Harte Landung - Ellen Dunne - E-Book
SONDERANGEBOT

Harte Landung E-Book

Ellen Dunne

0,0
10,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Patsy Logan, 38, deutsch-irische Kommissarin beim Münchner LKA, ermittelt in einem angesagten Online-Unternehmen. Schnell zieht der Fall immer weitere Kreise, der mediale und interne Druck ist enorm. Und auch Patsys Privatleben gerät zunehmend in Schieflage …
Carolin Höller, Top-Managerin bei der erfolgreichen Online-Tauschbörse Skiller, hat alles: Musterkarriere. Musterehe. Musterkinder. Bis man sie unterhalb ihres Bürofensters tot auffindet. Schnell ist klar: Sie ist nicht freiwillig gesprungen. Immer tiefer gräbt sich Patsy in Carolins Leben und die Strukturen von Skiller, stößt auf Lügengebäude und hohle Fassaden. Erst recht, als man sie ins Skiller-Hauptquartier nach Dublin schickt. Ausgerechnet in die Stadt, um die sie seit dem Selbstmord ihres Vaters einen großen Bogen macht. Kein gutes Omen. Und prompt überschlagen sich die Dinge …
Harte Landung ist der Auftakt zu einer neuen Krimireihe um Hauptkommissarin Patsy Logan. Schlagfertig und eigensinnig liefert die »Frau der Stunde« Ergebnisse – mit klarem Verstand, trockenem Humor und einem Instinkt, der niemandem unheimlicher ist als ihr selbst.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 456

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Carolin Höller, Top-Managerin bei der erfolgreichen Online-Tauschbörse Skiller in München, hat alles: Musterkarriere. Musterehe. Musterkinder. Bis man sie unterhalb ihres Büro­fensters tot auffindet. Schnell ist klar: Sie ist nicht freiwillig gesprungen. Ein Skandal für das Vorzeigeunternehmen, der umgehend aus der Welt zu schaffen ist. Patsy Logan, 38, deutsch-irische Kommissarin bei der Münchner Kripo, soll rasch für Aufklärung sorgen. Und das, obwohl sie gerade mitten in einer handfesten Ehekrise steckt. Immer tiefer gräbt sie sich in Carolins Leben und die Strukturen von Skiller, stößt auf Lügengebäude und hohle Fassaden. Erst recht, als man sie ins Skiller-Hauptquartier nach Dublin schickt. Ausgerechnet in die Stadt, um die sie seit dem Selbstmord ihres Vaters einen großen Bogen macht. Und prompt überschlagen sich die Dinge …Harte Landung ist der Auftakt zu einer neuen Krimireihe um Hauptkommissarin Patsy Logan. Schlagfertig und eigensinnig, liefert die »Frau der Stunde« Ergebnisse – mit klarem Verstand, trockenem Humor und einem Instinkt, der niemandem unheimlicher ist als ihr selbst.

Ellen Dunne, 1977 nahe Salzburg geboren, arbeitete als Texterin in Werbeagenturen, danach bei Google im Europa-Hauptquartier in Dublin. Sie lebte in Berlin, München und Mexiko-Stadt, seit 2004 lebt sie in Dublin. Ellen Dunne ist online: www.ellen-dunne.comwww.facebook.com/ellendunne.autorin/twitter: thewriteplacesinstagram: ellendunneautorin

Ellen Dunne

Harte Landung

Ein Fall für Patsy Logan

Kriminalroman

Insel Verlag

Insel Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4588.

© Insel Verlag Berlin 2017Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Umschlagfoto: mauritius images, Mittenwald

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

eISBN 978-3-458-75192-2

www.suhrkamp.de

Für meine Familie, weil ihr mir auch von ferne immer nahe seid.

Und für Wolfgang, weil es diese Geschichte ohne dich gar nicht gäbe.

Harte Landung

München

18. bis 21. August

Wir wachsen mit jedem Tag und jeder neuen Aufgabe über uns selbst hinaus. Der Maßstab ist dabei nicht der Vergleich mit Leistungen, die andere erbracht haben, sondern ausschließlich das eigene, individuelle Potenzial sowie der Wille, dieses immer wieder aufs Neue zu erfüllen und weiterzuentwickeln.

Punkt 4 aus dem Skiller–Wertemanifest

»Fuck reality. Give me a life in the bubble, anytime.«

Anonymer Mitarbeiter

Carolin, am Abend

Es ist ihr Herz. Es schlägt zu schnell, zu flach. Etwas stimmt nicht damit. Wie auch? Nichts stimmt mehr. Überall schlechte Omen, düstere Vorzeichen. Schatten, die Gestalt annehmen und sich in Stellung bringen gegen sie.

Es gibt nur einen Weg. Den nach unten.

Nein! Sie braucht nur Luft. Sauerstoff.

In ihrem Brustkorb flattert es panisch. Sie wankt zum Fenster, öffnet es weit.

Luft. Sie braucht einen klaren Kopf, um all die ungebetenen Gedanken wieder daraus zu vertreiben. An Christian. An Hände, die sich in Hosentaschen zusammenballen wie muskulöse, haarlose Tiere. An Fäuste, die fliegen wollen, das Blut auf ihrer Zunge, Finger, die sich ins Fleisch ihrer Oberarme krallen.

Luft! Sie ringt nach Atem. Schließt die Augen, reißt sie wieder auf. Die Münchner Abendluft bringt keine Erleichterung, ist bleiern, unheilschwanger. Der Gedanke lässt sie laut auflachen, doch da ist kein Humor in ihrer Stimme, nur Hysterie. Sie sieht das Wetterleuchten hinter den Türmen der Frauenkirche. Dunkle Golems, die im Schutz der vorzeitig hereingebrochenen Dämmerung lauern. Unter ihr das dumpfe Stampfen von House-Musik. Stimmensalat auf der Terrasse zwei Stockwerke tiefer. Dieses Lachen, jung und unbeschwert. Dann das Knurren eines der Sicherheitsleute. Er treibt die Partygemeinde nach drinnen und schließt die Tür. Bloß keinen Ärger mit den Nachbarn.

Das Panzerglas tut seine Pflicht, Ruhe breitet sich aus. Unwillkommene Ruhe. Ihr Herzschlag steigert sich darin zu Trommelfeuer.

Die Luft hält ihr Versprechen nicht, kleidet ihre Lunge aus wie heißer Dampf. Sie stellt sich auf Zehenspitzen, lehnt sich weiter aus dem Fenster. Doch sie ist zu klein. Es bleibt stickig.

Ihr Büro ist jetzt fast vollständig in Dunkelheit getaucht, der Monitor ihres Computers längst im Stromsparmodus. Nur ein grüner Lichtpunkt pulsiert auf ihrem Schreibtisch. Eine neue Nachricht. Mitteilungen vom Ende der Welt. Der Rausch ist vorbei. Egal, welchen Weg sie jetzt geht, er führt nach unten.

In ihrem Brustkorb wird es eng.

Sie braucht Hilfe! Braucht sie Hilfe? Aber woher sollte die überhaupt kommen? Sie ist allein.

Stell dich nicht so an.

Panikattacken sind nichts Neues für sie. Einfach weiteratmen, dann wird es wieder. Wenn sie nur etwas mehr Luft bekäme.

Sie zieht einen der Stühle von ihrem Schreibtisch heran. Karges Design, edles Holz. Es knarrt unter ihren nackten Füßen. Der nächste Schritt, aufs Fensterbrett. Außer Atem klammert sie sich am Rahmen fest. Vor einem Jahr ist sie noch einen Halbmarathon gelaufen.

Jetzt lockt unter ihr der Abgrund. Zwei Altbaustockwerke bis auf Terrasse und Vordach, drei bis aufs Kopfsteinpflaster. Wie einfach es doch wäre, Ruhe zu finden.

Die Fenster des sanierten Altbaus sind hoch, ihr Scheitel reicht nicht einmal bis an den oberen Fensterrahmen. Ihr Kopf schwirrt. Es riecht nach Farbe. Die letzten Handwerker haben das Haus erst heute Vormittag verlassen.

Gierig saugt sie Luft ein, ihre Rippen ein engmaschiger Käfig, und schaut hinaus in das immer intensivere Wetterleuchten. Der Gewitterwind frischt weiter auf, lässt irgendwo ein Fenster in der Zugluft schlagen. Das Rauschen der Bäume, ihre Äste ächzen im Wind.

Das Donnergrollen kommt vom Stadtzentrum her, aus Richtung Osten. Dort hinten im Lehel, hinter sauber verputzten Fassaden kernsanierter Altbauten, liegen Fabian und Lia in ihren Betten. Hoffentlich ist Fabians Fieber wieder gesunken. Hoffentlich können die beiden schlafen. Gewitter sind noch etwas Neues und Furchterregendes für Lia, bringen sie jedes Mal zum Weinen. Warum ist sie nicht da, um ihre Kleine davor zu schützen?

Christian ist doch da.

Ihr Lächeln über den Gedanken an ihre Kinder bleibt im Ansatz stecken. Christian.

Die Dunkelheit in ihrem Rücken ballt sich. Ist jemand hier? In ihrem Büro?

Blödsinn. Reiß dich zusammen. Sie schüttelt den Kopf, reibt sich mit den Händen das Gesicht.

Dann ein Geräusch, das sie zusammenfahren lässt. Das Klicken einer Tür. So bereits hundertmal gehört an diesem Tag. Warum macht es ihr jetzt Angst?

Weil es jetzt einen guten Grund dafür gibt, Angst zu haben. Sie dreht sich um, sieht gerade noch, wie eine Gestalt aus dem Licht, das durch die Glastür auf den Boden fällt, in die Dunkelheit des Raumes schlüpft. Wer auch immer eben noch draußen auf dem Gang war, ist jetzt hier drin. Ein Schatten auf dem weißen Grund ihrer Bürowände. Sie erschrickt. Vor den glänzenden Zähnen. Den glitzernden Augen. Dem bekannten Gesicht. Was jetzt? Kämpfen oder fliehen?

Der Schatten macht einen Satz nach vorn, und ihr Herzschlag explodiert in ihrer Brust.

Frau der Stunde

1

Timing ist alles im Leben, Patsy! Nur ein kurzer Moment zu früh oder zu spät, und dein Leben ist ein anderes. Das hat mir mal ein kluger Mann gesagt.

Na gut, eigentlich war es Fergal, der Pächter des Fiddler’s Green Irish Pub an der Orleansstraße, und er hatte sich weniger auf das Leben im Allgemeinen und mehr auf das Einschenken eines perfekten Pints Guinness bezogen.

Fergal ist zwar nicht unbedingt klug, aber schlau. Zumindest war er das mal. Denn seit seine Vorliebe für perfekte Pints überhandgenommen hat, vom Whiskey gar nicht zu sprechen, geht es ziemlich abwärts mit ihm.

Aber damals, in den frühen Neunzigern, war ich gerade mal ein Teenager, Fergal immer wieder mal der Boss meines Vaters und mein Vater noch mein Held. Da konnte man mich mit so einem Spruch mächtig beeindrucken.

Lange her. Genau genommen fünfundzwanzig Jahre. Mein Vater ist inzwischen kein Held mehr, sondern tot. Und Fergals Binsenweisheit? Zu Recht in Vergessenheit geraten. Zumindest bis zu dem Morgen, an dem mich Konstantin anrief und mir von einem Todesfall unter ungeklärten Umständen erzählte.

Konstantin Aigner und ich teilen eine lange Vorgeschichte. Polizeischule, Streife in der Maxvorstadt, dann zur Münchner Kripo, ins Dezernat 11 für vorsätzliche Tötungsdelikte. Vor drei Monaten wurde er befördert. Seitdem ist er mein Chef.

»Carolin Höller, einundvierzig, zweifache Mutter. Sie leitet das deutsche Büro von Skiller.«

»Du meinst die Tauschplattform?«, fragte ich in seine Effekt-Pause.

»Genau die.« Konstantin klang überrascht. Im Gegensatz zu ihm sprang ich meist erst spät auf abhebende Trends auf, wenn überhaupt. Doch um dem Namen Skiller zu entkommen, hätte ich die letzten Monate unter einem Stein verbringen müssen.

Auf skiller.com konnte jeder seine Fähigkeiten im Tausch für eine Gegenleistung anbieten: ein reparierter Wasserhahn für drei Stunden Bügeln; zwei Massagen für eine Stunde Ernährungsberatung. Bares Geld, Sex und ähnlich Anrüchiges waren nicht erlaubt. »Teilen statt zahlen«, jubelte es durch die Medien. »Die antikapitalistische Revolution aus dem Silicon Valley.« Und sie breitete sich aus. Investorengeld floss in Massen, auf allen Kontinenten wurden neue Niederlassungen eröffnet.

»Frau Höller ist gestern Nacht aus dem Fenster ihres Büros gestürzt. Wahrscheinlich freiwillig, aber gesehen hat’s natürlich keiner. Dafür haben wir viele Zeugen, die nur Englisch sprechen. Und eine sehr interessierte Presse. Ich weiß, heute ist eigentlich dein freier Tag, aber wir brauchen dringend eine zweisprachige Halb-Irin mit Autorität und Charme, die das mit links stemmt. Kennst du da jemanden?«

Dass Konstantin befördert und ich übergangen worden war, war ihm unangenehm. Vor allem in Situationen wie dieser, in der er mir nicht einfach einen Befehl erteilen konnte. Also tat er so, als säßen wir noch immer gemeinsam bei McDonald’s, wie damals nach unseren Nachtdiensten in der Maxvorstadt.

»Du bist die Frau der Stunde, Patsy Logan«, sagte er, weil ich nichts sagte. Ich konnte sein Grinsen vor mir sehen. So breit, es passte kaum durch die Leitung.

Genau in dem Moment fielen mir Fergal und sein Spruch wieder ein. Perfektes Timing, das konnte man laut sagen.

Stefan und ich saßen gerade in einem dieser hippen Cafés, die überall in München aus dem Boden schießen. Fräulein Adelheid oder Agatha oder irgendwas ähnlich Verzopftes. Immerhin klimatisiert. Nichts anderes half gegen die Hitze dieses welken Sommers.

Mein Mann starrte an mir vorbei ins Leere, während ich mit Konstantin telefonierte. Lustlos stocherte er mit der Gabel in den letzten Bröseln seines Zupfkuchens. Ein Wunder, dass er überhaupt Appetit hatte. Der erste Bissen meines Croissants steckte noch immer auf halbem Weg in meinen Magen fest, bewegte sich weder vor noch zurück.

Vor einer guten Stunde hatte uns Dr. Siegfried Wahlheimer, Eigentümer der gleichnamigen Kinderwunschklinik, für »primär steril« erklärt. Einen wirklichen Grund, warum unser Sex seit drei Jahren ohne Folgen blieb, konnte er uns nicht nennen. Alle Befunde waren unauffällig. Abgesehen von »unserem Alter« gäbe es keine eindeutig nachweisbare Ursache. So etwas käme vor, bei etwa zehn Prozent aller ungewollt kinderlosen Paare.

Das heißt, wir sind was Besonderes, hatte ich gesagt, nur damit das darauf folgende Schweigen wieder ein Ende hatte.

Dr. Wahlheimer – haarprächtig, dauerlächelnd, dynamisch wie ein Fondsmanager – hatte meine humorvolle Einstellung gelobt und einen ganzen Katalog von Behandlungsmöglichkeiten sowie die dazugehörigen Zahlungsoptionen präsentiert. Blablabla, während ich nur daran denken konnte, dass mich noch nie zuvor in meinem Leben jemand alt genannt hatte. Oder steril. Die Worte hingen wie Mühlsteine an mir, zogen mich unter Wasser in einen Abgrund, so tief, ich konnte den Grund Minuten später noch nicht mal erahnen.

Aber Patsy Logan wäre nicht Patsy Logan, hätte sie nicht sofort ihren Überlebensmodus angeknipst. Verständig nickte ich, als Dr. Wahlheimer uns mit grenzwertig vorwurfsvollem Ton zur Eile antrieb, mit vierzig respektive achtunddreißig wäre es kurz vor zwölf, unsere bisherige Geduld könnten wir uns nicht mehr leisten. Eine künstliche Befruchtung sei der einzige realistische Weg, doch noch rasch Nachwuchs zu zeugen.

Ich war die Souveränität in Person.

Ungewollt kinderlos? Preisgegeben dem einsamen Alter, einem Dasein, das keinerlei Spuren in dieser Welt hinterlässt? Also bitte, da hat man doch wahrlich Schlimmeres erlebt.

Bei der Verabschiedung machte ich noch eine launige Bemerkung, und Stefan, dieser beste aller Männer, die mir je passiert sind, schmunzelte sogar mir zuliebe, seine sanften Knopfaugen rot umrandet. In dem Augenblick war ich überzeugt: Egal, was passiert, wir sind auf einer Seite und werden eine gute Lösung finden. Hand in Hand.

Ganz schön naiv.

»Lass mich raten«, sagte Stefan, nachdem ich aufgelegt hatte. »Ein neuer Fall, und du bist die Frau der Stunde.«

Betont kontrolliert legte er die Gabel zurück auf den Teller.

Mein Mann erinnert mich manchmal an einen dieser Braunbären, die gemütlich durch die Gegend zotteln, nur um dann plötzlich loszusprinten und sich ein Schaf zu reißen.

Dass er diplomierter Psychologe ist, macht es nicht besser. Mit ihm zu diskutieren ist, wie mit einem Telepathen Poker zu spielen. Zum Glück bin ich ein Ass im Bluffen. Wahrscheinlich ist es das, was uns von Anfang an aneinander reizte.

»Du Hellseher«, sagte ich und lächelte. Stefan lächelte nicht. Ich versuchte einen zweiten Bissen von meinem Croissant. Diesmal rutschte es. Die Frau der Stunde zu sein, hat schon was. So viel besser als steril oder alt.

»Das heißt, du musst jetzt gehen?«

»Der Reitsamer und die anderen Spezialisten aus dem Dezernat sprechen Englisch wie Zehnjährige. Das muss ich übernehmen.«

»Wie praktisch.«

Ich ignorierte Stefans sarkastischen Unterton.

»Nicht praktisch, aber mein Job.«

»Du meinst Fluchtweg.«

»Na klar, wenn ich wählen kann zwischen einem Frühstück mit meinem Mann und einer Leiche, dann weiß ich natürlich sofort, was …«

»Es geht hier um unsere Zukunft, Patsy.«

Stefan wird selten laut. Seine Aggression ist kalt, müde vom ständigen Ringen um Verständnis für alles und jeden. Aber vor zwei Stunden, als wir unsere Wohnung in der Breisacher Straße verließen, hatte er noch zehn Jahre jünger ausgesehen.

Jetzt war Stefan ein Mann ohne Zukunft. Und niemand da, dem er die Schuld dafür geben konnte. Nur ich.

Ich nahm seine Hand, fast doppelt so groß wie meine und ganz klamm, und drückte sie.

»Zum Glück können wir etwas dagegen tun«, sagte er.

In mir rührte sich etwas Dunkles, so unerwartet und heftig, ich konnte nicht mal rechtzeitig den Mund zumachen.

»Wir ist ein bisschen übertrieben«, sagte ich durch ein hastig zusammengezimmertes Grinsen. »Du musst dir ein paar Pornohefte ansehen und Handbetrieb einlegen. Den ganzen Rest mit den Hormonen und all dem Scheiß muss ich machen.«

»Das heißt, du willst nicht?«

»Das heißt, ich muss darüber nachdenken.«

Ein verzweifelter und schockierend fieser Zug erschien um Stefans Mund. Man konnte ihn sogar durch seinen Wochenbart hindurch sehen.

»Ich dachte, wir wären uns einig, dass wir Kinder wollen«, flüsterte er.

»Ja, aber von Frankensteins Labor war bis vorhin nicht die Rede.«

Stefan schnaubte verächtlich.

»Ich verstehe.« Er entwand mir seine Hand und winkte die elfenhafte Kellnerin herbei. »Dann denk drüber nach. Falls nicht was Wichtigeres dazwischenkommt.«

Hätte er mir eine Ohrfeige verpasst, es wäre weniger schmerzhaft gewesen.

Ich überlegte, was ich tun sollte. Versuchen, unsere Krise zu ersticken, bevor sie atmen und sich zu voller Größe entfalten konnte? Oder lieber das, was ich meist ganz gut hinkriege: Ordnung in die aus den Fugen geratene Welt anderer Menschen bringen.

Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis ich mich entschieden hatte.

2

Von:Peter Brennan <[email protected]>

An: Team München <[email protected]>

Betreff:Wichtig: Skiller München heute geschlossen

Team,

wie einige von euch schon bemerkt haben, hat sich in unseren Büroräumlichkeiten am Herzogengraben ein tragischer Vorfall ereignet. Um die Arbeiten der Sicherheitskräfte vor Ort bestmöglich zu unterstützen, bleibt das Büro mit sofortiger Wirkung bis einschließlich Sonntag geschlossen.

All jene, die sich nicht schon vor Ort befinden, arbeiten bitte per VPN von zu Hause aus.

Wer sich bereits hier im Gebäude aufhält, den bitte ich um volle und professionelle Kooperation bei der Aufklärung der Ereignisse.

Die absolute Diskretion aller Skillerz setze ich voraus, vor allem hinsichtlich der kritischen Phase, in der sich unser Unternehmen im Augenblick befindet.

Im Sinne unserer Unternehmensleitlinie der Transparenz werden wir weitere Informationen teilen, sobald wir einen verifizierten Überblick über die Situation haben. Bis dahin, und aus Respekt vor den betroffenen Personen, bitte ich, von Spekulationen Abstand zu nehmen.

Bei dringenden Fragen wendet euch bitte an mich persönlich.

Danke, Peter

3

Vom Fräulein Soundso in der Rumfordstraße bis zum Fundort der Leiche am Herzogengraben sind es zu Fuß gerade mal zehn Minuten. Mit dem Auto braucht man doppelt so lange, vor allem an Freitagvormittagen. Und erst recht, wenn alle wie aufgeschreckte Hühner durch die Stadt flatterten, um den vorerst letzten Tag mit Bade- und Grillwetter zu nutzen. Für den späten Abend war ein Wetterumschwung vorhergesagt. Also nahm ich ein Taxi. So blieb mehr Zeit, Stefan zu vergessen, in meine Routine des Stehaufmännchens zu finden und mich auf den Fall vorzubereiten. Außerdem trug ich meine Miu Mius in Dunkelrot. Ein Wundermittel für ein verwundetes Ego, aber völlig ungeeignet für eine Welt abseits von Laufstegen und privaten Chauffeuren. Der Tag mit ihnen würde schmerzhaft genug werden. Gleich nach dem Einsteigen streifte ich sie ab und machte mich an die Recherche.

Auf dem News-Index von Google wimmelte es geradezu von aktueller Berichterstattung über Skiller.

Das meiste war internationale Presse. Es ging um das wuchernde Wachstum des 2010 im kalifornischen Silicon Valley gegründeten Unternehmens. Den Boom der sogenannten Sharing-Economy, einer Wirtschaft des Teilens, die seit der Finanzkrise auf einer Erfolgswelle ritt. Airbnb mache gastfreundliche Menschen zu Hotels, Uber mache jedermann zum Taxiunternehmen, und Skiller biete nun »Luxus für alle«.

»Jeder hat etwas Wertvolles zu bieten, was andere brauchen. Wir bringen die Menschen zueinander«, wurde unter einem Foto der beiden Unternehmensgründer zitiert. Brian Heffernan und David P. Shreve waren noch keine dreißig, mit den leicht aus den Fugen geratenen Gesichtern von Pubertierenden. Wie die Streber meiner Schulzeit. Götter in Mathe und Physik – unberührbar in den Pausen. Zurechtgeschobene Zahnreihen; linkisches Lächeln; Hände in den Taschen; Turnschuhe in Regenbogenfarben unter Cargo-Hosen.

Sie waren die Milliardäre von morgen. Einhörner. So nannte man in den Artikeln Jungunternehmen, die bereits vor Börsengang auf über eine Milliarde Dollar bewertet wurden. Achtzig Millionen Nutzer weltweit, fünftausend Mitarbeiter, sogenannte »Skillerz«, Niederlassungen in bisher fünfzehn Ländern. Tendenz stark steigend. Übernahmeangebote von Google und Microsoft in den Jahren 2012 und 2014 waren von den Gründern abgelehnt worden. Inzwischen wurde offen über den Zeitpunkt spekuliert, wann Skiller an die Börse ging.

Die meisten deutschen Artikel waren erst einen Tag alt und berichteten von der Eröffnung des neuen Skiller-Büros am Herzogengraben in München. Gestern Abend. Mit einer großen Party und den üblichen Verdächtigen an Bürgermeistern, Oberbürgermeistern und Wirtschaftsvertretern. Sogar Gründer David Shreve hätte auf seiner Europa-Rundreise einen Zwischenstopp im schönen München gemacht, um das jüngste und mit allem Komfort ausgestattete Büro zu besichtigen.

»Ein Spielplatz für die verwöhnte Mitarbeiter-Generation Y« konnte der zweifellos unterbezahlte Online-Redakteur des Münchner Abendblatts seinen Neid nicht im Zaum halten.

Ich konnte es kaum erwarten.

Um kurz nach zehn Uhr stieg ich am Herzogengraben aus dem Taxi, fand auf den ersten Blick aber nichts Bahnbrechendes vor: Altbau in typischer Dallmayr-Ästhetik in Altrosa und Weiß. Im Erdgeschoss eines jener Geschäfte, in dem es mehr Verkäufer gibt als Ware. Der lässig ins Schaufenster geworfene Pullover kostete mein halbes Monatsgehalt.

Gefährlich. Zu solchen Wahnsinnstaten bin ich durchaus fähig, vor allem an Tagen, die anfangen wie dieser.

Also folgte ich dem Pfeil auf einem diskret angebrachten Schild aus gebürstetem Metall um die Ecke, in eine Durchfahrt und weiter in einen schmucklosen Innenhof. Der Eingang ins Gebäude führte über einen vollverglasten Anbau. Der Empfangsbereich glich einer Oase. Warm, einladend und von indirekten Lichtquellen ausgeleuchtet.

Auf dem Dach des Anbaus war eine Terrassenlandschaft eingerichtet. Tische und Sitzmöbel aus Teakholz, Bambus in großen Pflanzkübeln und – war das zu fassen? – eine Bar im Tiki-Stil. Ich hörte mich leise seufzen angesichts der offenen Arme, mit der mich das Haus empfing. Eine perfekte Welt. Nur der schmutzig weiße mobile Sichtschutz der Kollegen von der Streife störte. Er spannte sich wie ein Bizeps zwischen den zusammengefalteten Schirmen. Carolin Höllers letzter Bodyguard. Zwei Stockwerke darüber ein offenes Fenster. Wahrscheinlich das Büro, von dem aus ihr letzter Weg nach unten geführt hatte. Wie? Gute Frage.

Die Fotos von der Google-Bildersuche hatten mir, wenn auch keine Schönheit, dann doch eine attraktive Frau präsentiert. Obwohl ihre Augen blassblau waren, ihre naturblonden Haare unspektakulär und ihr Lachen etwas zu zahnreich, ging eine mühelose Eleganz von Carolin Höller aus. Eine zuversichtliche Energie, die sich sogar über den Bildschirm meines Smartphones auf mich übertrug. Wie mitreißend musste sie erst auf ihre Mitarbeiter gewirkt haben? Was für ein Loch hinterließ ihr Tod in diesem Haus?

Auf dem Profilbild ihres Facebook-Accounts war sie mit zwei Kindern zu sehen gewesen – ein Neugeborenes im Arm und ein Kleinkind unbestimmten Geschlechts, das sich über das herzallerliebst schlafende Baby beugte und es auf die Stirn küsste. Alles in Schwarz-Weiß. Eines dieser Bilder aus dem Fotostudio. Niveauvoll und sichtbar teuer. Carolin Höller, engelsgleich. Die Frau, die alles hat. Irgendwo im Off lauerte sicher noch ein erfolgreicher Ehemann mit leicht angegrauten Schläfen und liebevollem Blick.

Es sei denn, er hatte seine Frau über die Klinge springen lassen. Ihr einen kleinen Schubs gegeben vielleicht, um der unerträglichen Perfektion ein Ende zu machen?

Ich schüttelte den Kopf, sperrte diesen Gedanken an denselben Ort zurück, wo ich schon das Gespräch mit Stefan hinverdrängt hatte. Zu all den anderen Bildern und Erinnerungen, die ich gerade nicht brauchen konnte. Meinen Dad zum Beispiel, wie er mit dem Gesicht nach unten auf einem Ozean treibt. Gesprungen. Geflogen. Zerschellt.

So wie Carolin Höller.

Ich lächelte beim Gedanken daran, dass sie meinem Dad da unten jetzt Gesellschaft leistete. Sie würde ihm gefallen.

Warum hast du nur so eine schwarze Seele?

Schwester Reinfrieda, meine Religionslehrerin, hatte mich das gefragt, nachdem ich im Kommunionsunterricht ein Jesuskind mit Teufelshörnern aus Plastilin geformt und damit alle zum Lachen gebracht hatte.

Ich habe noch immer keine Ahnung, warum. Aber ich weiß, dass es hilft.

4

Der Innenhof war mit Kopfsteinpflaster ausgelegt. Unmöglich, sich darauf würdevoll zu bewegen. Dem jungen Streifenpolizisten am Eingang schien es trotzdem zu gefallen. Beim Anblick meines Dienstausweises allerdings verschwand sein Lächeln, und er räusperte sich. So was bin ich gewohnt.

Falls es ein typisches Kripo-Gesicht gibt – ich habe es nicht. Hohe Absätze und ein Sommerkleid, das knapp über dem Knie endet, machen es nicht besser. Wie immer, wenn es um einen Fall ging, hatte mein Autopilot übernommen. So schnell wie möglich zum Ort des Geschehens. Über den Rest hatte ich mir herzlich wenig Gedanken gemacht. Auf meinen üblichen Hosenanzug zur Unterstreichung meiner Autorität musste ich also diesmal verzichten. Andererseits – unterschätzt zu werden ist in meinem Beruf nicht unbedingt ein Nachteil. Es sei denn, es geht um eine Beförderung.

»Bitte, Frau Hauptkommissarin.« Der uniformierte Kollege winkte mich durch eine behäbige Drehtür ins Innere von Skiller.

Was in unserem Präsidium in Grau, klinischem Weiß und grellem Gelb gestrichen ist, leuchtete hier in warmen Farben und Holz. Auf einem riesigen, in die Wand eingearbeiteten weißen Bildschirm schwebten die angenehm grünen Buchstaben des Skiller-Logos und schienen in Erwartung zu vibrieren. Tippte man einen der Buchstaben mit dem Finger an, öffnete sich ein virtuelles Feld mit Informationen zum Unternehmen.

Davor stand – sichtlich fasziniert – die Kollegin Meyerhofer in all ihrer burschikosen Stattlichkeit. Trotz der Hitze trug sie ein kariertes Flanellhemd, die Ärmel aufgekrempelt, die Hände in den Taschen ihrer weiten Jeans vergraben. Ihre magentaroten Haare hatte sie mit Gel in eine Art Nagelbrett verwandelt. Die gutmütigen Züge, das schiefe Lächeln und die traurigen Labradoraugen sieht man immer erst von vorne.

Seit zwei Wochen war Kris Meyerhofer in unserem Dezernat. Davor fünf Jahre Streife in Ramersdorf-Perlach. Das allein hatte ihr Respekt eingebracht. Außerdem trank sie Bier am liebsten im Maßkrug. Bei den Kollegen kam das natürlich gut an. Streberin. Andererseits, die Rolle der eigensinnigen Kratzbürste war schon vergeben. Als es darum ging, wer sich um Kris kümmert und zusieht, dass sie die ersten Monate bei der Mordkommission halbwegs gut übersteht, fiel das Los trotzdem auf mich.

»Patsy ist die beste Partnerin für unsere Frischlinge. Sie hat so was Mütterliches«, hatte der Kollege Reitsamer die Verlautbarung von Konstantin während der damaligen Montagsbesprechung kommentiert. Der Witz des Jahrhunderts, fanden die meisten. Ich lachte auch, nicht zu leise und nicht zu laut. Wer mit einem Rudel von Brüdern aufgewachsen ist, weiß, wie wichtig es ist, unverwundbar zu wirken.

Kris hörte die Ankunft meiner Schuhe und drehte sich um. Ihr Blick huschte an mir auf und ab. Einen irrationalen Augenblick lang war ich überzeugt, dass sie alles wusste. Über heute Morgen. Wie es mir ging. Doch sie schwieg, und ich war ihr dankbar dafür.

»Wartest du schon lange auf mich?«

»Nur ein paar Minuten. Du hast doch eigentlich frei heute, oder?«

»Ja, eigentlich.«

Kris hob die Schultern, unschlüssig, ob es hier etwas zu lächeln gab. Auch wenn ich ganz neutral schaue, machen meine Mundwinkel immer diesen komischen Knick, und dann sehe ich aus, als würde ich mich über etwas amüsieren, was meinem Gegenüber entgangen ist. Je nach Gegenüber sind meine Mundwinkel entweder meine Waffe oder mein Verderben.

Aber Kris war okay, und ich wollte sie nicht unnötig verunsichern. Das hier war ihre erste Tote bei der Mordkommission.

»Also junge Frau. Erzählen Sie mal.«

Sie nickte, als hätte ich sie soeben zur Tafel gerufen. Aus einer Klappentasche am Oberschenkel ihrer Hose zog sie einen Notizblock hervor. Eng beschrieben in karger Schrift, ohne Höhen und Tiefen.

»Also. Skiller ist schon zwei Jahre lang in München aktiv, um hier eine Niederlassung aufzubauen und den deutschen Markt in Angriff zu nehmen. Bisher waren sie aber sehr diskret unterwegs. Sie hatten temporäre Büroräume in der Karlstraße gemietet. Jetzt sind sie groß genug für was Repräsentativeres. Gestern war die offizielle Eröffnungsfeier. Das fing an mit einem …«, sie studierte ihre Notizen, » … einem Townhall Meeting mit Vertretern der Handelskammer und der Presse, sogar einer der Unternehmensgründer aus Amerika war hier, ein Typ namens Shreve. Das dauerte von sechs bis sieben. Danach gab’s eine Stunde, also bis acht, einen Empfang mit Buffet und Live-Musik von einem Jazzquartett, und als der offizielle Tross draußen war, kam noch ein DJ für die Mitarbeiter-Party. Der blieb bis Mitternacht, dann musste Schluss sein, weil sich sonst die Nachbarn wegen des Lärms beschweren.«

Großartig. Gestern Abend war also halb München durch dieses Gebäude getrampelt. Eine schöne Herausforderung für die Spurensicherung.

»Wo war diese Party?«

»In der Kantine im ersten Stock«, sagte sie. »Die ist der Wahnsinn. So was hab ich noch nie gesehen.«

»Warst du schon oben?« Ich war kurz davor, mich von Kris’ Effizienz beeindrucken zu lassen.

»Nein«, sie schüttelte verlegen den Kopf. »In der Zeitung heute waren Fotos. Das hier ist kein Büro, das ist …«, sie rollte mit den Augen, suchte nach Worten.

Dann erhellte sich ihre Miene. Sie zeigte auf ein großes Buchregal neben der Empfangstheke. Altholz, gefüllt mit gebrauchten Büchern jeder Größe und Güte.

Nimm eins. Gib eins. stand auf einem Schild.

»Solche Sachen zum Beispiel. Genial, oder? So eine Gemeinschaftsbibliothek sollten wir im Präsidium auch einführen. Und das hier erst recht!« Ihr leuchtender Blick wanderte ein paar Meter weiter, zu einem amerikanischen Kühlschrank im Stil der fünfziger Jahre. »Alles voll mit Getränken. Einfach so, gratis«, flüsterte sie ehrfürchtig.

»Wenn du Konstantin den Vorschlag machst, will ich dabei sein«, sagte ich. »Das wird ein Moment für die Ewigkeit.«

Kris runzelte die Stirn, lachte verwirrt. Sie hatte keine Ahnung, wovon ich redete.

»Kleiner Scherz. Er wird dir natürlich den Kopf dafür abreißen, was sonst? Und jetzt will ich die Kantine sehen.«

Kris hatte recht. Das Mitarbeiter-Restaurant von Skiller hatte nichts mit den Kantinen meiner Welt zu tun. Keine Spur von zerkochtem Brokkoli, aus Pulver angerührter Bratensoße oder grantigen Gesichtern an der Ausgabe.

Stattdessen der heimelige Charme von Flohmarktmöbeln. Kein Sessel sah aus wie der andere. Manche waren ganz simpel aus abgebeiztem Holz, andere bunt bemalt, wieder andere aus Spanplatten oder Plastikspritzgussteilen wie in den Fernsehserien aus den Siebzigern.

Es roch nach frischem Brot, Kaffee und etwas Gebratenem. Ein Buffettresen, wie man ihn sich von einem Fünfsternehotel erwartete. Brotkörbe, Warmhaltewannen, Samoware. Alle noch leer. Offensichtlich war man gerade dabei gewesen, das Frühstück für die Mitarbeiter vorzubereiten, als man Carolin Höllers Leiche gefunden hatte. Nur die vier säulenförmigen Spender mit geschmacksoptimiertem Wasser waren bereits gefüllt. Zitronengras, Minze-Limette, Erdbeer-Orange, Gurke.

»Mund zu«, sagte ich zu Kris. »Du schaust wie Alice im Wunderland.«

Sie klappte den Kiefer nach oben und lächelte wieder so verwirrt.

Ich seufzte. An meinen Humor würde sie sich schon noch gewöhnen, irgendwann.

Gegenüber dem Buffet lag eine Bühnenfläche mit einem Mikrofonständer. Darüber ein Banner: Willkommen zu Hause, Skillerz!

Regale voller Müsliriegel und Kaugummi, noch mehr Kühlschränke mit Getränken und dazwischen der Traum meiner Kindheit – eine original Wurlitzer Jukebox.

Ich ließ meine Finger über die Auswahltasten gleiten, über Billie Holiday, Doris Day, Johnny Cash, und entschied mich für »Beggin’« von Frankie Valli & The Four Seasons. Beobachtete das Karussell. Wartete auf den theatralischen Anfangsakkord.

Und mit einem Mal spürte ich sie. Gänsehaut. Die Anspannung hinter den fröhlichen Kulissen. Die lauernde Menschenleere. Die Ausläufer einer Gewalttat, die noch immer durch das Gebäude liefen wie Wellen über einen schwarzen Tümpel, in den ein Stein gefallen war. Wir waren hier nicht willkommen. Zwei Unheilsboten im Paradies.

»Komm«, sagte ich zu Kris, die mit glasigem Blick in die Ferne starrte. »Höchste Zeit für die Realität.«

5

Carolin Höller war viel kleiner und zierlicher als der Eindruck, den sie auf den Fotos hinterließ. Fast ihr gesamter Körper fand auf der Glasplatte eines der niedrigen Loungetische Platz, die, von gemütlichen Sofas umstellt, auf der Terrasse verteilt standen. Halb auf dem Rücken lag sie da, als wäre der Landeplatz extra für sie vorgesehen.

Ihr Kopf hatte es nicht ganz geschafft. Er hing noch am Hals, aber in einem ziemlich verstörenden Winkel über die Kante. Dasselbe bei ihrem rechten Arm knapp unter dem Ellenbogen und dem halben Schienbein derselben Seite. Alles hing zu Boden wie bei einer Marionette, deren Glieder sich in alle Richtungen biegen ließen. Der Gedanke an die Pinocchio-Serie aus meiner Kindheit streifte mich. »Die Welt ist groß, und du bist klein.«

Die Hose aus weißem Leinen und das schlichte T-Shirt in Zartrosa klebten nach dem Gewitterregen der vergangenen Nacht noch feucht an ihrem Körper, dazwischen Haut, die früher blass und jetzt wächsern war. Durch den leicht transparenten Hosenstoff sah es aus, als trage sie keinen Slip. An der Fußsohle ballte sich bereits das abgesunkene Blut, fast wie ein Schuh.

Mehr konnten wir von unserem Standort aus nicht erkennen. Die Kollegen von der Streife – ein hageres Männchen mit Knebelbart und sein geschätzt vierzehnjähriger Kollege – hatten sich kompromisslos gegeben und uns hinter die Glasfront der Kantine verbannt. Kein Betreten des Fundorts vor Ankunft der Spurensicherung. Die stand im Stau in der Frauenstraße. Bis dahin kein Zugang für niemanden. Punktum.

Die Frage war, wie viele Spuren es überhaupt zu sichern gab. Das gestrige Unwetter war noch vor Mitternacht losgebrochen, und auf Radio Charivari hatten sie heute Morgen von vollgelaufenen Kellern gesprochen. Kein Verbrecher verwischte Spuren so gründlich wie die Natur. Da war es fast schon egal, ob wir auch noch da draußen herumstolperten.

Aber meinetwegen, Vorschrift war Vorschrift. Und ein Teil von mir war froh über den Aufschub, Carolin Höller ins Gesicht sehen zu müssen.

Man sollte meinen, dass zehn Jahre bei der Kripo und fünf bei der Mordkommission reichen, um sich an den Anblick von Leichen zu gewöhnen. Aber nein.

Manche der Kollegen werden von ermordeten Kindern bis in den Schlaf verfolgt, andere können nicht mit Hirnaustritten umgehen oder mit Wasserleichen. Für mich sind es die zerschmetterten Körper von Gefallenen, egal ob freiwillig oder nicht. Mehr noch als grotesk verrenkte Gliedmaßen oder die breiige Konsistenz zerschlagener Schädel verfolgt mich ihre Symbolik bis in den Schlaf. Aus der Existenz gefallene Opfer der Schwerkraft, buchstäblich zerbrochen an der Welt. Stefan behauptet immer, solche Gedanken hätten mit meinem Dad zu tun. Andererseits wurde mein Dad nie gefunden. Nur was er zurückgelassen hatte, säuberlich abgelegt an den Klippen von Howth: Jacke, Schuhe, Abschiedsbriefe. Aber mein Mann ist der Psychologe, in seine Theorien mische ich mich nicht ein. Außerdem dachte ich gerade nicht gerne an Stefan.

Neben mir kritzelte Kris noch immer in ihrem Notizblock. Ihr Atem ging rascher und flacher als noch vorhin. War das ein Schweißfilm auf ihrer Oberlippe?

Sie hatte vielleicht in einem der schwierigeren Bezirke ihre Streifenjahre verbracht, aber hieß das auch, dass sie das Zeug für die Abgründe hatte, in denen wir herumstocherten? Oder war es nur das dicke Flanellhemd? Besser, wir fanden das früher raus als später.

Sachte klopfte ich an die Fensterscheibe direkt vor meiner Nase, formulierte ein lautloses »Danke« nach draußen. Der Knebelbart nickte, und die beiden Kollegen schoben den mobilen Sichtschutz wieder an seinen Platz.

»Was meinst du dazu?«, fragte ich Kris, nachdem wir uns von der Glasfront abgewandt hatten.

Sie schaute, als käme ihr ein schlechter Geruch in die Nase. Dass ich ihre Meinung hören wollte, schien ihr nicht geheuer. Aber ich war zu ausgelaugt für eine spitze Bemerkung. Und dabei war es erst halb zehn.

»Kein Report für den Untersuchungsrichter, einfach nur dein Eindruck.«

»Tja, also …« Sie blätterte hektisch in ihrem Notizblock, und ich schloss unwillkürlich die Augen. Ich liebe das Knistern von dicht beschriebenem Papier. »Also. Es sieht auf den ersten Blick nach Selbstmord aus. Aber ich bin mir nicht sicher, ob die Tote sich wirklich umgebracht hat.«

»Du bist aber schnell«, sagte ich, ohne die Augen zu öffnen. »Woraus schließt du das?«

»Sie sieht zwar aus, als hätte sie sich fallen lassen« – ein nervöses Räuspern –, »vielleicht hat aber auch jemand nachgeholfen.«

»Oder sie ist einfach gestürzt.«

»Da hätte sie die Arme und Beine viel weiter von sich gestreckt, oder nicht? Sie hätte beim Fallen mit den Armen gerudert.«

»Aber sie hatte keine Schuhe an. Ausgezogene Schuhe sprechen für Selbstmord.«

Ich konnte Kris’ Nervosität regelrecht hören. Ihre Gedanken. Ein leises hektisches Flüstern. Die prüft mich hier wie ein Schulmädchen. Der Reitsamer hat recht. Die Logan will mich scheitern sehen.

Ruckartig öffnete ich die Augen.

Die Stimme war weg, und Kris schaute ertappt. Jetzt war sie sicher überzeugt, dass ich Gedanken lesen konnte.

Das stimmt nicht ganz.

Ich höre sie bloß, ab und zu. Genauso, wie ich ab und zu Dinge sehe, die es gar nicht gibt, aber irgendwie doch. Sie Gespenster zu nennen wäre übertrieben. Und zum Lösen spektakulärer Fälle reicht es leider auch nicht. Meine Visionen, wenn man so will, suchen mich selten im richtigen Moment heim. Viel öfter im falschen und meistens überhaupt nicht. Aber immer sind sie ein schlechtes Zeichen. Dafür, dass etwas in mir schwach wird und durchlässig. So eine Fähigkeit macht sich weder gut im Lebenslauf noch als Gesprächsthema mit einem Ehemann, der Psychologe ist. Deshalb weiß niemand davon, und ich nenne es Intuition. Ist einfacher.

»Vielleicht hatte sie hohe Absätze an und wollte auf dem Fensterbrett einen besseren Stand haben?«

»Kann sein, aber was hätte sie da oben zu suchen gehabt, wenn sie nicht springen wollte?«

Kris blies die Backen auf und ließ langsam die Luft wieder aus ihnen entweichen, während sie nach einer plausiblen Erklärung suchte.

»Frische Luft schnappen?«, sagte sie dann.

»Gute Theorie. Die meisten Fälle haben die banalsten Hintergründe«, sagte ich nach einer kurzen Nachdenkpause.

Schon wieder errötete Kris. Diese Frau war echt Arbeit.

»Das meine ich ernst«, setzte ich nach. »Du hast gut beobachtet. Die Leiche sieht aus, als wäre sie schlaff nach unten gefallen. Das passt nicht zu einem Sprung aus dem Fenster. Und auch nicht ganz zu einem Sturz. Vielleicht war sie bewusstlos. Oder schon tot. Also spielt möglicherweise Fremdverschulden eine Rolle. Die Spurensicherung wird sich den Fallwinkel und die Liegeposition ansehen, dann wissen wir mehr. Außerdem war Carolin Höllers Büro im dritten Stock, hat der Kollege erwähnt. Die Preisfrage ist, ob jemand ernsthaft einen Selbstmord über zwei Stockwerke plant. Sechs Meter können zwar reichen, aber nicht mit Sicherheit. Wenn Carolin Höller sich wirklich das Leben nehmen wollte, stellt sich die Frage, warum sie so ein Risiko überhaupt eingeht.«

»Vielleicht wollte sie sich gar nicht umbringen und nur eine Botschaft an die Geschäftsleitung schicken?«, versuchte es Kris.

»Weil es zu wenig frische Brotsorten fürs Frühstück gab?«

Kris sah mich eine Ewigkeit verschwommen an, bis sie begriff und ein schuldbewusstes Lächeln zustande brachte.

Einen Augenblick überlegte ich, was für einen Morgen sie wohl hinter sich hatte. Andererseits – schlimmer als meiner konnte er nicht gewesen sein.

»Übrigens«, ich lächelte, ermutigend wie ich hoffte, »Lachen ist erlaubt. Aber nur unter meiner Aufsicht.«

Gerade, als sich Kris’ Mundwinkel tatsächlich in die Breite ziehen wollten, brach vor den Schwingtüren, die in den Kantinenbereich führten, ein Tumult aus. Trampeln, Klappern, kehlige Laute. Dann flogen die Türen auf. Sebastian alias Sebi Kramer. Er und sein Team liebten große Auftritte.

Im Paradies

1

Das Eintreffen der Spurensicherung verwandelte die vor sich hin dämmernde Kantine schlagartig in einen Ort geschäftiger Aktivität. Koffer wurden geöffnet. Einweganzüge entfaltet. Werkzeug klirrte. Latex-Handschuhe schnalzten. Und das war nur die Vorhut. Auf dem Fuße folgten Holger und Phillip, zwei junge Kollegen aus dem Dezernat, die Konstantin noch für die Zeugenbefragung mobilisiert hatte.

Und natürlich Dr. Harb, der Gerichtsmediziner. Wie immer sah er gestresst aus, seine Gesichtsfarbe besorgniserregend. Kein Wunder. Trotz des warmen Wetters hatte er sich in einen Dreiteiler mit Krawatte geschweißt. Dr. Raimund Harb war noch von der alten Schule.

Er brauchte eine Weile, bis er mich als die Verantwortliche identifizierte.

»Hauptkommissar Logan«, sagte er, sonst nichts. Ich stellte ihm Kris Meyerhofer als meine Partnerin vor, aber er schien sie kaum wahrzunehmen. Sein übliches Verhalten allen gegenüber, die es nicht mindestens bis zum Rang eines Oberkommissars gebracht hatten. Er schüttelte mir die Hand, höflich, doch nicht ohne eine gewisse Missbilligung. Sollte er.

Ich sah keinen Grund, mich zu erklären. Weder meine Kleidung, noch, dass ich eine Kommissarin war oder man meinen Namen englisch aussprach und nicht deutsch.

»Die Tote liegt auf der Terrasse. Aber die Kollegen von der Spurensicherung sind gerade erst gekommen. Sobald sie einen Überblick haben, sind Sie dran.«

Anstatt einer Antwort schnaubte Dr. Harb nur genervt, sah auf seine Uhr, das Lederband wie eine Würgeschlange um sein knochiges Handgelenk geschnürt.

»Und bitte nicht vergessen: Geben Sie Herrn Kramer noch einen Schuhabdruck von sich. Dann ersparen wir uns eventuelle Verdächtigungen.«

Zugegeben, das sagte ich nur, um ihm auf die Nerven zu gehen. Mein Verhältnis Ärzten gegenüber ist bestenfalls zwiespältig. Sie bringen schon seit meiner Kindheit nur schlechte Nachrichten. Und Dr. Wahlheimer hatte das heute Morgen nicht besser gemacht. Irgendeiner musste es jetzt ausbaden.

»Das versteht sich nach fünfundzwanzig Jahren im Dienst von selbst, Frau Hauptkommissar«, erwiderte Dr. Harb verlässlich pikiert.

Mit einem Kopfnicken nahm er seinen wie neu glänzenden Ärztekoffer wieder auf und ging hinüber in Richtung des Camps, das Sebi Kramer und seine Leute dort aufgebaut hatten.

2

Kris und die beiden zusätzlichen Kollegen aus dem Dezernat schickte ich ins obere Stockwerk. Dort hatten sich jene gut dreißig Skiller-Mitarbeiter versammelt, die sich bereits im Gebäude befanden, als die Leiche entdeckt worden war. Gemeinsam nahmen sie Aussagen im Akkord auf. Gewissenhaft, wie Kris war, erwartete ich nicht weniger als randvolle Notizblöcke.

Ich widmete mich derweil dem Küchenangestellten, der Carolin Höllers Leiche entdeckt hatte. Wir saßen in einem Bereich der Kantine, der wie ein Biergarten gestaltet war. Künstliche Buchsbäumchen in Pflanzkübeln. Picknickbänke. Wimpel in bayerischen Farben.

David Okafor aus Lagos, Nigeria, dreiundzwanzig Jahre alt. Er hatte die längsten Wimpern, die ich je gesehen hatte, und schaffte ansonsten das Kunststück, kindlich und intellektuell zugleich auszusehen. Er erklärte mir in dick akzentuiertem Englisch, dass er kein direkter Mitarbeiter von Skiller, sondern über einen Zeitarbeitsanbieter beschäftigt sei.

Er trug die schwarze Uniform der Küchenangestellten. Ständig rollte er seine Schildkappe zwischen den Handinnenflächen hin und her. Ansonsten wirkte er sehr gefasst für einen jungen Menschen, der vor Kurzem eine Leiche entdeckt hatte.

Gegen halb acht, als er mit Lappen und Eimer hinaus auf die Terrasse gegangen war, um die vom Gewitterregen nassen Möbel trocken zu wischen, war er auf sie gestoßen. Er habe sie sofort erkannt. Dass sie Carolin Höller hieß, erfuhr er allerdings erst von mir. Entrüstet zischte er, als ich mich als Mitglied der Mordkommission vorstellte.

»Mord? Dafür gibt es doch keinen Grund. Die Frau war eine der Nettesten hier!«, sagte er, nur um es gleich wieder zu bereuen. Nicht ohne Grund. Impulsive Aussagen wie diese liebe ich.

»Wer sind die weniger Netten hier?«

Sofort wirkte er alarmiert. »Sie verstehen das falsch. Alle sind sehr nett.«

»Was macht Carolin Höller besonders nett?«

Sein Blick war jetzt dunkel, der Unterkiefer angespannt. Wütend auf sich selbst, weil er mir die Tür einen Spaltbreit geöffnet hatte.

»Haben Sie öfter mit Carolin Höller gesprochen?«, versuchte ich es nach einer Schweigerunde nochmal.

»Nur einmal. Vor zwei Wochen ungefähr. Sie war oft schon vor den anderen im Büro. Da hat es sich ergeben.«

»Worüber haben Sie sich unterhalten?«

»Sie hat nach meinen Zukunftsplänen gefragt. War sehr interessiert und hat mich angespornt, mich hier zu bewerben, wenn ich mit dem Studium fertig bin und eine Aufenthaltsgenehmigung kriege. Mehr nicht.«

»Und, würden Sie gerne?«

»Klar. Alle wollen zu Skiller.«

»Man lebt wie im Paradies, nicht wahr?«

Er nickte eifrig, runzelte dann die Stirn. »Meistens, ja. Nicht immer.«

»Wann nicht? Wenn zu wenig zuckerfreier Kaugummi auf Vorrat ist?«

Jetzt lachte er, wie über eine absurde, aber wahre Geschichte. »So ähnlich. Manche Mitarbeiter nehmen sich zu viele Müsliriegel mit nach Hause. Darüber beschweren sich dann andere. Ist gegen die Kultur hier, wissen Sie?« Er verstummte, erinnerte sich an etwas anderes, weniger Heiteres.

»Welche anderen Dinge sind gegen die Kultur hier?«

»Na ja, ich …« Das Reiben seiner Hände gegen den Stoff seiner Schildkappe wurde lauter.

»Hatten Sie schon mal Probleme hier, David?«

»Ich? Nein, nie.«

»Wer dann?«

Ich studierte sein Gesicht, die unerhört langen Wimpern, die wie ein im Glas gefangenes Insekt flatterten.

»Ich will keinen Ärger, Miss Logan«, sagte er schließlich. »Ich habe so eine Erklärung unterschrieben, dass ich keine Informationen nach draußen …«

»David, schauen Sie. Es wird nicht besser, wenn Sie meine Ermittlungen verzögern. Im Gegenteil.«

Dunkel starrte David mich an. Suchte nach einem Zusammenhang zwischen meinen rot bemalten Lippen und meinem kalten Ton. Er war nicht der Erste, den dieser Widerspruch überrumpelte.

Eine Weile schwiegen wir gemeinsam. Durch die geöffneten Luftschlitze der Glaswände drang das arhythmische Klicken eines Fotoapparates von der Terrasse. Das Scharren von Schuhen, umhüllt von Einweganzügen. Sebi Kramers knappe Anweisungen. Eine gut geölte Maschinerie, ein Bollwerk aus Ordnung gegen das Chaos des gewaltsamen Todes.

»Anfang der Woche habe ich in einer der kleinen Teeküchen gearbeitet, die hier auf jedem Stockwerk sind.« David setzte sich seine Skiller-Kappe wieder auf. Nahm sie wieder ab. Sein Knie wippte. »Ein paar Mädels saßen dort. Tratschten so das Übliche, aber dann …«

In meinem Augenwinkel sah ich Sebi Kramer, der sich suchend in der Kantine umsah, mich entdeckte und auf mich zusteuerte. Er wollte seinen ersten Eindruck vom Fundort schildern. Ich zeigte ihm mit einer Geste an, noch zu warten. Bisher hatte der Fall Carolin Höller vor allem gepflegte Langeweile in nachhaltiger Umgebung versprochen. Gerade in diesem Augenblick schien sich das zu ändern. Den würde mir auch Sebi Kramer nicht ruinieren.

»Worum ging es, David?«

Ich lehnte mich nach vorne, er zurück.

»Sie … sie sprachen über einen Stalker.«

Jetzt war es raus. David entspannte sich wieder.

»Ein Stalker. Einer der Mitarbeiter?«

»Ich glaube schon. Alle schienen Bescheid zu wissen, so vom Ton her.«

»Und das war hier im Münchner Büro?«

»Weiß nicht. Sie haben alle deutsch miteinander gesprochen und ziemlich leise.« Die Erleichterung darüber, nicht mehr darüber zu wissen, ließ ihn schneller reden. »Aber das Wort Stalker haben sie öfter erwähnt. Und München und Dublin. Die Worte fielen mir auf, weil ich sie gut verstanden habe, im Gegensatz zum Rest.«

»Können Sie sich noch daran erinnern, wer bei dem Gespräch dabei war?«, fragte ich.

Entschlossen zur Lüge, schüttelte er den Kopf. »Die Frauen hier sehen alle gleich aus.«

Innerlich lächelte ich. David hatte Charme. Vom Haken lassen würde ich ihn trotzdem nicht. Kris Meyerhofer sollte später noch einmal die Bilder aller weiblichen Skillerz mit ihm durchgehen.

So was. Nun nannte ich sie auch schon Skillerz. Was immer es war, das hier in den Räumen arbeitete, es wirkte schnell.

3

Sebastian Kramer, Leiter der Spurensicherung. Oder auch Sebi von der SpuSi. So hat ihn der Kollege Reitsamer einmal getauft. Dass er sich den Kalauer auf ein Messingschild verewigen ließ, das seitdem gut sichtbar auf seinem Schreibtisch sitzt, sagt eigentlich schon alles über Sebi Kramer, was man wissen muss. Schmerzfrei. Bayrischer Showman vom Dienst. Aber auch der Beste in seinem Job. Am liebsten würde ich immer mit ihm zusammenarbeiten.

Sebi beendete gerade seinen zweiten Müsliriegel aus dem Skiller-Snackregal, als ich David entließ und zu ihm hinüberging.

»Ein Albtraum da draußen«, sagte er kauend, schlürfte Kaffee aus einer schweren Tontasse mit handgemaltem Skiller-Logo. Seine stets aufnahmebereiten Augen waren grau und hell, fast wie hintergrundbeleuchtet. Im Gegensatz zu seinem Team hatte er keinen der Einweganzüge übergezogen. »Der Doktor Harb ist jetzt bei ihr, aber eins kann ich schon sagen. Die liegt da schon seit mindestens sechs Stunden, falls nicht länger. Der ganze Fundort verwüstet vom Regen. Wir können froh sein, wenn wir nur einen einzigen Abdruck von irgendwas abnehmen können.«

So weit, so gewohnt. Das gehört zu Sebi Kramers Routine. Zuerst ein wenig rumjammern. Widrige Umstände. Versudelter Tatort, zu viele Erstversorger, die in besten Absichten potenzielle Beweismittel zerstört hatten. Und dann kamen Sebi Kramer und seine Mannen und retteten den Tag.

»Aber ihr habt sicher trotzdem ein paar verwertbare Spürchen, oder?«

Sebi lächelte listig. »Für dich legen wir uns natürlich besonders ins Zeug, Pezi.«

Der Name Patsy passt nicht in sein Urbayern-Konzept. Genauso wie die Tatsache, dass ich trotz einer Kindheit in Freilassing Hochdeutsch spreche. Über den Verrat war er Jahre nicht hinweggekommen. Aber Sebi Kramer ist eben so einer, dem man das verzeiht. Außerdem war er der Einzige bisher, der meinen für den Anlass unpassenden Aufzug weder kommentiert noch auffällig zur Kenntnis genommen hatte. So wenig reicht manchmal schon für meine Dankbarkeit.

»Wir haben bisher nur zwei Abdrücke, und die sind so frisch, die können nur entweder von den Kollegen oder vom Arzt stammen, der den Tod festgestellt hat.«

Ich trat von einem Fuß auf den anderen. Schmerz in den Zehen. Schmerz in den Ballen. Schmerz in den Fersen. Wann kamen denn endlich die guten Nachrichten?

»Wie schätzt du den Fallwinkel ein? Wie liegt sie? Glaubst du, sie ist gesprungen?«

»Wenn, dann nicht weit. Theoretisch ist es möglich, dass sie sich rücklings hat fallen lassen.« Sofort bemerkte er meine zweifelnde Miene. »Aber die meisten Selbstmörder springen, so weit sie können. Also unwahrscheinlich.«

»Was ist mit einem Abschiedsbrief?«

Sebi Kramer schüttelte den Kopf. »Hier unten haben wir nichts gefunden. Sie hatte aber auch nichts, wo sie ihn hätte reinstecken können, gell?«

Er griff sich den nächsten Müsliriegel aus dem Regal. Macadamia Delight.

»Also müssen wir weitersuchen?«, fragte ich.

»Sieht so aus. Im Moment könnte ich mich noch auf kein eindeutiges Urteil festlegen.«

»Und was sagt dein Gefühl?«

Er schaute irritiert. Schluckte. »Ich glaub nur, was ich seh. Du bist die Frau mit dem Instinkt, Pezi.«

»Na gut«, versuchte ich es seufzend noch einmal. »Was siehst du?«

»Mehr blaue Flecken als erwartet. Vor allem an den Oberarmen, aber auch an den Unterschenkeln zum Beispiel. Da gab es ein ziemliches Handgemenge, wenn du mich fragst. Aber das weiß der Doktor Harb sicher besser. Und ein Fingernagel ist ihr abgebrochen. Den dazu passenden Teil haben wir noch nicht gefunden, aber wenn ihn der Regen nicht weggespült hat, werden wir das noch. Hier oder oben im Büro.«

Vor meinem inneren Auge sah ich Carolin Höller. Im Kampf mit ihrem Mörder am offenen Fenster. Festgekrallt am Stuck des Mauersimses. Dann der Fall.

»Wir werden schauen, was wir unter ihren Nägeln so finden«, sagte Sebi. »Außerdem hatte sie eine ziemlich blutige Nase.«

»Vom Sturz?«

Er schüttelte den Kopf, sein babyspeckiges Gesicht unbesorgt bis heiter. Sebi Kramer mochte seinen Job. Fast ein bisschen zu sehr für meinen Geschmack.

»Sieht nicht gebrochen aus, wenn du das meinst. Nein, eher innen. Und um die Nasenflügel. Da waren eine Menge Krusten, recht frisch. Das konnte man schon fast von Weitem sehen.«

Drogen, schoss es mir durch den Kopf.

»Doktor Harb wird es noch für uns verifizieren«, sagte Sebi Kramer, der wahre Gedankenleser unter uns. »Aber für mich sah es nicht sehr legal aus.«

Höchstwahrscheinlich Kokain, dachte ich.

Sieh mal an, Carolin Höller. Schön langsam begann mich diese Frau zu interessieren.

Carolin, am Morgen

Sie weiß einen Moment lang nicht, ob es Nacht ist oder schon Tag. In letzter Zeit verschwimmen die Grenzen. Intensive Träume wechseln sich mit einer in flaues Licht getauchten Realität ab. Gesichter, schwerelos wie Ballons, tanzen vor ihr; wollen etwas von ihr; zerren an ihr. Es macht keinen Unterschied, zu welcher Zeit – Carolin muss always on sein. War sie auch. Früher. Jetzt ist sie manchmal on und always müde.

Eine Weile bleibt sie liegen, rührt sich nicht.

Dann hört sie Lia kichern und Fabians von Geburt an laut geratene Stimme sich beschweren, Christians morgenmüdes Schlurfen. Nackte Kinderfüße klatschen auf Altholzdielen, dann landet ein kleiner, nach Schlaf und Erdbeershampoo duftender Engel auf ihr, reißt ihr die Augenmaske vom Gesicht. Grelles Licht überflutet sie, blendet sie durch geschlossene Augenlider.

»Aufstehen, Mama!«, kräht es.

Carolin schlingt die Arme um Lia. Sie war von Anfang an ein Sonnenkind. Energetisch. Risikofreudig. Endlos neugierig. Noch immer macht sie sich jede Nacht auf ins Schlafzimmer ihrer Eltern, windet sich zwischen Carolin und Christian. Ein warmer Spaltpilz mit erstaunlich spitzen Knien und kräftigen Tritten. Trotzdem genießt Carolin die Anwesenheit ihrer Vierjährigen. Lange schon gibt es nichts mehr, wobei Lia ihre Eltern stören könnte.

»Mama, zu feeeest!«

Lia rudert mit den Armen, und Carolin gibt sie frei. Hört sie davongaloppieren in die Küche, zu Christian.

Er will ihr etwas Gesundes eintrichtern, komm, Kätzchen, nur ein Stück Apfel, danach gibt’s die Coco Pops.

Sie verweigert vehement.

»Wie die Mama«, seufzt Christian laut in der Küche.

Die Vorwürfe überwiegen immer öfter das Wohlwollen in letzter Zeit.

Dabei hat Carolin getan, was er wollte. Hat Irland und die Zeit, die sie dort hatten, losgelassen.

Frisch verheiratet, reitend auf dem Rücken des wild gewordenen keltischen Tigers. Der Rauschzustand, der sich nach zwölf, dreizehn, vierzehn Arbeitsstunden einstellt, dann noch gemeinsam mit den Kollegen ins Pub auf zwei Pints vor dem Nachhausegehen. Das Prickeln von Euphorie in der Brust, auf der Kopfhaut. Das Wissen, Teil von etwas Besonderem zu sein. Sie waren auf einer Seite gewesen, Christian und sie. Dann war die Krise gekommen und er stehen geblieben. Begann nach hinten zu schauen, und was er sah, war ein Opfer. Ein emotionaler Abgrund, in den er sie seitdem mit sich zu reißen droht.

Nein. Sie muss hoch. Weiter. Wälzt sich aus dem Bett, tappt über das knarrende Parkett.

Auf dem Weg ins Bad begegnet ihr Fabian. Ohne Worte kuschelt er sich an sie. Noch weint er jeden Tag um Oisin, Jack und Sophie aus der Schule. Er fühlt sich noch fremd im neuen Leben; genau wie seine Mutter.

»Hast du schon gegessen, Fabi?«

Er schüttelt den Kopf, reibt seine Rotznase in ihr Nachthemd.

»Na dann los, Papa wartet. In zwanzig Minuten fahren wir.«

Das Lehel ist keine Umgebung für Kinder. Wir werden umziehen, in ein Haus mit Garten. Sagt Christian, und Carolin schweigt dazu, denn der Gedanke an Reihenhäuser weckt das Grauen in ihr. Aber sie kann sich wenig Gegenwehr erlauben, denn sie ist das Familienmitglied, das am wenigsten Zeit zu Hause verbringt. Mal abgesehen vom Argument aller Argumente: Es ist das Beste für die Kinder. Genau wie der Umzug nach Deutschland. Das Schulsystem. Der Lebensstandard. Das Gesundheitssystem. Fünfzehn Jahre Irland sind genug. Na dann.

Während die Kinder noch frühstücken, arbeiten sich die Eltern durch die Tageslogistik. Wer bringt welches Kind wann wohin, holt es wieder ab? Es sind ähnlich viele Termine wie im Büro. Eine Parallelwelt aus Abgabefristen. Harte Deadlines, denn sonst riskiert man, die eigenen Kinder zu enttäuschen. Christian muss Fabian und Lia heute abholen, mit ihnen abendessen und sie ins Bett bringen. Sonst macht Carolin das, bevor sie mit dem Laptop auf der Couch noch bis zum Schlafengehen arbeitet.

Aber heute wird das Büro eröffnet. Sie wird nicht nach Hause kommen. Morgen wieder, da ist Freitag.

Dafür, dass sie es an achtzig Prozent der Tage schafft, Fabian abzuholen, hat sie mal einen »Golden Skiller« bekommen, eine Auszeichnung für Mitarbeiter, die sich als besonderes Vorbild über die Arbeit hinaus hervortun. Carolin sei ein leuchtendes Beispiel dafür, dass Familie und Karriere vereinbar seien, dass eine Work-Life-Balance auch auf Management-Ebene gelinge, hatte ihr Boss Peter Brennan vor versammelter Mannschaft den Award begründet und ihr ein Zertifikat, einen Bonus von fünfhundert Euro und einen Gutschein für den unternehmenseigenen Massage-Service überreicht. Inzwischen hat Carolin fünf von diesen Gutscheinen. Nie kommt sie dazu, sie einzulösen.

Im Bad hat sie noch genau acht Minuten für sich. Die Hälfte davon wird sie fürs Schminken brauchen, das Abdecken ihrer Augenringe. Heute kommt die Presse, und wer weiß, ob sie davor noch einmal dazu kommt, sich frischzumachen?

Derzeit hat sie neben dem Job als Head of Operations in München auch noch ihr Verkaufsteam in Dublin abzuwickeln. Dabei sind die ersten neunzig Tage in einer neuen Stellung die wichtigsten. Sechzig Tage hat sie noch vor sich. Und dann der IPO, der Börsengang von Skiller.

Noch dementieren alle, wiegeln ab. Doch inoffiziell ist es schon im September so weit. Diesmal gehört Carolin zum inneren Kreis. Die Aktienoptionspakete werden »großzügig« sein, wie Peter Brennan sich ausgedrückt hat. Carolin Höller, zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Sie sieht sich im Spiegel schwach lächeln. Verbreitert es zu etwas Herzeigbarem. Übt für den Tag, denn es wird ein Kampf an vielen Fronten.

Draußen hört sie, wie sich die Kinder fertig machen. Noch drei Minuten.

Sie öffnet ihren Teil des Spiegelschranks, holt die Packung Zahnseide hervor und steckt sie in die Hosentasche.

Christian kommt ins Bad, wühlt sich durch das Erste-Hilfe-Kästchen an der Wand. Wahrscheinlich sucht er nach Fabians Globuli. Seit ein paar Tagen rotzt der Junge in einer Tour. Er war schon immer so kränklich. Vielleicht, weil sie in der Schwangerschaft so viel gearbeitet hat. Das hatte ihre eigene Mutter schon vor Jahren gemutmaßt. Was für ein Blödsinn – in Irland arbeiten alle Frauen bis zwei Wochen vor der Geburt, hatte Carolin gekontert.

Heute denkt sie: Was bin ich bloß für eine Mutter?

Als sie sich Zahnpasta auf die Bürste quetscht, gibt ihr Christian plötzlich einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

»Gut siehst du aus, für den Stress, den du hast«, sagt er.

Das hat er schon lang nicht mehr gemacht. Wahrscheinlich fühlt er sich schuldig wegen ihres Streits gestern. Für das, was er ihr bisher noch nie an den Kopf geworfen hat.

In ihrem Mund breitet sich plötzlich ein widerwärtiger Geschmack aus. Ihr wird schlagartig übel, fast würgt es sie. Sie spuckt aus, spült hastig mit Wasser nach.

»Alles klar?«, fragt Christian zerstreut. Seine Konzentrationsfalten sind tiefer geworden seit seiner Krise. Doch sie stehen ihm.

»Diese Zahnpasta ist verdorben. Die schmeckt furchtbar.«