Unfollow Stella - Ellen Dunne - E-Book

Unfollow Stella E-Book

Ellen Dunne

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Beschreibung

Follower oder Verfolger: Die Suche nach einer Vermissten im stillgelegten Dublin führt Patsy Logan in die harte virtuelle Realität Patsy Logan sucht nach einem Neustart … und bald auch nach einer Vermissten Patsy Logan, Kriminalhauptkommissarin aus München, steht ein paar Monate vor ihrem 40er und ist frisch getrennt, in Dublin, in einer beruflichen sowie privaten Auszeit. Unschlüssig, wie sie das Chaos um ihren Neuanfang in den Griff bekommen soll, entschließt sie sich dazu, abzuwarten – und erst einmal gar nichts zu tun. Während ihre Gedanken immer wieder um ihre berufliche Zukunft kreisen, bietet sich der Fall der verschwundenen Stella als Ablenkung an. Sam Feuerstein, Polizeiattaché in der österreichischen Botschaft in Dublin, bittet Patsy um Hilfe bei der Suche nach der jungen Frau. Gemeinsam beginnen Patsy und Sam, die letzten Tage vor Stellas Verschwinden nachzuvollziehen. Tauchen tiefer ein in Stellas Doppelleben auf der Schattenseite der Sozialen Medien – und setzen dadurch eine Spirale immer bedrohlicherer Ereignisse in Gang. Dublin online und offline Die irische Hauptstadt mit ihren Gassen, Pubs und dem idyllischen Straßenbild ist ein absoluter Sehnsuchtsort – und Patsys alte Heimat. Auch Stella Schatz war vor ihrem Verschwinden dabei, auf der Insel heimisch zu werden. Die Ermittlungen von Patsy und Sam allerdings ergeben, dass Stella kürzlich eine neue Arbeit angetreten hat – in einer Agentur für Content-Prüfung, dort, wo sich die dunkelsten Abgründe der virtuellen Welt auftun. Welche Folgen das für den Menschen hinter den Bildschirmen haben kann, wird von Kapitel zu Kapitel deutlicher. Hat Stella im Netz etwas gesehen, was niemand sehen durfte? Hat ihr Job sie auf unbekannte und gefährliche Wege geführt? Ellen Dunne und ihre Patsy Logan: ein kriminalliterarisches Dreamteam Patsy Logan hat sich den Kopf an der gläsernen Decke gestoßen – und hat damit zu kämpfen. Doch nicht nur beruflich, sondern auch privat geht es drunter und drüber, der Mann hat sich eine Ältere gesucht, und was das mit dem Liebhaber werden soll … das weiß Patsy selbst auch nicht so genau. Wie gut, dass Patsy von ihrer Schöpfern Ellen Dunne jede Menge Entschlossenheit, Selbstironie und schwarzen Humor mitbekommen hat, sodass sie sich dennoch mit voller Energie in die Suche nach Stella stürzen kann …

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Seitenzahl: 317

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Ellen Dunne

Unfollow Stella

Ein neuer Fall für Patsy Logan

Ellen Dunne

Unfollow Stella

Meiner Mutter gewidmet, und den Menschen, die für uns alle hinsehen

Auf den ersten Blick ist das Mädchen auf dem Laptopbildschirm um die 18. Auf den zweiten Blick ist sie 13, vielleicht auch ein femininer Junge. Zwei zu einem X überkreuzte schwarze Klebestreifen ersetzen ein Oberteil und verdecken die kaum entwickelten Brustknospen. Schmale Hüften in goldenen Hotpants wiegen sich zum Reggaeton Beat, der vor ein paar Wochen viral ging. Das Make-up ist dick aufgetragen, künstliche Wimpernkränze flattern, Lippen spitzen sich.

Noch 28 Sekunden bis zum Target.

Ihr Twerking ist ungelenk, die Laszivität bemüht. Falsch. Sie lächelt, und es sieht aus wie eine verrutschende Maske. Dahinter – Angst? Gefallsucht? Verachtung?

Nicht mehr auszumachen. Die Kamera entfernt sich vom Bildschirm und wechselt in die Totale.

Noch 23 Sekunden.

Der Laptop steht auf einem Schreibtisch direkt vor einem zweiteiligen Fenster mit Oberlicht, durch das die Nacht hereinstarrt wie ein Voyeur. Nur der Bildschirm spendet Licht in wechselnden Schattierungen. Kurz spiegelt sich die filmende Person in der Scheibe, ein geisterhaftes, konzentriertes Gesicht ohne sofort erkennbares Geschlecht. Der Rest ein Schatten in Schwarz, der zur Seite tritt, bevor sich die Kamera endgültig vom Laptop ab- und einer zweiten Person zuwendet, die am Boden kniet, die Hände hinter dem Rücken. Über dem Kopf eine Kapuze, oder ein schwarzer Plastiksack, schwer zu sagen im Gegenlicht. Ein Verurteilter.

Der Reggaeton stampft noch lauter, nicht mehr aus dem Laptop, sondern aus unsichtbaren Boxen im Raum.

Noch 14 Sekunden bis zum Target.

Der Kopf des Verurteilten, höchstwahrscheinlich ein Mann, dreht sich mal hin, mal her, als wolle er sich orientieren, oder mit jemandem außerhalb des Bildes sprechen, aber da fallen sie schon über ihn her. Gestalten in Schwarz, vielleicht drei, nein, doch zwei. Sie schlagen, sie zerren, sie treten den Verurteilten unter dem mitleidlosen Auge der Kamera, während sich der Beat mit dumpfen, gerade noch als menschlich erkennbaren Lauten mischt. Ein Mensch wird zum Sandsack, bis er in sich zusammenfällt und krampfhaft zu den Füßen der Gestalten zuckt, die jetzt scheinbar von ihm ablassen und sich zum Gehen wenden. Da holt einer von ihnen noch einmal aus wie für einen Elfmeter, ein richtiger Hammerschuss wird das, aber anstatt eines Balles liegt da der Kopf des Verurteilten und – die Kamera schwenkt zurück auf den Laptopbildschirm.

Er ist schwarz.

Target um 12 Sekunden überschritten.

BrianMcK: Hey. Könnt ihr euch den Stream mal ansehen? Wurde wegen Kindersex gemeldet, hats aber in sich.

PolicyHelp: Live?

BrianMcK: Nein, war aber ziemlich lang online. Habs jetzt runtergenommen und schon eskaliert.

PolicyHelp: Wofür?

BrianMcK: Wofür nicht, ist die Frage. Das Mädchen ist doch sicher minderjährig. Aber das eigentliche Problem kommt ab 1:24. Eine Art Easter Egg.

PolicyHelp: Okay. Ich sehs jetzt.

BrianMcK: Und was meinst du? Schwer verletzt oder tot?

PolicyHelp: Gewalt mit Körperverletzung, würde ich sagen.

BrianMcK: Ich meine den Schluss. Wie der gegen den Kopf tritt, das kann doch keiner überleben.

PolicyHelp: Wahrscheinlich nicht, aber die Kamera dreht ab. Vielleicht kam es gar nicht zu dem Tritt.

BrianMcK: Es sieht aber nicht so aus. Wie der Schwung holt?

PolicyHelp: Schon klar. Trotzdem zählt für die Labels nicht, was wir vermuten, sondern was wir sehen.

BrianMcK: Also keine Körperverletzung mit Todesfolge.

PolicyHelp: Nein. Noch sind wir nicht die Polizei, wir kategorisieren nur Inhalte.

PolicyHelp: Brauchst du sonst noch was?

PolicyHelp: Bist du noch da? Kann ich den Chat schließen oder brauchst du noch Hilfe?

BrianMcK: Nein, sorry, war schon wieder an was anderem dran, danke.

PolicyHelp: Kein Problem! Aber mach lieber Pause. Oder ruf die Hotline an. Nach solchen krassen Sachen ist das besser. Hab diesen Job lang genug selbst gemacht.

BrianMcK: Später, bin schon ziemlich hinter Target heute.

PolicyHelp: I feel you.

(Chat geschlossen)

@KitCat an @LaStella:

Liebes – warum hör ich nichts von dir? Melde dich bitte asap. Keine Angst, wir werden alles regeln. Okay?

Sonntag,13. September

„All diese Blicke, die mich auffressen … Ha! Ihr seid nur zwei? Ich dachte, ihr wäret mehr. Also das ist die Hölle. Ich hätte es nie geglaubt … Wisst ihr noch: Schwefel, Scheiterhaufen, Rost … was für Albernheiten. Ein Rost ist gar nicht nötig, die Hölle, das sind die andern.“

(aus: „Geschlossene Gesellschaft“ von Jean-Paul Sartre, Übers. Traugott König)

Verlorene Töchter

1

Die Frau der Stunde hielt sich stets fern von der Irischen See. Zu viel Unberechenbares unter ihrer glatten, stahlgrauen Oberfläche. Zu viele Untiefen und Strömungen. Zu viele schlechte Erinnerungen an ihren Dad. Arthur Logan hatte sich eines Nachts im September 1993 von einer Klippe auf der Halbinsel Howth in ihre nasskalten Arme geworfen. Hinterließ nichts außer ein paar Schuhen am Abgrund und einem unter die Sohle geklemmten Abschiedsbrief. Früher oder später würde das Wasser ihn zurückgeben, trösteten die Nachbarn, die Freunde, und sogar die Polizei, nach einer zügig durchgeführten Untersuchung. Dann hätte seine Familie Gewissheit. Frieden. Aber die Irische See behielt Arthur Logan. Der Familie blieb nur die Sintflut.

Die Frau der Stunde wurde damals noch Patsy genannt. Sie war 15 und bis zum Überlaufen voll mit Wut. Auf das Meer. Auf sich selbst. Auf ihren Dad und seinen Brief. Wütend sein war aber nicht angesagt in den frühen 1990ern, schon gar nicht in Irland, und grundsätzlich undenkbar für Mädchen. Apathie war das Gefühl der Stunde. Here we are now, entertain us! Also schluckte sie die Wut runter, und sie schmeckte salzig. Sie zog sich zurück vom Meer und von Irland als zweitem Zuhause. Zurück an den Rand der Alpen, wo sie abseits der Ferien lebte, zu ihrer Mutter und ihrer alteingesessenen Familie im stadtgewordenen Grenzübergang Freilassing. Als sie auch dort unterzugehen drohte, flüchtete sie sich zur Polizei. Stülpte sich Struktur, Regeln und Prozesse über, verschrieb sich bei der Kripo der Suche nach Gewissheit. Gewissheit war der kleinste gemeinsame Nenner. Für die Hinterbliebenen von Ermordeten oder Totgeschlagenen und auch für die Täter. Erstaunlich viele von ihnen gestanden, nur um endlich Klarheit zu schaffen. Wenige ahnten, dass die Frau, die ihnen im Vernehmungsraum gegenübersaß, nicht viel mehr von ihnen trennte als eine Kunststofftischplatte und ein, zwei Entscheidungen, die im rosigen Licht der Rückschau vernünftig und klug aussahen. Aus der wütenden Patsy war Kriminalhauptkommissarin Patrizia Logan geworden, ihres Zeichens Frau der Stunde. Die mit dem Pokerface, dem Instinkt und den schwindelerregenden Aufklärungsraten. Die mit dem promovierten Psychologen als Ehemann, in dessen abgewetzten Jeanstaschen altes hanseatisches Geld klimperte. Und dann wollte er noch ein Kind von ihr! Die To-do-Liste eines als gelungen definierten Frauenlebens, check, check, check und check. Und das mit Mitte 30, nach einer Jugend auf der sozialen Achterbahn. Hell, yeah!

Inzwischen war ich 40. Eine Menge war passiert. Irland und die Vergangenheit hatten sich zurück in mein Leben geschlichen, zuerst mit einem Fall, dann mit noch einem, und noch einem. Alles brav gelöst, aber am Ende war auch die Frau der Stunde entlarvt. Als Kunstfigur, eine Hochstaplerin.

Übrig blieb: Patsy Logan. Eine Kriminalhauptkommissarin, ja, aber nicht mehr die, für die ich mich so lange gehalten hatte. Eine, deren Vorgesetzter ihren Bildungsurlaub etwas zu problemlos durchgewunken hatte. Eine, die anstatt in München bei der Kripo nun in Dublin bei ihrer Cousine rumsaß. Eine ohne Kind, und – jetzt neu! – ohne Mann, denn der hatte sich eine Ältere gesucht. Alle meine Gewissheiten waren mir abgerissen worden wie Orden. Degradiert zur Ex-Frau der Stunde.

Warum also nicht auch die Mörderin meines Dads zum Duell herausfordern?, hatte ich mich vor ein paar Monaten gefragt und es einfach getan. Im Badeanzug, eingehüllt in flauschige Gänsehaut an einer verkrüppelten Einstiegsleiter in der kalten Januarluft stehen. Springen.

Die Irische See empfing mich mit eisigem Lächeln. Ein paar Minuten hatte sie mit mir gespielt, nicht so richtig gewusst, was anfangen mit dieser verlorenen Tochter, und mich dann ziehen lassen, schlotternd und mit am Felsen blutig geschlagenem Knie.

Seitdem kam ich immer wieder zurück. Als Patsy Logan, nicht mehr. Als eine, die auf nichts mehr eine Antwort hatte. Was okay war. War man erst einmal in der Irischen See, spielten auch die Fragen keine Rolle mehr. Zumindest für ein paar Minuten. Zumindest bis zur Sache mit Stella Schatz.

2

Es fing so wie die meisten Dinge in meinem Leben an, die ich später bereue: harmlos, wenn nicht gar erfreulich. Mit einer neuen Nachricht frühmorgens von Sam Feurstein.

Er war Polizeiattaché und arbeitete seit Anfang des Jahres in der Österreichischen Botschaft in Dublin. Eine ruhige Kugel von einem Job, so hatte er sich das vorgestellt, mit ein bisschen Sicherheitsnetzwerk spinnen und sich auf diversen diplomatischen Empfängen guten Wein und Häppchen zuführen. Tatsächlich war aber gleich bei seinem ersten Empfang eine junge Deutsche vergiftet worden. Die Ermittlungen führten uns beide zusammen und zogen ziemlich weite Kreise, einige eher undiplomatische Konfrontationen und Eskalationen mit der irischen Polizei inklusive. Lag vor allem an mir, zugegeben, aber Sam nahm es sportlich, und eventuell verdanke ich ihm sogar mein Leben. Dafür verzieh ich ihm seinen Hang zum Schwimmen in lebensfeindlichen Gewässern, mit dem er mich infiziert hatte. Und wenn er mir Nachrichten schickte, weil er mich kurzfristig treffen wollte, dann traf ich ihn. Meinetwegen auch spontan an einem Sonntagmorgen und im Badeanzug.

Auf dem Weg nach draußen stolperte ich über Sinéad. Bademantel über dem Pyjama, eine Tasse Tee in den Händen, saß sie auf der Betontreppe vor dem Eingang ihres Hauses. Sah ihrem Corgi Fritz dabei zu, wie er nach und nach sämtliche Straßenlampen, Poller und Mauervorsprünge der Nachbarschaft zuerst beschnüffelte, dann sein Bein hob und sie zu seinem Eigentum erklärte. Außer uns zeigte sich nur die Sonne schon auf der Synge Street. Umschmeichelte die alten Backsteinhäuser mit ihrem Septemberlicht.

Eigentlich ließ sich meine Cousine auch unter der Woche kaum vor zehn außerhalb ihres Schlafzimmers blicken. Wenn doch, gab es nur zwei mögliche Erklärungen. Erstens, sie witterte Neuigkeiten. Zweitens, ein Mann lag länger in ihrem Bett, als er darin willkommen war.

„Happy Sunday.“ Meine frisch gebutterte Scheibe Toast zwischen den Zähnen, setzte ich mich zu ihr auf die Treppe, stellte meinen Rucksack mit den Schwimmsachen neben mir ab. „Hat dein Date das Memo noch nicht bekommen?“

Sinéad seufzte leidgeprüft.

„Übernachten gut und schön, aber nicht zu lange. Und schon gar kein Frühstück. Was daran ist so schwer zu verstehen?“

Seit dem Ende ihrer Ehe fuhr Sinéad eine strikte Wow-und-Ciao-Politik. Am langlebigsten an ihren Männergeschichten waren die absurden Stories, die sich aufgrund ihrer Vorliebe für Frösche, Nerds und Arschgeigen entspannen. Mit jeder Schilderung wurden ihre Ausflüge in die Tinder-Hölle amüsanter.

Es sei denn, es hatte wehgetan.

Dann schwieg sie sich aus. So wie über Sam. Mit dem hatte sie eine Beziehung mir nicht näher bekannter Natur gehabt. Vier Wochen, die ihr jetzt noch in den Knochen steckten.

Der Lockdown kam und sie erwähnte Sam nie mehr, reagierte mit vorgetäuschtem Desinteresse, wenn ich es tat, und war stets verhindert, wenn ich eine gemeinsame Unternehmung vorschlug. Irgendwann hatte ich verstanden und aufgegeben.

Das bedeutete aber nicht, dass ihr Sam-Detektor nicht mehr funktionierte. Besser, ich gestand gleich, dass ich mit ihm verabredet war.

„Um neun?“ Sinéad senkte den Becher mit ihrem Tee, machte ein Gesicht, als hätte sie sich die Zunge daran verbrannt. „An einem Sonntag? Spinnt der?“

„Angeblich ist das die beste Zeit. Mit der Flut und so. Wie du weißt, Meerschwimmen wurde offiziell zur Wissenschaft erklärt.“

Niemand verdrehte so schön theatralisch die Augen wie Sinéad.

„Aber auch nur von den Wichtigtuern und Bobos dieser Welt. Das Meer ist voll mit Abwasser und radioaktivem Abfall von den Briten drüben. Da waren wir 1992 auf der Demo gegen Sellafield, nur damit du jetzt bei diesem Hype mitmachst.“

„Sagt die Queen of TikTok.“

Ich lachte, schluckte den letzten Bissen Toast, während Sinéad mir den Mittelfinger zeigte. Aber liebevoll. Der Lockdown und die nach Ruhe und Zerstreuung suchenden Menschen hatten ihr einen unverhofften Aufschwung beschert. Als @DublinKarmaBitch gab sie schmalzige Lebensweisheiten von sich, peppte sie mit sorgsam eingestreuten Schimpfworten und rauem Norddubliner Charme auf. Dazu meditative Bilder vom schlummernden Fritz oder aus ihrem Garten. Der war nicht mehr als ein größenwahnsinniger Hinterhof, den Sinéad im Frühling mit meiner Hilfe in ein psychedelisches Blumenmeer verwandelt hatte. Seitdem liebten ihn die Leute. Sie liebten Fritz, und sie liebten vor allem Sinéad. Weltweit.

„200.000 Follower seit gestern.“ Sinéad lachte ungläubig und nahm ihren Corgi in Empfang, der inzwischen von seinem Rundgang angewackelt kam. „Freitagabend hat sich außerdem die Marketingabteilung von YogaMama gemeldet. Die verkaufen dieses Zeugs für Leute mit zu viel Geld. Nachhaltig, vegan, weiß der Kuckuck.“ Sie kraulte den hechelnden Fritz unter dem Kinn, rümpfte die Nase über seinen schlechten Atem. „Sie wollen eine bezahlte Kooperation machen, für mehr, als ich im letzten Quartal verdient habe.“

„Und hast du zugesagt?“

„Fuck, natürlich nicht.“ Sinéad schaute noch ungläubiger. „Euch Leute vom öffentlichen Dienst hab ich gern. Wer das erste Angebot annimmt, ist verdammt nochmal wirklich selbst schuld.“

Dafür liebte ich meine Cousine. Dass es mit ihr oft noch so wie damals war. Sie 17, ich fast 14, in unserem letzten gemeinsamen Sommer in Irland. Betrunken vom Buckfast-Starkwein. Die Logan Sisters, nannten sie uns alle. Obwohl wir außer den dunklen Haaren äußerlich nichts gemeinsam hatten. Dafür sah ich zu irisch aus, sie zu spanisch. Aber wir waren die einzigen Mädchen, die der Logan-Clan neben einem Bataillon von Jungs hervorgebracht hatte. Mit uns hatte man zu rechnen, und viele Jungs waren entsprechend eingeschüchtert.

Jetzt sah ich in Sinéads schmales Gesicht, in das sich ihr kompromisslos gelebtes Leben gemeißelt hatte, und dachte, wie wenig sich seit damals verändert hatte. Vielleicht waren wir dabei, einen Kreis zu schließen. Vielleicht war ich aber auch nur ein bisschen zu New Age drauf für so einen Sonntagmorgen.

„Ich muss. Das Meer ruft.“

„Na dann viel Spaß“, sagte Sinéad. Und Sekunden später, in ihrer heiseren Groupie-Stimme: „Aber wenn du radioaktiv verseucht wieder auftauchst, beschwer dich nicht bei mir!“

3

Sam hatte als Treffpunkt das Forty-Foot-Bad am südlichen Rockzipfel der Dublin Bay vorgeschlagen. Hier konnte man dank vieler Felsen und Buchten bei fastjedem Wetter relativ gefahrlos ins Wasser. Sams Dienstwohnung lag gleich um die Ecke in Sandycove, und ich hatte sowieso alle Zeit der Welt.

Ich war froh, mal rauszukommen aus der Stadt. Dublin war vom Lockdown gefällt worden wie ein Kokser von einer Herzattacke. Nach Monaten im künstlichen Tiefschlaf kam es nur langsam wieder zu sich. Noch immer hatte so ziemlich alles geschlossen, was Spaß machte. Wer konnte, drängte an die frische Luft. Und ans Meer.

Sandycove war für Dublin geworden, was Haidhausen für München schon lange war: eine schillernde Seifenblase voll gut situierter Menschen. Das Forty-Foot war ihr Planschbecken.

Schon um neun Uhr morgens war es entsprechend lebhaft. Früher ein Reservat für Hardcore-Meerschwimmer und allerlei kauzige Gestalten, hatten Tech-Boom und Lockdown eine Flut fit aussehender, gut verdienender Menschen angespült. Eingewickelt in teure Umzieh-Bademäntel kauften sie Take-away-Kaffee aus dem Laderaum eines Lieferautos, bildeten korrekt distanzierte Grüppchen und plauderten.

Sam Feurstein und sein sorgfältig zurechtgeschnipselter Vollbart passten ins Bild, und fielen doch aus dem Rahmen. Der Einzige mit nahöstlichem Aussehen. Der Einzige mit nacktem Oberkörper zum Radleroutfit, einer Ray Ban und einer Oversize-Dose Red Bull. Eine dieser Macker-Tendenzen, die er sich leistete, die man ihm aber verzieh, unter anderem, weil sich das Hinsehen bei ihm auch lohnte. Er saß auf einem niedrigen Mäuerchen, das die Straße von einem winzigen Sandstrand trennte, und winkte mir mit seiner Getränkedose zu. Sein angekettetes Rennrad stand in Sichtweite. Das dritte in sechs Monaten, und sah schon wieder so teuer aus. Sam glaubte noch immer, den Kampf gegen die Windmühlen der Dubliner Kleinkriminalität zu gewinnen.

„Frau Hauptkommissarin.“

„Herr Attaché.“

Ich setzte mich neben ihn, machte eine kurze Bestandsaufnahme von Sams Gesicht: ein paar Fältchen mehr, eine zusätzliche Prise Grau in den schwarzen Haaren. Kam der nicht gerade aus dem Urlaub? Sogar sein Lächeln sah nach Arbeit aus.

Wahrscheinlich gab es einen unguten Grund für unser Treffen, Sam fehlte nur noch der Mut, ihn mir zu sagen. Noch vor ein paar Monaten hätte ich ihn wahrscheinlich sofort mit diesem Gedanken konfrontiert. Inzwischen war ich milder geworden. Vor allem aber müder. Also entledigte ich mich meines Sweatshirts, der Sandalen, der Jeans, knotete meinen Pferdeschwanz in einen schwimmfreundlichen Dutt, während Sam erzählte.

Von den letzten beiden Wochen in Wien. Von seiner Ex Manu. Und von ihrer Tochter Hannah, die jetzt eingeschult wurde. Hannah, in der zwar keine Gene von Sam steckten, aber offenbar sein ganzes Herz. Hannah, die von der Bonustochter zur Hieb- und Stichwaffe geworden war, wann immer Sam für seine Verfehlungen bluten sollte.

Welche Verfehlungen das waren, blieb unerwähnt. Ich hatte da so eine Ahnung. Schließlich hatte sich meine Cousine Sinéad noch immer nicht ganz von ihrem Flirt mit ihm erholt.

„Sei froh, dass es bei dir und deinem Ex nur um euch geht.“ Sam zerknüllte zum Abschluss seines Berichts seine Dose. „Es sind immer die Kinder, die einem das Herz brechen.“

Ich wickelte mich fester in mein Handtuch, grub die Zehen in den feuchtkalten Sand, roch das Meer und verbrannte Kaffeebohnen, blinzelte in die Septembersonne. So ausgebrannt wie ich, die Arme.

„Keine Kinder brechen einem auch das Herz“, sagte ich.

Sam betrachtete mich mit einem schwer definierbaren Blick. Von Mitgefühl bis Fassungslosigkeit war alles drin. So ist das, wenn man selten über sein Innenleben spricht. Passiert es doch mal, wünschen sich alle, man hätte geschwiegen.

„Da sagst du was, Frau KHK.“ Sam rieb sich mit der Hand über Mund und Bart. Seine Füße patschten unruhig auf den Sand, während das Meer weiter in die kleine Bucht vorrückte, sich die Sonne hinter den frühherbstlichen Dunst zurückzog. „Es gibt da so eine Sache“, gab er sich endlich einen Ruck, „da bräuchte ich deinen Rat.“

„Meinen Rat?“

„Na gut, vielleicht ein bisschen mehr.“ Er zog sich Luft durch die Zähne. „Einen Gefallen.“

„Einen, bei dem ich wieder Ärger bekomme?“ Jetzt lachte er, der Herr Attaché, und schüttelte den Kopf, widersprach aber nicht. Wozu auch? Er wusste, dass mich Ärger meist nicht davon abhielt, mich einzumischen.

Und er wusste, dass mein Bildungsurlaub in eine Art Lähmung übergegangen war. Meinen Plan, meine Familiengeschichte und vor allem die Zeit rund um den Selbstmord meines Dads näher unter die Lupe zu nehmen, hatte ich nicht umgesetzt. Um genau zu sein, noch nicht mal in Angriff genommen. Stattdessen war ich zur Expertin in Sachen Schlafen, Netflix-Serien und Doomscrolling geworden. Driftete durch meine Tage wie durch eine unbekannte Stadt. Sams Nachricht war ein willkommener Wegweiser. Eine Richtung, in die ich gehen konnte.

Auch Sam hatte es nicht leicht gehabt auf seinem neuen Posten in Dublin. Zuerst ein Fall, in den er noch vor Antritt seiner Stelle verwickelt worden war. Dann keine Netzwerktreffen mehr, keine Vorstellungsrunden oder diplomatischen Events, in deren Rahmen er ein Netzwerk an Kontakten aufbauen konnte. Und Kontakte waren alles in diesem Job.

„Na gut“, sagte ich. „Aber zuerst mal schwimmen. Bevor es noch Winter wird.“

Und so gingen wir schwimmen. Pflügten und paddelten und schaukelten in den Wogen hin und her, kühlten uns bis tief in die Knochen, während mir Sam von einer jungen Frau namens Stella Schatz erzählte, die so wie ich einen Neuanfang in Dublin gesucht hatte und darin verschwunden war. Buchstäblich.

Sprachnachricht von Stella Schatz an Lino Schatz, am 19. Mai, 10:23 Uhr

„Heeey Brudi, hier kommt dein persönlicher StellaPodcast, live aus Dublin. Sorry, ich weiß, du digitaler Dino hasst ja Sprachnachrichten, aber was soll ich machen mit der blöden Zeitverschiebung? Immer bist du in irgendwelchen Calls oder du schläfst, oder ich glaub zumindest, du schläfst, irgendwann muss man ja mal damit anfangen. Und glaubs oder nicht, ich hab hier auch ein Leben. Also das heißt, ich arbeite wie ein Viech, haha, anders kann man das echt nicht nennen, außer dass man es einem Viech wahrscheinlich nicht zumuten kann, das, was ich hier jeden Tag sehe. Das Büro ist auch immer noch gesperrt. Wer weiß, wann wir wieder zurückdürfen. Du kennst das ja eh von euch in Singapur, aber ihr habt wenigstens ein bisschen mehr Platz in eurem Apartment. Du hast ja mein Zimmer auf den Bildern gesehen, eine Schuhschachtel hat mehr Platz. Wie man so einen Job den ganzen Tag da drin eingesperrt aushalten soll, das erklärt einem auch keiner. Breaking News: Weil es nicht geht, deshalb! Und meine WG ist auch nur so lala. Zumindest die, die noch da sind. Carlos, die treulose Tomate, ist zurück nach Spanien zu seinen Eltern und arbeitet von da. Kann das eh verstehen, da ist es warm und viel billiger, und wir zoomen ja auch manchmal, aber das war schon ein Schlag für mich. Floriane ist fast nur im Krankenhaus, die Leute da sind gerade wirklich die ärmsten Schweine, und wo Lorcan ist, weiß ich gar nicht. Ich hab ihn schon lang nicht mehr gesehen, vielleicht ist er ausgezogen. Wär mir eh egal, aber dafür wohnt jetzt Florianes Freund mit bei uns. Derek. Der hängt ungelogen den ganzen Tag auf der Couch und spielt Call of Duty und raucht sich ein. Wie alt ist der, 16? Na ja, angeblich war er früher bei einem der Clubs in der Stadt Tonmischer, aber da läuft ja im Augenblick gar nix mehr und er lebt von der Notfallstütze wahrscheinlich besser als je zuvor, haha, der wird nie mehr arbeiten wollen. Na ja, eigentlich könnte ich ja ausziehen, aber es war so anstrengend, in dieser Stadt eine ordentliche Wohnung zu bekommen, und auch wenn es gerade angeblich leichter ist, ich hab keine Lust drauf. Ich mag die Gegend ja eigentlich sehr und … wo war ich? Ich laber schon wieder so rum, oder? Aber ich war zu lange echt fucking einsam, kannst du dir wahrscheinlich eh vorstellen. Aber das sagst du jetzt nicht der Mama, gell? Sonst hat sie wieder alles von vornherein gewusst. Also, die alte Losung, wie immer: Alles super, alles g’schmeidig.

Aber eigentlich ist wirklich alles gut gerade, haha, oder sagen wirs mal so: viel besser, als es war. Mit ein paar Leuten von der Arbeit arbeite ich jetzt oft gemeinsam. Eigentlich dürften wir das ja nicht, aber who cares? Irgendwie muss man ja bei Verstand bleiben, oder? Eine Stadt ist eigentlich auch immer nur so gut wie die Leute, die man da kennt. Und Dublin hat was, muss ich sagen. Als Städtetrip, klar, da gefällt es allen, aber auch so als Ort zum Leben. Man beschwert sich und beschwert sich über alles Mögliche, und das stimmt eh, der öffentliche Verkehr kann überhaupt nix und alles sowas von überteuert, aber irgendwie schleicht sich die Stadt von hinten ran an einen, während man noch jammert, verstehst du? Und dann nimmt sie einen in den Schwitzkasten und lässt einen nicht mehr los. Haha, wahrscheinlich glaubst du, ich spinn. Na, kurz und gut, ich bleib hier jetzt einmal länger, egal was ist. Apropos Zeit, ohgottohgott, ich laber ohne Ende, wie viele Minuten sind es jetzt, waaas?! Schon über drei? Ich muss jetzt echt aufhören. Also, erzähl du. Wie gehts dir? Haltet ihr Mama noch aus, du und Priya? Oder habt ihr sie schon ins nächste Flugzeug gesetzt? Von Singapur kosten die Tickets gerade ein Vermögen, hab ich gehört, wenns überhaupt welche gibt. Pech gehabt, haha! Neeein, just kidding, sag liebe Grüße, okay? Also, ich wünsch dir was. War schön, mit dir zu plaudern, bist ein so guter Zuhörer geworden in letzter Zeit, haha. Bis bald und Bussi! Babaaa!“

Nachricht von Stella Schatz an Lino Schatz, am 8. Juni, 21:16 Uhr

Danke, geht eh gut! Grad recht stressig. Wie ist es bei euch?

Nachricht von Stella Schatz an Lino Schatz, am 23. Juli, 00:59 Uhr

Hab deinen Anruf verpasst, entschuldige. War geil, das Video, oder? Sonst alles gut, keine Sorge. Meld mich bald, grad viel los. xxx

Nachricht von Stella Schatz an Lino Schatz, am 5. September, 23:03 Uhr

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1

Was bisher geschah: Stella Schatz, 27 Jahre alt, abgeschlossenes Studium der Sozialwissenschaften und Journalistik. Zuerst Volontärin, dann Redaktionsassistenz bei einem monatlich erscheinenden Wirtschaftsmagazin namens BusinessClass. Sie hatte selbst Redakteurin werden wollen, wurde aber wie eine Sekretärin behandelt. Zwei Jahre lang ermunterte man sie, noch mehr zu lernen, noch mehr fürs etabliertere Redaktionskollegium zu recherchieren, die nächste freie Opportunity wäre die ihre. Nach zwei Jahren kündigte sie, zum Entsetzen ihrer Mutter.

Trat die Flucht nach vorne an. In Dublin hatte sie ein Semester lang am Trinity College studiert und noch ein paar Kontakte. Die boomende Online-Branche gierte nach Leuten mit Deutschkenntnissen, so war ein neuer Job schnell gefunden, als zweisprachige Content-Managerin in einer Online-Agentur. Neustart. Dann kam der Lockdown. Stella musste ihr Büro ins eigene Schlafzimmer verlegen.

Zuerst hatte Stella sich in die Situation gestürzt wie in ein Abenteuer. Hatte ihre Familie und den Freundeskreis in Wien über ihre Abenteuer in Form von Videos auf dem Laufenden gehalten. Brotbacken und Kochen mit ihrer WG, lange Spaziergänge durchs dystopisch menschenleere Dublin. Dazu launige Berichte zu den Online-Meetings mit digital weniger bewanderten Kunden der Agentur. Im Laufe des Frühlings verließ sie jedoch ihr Enthusiasmus. Immer seltener hielt sie Kontakt. Telefonate mit ihrer Mutter blieben freundlich, aber unverbindlich. Nur ihr älterer Bruder Lino, der mit seiner Familie in Singapur lebte, hörte noch regelmäßig von ihr. Meist in Form von Links zu Kurzvideos, Memes oder Artikeln, die er lesen sollte. Und manchmal in Form von Sprachnachrichten, in denen sie Lino mehr oder weniger tiefe Einblicke in ihren Alltag und ihr Innenleben bot. Weil sie dabei gerne ausuferte und von einem Gedanken zum nächsten sprang, hatte Lino sie Podcasts getauft. Der letzte davon war im Mai. Danach erzählte Stella kaum noch Längeres, beschränkte sich auf Links zu lustigen Videos, hin und wieder ein Foto aus Dublin und Deklarationen, wie beschäftigt sie war. Ihre letzte Nachricht an ihn war über eine Woche alt. Samstagabend, nach elf Uhr abends. Gelöscht. Danach nichts mehr. Linos Nachfragen gingen ins Leere. Die wenigen von Stellas langjährigen Freundinnen, von denen Lino noch wusste, hatten ebenfalls nichts von ihr gehört, die meisten schon seit längerem. Man war mit dem eigenen Leben beschäftigt.

Bei der österreichischen Polizei war er mit seiner Sorge an die irischen Kollegen verwiesen worden, bei der irischen Polizei geriet er sofort in Verlegenheit, weil er nicht einmal die Adresse seiner Schwester wusste. Man verwies ihn weiter an die österreichische Botschaft, die dank der pandemischen Zeiten vor allem von einem Tonband besetzt war. Das informierte über das derzeit nicht besetzte Konsulat, verwies auf eine Notrufnummer für dringende Fälle. Ein Reigen aus fehlender Zuständigkeit, der auf Sam Feursteins Schreibtisch endete. Oder besser gesagt, auf seinem Küchentisch.

2

„Und?“

„Und was?“

„Die Sprachnachricht.“ Sam sah mich an, dann wieder auf sein Handy. Es lag zwischen uns auf dem Tisch, über den wir uns beugten wie zwei Operateure. „Was hörst du?“

„Ich höre eine junge Frau, die gut drauf ist.“

„Ein bisschen zu gut drauf, oder?“

„Wie meinst du das?“

Ich liebte Sams Augenbrauen. Die verrieten ihn immer. Zwei buschige Grüße aus seinem Leben vor der Diplomatie. In dem ging es weniger um Fingerspitzengefühl, mehr um den effizienten Umgang mit Waffen und den kurzen Prozess mit Gewaltbereiten aller Arten.

„Die klingt doch total überdreht“, erklärte er mir das Offensichtliche. „Und hast du gehört, wie sie schnieft die ganze Zeit?“

Hatte ich gehört. Eine Nase im Dauerlauf. Stella Schatz, die ihrer Einsamkeit in der neuen Stadt mit Kokain beizukommen versuchte. Vielleicht einer Überdosis von irgendetwas zum Opfer gefallen war. Oder ihrer schlechten Gesellschaft. Die wird bei Drogen sehr schnell ein Teil des Deals. Eine verführerische Theorie. Aber.

„Da würde ich nicht zu viel reininterpretieren. Vielleicht hat sie irgendwas genommen, vielleicht ist es auch nur das irische Klima. Man rotzt hier doch das halbe Jahr lang vor sich hin, wenn man es nicht gewohnt ist.“ Ich trat vom Tisch zurück, bog meinen vom Nichtstun verspannten Rücken nach links, nach rechts. Vorsichtig, in der Küche von Sams Apartment konnte man sich kaum umdrehen, ohne an irgendetwas oder irgendjemanden zu stoßen. Aber die Aussicht war grandios. Vierter Stock. Gleich drei Leuchttürme auf einen Blick, und im Augenwinkel noch Dalkey Island. Sam hatte das staatlich finanzierte Mietbudget sichtbar ausgereizt. „Außerdem ist Stella Mitte 20“, sagte ich. „Da quillt man an den guten Tagen über vor Energie und Sexiness, auch ohne Drogen.“

„Warst du jemals ohne Drogen so gut drauf?“

„Nie.“

Ich schnitt Sam eine Grimasse. Er schnitt eine zurück. Gemeinsam betrachteten wir noch einmal das Handy auf dem Tisch. Es hatte uns alles gesagt, was es wusste, das Display erloschen.

Zeit für Kaffee (Sam), Tee (ich) und eine große Papiertüte voll süßem Gebäck, die Sam auf dem Rückweg vom Forty-Foot in einer Bäckerei um die Ecke besorgt hatte. Man begrüßte ihn da schon wie einen stillen Teilhaber. Sam schnappte sich eins der Mandelcroissants, bot mir auch eines an. Ich lehnte ab. Kam selten genug vor in den letzten Monaten. Der Hunger quengelte ständig an meinem Rockzipfel, seit ihn meine Arbeit nicht mehr stillte. Body positivity gut und schön, aber die endete für mich an der Grenze meiner gewohnten Kleidergröße. Jetzt waren wir beide jenseits der 40. Höchste Zeit für einen Fall, dann würde mir der Appetit schon wieder vergehen. Die Frage war nur: Auch wenn Stella Schatz’ Verschwinden sich zu einem Fall auswachsen sollte – was hatte meine Nase darin zu suchen? Für Vermisste gab es schließlich die Iren und ihre Garda Síochána.

Sam hörte meine unausgesprochene Frage, ließ sein zweites Frühstück sinken.

„Ich weiß schon, Frau Schatz ist Österreicherin, und du gehörst zu den Bayern und eigentlich hast du ja Auszeit.“ Jetzt klang er richtig besorgt. „Mein Problem ist: Ich bin selbst kein Ermittler, und bei den Iren habe ich noch keinen Kontakt bei den Kriminalern, der gut genug ist, um mir so einen Gefallen zu tun. Und auch wenn, die hätten kurzfristig gar keine Zeit, die haben genug zu tun, auch ohne irgendwelche besorgten Österreicher, die in Singapur sitzen.“

Dagegen hatte ich kein Argument. Offiziell war ich im K11 in München bis zum Jahresende im Bildungsurlaub. Seit dem unverhofften Fall gleich im Januar hatte ich schon länger nichts mehr aus meiner Abteilung gehört. Nicht von meinem Dezernatsleiter Konstantin, nicht von den Kollegen. Endlich Ruhe, hatte ich gedacht. Anfangs, zumindest. Inzwischen erschien sie mir verdächtig, diese Ruhe. Etwas Munition hatte ich trotzdem noch.

„Wozu brauchst du überhaupt Kriminaler? Bisher deutet doch nichts auf ein Verbrechen hin.“

„Lino versucht Stella seit Tagen zu erreichen. Und jetzt kommt er überhaupt nicht mehr durch. Wahrscheinlich ist der Akku von ihrem Handy leer. Sie könnte weiß Gott wo sein.“ Er bemerkte meinen Blick, kriegte sich wieder ein. „Lino stand Stella ziemlich nahe.“

„Er lebt aber in Singapur, oder? Und er weiß nicht mal ihre Adresse.“

„Na und?“ Sam schnaufte sich genervt Puderzucker auf sein T-Shirt. Eines dieser Touristen-Teile mit Guinness-Logo, aber der Mann konnte ja alles tragen. „Lino ist eben nervös und hat sie vergessen in dem Augenblick. Du hättest ihn hören sollen. Er geht vom Schlimmsten aus.“

„Ich habe Lino aber nicht gehört, das ist das Problem. Alles, was ich von der Familie Schatz weiß, kommt von dir, oder von dieser Sprachnachricht, die vielleicht Stellas letzte ist, so wie er behauptet, vielleicht aber auch nicht.“

Sam schluckte den letzten Bissen, wischte sich die Zuckerspuren von der Brust. Sein Lächeln war versalzen.

„Du bist richtig beliebt bei deinen Kollegen in München, oder?“

Autsch.

„Nur wegen der Aufklärungsquoten.“

Sam lachte und ich warf den Wasserkocher an. Angriff abgewehrt, wir waren wieder auf Kurs. Trotzdem. Er hatte mein Zögern gehört, die Delle in meiner Rüstung gesehen. Mir war immer egal gewesen, was man von mir hielt. Eine leichte Übung, solange alles halbwegs glattlief im Leben. Solange man lieferte. Und jetzt?

„Du wolltest meine professionelle Meinung“, sagte ich, während das Wasser im Kocher in Wallung kam,

„und hier ist sie: Vielleicht hat Lino Schatz einen guten Grund, besorgt zu sein, und Stella ist was Schlimmes zugestoßen. Aber allein von dieser, nennen wir sie mal vorsichtig unstrukturierten, Nachricht und deiner Erinnerung an Linos Aussage bei eurem Telefonat kann ich das unmöglich seriös beurteilen. Stella könnte einen sehr guten Grund haben, den Kontakt zu ihrer Familie abzubrechen. Ihre angeblich letzte Nachricht könnte älter sein, oder er könnte uns andere, weniger harmlose Nachrichten vorenthalten. Vielleicht ist sie ein fach eine gute Schauspielerin, oder Linos große Sorge ist nur vorgetäuscht. Immerhin ist er noch immer in Singapur, anstatt hier in Dublin Vermisstenanzeigen zu verteilen.“

Größtmöglicher Becher, Barry’s Gold Blend, genug Milch für ein helles Karamell. Aaah, schon besser. Nur Sam schaute beleidigt.

„Auch einen Tee?“

„Soll das ein Witz sein?“ Sam lebte von dunkelschwarzem Espresso. Tee misstraute er, vor allem, wenn er Milch enthielt. „Erstens“, sagte er: „Lino Schatz kann im Augenblick nicht weg aus Singapur. Wer in der aktuellen Situation das Land verlässt, riskiert seine Arbeitserlaubnis und kann nicht mehr zurück. Er hat eine junge Familie, sein Sohn ist erst ein paar Monate alt. Da verstehe ich, dass er lieber inoffizielle Mittel ausschöpft.“

Inoffizielle Mittel. Mein Instinkt für Ungereimtheiten unterbrach seinen Winterschlaf, öffnete ein Auge, schlummerte dann weiter. Draußen im Vorzimmer meldete sich mein Handy aus meiner Tasche, die ich dort abgestellt hatte. Verstummte wieder. Vielleicht Sinéad. Ich war länger bei Sam geblieben als gedacht, und sie spielte gerne die überbesorgte Mutter, die ich nie gehabt hatte.

„Was ist mit Stellas Eltern?“, fragte ich. „Von Österreich aus könnten sie zumindest über Amsterdam …“

„Dazu komme ich gerade. Also, zweitens: Der Vater ist vor zwei Jahren gestorben. Er war 85, Lino und Stella sind die Kinder aus dritter Ehe.“ Sam schlüpfte an mir vorbei zu seiner Kaffeemaschine. Eines dieser Teile, die eine mehrwöchige Ausbildung zum Barista notwendig machten, und eine Zwangsstörung, um sie auf Dauer sauber zu halten. „Stellas Mutter hängt auch in Singapur fest. Sie ist Ende Februar hingeflogen, um Lino und Priya nach der Geburt von Noa zu helfen. Erstes Enkelkind, du weißt schon.“

Wusste ich nicht. Aber Sams Recherche war gründlicher gewesen als gedacht, das musste ich ihm lassen.

„Jetzt sind sie zigtausende Kilometer von Irland entfernt und werden verrückt vor Sorge“, sagte er, während die Bohnen in der Kaffeemühle knirschten. „Diese Ungewissheit ist doch schrecklich, erst recht, wenn man am anderen Ende der Welt sitzt. Das muss ich doch gerade dir nicht erklären, oder?“

Sam sah mich an, seine Augenbrauen zwei Fragezeichen. Ein schlauer Move, mir mit dem Leiden der Familie von Verschwundenen zu kommen. Unfair vielleicht, aber schlau.

Natürlich kannte ich diese spezielle Art von Verrücktwerden. Die unbeantworteten Fragen, die sich Tag und Nacht in jeden anderen Gedanken brennen. Irgendwo gloste es noch, das Fegefeuer der Ungewissheit, als jede Nachfrage über meinen abgängigen Dad mit Kopfschütteln beantwortet wurde, jedes Klingeln des Telefons, jeder Passant vor dem Haus, ein Scharren vor der Tür einen Paukenschlag im Brustkorb auslöste, auf den nichts folgte, außer Enttäuschung und noch mehr Angst.

Sogar Dads dürftiger Abschiedsbrief hatte uns erleichtert. Jeden kleinen Hinweis auf seinen Selbstmord hatten wir uns gegriffen und daraus eine Erklärung gezimmert. Wackelig vielleicht, aber immer noch besser, als im Treibsand der Ohnmacht unterzugehen. Niemand verdiente das. Nicht die Familie Schatz, nicht ihre verlorene Tochter Stella.

„Hier gehts nicht nur um meinen Rat, oder?“, fragte ich.

Mit Nachdruck presste Sam das Kaffeepulver ins Sieb. Er schaute zufrieden mit sich aus. Lief alles nach Plan für ihn.

„Alles, was ich wissen will, ist: Geht es Stella Schatz gut und sie hat nur mal keine Lust auf Familie? Oder hat Lino Recht und es gibt genug Anlass zur Sorge, dass die irischen Kollegen aktiv werden müssen? Ohne viel Wind, wenn du weißt, was ich meine. Und ich wäre dir über die Maßen dankbar, wenn ich da auf deine Erfahrung zählen könnte. Oder muss ich noch auf die Knie gehen und betteln?“

Ich lachte durch die Nase. Sam und seine drei Klassiker. Schmeichelei, Charme, Schuldgefühle. Und dann war da noch mein Leben, das ich ihm wahrscheinlich verdankte.

Draußen hatte mein Handy wieder zu klingeln begonnen. Und mir fiel ein: Sinéad rief nie an, verschickte nur Instant-Nachrichten. Kam also nur das Dezernat infrage. Oder mein Ex-Mann. Auf beide konnte ich verzichten.

„Na gut“, sagte ich, als mein Telefon endlich die Klappe hielt. „Erstmal brauche ich ein Notizbuch, dann einen Stift, dann noch einen Tee, und dann nochmal Linos Geschichte. Alles, was er dir gesagt hat. Bringen wir mal auf den Tisch, was wir über Stella Schatz wissen, und dann sehen wir weiter.“

Tweet von @LaStella, am 5. April

Highlights von heute: keine Milch mehr im Kühlschrank. Im Corner Shop eine gekauft. The End.

Tweet von @LaStella, am 7. April

Sonst noch jemand süchtig nach diesen Videos, in denen sie in Super-Mikro-Nahaufnahme Pickel ausdrücken?

Tweet von @LaStella, am 8. April

Beneide gerade hart den fucking Kater der Nachbarn. Darf sich seit dem Lockdown offiziell weiter von seinem Zuhause wegbewegen als ich. Das Biest.

Tweet von @LaStella, am 8. April

Jaja, regt euch ab. Hab einen absolut tadellosen Track-Record als Katzenliebhaberin.

Tweet von @LaStella, am 9. April

Weil die Leute jetzt ständig mit Theorien um sich werfen, was und warum. Hab da noch eine: Gott hat das Schreiben unserer Geschichtsbücher an David Lynch ausgelagert.

Tweet von @LaStella, am 10. April

Hell is other people. Hell, yeah.

Die Hölle, das sind die anderen

Wir klemmten uns hinter Sams Küchentisch. Oder besser gesagt, vor allem ich klemmte. Sam dachte nicht gern im Sitzen. Selten blieb er länger als ein paar Minuten am selben Platz, telefonierte im Gehen noch einmal mit Lino Schatz, ließ ihn seine Geschichte von Stella und den letzten Kontakten mit ihr wiederholen, zog ihm alles aus der Nase, was es aus Sicht eines älteren Bruders zu wissen gab, von Stellas Adresse, die er sich inzwischen unter einem Vorwand von Stellas ahnungsloser Mutter besorgt hatte, bis zum Namen ihres neuen Arbeitgebers in Dublin, eine Werbeagentur namens Carat Interactive. Währenddessen warf ich mich ins Getümmel der sozialen Medien.

So tippten wir und scrollten, sortierten und gruppierten, konsumierten eine üble Menge an Süßgebäck (Sam) und Tee (ich), schauten hinaus auf die Dublin Bay. Ein riesiges Aquarium, in dem Containerschiffe ankerten, ein Schwarm Segeljollen eine Regatta veranstaltete, Fähren im Schneckentempo ein- und ausliefen. Bei jedem Hinsehen wechselte die Irische See ihr Outfit. Petrol wurde zu Aquamarin, verschwommenes Grau zur dunklen Androhung eines Schauers, der sich dann prompt abreagierte, bevor er unter dem Spott der Möwen wieder abzog in Richtung Isle of Man, den Fähren hinterher.