschleudert worden, der Passagier in dem Wrack verbrannt.

»Bei der Pilotin handelt es sich um Bente Roeloffs«, erklärte Sanna Harmstorf. »Sie ist die Inhaberin von Fly Sylt, einer Fluggesellschaft von der Insel, die auf Rund- und Geschäftsflüge spezialisiert ist. Sie hat schwere innere Verletzungen davongetragen und wurde mehrfach operiert. Sie liegt gegenwärtig im Westerländer Krankenhaus. Es ist ungewiss, ob sie durchkommen wird.«

»Und der tote Passagier?«, meldete sich John zu Wort.

»Ihr Vater. Karel Jansen. Die Unglücksmaschine gehörte offenbar ihm. Soviel wir wissen, war er in dem brennenden Wrack eingeklemmt, sodass die Rettungsmannschaften ihn nicht befreien konnten. Möglich, dass er bereits den Aufprall nicht überlebt hat, doch das wäre mit der Rechtsmedizin zu klären.« Sanna Harmstorf klappte die Akte zu.

»Eine Frage.« Lilly lehnte sich vor. »Wenn es sich um einen technischen Defekt handelt, was haben dann wir mit der Sache zu tun?«

»Ein Ermittler des Bundesamts für Flugunfalluntersuchung ist aktuell vor Ort und untersucht das Wrack«, sagte Harmstorf. »Er hat die Staatsanwaltschaft darüber verständigt, dass die Sache offenbar nicht eindeutig ist. Es scheint im Bereich des Möglichen, dass es sich nicht um ein Unglück handelt.«

»Sie meinen, die Maschine wurde manipuliert?«

»Es sind noch einige technische Details zu klären, bis wir Genaueres wissen. Deshalb handelt es sich zunächst auch um eine Vorermittlung. Sollte sich der Verdacht erhärten, werden wir weitergehende Nachforschungen anstellen.« Sanna Harmstorf wandte sich John zu. »Ich würde Sie bitten, mich nach Sylt zu begleiten. Wir werden dort die Unfallermittler treffen.«

»Sie wollen sich der Sache persönlich annehmen?« John machte einen überraschten Gesichtsausdruck, was Lilly ihm nicht verübeln konnte. Die Staatsanwaltschaft begab sich für Ermittlungen höchst selten eigens vor Ort.

»So ist es«, gab Sanna Harmstorf knapp zurück und richtete sich dann an Lilly. »Die Kollegin Velasco möchte ich bitten, in der Zwischenzeit Kontakt zur Rechtsmedizin aufzunehmen. Ich erwarte keine Überraschungen, was die Todesursache bei Karel Jansen betrifft, aber der Vollständigkeit halber. Und erkundigen Sie sich im Westerländer Krankenhaus nach dem Zustand von Bente Roeloffs. Ich möchte wissen, wie ihre Überlebenschancen stehen und ob wir überhaupt damit rechnen können, sie in absehbarer Zeit zu vernehmen.«

»In Ordnung«, bestätigte Lilly.

»Die Kollegen Rabanus und Fitzen halten sich bitte zur Verfügung, sollten wir die Ermittlungen ausweiten müssen.« Damit war die Besprechung beendet. Ohne ein weiteres Wort erhob sich die Staatsanwältin und steuerte, gefolgt von Gödecke, dem Ausgang zu.

Lilly sah zu Juri hinüber, der die Stirn in Falten legte. Ein seltsamer Auftritt war das gewesen. Warum hielten die Staatsanwältin und Gödecke es für nötig, zu einem so frühen Zeitpunkt ein größeres Team zusammenzustellen, wenn noch gar nicht absehbar war, ob weitergehende Ermittlungen eingeleitet werden würden? Lilly beschlich das seltsame Gefühl, dass es vielleicht einen anderen Grund gab, weshalb sie ausgerechnet in dieser Konstellation zusammengekommen waren.

Sanna Harmstorf hatte bereits die Türklinke in der Hand, als sie sich plötzlich zu ihnen umdrehte. »Da ist noch ein Detail, das uns Rätsel aufgibt und über das Sie Bescheid wissen sollten. Der Unfallermittler hat neben der Maschine einen Aktenkoffer gefunden. Darin befanden sich rund fünfzigtausend Euro in bar. Der Großteil davon ist in Flammen aufgegangen.«

4    Sanna Harmstorf

Was für ein Mensch war dieser John Benthien?

Sanna musterte den Hauptkommissar der Flensburger Kripo, während er mit dem Smartphone am Ohr aus dem Zugfenster die vorbeirauschende Landschaft betrachtete.

Sie schätzte Benthien auf Mitte bis Ende vierzig. In seine kurzen braunen Haare, die verstrubbelt hochstanden, hatten sich zwar zahlreiche graue Strähnen geschlichen, ansonsten wirkte er aber noch recht jung. In seinem Gesicht, das von einer Habichtsnase dominiert wurde, gab es kaum Falten. Und seine aquamarinblauen Augen funkelten vor Tatendrang.

Benthien hatte seine Lederjacke an einen Haken neben dem Fenster gehängt. Er trug ein schwarzes Sweatshirt, das seine sportliche Figur betonte, wobei der Stoff um die Bauchgegend ein wenig spannte. Sanna musste innerlich schmunzeln. Während der Pandemie hatten sie sich alle ein wenig gehen lassen.

Sanna war mit Benthien mit dem Auto nach Niebüll gefahren und hatte es dort stehen lassen, um in den Zug nach Sylt zu steigen. Benthien besaß offenbar ein Ferienhaus im Norden der Insel und parkte seinen Zweitwagen immer am Westerländer Bahnhof.

Bislang hatten sie nicht viel gesprochen, lediglich ein wenig Small Talk. Benthien hatte sich nach ihrem beruflichen Werdegang erkundigt und ihrem Umzug nach Flensburg. Er schien kein Mann der vielen Worte zu sein, was nichts Schlechtes bedeuten musste. Sanna kannte zu viele Männer, die in eine Art Logorrhö verfielen, sobald sie einer Frau gegenübersaßen, und dann am Ende doch nur über sich selbst sprachen. Die Fragen, die Benthien stellte, die wenigen Sätze, die ihm über die Lippen kamen, zeugten hingegen von echtem Interesse für sein Gegenüber.

Der Zug rollte in gemäßigtem Tempo über den Hindenburgdamm. Links und rechts von ihnen erstreckte sich das Wattenmeer. Obwohl es beinahe Mittag war, hatte sich das Wetter noch immer nicht entschieden, ob es gut oder schlecht werden wollte. In der hohen Wolkendecke brachen nur gelegentlich Lücken auf.

Benthien sprach leise ins Telefon und beschränkte seine Worte auf das Wesentliche. Es schien sich um eine jener Unterredungen zu handeln, die man lieber in Ruhe bei einem guten Essen, auf keinen Fall aber in einem überfüllten Waggon führte.

»Wir klären das später«, verabschiedete er sich schließlich. »Ich melde mich, sobald ich weiß, wie sich das hier entwickelt. Bis dann, Celine.«

Er schob das Handy in die Hosentasche.

»Ihre Tochter?«

»Stieftochter, ja.«

»Sie wohnt bei Ihnen?«

»Es sieht ganz danach aus.« Benthien räusperte sich und wechselte abrupt das Thema. »Ich weiß nicht, wie das in München gehandhabt wird. Aber hier oben duzen wir uns. Vor allem, wenn wir täglich miteinander zu tun haben.«

Sanna wäre beinahe sofort ein Nein herausgerutscht.

Sie mochte das Duzen auf der Arbeit grundsätzlich nicht. Ein Du, das war für sie immer noch etwas Freundschaftliches oder Familiäres.

Andererseits, ging es hier nicht genau darum?

Familiär. Diesen Ausdruck hatte Oberstaatsanwalt Bleicken verwendet, als Kriminalrat Gödecke nach ihrem Gespräch den Raum verlassen hatte. Benthien, Velasco, Fitzen, Rabanus. Zwischen den vieren geht es sehr familiär zu. Vielleicht etwas zu familiär.

Mit dieser Feststellung lag Bleicken vermutlich richtig. Sanna hatte die Gruppe vorhin in der Besprechung beobachtet, ihre Blicke gesehen, die stille Kommunikation, die zwischen ihnen ablief. Es ging familiär zu in diesem Team. Man kannte sich offenbar schon lange Zeit, man vertraute sich, man teilte Geheimnisse, die sich im Laufe des Berufslebens unweigerlich ansammelten.

Und genau aus diesem Grund, hatte Bleicken gesagt, konnte er Benthien und seiner Truppe nicht trauen. Tyra Kortum, die ehemalige Oberstaatsanwältin, hatte bis zu ihrem Abgang wohl immer ihre schützende Hand über Benthien und seine Methoden gehalten. Damit sollte nun Schluss sein.

Sie streckte die Hand aus und lächelte. »Das ist nett. Du kannst mich Sanna nennen.«

Eine gute Stunde später standen sie auf dem Gelände des Flughafens Sylt vor dem Hangar, in dem die verunglückte Maschine untersucht wurde.

Sanna beobachtete ein zweistrahliges Passagierflugzeug, das zur Landung auf einer der beiden Pisten ansetzte. Im starken Wind kippten die Flügel abwechselnd nach links und rechts, bevor die Maschine mit einer Staubwolke auf der Landebahn aufsetzte. Die Triebwerke schalteten sofort mit lautem Getöse auf Schubumkehr.

Der Hangar lag ein gutes Stück entfernt vom Hauptterminal am Rande des Flughafenareals. Er war der Letzte in einer Reihe von Hangars, in denen die Flugzeuge der Inselfluggesellschaft Fly Sylt untergebracht waren. Deren Geschäftsräume befanden sich in einem flachen Bau direkt neben den Wartungshallen.

Benthien – oder John, wie Sanna ihn jetzt nennen würde – betrat die Halle vor ihr. Sanna sah aufgestapelte Flugzeugreifen, allerhand Kabel, Leiterplatinen und sonstige Teile, die sie nicht zuordnen konnte. Es roch nach Öl.

In der Mitte der Halle war die verunglückte Maschine aufgebaut, oder das, was davon übrig war.

Sanna kannte sich mit Flugzeugen nicht aus. Sie sah lediglich, dass es sich wohl um ein einmotoriges Propellerflugzeug gehandelt hatte. Der Rumpf der Maschine war beim Aufprall stark zusammengestaucht worden. Von der Nase und dem Propeller war nicht viel übrig geblieben, die Pilotenkanzel und das Heck hatten sich ziehharmonikaartig ineinandergeschoben. Obwohl die Flughafenfeuerwehr schnell bei der Unglücksstelle gewesen war, hatten die Flammen fast die Hälfte der Maschine versehrt. Die komplette rechte Seite bestand nur noch aus einem verkohlten Stahlgestänge. Die Tragfläche, die über dem Cockpit verlief, war abgebrochen. Die linke Seite hatte hingegen weniger abbekommen. Hier war noch der blau-gelbe Anstrich des Rumpfs zu erkennen, und der Flügel hing abgeknickt zu Boden. Auf der Pilotentür stand in rußgeschwärzter Schrift der Name, den der Besitzer seinem Flugzeug gegeben hatte: Oliv Tuuli.

Ein Mann in weißem Overall kam hinter der Maschine zum Vorschein. Der Ermittler des Bundesamts für Flugunfalluntersuchung, der sich als Curt Richter vorstellte.

»Danke, dass Sie so schnell hergefahren sind«, sagte er. »Ich stehe hier wirklich vor einem Rätsel.«

»Ich wundere mich gerade auch ein wenig«, meinte John Benthien. »Üblicherweise untersuchen Sie die Wrackteile doch bei sich in Braunschweig.«

An diesen Punkt hatte Sanna nicht gedacht. Was Benthien ansprach, stimmte. Das BFU befand sich in Braunschweig, und die Inspektion von Unglücksmaschinen wurde normalerweise dort erledigt.

»Wir machen in diesem Fall eine Ausnahme«, erklärte Richter. »Der Bürgermeister von Sylt hat uns gebeten, so rasch wie möglich zu arbeiten, da offenbar Grund zur Eile besteht.«

Sanna wechselte einen Blick mit Benthien, der genauso überrascht schien. »Grund zur Eile? Warum?«

Der Ermittler hob die Schultern, öffnete den Reißverschluss seines Overalls und zog eine runde Stahlgestellbrille hervor, die er aufsetzte. »Fragen Sie den Bürgermeister. Ich mache hier nur meine Arbeit.«

»Womit haben wir es zu tun?«, fragte Sanna.

Richter führte sie zu dem Wrack. »Es handelt sich um eine RANSS-6S Coyote II. Ein Ultraleichtflugzeug.«

Sanna seufzte. »Ich kenne mich mit Flugzeugen nicht aus. Was für eine Art Maschine ist das? Wer fliegt so etwas? Zu welchen Zwecken wird sie eingesetzt?«

»RANS, der Hersteller, ist in dieser Kategorie so etwas wie der Volkswagen unter den Flugzeugen«, erklärte Richter. »Die Coyote ist schon viele Jahrzehnte auf dem Markt und wird von Modell zu Modell immer weiter verbessert.«

»Mit anderen Worten, eine zuverlässige Maschine«, meinte Benthien.

»Genau. Einfache Handhabung, unverwüstliche Technik. Die S-6S ist die modernste Version. Dennoch …« Der Mann hob einen Finger. »Das hier ist etwas für Leute, die das Fliegen lieben. Noch echter Handbetrieb, da muss man wissen, was man tut.«

»Die Pilotin verstand also ihr Handwerk«, sagte Sanna.

»Darüber kann ich nichts sagen. Ich beurteile nur die Maschine.«

»Davon ist nicht mehr viel übrig. Sieht schlimm aus …«

»Ganz im Gegenteil. Wir haben noch Glück, sie ist ganz gut erhalten. Da habe ich leider schon Schlimmeres gesehen.«

»Was wissen Sie über den Unfallhergang?«, fragte Benthien.

»Details sind noch zu klären, doch soviel ich zum jetzigen Zeitpunkt sagen kann, hat die Pilotin wohl versucht, zum Flughafen umzukehren. Als sie erkannte, dass dies nicht möglich sein würde, versuchte sie es mit einer Notlandung auf dem Munkmarscher Strand. Die Spitze der Maschine bohrte sich in eine Düne. Die Pilotin wurde hinausgeschleudert, der Sicherheitsgurt ist gerissen. Ihr Passagier blieb eingeklemmt in der Maschine. Unglücklicherweise saß er auf der Seite, wo der Brand ausbrach …«

Er musste den Satz nicht beenden. Sanna graute schon davor, sich die unappetitliche Beschreibung der Rechtsmedizin anhören zu müssen.

»Jedenfalls ist von der Maschine erfreulich viel übrig geblieben. Ansonsten …«, er lächelte stolz, »… wäre ich wohl kaum so schnell auf den Grund des Absturzes gestoßen.«

»Und der wäre?«, fragte Sanna.

»Motorversagen. Im Treibstoffsystem befand sich Wasser. Das sorgte dafür, dass der Motor im Steigflug aussetzte.« Richter machte eine Kunstpause. »Jeder, der einen Pkw sein Eigen nennt, kann sich vorstellen, was geschieht, wenn man Wasser in den Tank kippt. Es bedarf daher wohl keines großen Sachverstands, um das Problem zu erkennen.«

»Nein, in der Tat nicht«, meinte Benthien. »Haben Sie eine Erklärung, wie das Wasser dort hineingelangt ist?«

»Das ist die große Frage.« Der Unfallermittler deutete auf die abgeknickte Tragfläche und die Nase, wo sich der Motor befand. »Ich habe im Flächentank und in beiden Schwimmerkammern des Vergasers Wasser gefunden …«

»Ich will es nicht unnötig kompliziert machen«, unterbrach ihn Benthien, »aber von wie viel Wasser sprechen wir hier?«

»Schätzungsweise wenige Milliliter. Doch das genügt schon, um Leistungsschwankungen und Aussetzer auszulösen – oder wie im vorliegenden Fall den Motor zum Stillstand zu bringen.« Richter kratzte sich am Kopf. »Es ist wohl großes Pech, dass sich nicht deutlich mehr Wasser im System befand. In dem Fall wäre die Maschine nämlich gar nicht erst abgehoben. Was die Frage angeht, wie das Wasser nun in das Treibstoffsystem gelangt ist … Das ist nicht so einfach. Kondenswasserbildung kommt eher selten vor, aber wenn, dann kann Wasser durch undichte Tankverschlüsse ins Treibstoffsystem gelangen. Allerdings glaube ich, dass wir dies mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschließen können.«

»Warum?«, fragte Sanna.

»Aus zwei Gründen.« Der Ermittler zählte an den Fingern ab. »Erstens. Das Kondenswasserproblem tritt üblicherweise bei Maschinen auf, die im Freien stehen.« Er deutete auf das Feld vor der Halle, auf dem kleinere Privatflieger geparkt waren. »Die Oliv Tuuli war aber in einem Hangar von Fly Sylt untergebracht. Zweitens wurde sie am Abend vor dem Flug dem ordnungsgemäßen Pre-Flight-Check unterzogen.«

»Wer hat die Maschine überprüft?«, wollte Sanna wissen.

»Johann Roeloffs. Ein Mechaniker von Fly Sylt.«

»Roeloffs? So heißt auch die Pilotin. Bente Roeloffs. Sind die beiden miteinander verwandt?«

»Das müssen Sie nicht mich fragen.« Richter hob die Hände. »Ich habe mir jedenfalls Roeloffs’ Wartungsprotokoll angesehen und ihn noch einmal explizit nach diesem Punkt gefragt. Roeloffs hat die Tanks definitiv auf Wasser überprüft und nichts gefunden. Als er den Hangar am Abend vor dem Abflug verließ, befand sich das Fluggerät in einwandfreiem Zustand.«

»Gibt es noch eine andere Erklärung für das Wasser?«

»Nun, das ist der Grund, weshalb ich Sie verständigt habe. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, doch ich kann auch nicht ausschließen, dass jemand das Wasser absichtlich in das Treibstoffsystem gegeben hat. Ich halte es sogar für die wahrscheinlichste Erklärung.«

»Sie meinen also, dass jemand die Maschine sabotiert hat«, sagte Sanna.

Der BFU-Mann nickte.

»Wie schwierig ist so etwas? Der- oder diejenige müsste wohl genau gewusst haben, was zu tun ist und welche Folgen der Eingriff hat.«

»Davon ist auszugehen. Wer das getan hat, muss die volle Absicht gehabt haben, das Flugzeug zum Absturz zu bringen.«

Sanna sah Benthien an. »In diesem Fall hätten wir es dann wohl mit einem Mord zu tun.«

5    John Benthien

Was für ein Mensch war diese Sanna Harmstorf?

John musste sich Mühe geben, mit ihr Schritt zu halten, als die Staatsanwältin über das Flughafengelände zu den Geschäftsräumen von Fly Sylt voranging.

Ein Mann in orangefarbener Warnweste gebot ihnen, zu warten, als sie an einem der Hangars vorbeikamen. Ein Businessjet rollte heraus und nahm über einen der Taxiways Kurs auf das Abfertigungsterminal. Dann durften sie weitergehen.

John hatte zwar viele Jahre seines Lebens auf der Insel verbracht, diesen Bereich des Flughafengeländes allerdings noch nie betreten. Es bereitete ihm heimliche Freude, eine Welt zu entdecken, die den Augen der Flugpassagiere gewöhnlich verborgen blieb. Wobei die Mischung aus Hightech und Idylle, die den Sylter Flughafen kennzeichnete, wohl etwas Einzigartiges war. John kannte den Trubel und die Hektik, die an großen Drehkreuzen herrschte, doch hier wehte ein anderer Wind. Die Passagiermaschine, die vorhin gelandet war, stand vor dem Hauptterminal. Sie wurde gerade über ein Rollband mit Gepäck beladen, und die nächsten Fluggäste stiegen ein. Alles ging seinen geordneten, aber entspannten Gang. Was auch daran liegen mochte, dass das Flugzeug die einzige größere Maschine war, die abgefertigt wurde. Man hatte also Zeit. Jenseits des Rollfelds wiegte das hohe Gras im Wind. Eine Möwe zog darüber ihre Kreise.

John musterte Sanna Harmstorf von der Seite. In ihrem Hosenanzug machte sie eine sportliche Figur, und das Tempo, das sie anschlug, legte die Vermutung nahe, dass sie regelmäßig trainierte. Mit ihren weißen Haaren und den blauen Augen wirkte sie unterkühlt, was offenbar tatsächlich ihrem Wesen entsprach. John hatte selten einen derart eisigen Start in eine neue Arbeitsbeziehung erlebt. Sein Vorstoß, dieser Frau das Du anzubieten, war ein verzweifelter Versuch gewesen, zumindest ein winziges Loch in die meterdicke Eisschicht zu bohren, die sie umgab.

Warum beschäftigte sie sich als Staatsanwältin mit einer Ermittlung wie dieser? Zumal es sich lediglich um eine Vorermittlung handelte, die sie getrost ihm oder jemand anderem von der Kripo hätte überlassen können. Sicher, es mochte einen ersten Fingerzeig geben, dass sie es mit einer Straftat zu tun hatten. Dennoch, warum vertat sie ihre Zeit damit?

Eine mögliche Erklärung war, dass es sich um Oberstaatsanwalt Bleickens Art handelte, die Neue willkommen zu heißen und ihre Ambitionen nicht ins Kraut schießen zu lassen.

Die andere: Sie war ein Kontrollfreak. Sie vertraute niemandem und wollte überall die Finger im Spiel haben.

Natürlich bestand die Chance, dass sie einfach die Ermittlungsbeamten kennenlernen wollte, mit denen sie künftig zu tun hatte. Doch das hätte sie wohl auch weniger zeitintensiv erledigen können.

Er ließ Harmstorf den Vortritt, als sie die Geschäftsräume der Fluggesellschaft betraten. Hinter einem Empfangstresen begrüßte sie eine Dame in dunkelblauer Fluguniform. Ihre grauen Haare standen kurz und strubbelig vom Kopf ab. Sie trug auffallende Ohrringe in Form von kleinen Flugzeugen.

»Kommen Sie durch!«, rief eine tiefe Männerstimme. Sie drang aus dem Büro im hinteren Teil des Raums, einem Glaskasten mit Lamellenjalousien vor den Scheiben.

John ging voraus. Ihn erwartete ein älterer Mann, der einen Telefonhörer zwischen Schulter und Kinn geklemmt hatte. Er hatte graue Locken und einen dichten Bart. Seine Stoffhose war mit Hosenträgern gesichert, die sich über einen opulenten Bauch spannten. Die Ärmel des Hemds hatte er hochgekrempelt. Er bedeutete ihnen, sich zu setzen.

»Broder Timm«, stellte er sich vor, als er das Telefonat beendet hatte. »Sie müssen von der Polizei sein.«

»Sie haben uns schon erwartet?«, fragte John.

»Nein.« Der Mann deutete auf Sanna, dann auf John. »Aber Sie sehen aus wie Scully und Sie wie der Sohn von Horst Schimanski. War also nicht so schwer.«

Sie zeigten beide ihre Dienstausweise. »Wir haben Fragen zu dem Unglück von vergangener Woche«, sagte John. »Bente Roeloffs befindet sich noch immer im Krankenhaus, soviel wir wissen. Wer leitet in ihrer Abwesenheit den Betrieb?«

»Da sind Sie bei mir an der richtigen Stelle. Wobei …«, Broder Timm blickte sich um, »… ich nicht gedacht hätte, noch mal an diesem Schreibtisch zu sitzen. Und in Anbetracht der Umstände hätte ich gerne darauf verzichtet.«

»Ich fürchte, ich kann nicht ganz folgen«, sagte John.

»Entschuldigung. Ich habe Fly Sylt in den Sechzigern gegründet. Die Airline ist mein Baby. Ich habe sie vor einigen Jahren an Bente verkauft. Das Alter …«

»Sie vertreten Frau Roeloffs also kommissarisch?«, fragte Sanna Harmstorf.

»Ja. Wobei ich, wie gesagt, lieber auf dem Altenteil geblieben wäre. Ich meine, dieser Unfall … Wer hätte gedacht, dass so etwas passiert. Aber ich bin sicher, Bente trifft keine Schuld.«

»Wir sind hier, um das herauszufinden«, sagte John.

Broder Timm blickte aus dem Fenster zu dem Hangar, in dem sich die Unglücksmaschine befand. »Der Mann vom BFU sagte mir, dass es eventuell Unstimmigkeiten gibt. Bedeutet das, wir müssen uns auf längere Ermittlungen einstellen?«

»Das kommt darauf an.« John wollte nicht zu viel preisgeben und hielt sich daher im Vagen. »Es muss eine Herausforderung sein, aus dem Ruhestand so abrupt wieder ins Tagesgeschäft einzusteigen.«

»Das stimmt. Wobei mir Nichtstun schwerfällt. Außerdem liebe ich die Fliegerei zu sehr. Ich habe in letzter Zeit für Bente kleinere Jobs erledigt. Ist also eher ein Sprung in lauwarmes Wasser.«

»Sind Ihnen irgendwelche Unregelmäßigkeiten aufgefallen?«, fragte John weiter. »Hatte Frau Roeloffs zum Beispiel Probleme mit Mitarbeitern?«

»Nein, überhaupt nicht. Wollen Sie andeuten, dass sich einer von uns an der Maschine zu schaffen gemacht hat?«

»Hätte denn jemand Grund dazu gehabt?«