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Ein ertrunkener Ire wird aus dem Schwabinger Bach im Englischen Garten gefischt. Spuren gibt es keine, Motive dafür umso mehr. Keine gute Ausgangslage für Patsy Logan, deutsch-irische Kommissarin bei der Münchner Mordkommission. Mehr als je zuvor ist ihr Instinkt gefragt – doch ausgerechnet der scheint sie plötzlich im Stich zu lassen.
Patsy Logan ist im seelischen Tief: ihr Kinderwunsch will sich nicht erfüllen, die Hormonbehandlungen setzen ihr zu. Da kommt ihr der Fall um einen toten Iren gerade recht: Donal McFadden, ein Mann mit Charme und vielen Feinden, war in München, um seine Exfrau Fiona zurückzugewinnen, wenn nötig mit Gewalt. Doch ob er aus Versehen im Wasser gelandet ist oder jemand nachgeholfen hat, lässt sich nicht sagen. Gründe, ihn loszuwerden, hatten jedenfalls viele – Gelegenheit auch. Und Patsys Theorien führen eine nach der anderen in die Sackgasse. Erst ein zweiter Todesfall scheint einen entscheidenden Hinweis zu liefern. Ungünstig nur, dass Patsys Krise sich ausgerechnet jetzt wieder in den Vordergrund drängt ...
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Seitenzahl: 400
Veröffentlichungsjahr: 2019
Ellen Dunne
Schwarze Seele
Ein Fall für Patsy Logan
Kriminalroman
Insel Verlag
Schwarze Seele
Britta, der hier ist für dich
Kurz vor dem Ende holt ihn die Kälte des Wassers noch einmal zurück an den Rand des Bewusstseins. Nahe genug, um die Stimmen über sich zu hören. Nahe genug, um zu begreifen: Die Menschen da oben in der Dunkelheit sind seine letzte Chance.
Sie lachen. Grölen Unverständliches. Deutsche, natürlich. Trotzdem. Sie müssen ihn hören.
Help!
Aus seinem Mund kommt gar nichts. Aber hinein. Wasser. Er schluckt Bitterkaltes, Erdiges, hustet und prustet, schluckt noch einmal, aber da ist noch mehr. Wasser, überall. Es zieht und saugt an ihm. Dringt in seine Ohren ein und in die Nase.
Die Bäume, sie strecken ihre knochigen Äste nach ihm aus. Ihr müdes Laub raschelt im Wind, als wollte es ihn beruhigen. Mundtot machen.
Er versucht, sie zu fassen zu bekommen, doch das Wasser umfängt ihn, hält ihn zurück, eisern und sanft. Betäubt seinen Körper, macht seinen Verstand zu Blei. Wo Adrenalin sein sollte, ist nur stockendes Blut.
Help! I can't swim!
Mehr Wasser. Mehr Husten. Wasser anstatt Atem.
Dann auch keine Stimmen mehr.
Die Deutschen sind weg, weitergezogen, irgendwohin.
Nur das Wasser ist noch da.
Und die Bäume.
Schhhh, sagen sie.
Pull me close look into my eyesSmile at me when you stick in the knife
Tom McRae, »Karaoke Soul«
Ein Traum spülte mich aus der Schwärze zurück ins Schlafzimmer. Eine dunkle Welt aus Schemen und Schatten. Und doch immer noch besser als die, aus der ich gerade kam.
Eine Weile wartete ich. Nichts als Stille. Der Schein der Straßenlaternen, gedämpft von cremefarbenen Vorhängen. Der Traum hatte nicht mehr als ein diffuses Grauen hinterlassen und die Gewissheit, dass ich ihm nicht zum ersten Mal begegnet war heute Nacht. Ein Wiedergänger, der mich seit fast einem Jahr regelmäßig heimsuchte.
Fünfter Dezember.
Mein Puls vibrierte gegen die Bettdecke, die ich mit Stefan teilte. Mein Mann schlief, geräusch- und regungslos wie immer, ein menschlicher Anker, der seine Seite des Bettes ganz ausfüllte und trotzdem nie die Grenze zu meiner überschritt.
Meine Hände unter der Decke betasteten meinen Unterleib. Auch so ein Reflex der letzten Monate. Die Suche nach einem zweiten Herz in meinem Bauch. Dem Flimmern von neuem Leben. Ich hatte es mit eigenen Augen gesehen. Letzten Dezember bei Dr. Wahlheimer in der Klinik. Ein Wunder, so lange Klischee, bis es vor den eigenen Augen pulsiert; ein Wunder, das mich die Sprache gekostet hatte und Stefan spontane Freudentränen. Nur Dr. Wahlheimer war ruhig geblieben, sein sonst strahlendes Lächeln gedimmt.
»Es ist ein wenig klein für acht Wochen«, hatte er gesagt. »Das muss aber nichts bedeuten. Beim nächsten Termin sehen wir nochmal nach dem Rechten.«
Der Termin hatte nie stattgefunden.
Nach zwei Tagen voller Ängste in einer bisher nie gekannten Intensität, die in mir hochgestiegen waren wie Giftblasen, hatten die Krämpfe eingesetzt. Dann die Blutungen. Krankenhaus. Das Ende.
Fünfter Dezember. Fast ein Jahr.
Es sei bloß der erste Versuch gewesen, hatte Stefan mich mit erstickter Stimme getröstet. Das nächste bleibt bei uns, du wirst sehen.
Inzwischen waren wir beim vierten Versuch.
Ich stand auf, sah den Schneeflocken draußen zu, wie sie hinunter auf die Breisacher Straße taumelten. Tappte dann barfuß und im T-Shirt hinaus auf den Gang, in die Wohnküche, zum Kühlschrank. Öffnete ihn versuchsweise. Letzten Dezember hatte mich Kühlschrankgeruch regelmäßig zum Kotzen gebracht. Diesmal: nichts. Nur Medikamentenschachteln, Einwegspritzen und Applikatoren. Ein Menü an Ersatzhormonen, überlebenswichtig für meine im Labor erzeugte Schwangerschaft. Falls es eine war.
Positiv denken. Negative Gedanken sind schlecht fürs Kind, hatte Stefan mir schon beim ersten Versuch eingebläut. Ganz der Psychologe.
Ich schloss die Kühlschranktür wieder. 5.16 Uhr.
Sich noch einmal hinlegen? Sinnlos. Dann lieber früher ins Präsidium. Dort konnte ich immer noch positiv denken.
Ludwig, der Labrador, war nougatbraun, wedelfreudig und trotz seines fortgeschrittenen Alters noch äußerst agil – ein Lichtblick für alle, die ihm begegneten.
Dasselbe konnte man von seinem Besitzer nicht behaupten. Seit er die Menschen kenne, liebe er die Tiere, bediente sich Martin Geiselmayr gerne bei Schopenhauer, um seinen in die Mittvierziger vorgezogenen Altersgrant zu legitimieren.
Er führte das Antiquariat seiner Eltern in der Siegesstraße, war nach frühen Enttäuschungen in der Liebe überzeugter Junggeselle und hing, wie er gern betonte, nicht besonders an seinem »Drecksleben«. Eine Einstellung, die sich an diesem Morgen ändern sollte, denn da begegnete er dem Tod.
Bei ihrer üblichen Runde um fünf Uhr morgens waren er und Ludwig die Ersten am Kleinhesseloher See. Wenig überraschend: Einem föhnigen Allerheiligen mit knapp zwanzig Grad war der Wintereinbruch auf dem Fuß gefolgt. Die Schauer vom Abend hatten sich in der Nacht zuerst zu Dauerregen, dann zu patzigem Schnee verdichtet, der sein Spitzendeckchen über den Englischen Garten breitete. Bis zum Morgengrauen waren noch mehrere Zentimeter dazugekommen.
Kein guter Tag. Bei diesem Wetter würden sich wieder viel zu viele Passanten ins Antiquariat flüchten und mit ihren feuchtkalten Fingern über die Sammlung historischer Magazine tappen, ohne etwas zu kaufen. Nur Ludwig würde glücklich sein über all die zusätzliche Aufmerksamkeit. Aber der war ja immer glücklich, so wie alle, die es nicht besser wissen.
»Alles Zeitverschwender. Schönwetter-Indianer«, murmelte Geiselmayr. Aber zumindest konnte er den Hund jetzt mal frei rumlaufen lassen, ohne dass sich gleich jemand darüber aufregte.
Ludwig war, kaum von der Leine befreit, zurück in Richtung Schwabinger Bach davongestoben. Er liebte es, darin ohne Rücksicht auf die Wassertemperatur nach Treibgut zu fischen und es an Land zu schleppen.
»Ludwig!«
Das Tier war ein hechelndes Phantom, das – immer dem Instinkt nach, dem Wasser entgegen – nur hin und wieder, in stetig wachsender Entfernung den Lichtkegel von Geiselmayrs Stirnlampe kreuzte, während sein Besitzer ihm vergeblich befahl zurückzukommen.
Es war selten, dass Ludwig sich und seine Folgsamkeit vergaß. Vielleicht lag es am Schnee. Der kostete auch die Menschen regelmäßig den Verstand.
Schnaufend lief Geiselmayr hinterher. Flocken fegten in seine Augen, gegen seinen Anorak. Der Gehweg hinüber in Richtung Schwabing schlüpfrig vom Schnee und den vielen Blättern, die der Sturm über Nacht von den Bäumen gerissen hatte. Auf den zweihundert Metern zur Brücke hinüber zur Liebergesellstraße kam er gleich mehrmals ins Rutschen.
»Ludwig, Herrschaftszeiten!«
Der war bereits die Böschung hinunter verschwunden. Ein entschlossenes Bellen, ein Platschen, weg war er. Geiselmayr ihm nach, ohne nachzudenken. Wäre nicht der erste Hund, den es wegen Hochwasser abtreibt – und dann gute Nacht.
Noch mehr Schneematsch, feuchte Blätter, regengesättigter Boden. Geiselmayr fiel und rutschte. Erst am Rand des schon fast über die Ufer getretenen Baches fing er sich. Hier war es geringfügig heller als im Park. Straßenlampen und die ersten Lichter in den Fenstern des Gästehauses am gegenüberliegenden Ufer blinzelten zaghaft durch das entlaubte Geäst der Böschung und den dichter werdenden Schneefall. Nach der Schwärze im Park nun überall weichgraue Schemen. Von den Bäumen tropfte der Schneematsch …
Und da war er, sein Ludwig, auf halbem Weg zwischen dem Ufer und einer von Stauden und Bäumen überwucherten kleinen Insel, die den Schwabinger Bach spaltete. Er paddelte gegen die Strömung an, seine Kiefer verbissen in einen dicken Ast, den er mit sich an Land zu bringen versuchte. Prustete vor Anstrengung und kam doch kaum voran. Der Ast hing irgendwo unter der Wasseroberfläche fest.
»Lass gut sein, Luggi. Komm raus.«
Ludwig ließ nicht gut sein. Grunzte durch die Lefzen, zerrte weiter an seiner Beute. Atemwölkchen stiegen auf. Ruckartig machte er einen halben Meter Fortschritt, steckte dann wieder fest.
Sturschädel.
Zumindest war er jetzt nah genug am Ufer, dass Geiselmayr ihn rausziehen konnte, notfalls gemeinsam mit dem Ast. Er kniete sich auf den schlammig schmatzenden Untergrund. Nach zwei Fehlschlägen bekam er Ludwig am Halsband zu fassen. Noch immer weigerte der sich loszulassen.
»Jetzt lass aus, du saufst mir noch ab.«
Geiselmayr versuchte, den Ast aus den Fängen seines Hundes zu reißen. Die Rinde war weich und schleimig. Der Ast drohte ihm zu entgleiten, doch er hielt ihn fester, zog noch einmal ruckartig daran. Was auch immer ihn zuvor unter Wasser festgehalten hatte, gab ihn jetzt frei.
Während Ludwig, der nun endlich abgelassen hatte, an Land hechelte und sich ausgiebig schüttelte, zog Geiselmayr das schwere Treibgut näher zu sich heran und studierte vor Anstrengung schnaufend im blauen LED-Schein seiner Stirnlampe, in was sein Ludwig sich da verbissen hatte.
Sein Magen war schneller als seine Auffassungsgabe und schickte eine Portion Säure die Speiseröhre hoch, noch bevor sich das goldene Glitzern in den vermeintlichen Zweigen als Ring und die Zweige selbst als aufgequollene grünliche Finger entpuppten.
Nein, eindeutig kein Ast.
8.00 Uhr, die tägliche Fallbesprechung. Natürlich hätte ich es schon beim ersten Schritt in den Besprechungsraum ahnen müssen. Die Art, wie Konstantin den Blick senkte. Das ironische »Guten Morgen, Patsy« des Kollegen Reitsamer. Das honigsüße Lächeln von Lisa, unserer kürzlich zur »Office Managerin« mutierten Sekretärin.
Ich registrierte alles, kapierte nichts. Wahrscheinlich wegen des Schlafmangels, oder weil ich die drei Tage davor abwechselnd in einem Ruheraum, einem Swimmingpool oder unter den Händen eines Massagetherapeuten verbracht hatte. Noch viel wahrscheinlicher aber, weil mein Kopf voll war mit einem ganzen Arsenal unnützer Gedanken. Gedanken an morgen. An den Schwangerschaftstest, der entweder den Erfolg oder Misserfolg unserer vierten künstlichen Befruchtung anzeigen würde. Zum ersten Mal war ich wirklich nervös. Dabei kannte ich das Ergebnis schon.
Als ich endlich erkannte, was los war, stimmte Kris Meyerhofer bereits ein dissonantes »Happy Birthday« an. Die meisten anderen Kollegen fielen mit ein, mehr oder weniger peinlich berührt.
Rehrücken, selbstgebacken. Tischfeuerwerk. Sogar eine Karte: »40 Jahre« stand da zwischen einer Menge Ballons und Konfetti. Unter die 40 hatte jemand mit schwarzem Edding ein »minus 1« und einen schiefen Smiley gemalt. Ein klassischer Konstantin.
»Damit du dich schon mal an die Vier gewöhnst«, sagte er grinsend. Die Kollegen fanden es natürlich ungemein lustig.
Mein Vorgesetzter und ich waren jahrelang Partner auf Streife und später Kollegen in der Mordkommission gewesen. Manchmal behandelte er mich noch so. Nicht immer mit dem besten Timing.
Ich lachte trotzdem mit, nippte am Sekt im Plastikbecher, den man mir überreicht hatte. Im Büro wussten – inoffiziell – alle von meiner Fehlgeburt. Enthaltsamkeit würde zumindest Lisa sofort auffallen, mich wieder unters Brennglas ihrer Neugier rücken. Lieber nicht.
Ich wickelte zwei Geschenke aus dem Superhelden-Papier.
Krimis. Kein Polizist außer mir liest sowas. So viel aufregender als mein eigenes Leben. Außerdem bringen sie mich zum Lachen. Das wussten offenbar auch schon alle.
Ich blinzelte rasch die Rührung weg – etwas, was mir bislang vollkommen fremd gewesen war, doch seit ich jeden Tag Hormone in mich hineinpumpte, wurde ich ihrer kaum mehr Herr. Hoffentlich merkte das hier keiner.
Meinen Dank wehrte Konstantin kauend ab. »Hat unser Spaß-Kommittee organisiert.«
Er meinte Kris Meyerhofer. Seit wir letztes Jahr gemeinsam an einem Mordfall in einem Online-Start-up gearbeitet hatten, rumorte in ihr die Sehnsucht nach einem harmonischen Arbeitsumfeld, die sie mit allerlei Vorschlägen für gemeinsame Aktivitäten und allgemeiner Nettigkeit umzusetzen versuchte. Ein Kampf gegen Windmühlen, hatte ich gedacht. Doch Kris' an Irrsinn grenzende Ausdauer zersetzte inzwischen sogar den härtesten Widerstand. Geburtstage waren hier noch nie offiziell gefeiert worden.
Hätte ruhig so bleiben können.
»Wie war's am Tegernsee?«, fragte sie, während es an Lisa hängenblieb, den Tisch abzuräumen. Klang eher höflich als interessiert. Kris sah abgekämpft aus. Aus ihrem sonst stets frisch gefärbten, seit einigen Monaten magentafarbenen Pixie-Cut spross dunkelblonder Nachwuchs. Wahrscheinlich überarbeitet, wie wir alle.
»Schön.« Ich hielt mich an die Kurzfassung. Das war nicht gelogen, Stefan hatte keine Mühen gescheut: 5-Sterne-Hotel, 5-Gänge-Menü, Seepanorama, das Laub des Herbstwaldes ringsum wie in Flammen, der blaue Himmel mit fedrigen Föhnwolken durchsetzt.
Dass ich mich das gesamte verlängerte Wochenende über nach meinem Schreibtisch gesehnt hatte, war wirklich nicht seine Schuld gewesen.
Gefühlte Stunden später. Konstantin hangelte sich von einem Fall zum nächsten. Wortkaskaden. Stifte, die über Papier kratzten. Kommentare um der Kommentare willen von Holger und Philipp, den »jungen Wilden«, wie sie sich selbst gerne nannten. Reitsamers unterdrücktes Gähnen. Und ich? Starrte abwechselnd auf meine To-do-Liste und hinaus in den Novemberhimmel. Sah überall nur Sackgassen.
»Du hast dafür doch noch Kapazitäten, oder?«, fragte Konstantin.
Schweigen reihum. Als ich den Kopf hob, lagen bereits alle Kollegenblicke auf mir, Konstantins Lippen ungeduldig geschürzt.
Kapazitäten wofür?
»Klar, kein Problem«, sagte ich.
Sein Lächeln gefiel mir nicht. Viel zu erleichtert.
»Der Kollege Hauser wird sich bei dir melden. Umgehend, so wie ich ihn kenne.«
Alle grinsten, sogar die stets politisch korrekte Kris. Wo hatte ich mich da gerade reingeritten?
»Du meinst Burkhardt Hauser?«
»Genau den«, sagte Konstantin fröhlich.
Burkhardt fucking Hauser von den Vermissten.
Herzlichen Glückwunsch, Patsy Logan.
Nichts gegen den Kollegen Hauser. Ein verlässlicher Mensch und akribischer Methodiker, der für jeden ein Lächeln übrig hatte. Aber leider so agil wie ein Faultier. Zeitdruck und unklare Verhältnisse überforderten ihn, stets suchte er Zuflucht bei Vorschriften und Risikovermeidungsstrategien. Früher hatte er mit seiner Zögerlichkeit das gesamte Dezernat in den Wahnsinn getrieben. Aber angeblich hatte er einen nicht näher definierten Stein im Brett beim damaligen Chef. Dann kamen Konstantin und sein Pragmatismus, und Burkhardt wurde prompt ins K14 weggelobt, zu den Vermissten und den unidentifizierten Toten.
Aber auch von dort streckte er regelmäßig seine Fühler in unsere Richtung. Nutzte Konstantins schlechtes Gewissen aus. Kurze Anfragen und kleine Gefallen entpuppten sich dann gern als Köder für Größeres.
So wie die Sache mit dem vermissten Iren.
Siobhan MacFadden hatte lange Haare in salongefärbtem Silbergrau, große Rehaugen und Stimmbänder aus Stacheldraht; in sich einen Zorn, so profund, er musste über Jahre gepflegt worden sein.
Gemeinsam mit ihrem dreizehn Jahre jüngeren Bruder Donal und ihren Eltern führte sie ein kleines Hotel im Küstenort Bray, zwanzig Kilometer südlich von Dublin. McFadden's Inn hatte sich in den letzten Jahren als kulinarisches Pub mit ein paar Gästezimmern etabliert.
Am Sonntag vor einer Woche waren die Geschwister mit dem Abendflug nach München gereist und hatten am Montag und Dienstag die Wein- und Spezialitätenmesse auf der Praterinsel besucht. Am Mittwoch, Allerheiligen, war Siobhan morgens zurück nach Dublin geflogen, während Donal noch bis Donnerstagabend in München hatte bleiben wollen. Als er am Freitagmorgen nicht wie vereinbart im Inn aufgetaucht war und auch sein Mobiltelefon abgeschaltet blieb, hatte Siobhan sich an die Dubliner Polizei gewandt.
»Nutzloses Pack, alle zusammen.« Sie umklammerte ihr Einwegfeuerzeug. Tack, tack, tack – Kante gegen Tischoberfläche. Perfekte Fingernägel in schillerndem Blau. Der Rest einer Halloween-Party, vielleicht. »Ich soll mich beruhigen, haben sie gesagt. Donal wäre ein erwachsener Mann, ›spontan verlängerter Urlaub‹ und so ein Bullshit.« Tack, tack, tack. »Erst am Samstag haben sie mich ernstgenommen. Und auch da ist nicht mehr passiert als so ein blöder Vermisstenaufruf. Dabei hab ich denen schon gesagt, dass Donal wahrscheinlich nie in Irland angekommen ist. Montagfrüh hatten die noch immer nichts Brauchbares auf der Reihe. Also hab ich die Sachen gepackt und bin hergeflogen. Man muss sich selbst kümmern, sonst tut's keiner.«
So war Siobhan MacFadden am Montagabend im Präsidium aufgetaucht, aufgelöst in Schweiß und Angst, und hatte dort Feuer gespien, bis sich jemand aus dem K14 ihrer angenommen hatte: Burkhardt Hauser.
Siobhans rüder Ton und ihr Dubliner Akzent hatten Burkhardt und sein Schulenglisch ordentlich überfordert. Dennoch hatte er die Frau irgendwie dazu überreden können, am Dienstag wiederzukommen – man würde bis dahin Kontakt mit den irischen Kollegen aufnehmen und die Situation klären.
Die Dolmetscherin war bis Donnerstag über beide Ohren anderweitig beschäftigt, der Ersatzdolmetscher lag mit Magen-Darm-Grippe im Bett. Was also tun? Auftritt Patsy Logan, Halbirin väterlicherseits und immer wieder gerne angefragt, wenn es zu Engpässen in Sachen englischer Sprache kam.
Jetzt saß ich da, in einem überheizten Besprechungsraum ohne Fenster, filetiert von Siobhan McFaddens Blicken, zu viel von ihrem blumigen Parfum in der Nase, während Burkhardt neben mir hüstelnd seine Akten studierte.
Tack, tack, tack.
»Ihr Ansprechpartner, Detective Mahony«, er zog das O übermäßig in die Länge, »also, der Kollege hat heute die Bestätigung von Aer Lingus erhalten, dass Donal für seinen Rückflug nach Dublin nie eingecheckt hat, also wahrscheinlich gar nicht am Flughafen erschienen ist.«
Siobhan McFadden verdrehte die Augen.
Tack, tack, tack.
»Außerdem«, bemühte sich Burkhardt um Contenance, »hat sich gestern die Dame, bei der Sie letzte Woche untergebracht waren, gemeldet, weil sie das Gepäck Ihres Bruders gefunden hat. Es spricht also einiges dafür, dass sich Donal noch in München …«
»Das sag ich doch schon seit Freitag. Aber gut, dass Sie jetzt auch bei der Erkenntnis angelangt sind.«
Diese Frau hatte den Charme einer Faust aufs Auge. Vielleicht ein Ausgleich für all die Romantikwochenenden, die sie für ihre Gäste organisieren musste.
»Wollen Sie eine Zigarettenpause machen?«, fragte ich.
Ihre penibel gezupften Augenbrauen schossen nach oben, sie beugte sich zu mir vor. Das Feuerzeug wie eine Waffe auf mich gerichtet. »Was ich verdammt nochmal will, ist: wissen was mit meinem Bruder passiert ist.«
So schwer sie es einem machte – Siobhan McFadden tat mir leid. Ich kannte sie nur zu gut, die Verzweiflung, wenn ein Angehöriger verschwunden war. Der ungestillte Hunger nach Information machte jede Minute zur Stunde, jede Stunde zum Tag; der Kampf zwischen Hoffnung und besserem Wissen ließ keine Energie übrig für Schlaf, Essen, Umgangsformen. Siobhan war all das anzusehen: Ihre harte Tour war nur die letzte Etappe vor dem Zusammenbruch.
»Ich weiß, in dieser Situation geht für Sie als Betroffene alles zu langsam«, sagte ich. »Die irischen Kollegen haben inzwischen offiziell um unsere Hilfe angesucht. Detective Hauser setzt alle Hebel in Bewegung, doch wir müssen Sie noch um ein wenig Geduld bitten.«
In ihren Augen flackerte es. Auf ihrer Zunge brannte der Ratschlag, wohin ich mir meine falsche Anteilnahme stecken konnte. Mit sichtbarer Mühe schluckte sie ihn runter.
»Wenn ich Ihnen einen kleinen Tipp geben darf: Sprechen Sie zuerst mal mit dieser Bitch von Fee. Ich wette, die hatte da ihre Händchen im Spiel.«
Ich bat Burkhardt stumm um Klärung.
»Fiona McFadden ist Donal McFaddens Ehefrau«, sagte Burkhardt und versenkte den Blick wieder in seinen Akten. »Seit Ende Februar dieses Jahres lebt sie von ihrem Mann getrennt, seit März ist sie hier in München gemeldet.«
»Letzten Dienstag wollte sich Donal mit ihr treffen, um sich auszusprechen«, schaltete sich Siobhan ein. »Hat er auch getan, ich hab das schon letzten Samstag aus ihr rausgekriegt. Sie waren bis in den späten Abend unterwegs. Seitdem hat ihn niemand mehr gesehen.«
Ich hatte schon subtilere Schuldzuweisungen gehört. »Das heißt, er ist nach dem Treffen nicht mehr in Ihre Unterkunft zurückgekehrt?«
»Nein.«
»Hat Sie das nicht beunruhigt?«
»Wäre ich sonst zurück nach Dublin geflogen?« Siobhan legte den Kopf schief und fixierte mich, ihre Züge noch faszinierender, ihre silbernen Haare beinahe übernatürlich, ihre Dornen noch offensichtlicher. »Donal war verrückt nach Fee. Dass sie ihn verlässt, war undenkbar für ihn, und er bildete sich ein, er könnte sie zurückholen. Er kann sehr charmant sein, wenn er will. Ich dachte, er hat sie irgendwie rumgekriegt und übernachtet bei ihr. Und wenn nicht bei ihr, dann bei irgendeinem Mädchen, das er stattdessen aufgegabelt hat und so lange fickt, bis es ihm wieder besser geht. So ist er. Kann immer alle und alles haben. Aber er wollte ja unbedingt diese falsche Schlange.« In ihrer Stimme rieben schwesterlicher Stolz und Verachtung aneinander.
»Wann haben Sie das erste Mal vermutet, dass etwas nicht stimmt?«
»Donnerstagabend. Da wollte ich ihn wegen des Frühstücks am Freitag was fragen, und sein Mobiltelefon war abgeschaltet. Nicht mal die Mailbox sprang an, verstehen Sie?« In Windeseile wechselte ihre Miene von besorgt zu verzweifelt zu granitharter Überzeugung. »Fee und ihr Stecher, dieser Nichtsnutz von Steve, die beiden haben Donal auf dem Gewissen.«
Anschuldigungen als letzte Verteidigungslinie gegen die unerträgliche Ungewissheit. Es sei denn, sie hatte ihre Finger mit drin in diesem Todesfall und wollte ihr schlechtes Gewissen überspielen.
Mordkommissions-Gedanken. Weg damit.
»Zu diesem Zeitpunkt sollten wir optimistisch bleiben. Ihr Bruder wird sicher gesund und munter wieder auftauchen.«
Siobhan schnaubte bloß ihren Feueratem in meine Richtung. Wieder das Falsche gesagt.
Gerade als Burkhardt sich für eine deeskalierende Antwort räusperte, klopfte es an der Tür. Ein Kollege steckte den Kopf herein, entschuldigte sich knapp und flüsterte Burkhardt zu, kurz mit ihm nach Draußen zu kommen.
Als Burkhardt Hauser wenige Minuten später wieder den Raum betrat, war sein gutmütiges Gesicht zu einer Maske erstarrt, seine Lippen so schmal, dass sie hinter seinem Bart verschwanden. Immer wieder strich er sich mit der linken Hand darüber. In der rechten hielt er eine Asservatentasche mit einem Smartphone darin.
Siobhans alarmierter Blick fiel sofort auf den blauen Bumper mit der Aufschrift »Leinster Rugby«.
Burkhardt fragte trotzdem: »Is this the handy of your brother?«
Ein Pfeifen drang aus ihrer Kehle wie Luft aus einem Ballon, ihre Angriffslust nur noch Schall und Rauch.
»Es sieht genauso aus wie seins. Wo kommt das her? Ist Donal aufgetaucht?«
Burkhardt hüstelte, warf mir einen Blick zu, der alles sagte. Worst-Case-Szenario. Unhappy End. Die verhassteste Situation jedes Kriminalbeamten, und wir mittendrin.
»Ein Spaziergänger hat es heute Morgen gefunden. Es steckte in der Hosentasche eines Ertrunkenen, den wir bisher noch nicht iden …«
Der Rest ging in Siobhans Schluchzen unter. Raue, bellende Laute, die mir sofort unter die Haut fuhren, sich in meine Eingeweide wühlten.
Zum Glück gehörte aktive Anteilnahme zu Burkhardts Qualitäten. Er tätschelte Siobhan McFadden die zittrige Hand und reichte Taschentücher, während ich das Weite suchte, um jemanden aus dem Psychologenteam zu organisieren.
Es ist Dienstag. Ihr 102. Tag in München.
Es ist sinnlos, sowas zu zählen, denkt sie, Kästchen in ihrem Kalender auszukreuzen, jeden Tag mit einer anderen Farbe. Es ist kindisch und vielleicht sogar zwanghaft, aber sie zählt einfach gerne. Zählen tröstet sie, und wenn sie etwas nötig hat, dann ist es Trost. Wer kann den besser spenden als sie selbst?
»Fiona, mein Engel, du bist meine einzige Hoffnung«, hat ihre Ma einmal gesagt, der Blick verhangen von Beruhigungspillen. »Nur deinetwegen bin ich noch am Leben.«
Das war ein paar Wochen nach Lauras Begräbnis. Trotz ihrer kindlichen zehn Jahre ahnte Fee schon damals, dass nur dieser unsägliche Verlust und die noch unzureichende Wirkung der Antidepressiva schuld sein konnten an diesem Satz. Ma sagte ihn auch nur dieses eine Mal. Nannte sie nie wieder Engel. Das war immer schon Laura vorbehalten gewesen, während Fee immer nur Fiona gewesen war.
Über zwanzig Jahre ist ihre jüngere Schwester schon tot, und ihre Ma inzwischen auch ein halbes Jahr, und dennoch stolpert sie immer wieder über die Aussage – eine Baumwurzel in ihrem Bewusstsein. Und jedes Mal fällt sie in dasselbe Loch, wo dieses seltsame Chaos aus Schuldgefühl und Stolz, aus Trauer und Liebe und Schwärze auf sie wartet, als wäre all das erst gestern passiert.
Erinnerungen sind zäh und geduldig. Ziehen sich in guten Zeiten in ihre Nische zurück und sammeln Kraft für den geeigneten Moment, um ihre Kerben in einen zu schlagen. Vor allem dann, wenn man zu viel Zeit zum Nachdenken hat, so wie Fee gerade.
Seit ihrer Ankunft in München blähen Stunden sich zu Tagen, und Tage zu Wochen, während sie sich abmüht, an der glatten Fassade dieser Stadt, die sich selbst als weltgrößtes Dorf beschreibt, Halt zu finden.
Warum es bisher nicht geklappt hat, versucht ihr Steve immer wieder zu erklären. Sie sei zu zurückhaltend den anderen irischen Auswanderern gegenüber, die sich hier so wie überall auf der Welt suchen – einem alten, von Auswanderung geprägten Instinkt folgend. Und mit den Einheimischen klappe es noch nicht, weil ihr Deutsch seit dem Schulabschluss eingerostet sei und die Deutschen im Allgemeinen und die muffig-misstrauischen Münchner im Besonderen eher auf Distanz bedacht seien. Fees unglaublich irische Sehnsucht nach Harmonie müsse sich einfach noch eine Weile an der Konfrontationsfreude ihrer neuen Heimat abstoßen. Kenne man die Deutschen erst mal ein bisschen, seien sie nett. »Wirst schon sehen, das wird bald besser.«
Für ihn ist es leicht. Er lebt seit sechs Jahren hier. Seine Wurzeln, wenn er jemals welche hatte, sind hier schon auf Grundwasser gestoßen. Dass er der Grund ist, warum sie überhaupt hier ist, blendet er – typisch Steve – dabei vollkommen aus.
Ich gebe dir und dem Fuckwit drei Monate, höchstens, dann kommst du wieder angekrochen. Er wird dich enttäuschen, und du weißt es.
Donal hat ihr diese Nachricht gesendet, am Tag ihres Abflugs aus Dublin. Der Himmel weiß, wie er das genaue Datum rausgekriegt hat. Seitdem arbeitet sie daran, ihm das Gegenteil zu beweisen.
102 Tage. Nimm das, Donal.
Immerhin: Arbeit und damit Ablenkung hat sie inzwischen gefunden, über einen von Steves Kontakten im Shamrockers, dem der deutsche Schwager seines Cousins noch einen Gefallen schuldete. Typisch. Netzwerke. Eine Hand wäscht die andere. Es ist, als hätte sie Irland nie verlassen.
Aber zumindest hat sie einen Job. Auch wenn sie sich fragt, warum eigentlich. Das Büchercafé Seitenspeise ist heute Nachmittag genauso leer wie gestern, und noch leerer als letzte Woche. Heute hat sie sechs Leute gezählt, die sich seit Mittag von der Elsässer Straße in den Laden verirrt haben. Zwei davon tranken Kaffee, die anderen drei hatten sich nach zielloser Suche für Grußkarten, ein Notizbuch oder gleich für gar nichts entschieden.
Ihren Boss scheint das nicht zu stören. Fee begegnet Herrn Maurer nur gelegentlich, wenn sie ihren Dienst beginnt. Er bringt die Streuseltörtchen, die seine Frau Anita jeden Tag frisch zu Hause backt, arrangiert die Romane, an denen sich bisher noch kaum jemand vergriffen hat, gähnt häufig und herzhaft und verschwindet wieder, ohne mehr als ein paar Floskeln mit Fee zu wechseln.
Das Seitenspeise sei nur so ein Nebenprojekt. Ein Hobby, das er mit seiner Werbeagentur finanziere. Das hat ihr Tammi erzählt, Fees Kollegin. Herrn Maurer nennt Tammi immer nur »Klaus«. Ein Name, der blaue Flecken in Fees Gehörgängen hinterlässt. Ihrer Kollegin hingegen tropft er von den gespitzten Lippen wie Honig.
Das ist nicht das einzige Signal, das Fees neue Kollegin sendet. Da ist ein Misstrauen in ihren Augen, die stets kalt bleiben, obwohl sie immer lächelt. Da ist die Tatsache, dass sie bei Fees Einarbeitung immer wieder Details als unwichtig bezeichnet hat, die sich am Ende sehr wohl als wichtig für den Boss herausgestellt hatten. Dass sie letzten Freitag demonstrativ das Geld nachzählte, nachdem Fee für ein Stück Kuchen kassiert hatte.
Im Gegensatz zu Fee arbeitet Tammi ganztags im Seitenspeise, pendelt unmelodisch summend und mit wippendem Pferdeschwanz zwischen Bistrotischen und noch unausgepackten Bücherkartons – jedenfalls dann, wenn Herr Maurer da ist. Ist er weg, versenkt sie ihren Blick im Smartphone, scrollt auf, scrollt ab, führt augenrollend WhatsApp-Diskussionen, ohne jemals ihr Summen zu unterbrechen. Außerdem geht sie jeden zweiten Tag mindestens eine Stunde vor Ladenschluss nach Hause. Es scheint sie keinen zweiten Gedanken zu kosten. Sie nimmt sich wie selbstverständlich, was sie will. Fee ist schon vielen Frauen wie Tammi begegnet. Frauen mit sonnigem Gemüt und der inneren Überzeugung, etwas Besonderes zu sein. Frauen, denen nie jemand widerspricht, denen ein Lächeln jeden Weg ebnet.
Letzte Woche hat Tammi sich noch die Mühe gemacht, einen Arztbesuch oder Behördengang vorzuschieben. Getestet, ob Fee petzen würde. Natürlich nicht. Dieser erste Job ist zu wichtig. Fee braucht einen Fuß in der Tür. Einen Grund, aufzustehen und aus dieser verdammten Wohnung in der Birkerstraße zu entkommen, in der drei eine zu viel sind.
Dass Judith nicht nur irgendeine Mitbewohnerin ist, sondern einmal Steves Freundin war, kam erst bei Fees Ankunft und auf ihre direkte Nachfrage hin zur Sprache. Angeblich unwichtig, denn sie würde ohnehin bald ausziehen, hat Steve sie beruhigt. Nur Judith scheint davon bis heute nichts mitbekommen zu haben. Ihre Kommunikation mit Fee beschränkt sich auf Drei-Wort-Sätze, ein vergiftetes Lächeln, spöttische Blicke und demonstrative Unterhaltungen mit Steve auf Deutsch.
Tammi und ihr Schlangeninstinkt scheinen all das zu wissen.
Deshalb steht sie heute vor Fee, die gerade durch den ersten Teil der deutschen Harry-Potter-Übersetzung blättert, ihre Tasche mit dem Fellbommel geschultert, die Sonnenbrille in die Surfermähne geschoben, die professionell manikürten Zehen in silbernen Birkenstocks und strahlt.
»Fee, du Gute, ich bin dann mal weg. Wir sehen uns morgen, ja?«
»Okay. Bis morgen.«
Und dann – ein verhasster Reflex – lächelt Fee auch noch zurück. Die Gute. Hauptsache, kein Streit. Niemanden enttäuschen. Zorn ist schlecht. Zorn lässt den Kahn aus dem Ruder laufen. Wer, wenn nicht Fee, kann ihn auf Kurs halten?
Trotzdem hat Tammi ihn offenbar in Fees Gesicht entdeckt. Sie runzelt die Stirn und hält, die Ladentür schon halb geöffnet, in der Bewegung inne. Ihre Sandalensohle klappert rastlos gegen die Türschwelle. Von draußen strömt milde, von einem kurzen Regeschauer geklärte Mailuft herein. Hundegebell, das schwirrende Geräusch von Fahrrädern, hier in der Gegend meist mit Kindersitzen oder romantischen Körbchen bestückt.
»Ich muss meine Oma zu einem Arzttermin begleiten, weil meine Mama nicht kann. Weißt du?« Sie sagt es laut, als wollte sie die Lüge damit übertönen.
»Okay«, wiederholt Fee und hasst sich jetzt noch mehr. Für das irische Harmoniebedürfnis, das der deutschen Selbstsicherheit nichts entgegenzusetzen hat. Für den Zorn, der darunter glüht.
Tammi nickt, zufrieden mit dem geheuchelten Verständnis. Dann strahlt sie wieder, kalt wie immer.
»Ist ja sowieso nie was los zwischen vier und sechs«, sagt sie, während sie sich zum Gehen wendet. »Das schaffst du fleißiges Bienchen doch mit links.«
Fee sieht ihr nach, ihr Mittelfinger bereit zum Einsatz, als Tammi aufkreischt und zurückschreckt.
Draußen auf der Elsässer Straße vollführt ein Radfahrer eine Art Salto mortale und verschwindet hinter einem geparkten SUV. Reifen quietschen. Metall auf Pflaster. Körper auf Stein.
Geschichte wiederholt sich: Körper auf Stein. Kopf auf Asphalt. So wie bei Laura damals.
Ohne nachzudenken, läuft Fee nach draußen, hin zu dem Körper.
Es sind nur ein paar Schritte bis zur Unfallstelle. Vier aus dem Seitenspeise hinaus, zwei auf dem Gehsteig. Noch versperrt der SUV ihr den Blick. Fee sieht nur den ausgestreckten Arm auf dem Asphalt und die locker geöffnete Faust. Der dazugehörige Mensch ist bewusstlos, wenn nicht tot. Vier Schritte um den SUV herum. Auf dessen Rückbank drängen sich zwei Kinder ans Fenster, drücken sich die Nasen an den Scheiben platt. Schauen, wohin alle schauen.
Der Radfahrer liegt wie vom Himmel gefallen auf dem Straßenpflaster. Daneben sein Fahrrad. Das vom Aufprall verbeulte Vorderrad eiert ein wenig in der Luft, bleibt stehen. Ein Menschenträubchen hat sich gebildet, staut den nachkommenden Verkehr. Weiter hinten hupt es schon, öffnen sich Autotüren, werden Hälse gereckt. Termine müssen eingehalten, Kinder abgeholt, Einkäufe erledigt werden. Und trotzdem – die Schaulust bleibt.
Fees Puls ganz plötzlich auf 100. »Ich bin Arzt«, ruft sie laut. Wie in einem billigen Film, und auch nicht die Wahrheit: Sie ist – war – Krankenschwester und ein paar Jahre lang Rettungssanitäterin. Es wirkt trotzdem. Der falsche Eindruck, den sie erweckt, macht sie stolz: Alle Augen auf Fee McFadden. Eine alte Dame, eigentlich ein Dämchen, so klein ist sie, mit Stock und im hellblauen Kostüm weicht zurück und lässt Fee vorbei.
Das Unfallopfer rappelt sich inzwischen auf, ist bereits auf den Knien. Der Fahrer eines Lieferservices. Sein großer Stoffrucksack mit der Warmhaltekiste klammert sich mit letzter Kraft an seinen Rücken. Sein Helm vom Sturz vom Kopf gerissen, hängt nur noch am zu lockeren Halteband um seinen Hals.
»Passt schon«, sagt er und hebt die Hände, als gelte es, einen zornigen Mob zu beruhigen. »Alles klar. Passt schon.«
Das sagen die Leute hier ständig. Fee traut ihm nicht, diesem »Passt schon«. Es ist dem irischen grand zu ähnlich, und grand kann alles bedeuten.
Fees Auftritt scheint ihn mehr zu erschrecken als das, was passiert ist. Sein Mund öffnet sich einen Spalt weit.
»Ich bin Arzt«, erklärt Fee noch einmal, versucht, sich an die richtigen deutschen Worte zu erinnern. »Was hat passiert?«
»Passt schon«, beharrt er.
Hinter Fee atmen die Leute auf. Jemand hat die Verantwortung übernommen. Das Träubchen an menschlicher Hilfsbereitschaft beginnt, sich unverzüglich aufzulösen.
Der Mann will aufstehen, doch Fee legt ihm die Hand auf die Schulter, drückt ihn nach unten, bevor sie sich zu ihm kniet.
»Warte. Darf ich?« Ihr eingerostetes Deutsch setzt sich quietschend in Bewegung. »Dein Name?«, fragt sie, während sie ihm signalisiert, die Brille wieder abzunehmen, und seine Augen, Nase und Ohren auf Blutspuren absucht. Hat eigentlich jemand die Rettung gerufen?
»Luis.«
Seine Stimme klingt belegt und einen Tick zu hoch. Sie passt zu seinem fast schon weiblichen Gesicht. Ansonsten hat er etwas Unfertiges, Skizzenartiges an sich. Blasse Haut und schulterlange, dunkelbraune Haare, zusammengebunden zu einem Pferdeschwanz. Scharfe Züge und ein Strichmund, den er inzwischen wieder geschlossen hat. Mit der kreisrunden Brille – werden die etwa wieder modern? – sieht er aus wie ein neurotischer Cousin von John Lennon.
»Wo sind die Schmerzen, Luis?«
Er runzelt die Stirn über ihre Formulierung, ihren Akzent.
»Hab keine.«
Dabei hat sie gerade eben noch seine Hand zu seiner Stirn schnellen sehen, gehört, wie er leise durch zusammengepresste Zähne Luft eingesaugt hat. Jetzt tut er so, als wäre nichts passiert. Er hat Angst, Zeit zu verlieren. Er hat Essen abzuliefern.
Er brummt unwillig, als sie seinen Kopf Richtung Sonne dreht, sein linkes Augenlid, dann das rechte nach oben zieht. Pupillen-Reflex links normal. Das rechte braucht etwas länger – Sekundenbruchteile, wenn überhaupt. Zwei schmutzigbraune, mit moosgrünen Flecken besprenkelte Augen starren Fee unverwandt an.
»Ein Hund kam aus dem Park da vorn und – zack, direkt vors Rad. Ich wollte …« Er stockt, will noch einmal aufstehen.
Wieder hält Fee ihn zurück. »Nicht so schnell. Du warst bewusstlos.«
»War ich nicht.« Er leugnet es wie eine Straftat.
»Luis, du musst ins hospital, dich ansehen lassen.«
Er reagiert nicht, untersucht bloß die Speichen seines Fahrrads. »Ich war nicht bewusstlos«, beharrt er dann, sieht auf. »Alles gut. Ich bin okay«, sagt er zum verbliebenen Publikum.
»Eine Frechheit, was die Leute sich erlauben! Die Drecksviecher so frei rumlaufen zu lassen. Hier ist doch Leinenzwang!«, schimpft das alte Dämchen in Richtung Park, aus dem der unfallverursachende Hund offenbar gekommen war. Dann tätschelt sie Luis den Arm und wackelt davon.
Der entzieht sich endgültig Fees Griff, kommt auf die Beine, zerrt sein angeschlagenes Fahrrad auf den Gehsteig, während der Verkehr wieder in Gang kommt. Reicht ihr mit abschließender Bestimmtheit die Hand. »Vielen Dank nochmal, echt«, sagt er und grinst. Sieht dabei aus wie ein freundliches Krokodil. »Ich liefere nur schnell das Essen ab.«
»Nein, ich rufe die ambulance«, sagt sie, greift nach dem Mobiltelefon in ihrer Gesäßtasche. Wie war nochmal die Notrufnummer in Deutschland?
»Komm«, seine feuchtkalte Hand legt sich auf ihre. »Ich versprech dir – danach leg ich mich hin für den Rest …«
Schlagartig verstummt er, lässt sie los, ein dumpfer Aufprall.
Als sie von ihrem Handy aufschaut, liegt er zusammengesackt zu ihren Füßen, sein Kopf auf ihren weißen Turnschuhen, als wäre sie eine Heiligenstatue, die es anzubeten gilt.
München im frühen November. Eine Tristesse, die sogar den nimmermüden Marketingfachleuten und Erfindern kommerzieller Feiertage die Inspiration raubt. Halloween vorbei, Allerheiligen überstanden, der Himmel ist verhangen, die Straßen sind nebelfeucht und die Christkindlmärkte lediglich ein paar Holzverschläge am Straßenrand.
Kris hatte mich schon an der Münchner Freiheit aussteigen lassen und war zum Schwabinger Bach vorgefahren. Ich nähere mich dem Ort des Geschehens gerne zu Fuß. Keine gute Idee heute. Atem aus Wasserdampf, Zehen aus Eis. Mein neuer Fischgrät-Mantel ein unwürdiger Gegner für die feuchte Kälte. Gänsehaut, von oben bis unten.
Es war kurz nach vierzehn Uhr, die bauschigen Flocken des Morgens waren schon vor einer Weile in Schneeregen übergegangen. Weiß zu Braun. Matsch schmatzte unter meinen Stiefeln, spritzte unter Autoreifen hervor auf die Menschen, die sich auf der Suche nach einer halbwegs trockenen Route zu weit an den Rand des Gehsteigs gewagt hatten. Unterwegs war, wer keine andere Wahl hatte. So wie ich.
Am Ende der Gunezrainerstraße eine Szene wie aus David Lynchs Baukasten: Der Verkehr säuselte von der Weißen Brücke herüber, überall tropfte und platschte es, Polizeiabsperrband in Zuckerstangen-Farben vor der Uferböschung, davor zwei Uniformierte mit kurzen Hälsen und Regenschutz auf den Mützen. Ihre gleichmütig leeren Blicke wie die von Pferden auf der Koppel. Zwischen Baumgerippen hervor winkte mir eine einsame plumpe Gestalt in weißem Einweg-Overall. Die Ausgeburt eines Albtraums.
Sebastian »Sebi« Kramer.
»Hätte ich mir denken können, dass sie dich dafür verhaften«, sagte er, als ich unter dem Absperrband hindurchschlüpfte.
»Weil es eine irische Leiche ist?«
»Weil du frisch aus dem Urlaub kommst.«
Ich schnitt eine Grimasse. Keine Ahnung, woher Sebi das wieder wusste. Eigentlich gehörte er wie ich nicht zu den Eingeweihten vom Dienst. Das übliche Marathon-Händeschütteln. Aber heute waren Sebis Patschhände eine warm-weiche Wohltat.
»Und was machst du hier? Ich hätte eigentlich den König erwartet«, sagte ich.
»Der ist mal wieder im Urlaub. Madeira, wie es sich für Könige gehört. Jetzt muss ich die Königskinder babysitten.« Sebi schnaufte. Verständlich. Thomas Königs Truppe trug ihren Beinamen nicht umsonst.
Er fummelte am Zipper seines Overalls, öffnete ihn und griff hinein. Plastik knisterte. Lebkuchenherzen mit Schokoglasur kamen zum Vorschein.
»Auch eins?«
Ich nahm zwei. Bis vor kurzem hatte ich bei Ermittlungen meist das Essen vergessen. Konnte mir jetzt nicht mehr passieren.
»Und wo sind die Königskinder hin?«
»Schon lang weitergezogen in McFaddens Unterkunft«, sagte Sebi mit vollem Mund. »Wir sind seit sechs Uhr früh hier draußen. Die Hubers und ich checken nur nochmal alles.«
Er schaute bachaufwärts. Zwei kleine weiße Figuren stelzten durch das Unterholz. Stocherten, suchten. Albert und Martin Huber, als eineiige Zwillinge im selben Beruf ein Kuriosum, auf das man stolz war im Präsidium. Sowas mochte die Presse.
Ein paar Schritte hinter ihnen Kris, die Hände in den Taschen ihres Parkas vergraben, ihre Magentahaare eine welkende Blüte zwischen all den Erdtönen. Sie drehte uns den Rücken zu, starrte zur Fußgängerbrücke in den Englischen Garten hinüber.
Ein Grüppchen Schaulustiger hatte sich darauf versammelt. Wetterbedingt weniger als sonst, doch ansonsten die üblichen Verdächtigen: Ruheständler, schulschwänzende Teenager und andere Konsorten mit zu viel Zeit. Handykameras arbeiteten lautlos in hochgereckten Armen. Menschen, Morde, Sensationen.
Falls das hier überhaupt ein Mord war. Bisher sprachen dafür nur Siobhan McFadden und ihre wüsten Anschuldigungen.
»Eigentlich bin ich nur noch hier«, erinnerte mich Sebi an seine Anwesenheit, »weil die vom Präsidium durchgefunkt haben, dass du herkommst.«
»Da bin ich dir sehr dankbar«, streichelte ich mechanisch sein Ego. Der frühe Nachmittag und die Schokolade hatten meinen Sarkasmus stumpf gemacht. Vielleicht war ich auch einfach deprimiert.
»Und was gibt's zu erzählen?«
»Wenig.«
Sebi räusperte sich den Lebkuchen aus der Kehle. Fingerzeig nach links zu der Insel im Schwabinger Bach.
»Der Mann hing am Ostufer der Insel fest. Da ist eine Menge Gestrüpp unter Wasser, und siehst du den Stamm da von dem umgefallenen Baum? Der Jackenkragen hat sich in einem der Äste verfangen und er wurde von der Strömung immer weitergeschoben. Wie auf einen Spieß.« Sebi veranschaulichte das mit ausgestrecktem Zeigefinger in die Lebkuchenpackung und bediente sich bei der Gelegenheit gleich nochmal. »Deswegen ist er trotz des Regens nicht weiter abgetrieben.«
Ich betrachtete den Schwabinger Bach. Angeschwollen vom Dauerregen, war er bereit, weiter die Böschung hinaufzuklettern, Spuren zu zerstören, falls die Zeit etwas davon übriggelassen hatte.
»Wie lang war der unter Wasser?«
»Ein paar Tage sicher.«
»Und jetzt erst hat ihn jemand gesehen? Der Bach ist doch nicht so tief, und hier kommen oft Leute vorbei.«
»Hüfthoch reicht schon. Zum Ertrinken sowieso, und auch zum Untenbleiben. Ich nehm an, er ist schnell untergegangen und dann gleich mal in den Ästen hängengeblieben. Seine Jacke ist fast tarnfarben. Und der Bach hat die letzten Wochen eigentlich immer Hochwasser geführt. Weißt ja, wie verregnet der Herbst war, mal abgesehen vom letzten Wochenende. Wahrscheinlich hat die Strömung ihn da irgendwie verlagert. So konnte ihn der Hund riechen.«
Ach ja. Ludwig, der Labrador. So stand es in der Aussage des Finders Martin Geiselmayr.
Der Schneeregen war abgeflaut. Das wässrige Trommelfeuer auf meiner Kapuze hatte sich in sanftes Ploppen verwandelt. Immerhin. Nass war ich trotzdem, und der auffrischende Wind pfiff in alle meine Glieder.
Sebi hingegen: wasserfester Overall, komplett mit ums Gesicht festgezurrter Kapuze. Ein zufriedenes dickes Baby.
Kein Wunder. Kris hatte mir von Gerüchten erzählt, dass er gerade an einer alternativen Karriere bastelte. Ein Verlag sollte mit einer Idee für ein Sachbuch an ihn herangetreten sein, wie es sie schon von Gerichtsmedizinern und – meist selbsternannten – Star-Ermittlern gab. Keine Ahnung, ob die Gerüchte stimmten. Zuzutrauen war es ihm.
Sebi von der SpuSi – seine spektakulärsten Fälle. Lesungen, Signierstunden, Talkshows.
»Was grinst du so fies?«, fragte er kauend.
»Wie lang war die Leiche wohl unterwegs, bevor der Baum sie aufgefangen hat?«
Prusten. »Nicht weit. Oben ist der Bach seichter, die Leiche wäre wahrscheinlich aufgefallen. Außerdem hat er relativ wenige Abschürfungen im Gesicht und an den Händen. Die Jeans waren an den Knien zerrissen, aber so schlimm auch nicht. Theoretisch könnte der sogar hier, wo wir stehen, reingefallen sein.«
Bis zum Fundort waren es kaum hundert Meter. Wir machten ein paar Schritte die Böschung hinunter. Vorsichtig, weil schlüpfrig. Meine für den Anlass zu hohen Absätze versanken in Matsch, Blättern und moosigem Erdreich. Man konnte sehen, dass vielen anderen vor mir dasselbe passiert war.
»Reingefallen? Sicher?«
»Im Moment für mich die wahrscheinlichste Theorie. Wir haben keine eindeutigen Spuren auf Gewalteinwirkung vor Wassereintritt.«
»Das heißt, ihr habt uneindeutige Spuren.«
Sebi grinste. »Zuhören kann sie, die Pezi.« Sein königlich-bayrischer Feldzug gegen Anglizismen machte auch vor meinem Namen nicht Halt. »Er hatte ein, zwei Verletzungen seitlich und hinten am Kopf. Wahrscheinlich hat er sich die im Wasser zugezogen, oder die Leute vom Bergedienst haben geschlampt, aber das müsste man sich natürlich noch näher anschauen.«
»Sonst noch was Interessantes?« Einen Versuch war es wert.
Aber Sebi schnaufte bloß schwer, sein Atem voll Zimt und Schokolade.
»Irgendwelche Spuren?«
Der Kollege brummte abschlägig. »Schau dich um. Hier war Dauerregen, die meisten Blätter sind erst die letzten Tage über gefallen, wegen des Sturms, und dann noch der ganze Schnee und Matsch drauf. Wir können nur hoffen, dass es ein Unfall war. Wenn da irgendjemand seine Finger im Spiel gehabt hat, kann er sich jetzt die Hände reiben.«
Er lächelte über das Bonmot, das wahrscheinlich schon in seinem Manuskript stand, zog sich die Kapuze vom Kopf und wuschelte sich durch die Locken.
»Wir haben den ganzen Abschnitt abgesucht, damit wir keine blöde Nachrede haben. Aber mach dir lieber nicht zu viele Hoffnungen, dass was Brauchbares rauskommt.«
Mal was Neues: Das Wetter als Komplize. Großartig.
Aber woher kam überhaupt die Annahme, die heute an jedem meiner Gedanken klebte, dass Donal McFaddens Tod kein Unfall war? Warum denn nicht? Ein Ire in München. Probleme mit der Exfrau. Selbstmitleid. Billiges Bier. Ortsunkundig. Rutschpartie auf den Blättern. Möglicherweise sogar Nichtschwimmer. Das Ende.
So einfach war das vielleicht, egal, was Donals Schwester oder mein Instinkt behaupteten.
Eine Weile schwiegen Sebi und ich gemeinsam. Beobachteten die Huber-Brüder auf dem langsamen Rückweg zu uns, mit leeren Asservatentaschen.
Nur Kris war zurückgeblieben, stand noch immer auf Höhe des Osterwaldgartens. Neben ihr eine Frau im Lodenmantel. Sie hielt einen Golfschirm über sich, so leuchtend blau, dass es aussah, als stünde sie unter einer Lichtdusche, mit der freien Hand gestikulierte sie wild in Richtung Kris.
»Die da vorn ist Frau Pfeil.« Sebi, alter Gedankenleser. »Der gehört die Wohnung, in die sich die McFaddens einquartiert hatten.«
»Was treibt die hier?«
»Gschaftelhubern, natürlich. Die Königskinder schauen sich gerade die Wohnung an. Jetzt steht sie da rum und geht allen auf die Nerven.«
»Und wo ist die Wohnung?«
»Das gelbe Haus mit den vergitterten Fenstern da oben.« Sebis wegweisender Arm streifte fast meine Nase. »Gleich hinterhalb der Böschung.«
Das waren keine hundert Meter von der Fundstelle.
»Können wir rein?«
Müdes Achselzucken. »Immer. Gibt eh kaum was zu sehen. Dafür kannst du dich gleich persönlich bei der Pfeil bedanken.«
Marta Pfeil, Jahrgang 1965. Zunächst Kellnerin, dann Weinstubenpächterin, dann zweite Frau eines Münchner Szenewirts. Dessen unbändige Lebenslust hatte ihm einen frühen Tod beschert, seitdem stritt sie sich mit seinen Kindern aus erster Ehe um den Nachlass – die habgierigen Nichtsnutze. Die Zwei-Zimmer-Wohnung ihrer Mutter, Gott hab sie selig, in einem Mehrparteienhaus zwischen Keferstraße und Schwabinger Bach war alles, was ihr geblieben war. Und seit ihre Nichte ihr von AirBnB berichtet und sogar ein Konto für sie eingerichtet hatte, verdiente sich Frau Pfeil damit ein kleines Zubrot. Prozesskosten und so.
All das wussten Kris und ich bereits, da hatten wir es noch nicht mal die steinerne Treppe hinauf zum Hauseingang geschafft. Kris schrieb trotzdem alles mit, ihre Miene schmerzverzerrt. Die Angst, irgendein Fitzelchen an Information zu verpassen, das sich später eventuell als schlagender Beweis herausstellen könnte, war ihr nicht auszureden. Lieber ging sie in der Flut peinlich genau dokumentierter Nebensächlichkeiten unter, nirgendwo ein rettender Zusammenhang in Sicht. Meinetwegen, sie musste es wissen.
Wir kamen in ein typisches Vorhaus der 1950er Jahre. Eine Kommode mit dürren Topfpflanzen, ein schwarzes Brett, vollgepflastert mit Appellen und Warnungen vor Gasgeruch, nach oben ging's, eingehüllt in den Geruch von kaltem Bratfett, über knarrende Treppen mit Kunststoffscheuerleisten.
Eine willkommene Erinnerung an meine alte Wohnung in der Giesinger Alpenstraße. Seit ich zu Stefan nach Haidhausen gezogen war, hatte sich meine private Umgebung in ein Biedermeier aus Luxuskinderwagen, Häkelcafés und Reformhäusern verwandelt.
Ein vermummter Kriminaltechniker trug einen nagelneu aussehenden schwarzen Rollkoffer nach unten, erwiderte unseren Gruß mit einem lässigen Tippen an den imaginären Hut. Das Pfeifen auf seinen Lippen erstarb erst nach einem Blick auf meinen Dienstausweis.
Ob wir Donal McFaddens persönliche Gegenstände noch oben in der Wohnung sichten könnten?
»Nee, schon alles eingetütet, Frau Hauptkommissarin. Im Präsidium dann wieder.«
Dann ließ er uns frohgemut auf der Treppe stehen. Großartig. Ein klassischer Vertreter aus Königs Mannschaft. Viel Ego, wenig Umsicht.
Hinter mir hörte ich Marta Pfeil irgendwas über die »typischen Preußen« murmeln. Hoffentlich schrieb Kris alles mit.
Von der Schwelle zu Marta Pfeils Wohnung aus blickte man in eine andere Welt. Verpufft der Mief der Fünfziger, stattdessen moderner Landhauskitsch. Im Vorzimmer ein silberner Rokoko-Stuhl, bezogen mit königsblauem Samt, und ein Hirschgeweih als Garderobe. Hinter halbverglasten Doppeltüren dann das Wohnzimmer. Auf einer Chaiselongue drapierte Felldecken, abstrakte Interpretationen vom »Kini«, Ludwig II., an den Wänden. Ziemlich feudal das alles für ein notwendiges Zubrot. Ich erschnupperte dezenten Lavendelduft.
»Die McFaddens waren aber sehr saubere Gäste.«
»Daran ist die Aga schuld«, sagte Marta Pfeil entschieden. Sie entledigte sich ihres Lodenmantels, dessen Innenfutter eine Menge Kleintiere das Fell gekostet hatte, und fächelte sich mit der flachen Hand Luft zu. »Die Herrschaften wollten am Samstag abreisen, also hab ich sie für Sonntag bestellt. Und was macht die dumme Kuh? Räumt auf und putzt, anstatt mich anzurufen und Bescheid zu geben, dass was nicht stimmt. Dabei war der ganze Krempel von Herrn McFadden noch überall verteilt. Als ich am Sonntagabend hier reinkam, dachte ich, mich trifft der Schlag!«
»Und wo waren Sie am Wochenende, Frau Pfeil?«
Die Frage machte sie nervös, die kannte sie wahrscheinlich aus dem Tatort.
»In Bad Griesbach. Ich hatte ein Club-Turnier, Freitag bis Sonntag. Das kann ich beweisen.«
Kris und ich tauschten einen Blick aus. Wer so demonstrativ am Hungertuch nagte, spielte selbstverständlich auch Golf.
Endlich kam die Frau zum Wesentlichen: Donal McFadden hatte ihre Wohnung vor etwa sechs Wochen gebucht. Für eine Geschäftsreise, und danach wollte er noch ein paar Tage das schöne München genießen.
»Ein höchst charmanter Mann.« Marta Pfeil rollte mit ihren Glasmurmelaugen. Die Erinnerung an Donal McFadden entspannte ihr Gesicht. Aber nur kurz. »Von seiner Begleitung, ich glaub, das war seine Schwester, kann man das nicht behaupten. Bei der Schlüsselübergabe hat die mich nur angestarrt und kaum was gesagt. Hasserfüllt, sag ich Ihnen. Wie eine Hexe, mit diesen silbernen Haaren.«
»So wie auf diesem Foto hier?« Ich zeigte ihr ein Bild von Siobhan McFadden, das wir im Internet aufgetan hatten.
»Ja, genau so.«
Ich musste der Frau Recht geben. Siobhan McFadden war ein Opfer ihrer dunklen Augen und des ablehnenden Gesichtsausdrucks. Menschen waren schon für weniger in Untersuchungshaft gelandet.
»Sonst irgendwas, das Ihnen an den beiden aufgefallen ist?«
Nein. Marta Pfeil sei auf dem Weg zu einem Gerichtstermin und in Eile gewesen. Sie habe sich erst wieder über ihre Gäste Gedanken gemacht, als sie bei ihrer Rückkehr Sonntagabend den Zustand der Wohnung hatte prüfen wollen und dabei auf Donal McFaddens notdürftig zusammengeschobenes Reisegepäck im Schlafzimmer gestoßen sei. Ihre Anrufe bei seiner Kontaktnummer waren vergeblich geblieben, und so hatte sie am Montagmorgen bei AirBnB nachgefragt und auf deren Rat hin die Polizei informiert.
Und hier waren wir.
Wir schickten die Vermieterin zurück nach unten und machten uns bereit für die Wohnungsbegutachtung. Kris, die Streberin, hatte alles in doppelter Ausfertigung dabei. Überschuhe, Einweghandschuhe, Mundschutz.
Unnötig, wie sich herausstellte.
Die Spurensicherungsparty war zu Ende, die Wohnung schon wieder geräumt. Im Schlafzimmer stießen wir auf einen letzten Kollegen, der seinen Koffer gerade zuschnappen ließ. Jung und trotz der Montur gutaussehend, wie die meisten der Königskinder. Und unglaublich lässig.