Schwarzwaldfrost - Sonja Kindler - E-Book

Schwarzwaldfrost E-Book

Sonja Kindler

0,0

Beschreibung

An einem frostigen Novembermorgen wird Adrian Hollstein, Mitinhaber einer Firma für Sicherheitstechnik, tot auf dem Parkplatz einer Reha-Klinik aufgefunden. Erschossen. Alles deutet auf Selbstmord hin. Doch warum ausgerechnet hier? Und warum steht der Kofferraum offen? Als herauskommt, dass zudem Adrians Ehefrau im Vorfeld entführt wurde, wird KHK Ines Sandner und ihrem Team schnell klar, dass der Fall Adrian Hollstein nicht so leicht zu den Akten gelegt werden kann.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 331

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Autorin

Sonja Kindler

wurde 1963 in Recklinghausen geboren, wuchs aber in Blumberg, einem Ort nahe der Schweizer Grenze auf, wo sie mit ihrer Familie lebt. Sie arbeitet als Schadensanalytikerin in einem metallverarbeitenden Betrieb. Das Bücherschreiben ist ein berufsausgleichendes Hobby für sie geworden. Bücher begleiteten sie bereits ihr Leben lang, was lag da näher, als sich die Geschichten selbst auszudenken? In ihren Romanen zeigt sie glaubwürdig auf, welche Motivationen letztendlich zu einem Verbrechen führen können.

Titel

Sonja Kindler

SCHWARZWALDFROST

Kriminalroman

Oertel+Spörer

Impressum

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2023

Postfach 16 42 · 72706 Reutlingen

Alle Rechte vorbehaltenTitelbild: © AdobeStock

Gestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, Reutlingen

Lektorat: Bernd Weiler

Korrektorat: Sabine Tochtermann

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-96555-158-9

Besuchen Sie unsere Homepage und informierenSie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

Für Reinhold

Prolog

Adrian saß in seinem weißen BMW X3 und starrte durch die Windschutzscheibe. Schemenhaft, wie einer fremden Welt entsprungen, waren die Bäume am Waldrand zu erkennen. Dabei betrug der Abstand zu ihnen weniger als zwanzig Meter. Selbst den frostüberzogenen Waldweg konnte er nur mit Mühe ausmachen. Nebel und Dunkelheit verschluckten fast alles wie ein tiefes, schwarzes Loch im All. Aus diesem Grund war auch die Rehaklinik Sonnhalde nicht zu erkennen, obwohl diese nur ein paar Hundert Meter von ihm entfernt in tiefem, nächtlichem Dornröschenschlaf lag.

Er zog den Reißverschluss seiner dunkelblauen Wolfskin-Jacke höher, weil er fror. Nicht das Wetter war schuld daran. Es lag eher an dieser inneren Kälte, die ihn umgab.

Alles in seinem Leben war gründlich schiefgelaufen. Der Gerichtsvollzieher stand schon in den Startlöchern und scharrte mit den Hufen. Seine Frau betrog ihn regelmäßig und glaubte doch wahrhaftig, er würde das nicht mitbekommen. Und dann gab es noch seinen Schwiegervater, einen Patriarchen wie aus dem Bilderbuch. Nichts konnte er ihm recht machen. Das lag zum Teil auch daran, dass Adrian es vorgezogen hatte, seine eigene kleine Firma zu gründen, anstatt in das Firmenimperium seines Schwiegervaters mit einzusteigen. Adrian wollte lieber sein eigener Herr sein, keine Anweisungen von anderen entgegennehmen müssen. Nicht buckeln und gegen seine Grundsätze verstoßen, nur damit der Familienfrieden gewahrt blieb.

Nun, wenn er jetzt zurücksah, alles gute Gründe und er würde es heute vermutlich genauso machen. Doch er hatte es verkackt, gründlich. Nicht wieder umkehrbar. Eine neue Chance gab es nicht.

Während er den Kragen der Jacke aufstellte, warf er einen Blick in den Rückspiegel. Hellblaue, jedoch völlig glanzlose Augen, müde und von tiefen Schatten umgeben, starrten ihn an. Gedankenverloren strich er mit der Hand über die Haare. Obwohl erst fünfunddreißig, zeigten sich bereits die ersten Silberfäden in dem gewellten und ansonsten pechschwarzen Haar. Früher war er immer stolz auf seine Haare gewesen. Stolz auf seinen gut durchtrainierten Körper, die leicht gebräunte Haut, was ihm nicht selten bewundernde Blicke einbrachte. Auch Cynthia hatte dazugehört und schließlich sein Herz erobert. Doch das spielte jetzt alles keine Rolle mehr. Er schaute auf die Citizen an seinem Handgelenk, einem Geschenk seiner Frau. Noch fünf Minuten. Schade, dass er ihr Gesicht würde nicht mehr sehen können, wenn sie die Nachricht erreichte. Ein schiefes Lächeln umspielte seinen Mund.

Schon bevor sich die Scheinwerfer eines näherkommenden Wagens durch Nebel und Dunkelheit fraßen, hörte Adrian das Knirschen der Reifen auf dem kalten und mit Streusalz bedecktem Asphalt. Kurzzeitig schützte er mit dem Handrücken die Augen, als ihn das Licht des Autos beim Einscheren in den Parkplatz neben ihm streifte.

Showtime, spornte er sich an und stieg aus, nahezu gleichzeitig mit dem Fahrer des anderen Wagens, der sofort auf ihn losstürmte.

»Hey Mann, hat alles geklappt?«, wollte dieser von ihm wissen, wobei kleine Dampfwölkchen seinem Mund entwichen. Dunkel gekräuseltes Haar lugte frech unter dem Rand einer Pudelmütze hervor und schwang im Rhythmus seiner Schritte mit. Auch wenn die dick gefütterte Steppjacke seinen Körper umschloss, zeigte die Art und Weise, wie er sich auf Adrian zubewegte, dass Sport für ihn kein Fremdwort zu sein schien.

Adrian lief um den SUV herum und nickte.

»Wie ich dir vorausgesagt habe, Sascha. Kein Problem«, antwortete er völlig ruhig.

»Du meinst, der Alte hat tatsächlich bezahlt?« Ungläubig riss der Mann in Adrians Alter die Augen auf. Nervös die Hände knetend, starrte er in Richtung Heckklappe des weißen SUVs.

»Ja, volle zwei Millionen.«

»Boah, ich kann’s kaum glauben. Und du verarschst mich jetzt echt nicht?« Ohne es zu merken, wischte er sich übers Gesicht und kaute leicht auf der Lippe herum, so, als hätte er Angst, doch nur zu träumen.

»Nein. Kein Fake. Und alles in 50-Euro-Scheinen. Wenn du deinen Kofferraum öffnest, bring ich die Tasche mit deinem Anteil. Sie steht hinten in meinem Wagen. Ist aber ganz schön schwer.«

Diese Bemerkung zauberte ein breites Grinsen in das Gesicht des Anderen. Adrian schleppte die dunkelblaue, fast zwanzig Kilo schwere Adidas-Sporttasche zum Auto seines Kumpels und ließ sie schwer atmend in den Kofferraum plumpsen. Er zog den Reißverschluss auf. Was für ein Anblick. Bündel für Bündel war akkurat in die Tasche gestapelt worden. Gierig griff Sascha hinein, streichelte liebevoll über die Geldscheine. Mit glänzenden Augen leckte er sich über die Lippen. Schließlich nahm er ein Bündel in seine Hände. Wie ein Daumenkino glitten die Scheine durch seine Finger. Doch irgendetwas machte ihn stutzig. Er schaute genauer hin, riss die Banderole ab und blätterte die Scheine auseinander. Sein Gesichtsausdruck wurde zusehends grimmiger. Den Mund verkniffen, die Augenbrauen zusammengezogen, konnte er seine Wut kaum noch verbergen. In hohem Bogen warf er Adrian das Papierbündel entgegen, das im Flug auseinanderfiel, sodass sich die Blätter am Boden unkontrolliert verteilten. Ungläubig wandte er sich der Tasche zu, ergriff nun zwei Bündel, mit jeder Hand eines. Erneut riss er die Streifen um die Geldpacken ab, fächerte sie mit einer schleudernden Handbewegung auf. Deutlich war zu sehen, wie sein Körper vor Wut erzitterte, als er auch diese Scheine von sich weg katapultierte. Für einen Augenblick erstarrte Adrian. Das war so nicht vorhergesehen gewesen. Doch dann entspannte er sich. Spielte das wirklich eine Rolle? Nein. Vollkommen egal. So wie alles. Brachte er es eben hier und jetzt zu Ende. Ohne irgendeine Regung schaute er seinem Partner ins Gesicht, der inzwischen vor Wut schäumte.

»Was soll der Scheiß? Das ist ja fast alles nur Papier. Hast du geglaubt ich merke es erst, wenn du schon längst über alle Berge bist, oder was? Pech für dich, dass ich genauer geschaut habe. So nicht! Ich will meinen vollen Anteil, wie ausgemacht. Schließlich war das meine Idee.« Mit geballten Fäusten stapfte Sascha auf Adrian los.

»Stopp!« Plötzlich lag eine Pistole in Adrians Hand, die genau auf seinen Kontrahenten zielte. »Glaub mir, ich schieße, wenn du auch nur einen Schritt weitergehst.«

Wie von einer unsichtbaren Mauer gestoppt, blieb Sascha abrupt stehen.

»Und ich dachte, wir sind Freunde.« Angewidert spuckte der Mann aus.

»Stimmt. Das dachte ich auch. Und von wegen ›deine Idee‹. Aber egal. Nimm das Geld und verschwinde.«

»Welches Geld? Du hast mir doch nur einen Haufen wertloses Papier überlassen.«

»Nicht ganz. Oder sind die echten Scheine, die die Papierpäckchen umschließen, kein Geld? Macht also immerhin hundert Euro pro Bündel. Summa summarum zwanzigtausend. Ist das etwa nichts?«

»Pah! Zwanzigtausend von zwei Millionen. Das sind Peanuts. Und wo ist der Rest? Damit kommst du nicht durch.« Drohend hob er die Faust in die Luft. Doch Adrian lachte nur.

»Wetten, dass …?« Er nahm die Hand mit der Waffe nach oben, winkelte den Arm an und schoss sich ohne Vorwarnung in die Schläfe.

Vier Monate vorher

»Selbstverständlich sind Einbau und Einweisung der Anlage im Preis inbegriffen«, versicherte Adrian Hollstein dem Kunden am anderen Ende der Telefonleitung, während er gleichzeitig ein paar Unterschriften unter die Dokumente setzte, die ihm die 29-jährige Susan schwungvoll auf den Tisch legte. Den Telefonhörer klemmte er dabei mit Hilfe seiner Schulter am Kopf fest, damit er beide Hände zur Verfügung hatte. Nach dem letzten Blatt schloss er die Unterschriftenmappe, schob diese lächelnd in Susan Rapps Richtung. Sie dankte mit erhobenen Daumen, schob eine Strähne ihres lockigen, kastanienbraunen Haares, das zu einem halben Zopf gebunden war, über die Schulter nach hinten und begab sich Richtung Vorzimmer. Adrian mochte die Art, wie sich seine Sekretärin kleidete. Mit dem bunt bedrucktem Blusenhemd über einem cremefarbenen Shirt und der schwarzen Stoffhose kaschierte sie ihre kleinen Pölsterchen und sah gleichzeitig adrett und modern aus. Eben genau richtig, um bei Kunden einen guten Eindruck zu hinterlassen.

Kaum hatte sie die Tür zum Büro ihres Chefs hinter sich zugezogen, wurde auf der anderen Seite die Tür vom Gang her von außen aufgestoßen. Mit lautem Knall flog sie gegen die Wand, sodass durch den Aufprall der Türklinke der Putz auf den grauen PVC-Boden rieselte. Im Türrahmen stand ein Mann mit semmelblondem, verstrubbeltem Haar, der Susan sofort an Boris Johnson erinnerte. Sie musste aufpassen, nicht aus Versehen loszuwiehern, denn die rote Gesichtsfarbe und die zusammengezogenen Augenbrauen ließen erahnen, dass der etwa 40-jährige Mann sicher nicht zu Scherzen aufgelegt war.

»Ich muss sofort zu Hollstein«, polterte er los. Dabei stiefelte er direkt auf Adrians Tür zu. Susan wollte ihn aufhalten. Mutig stellte sie sich ihm in den Weg, hielt die Handflächen gegen ihn gerichtet.

»Sie können da jetzt nicht rein. Herr Hollstein …« Weiter kam sie nicht. Der Mann schob sie einfach beiseite wie eine Puppe.

»Herr Hollstein telefoniert gerade«, beendete sie ihren Satz. Doch der ging bereits ins Leere. Stattdessen stürmte der Mann wutentbrannt auf Adrian zu, riss ihm den Telefonhörer aus der Hand und legte ihn einfach auf. Verdutzt blickte Adrian auf und zog die Stirn in Falten.

»Aber Herr Baumann, Sie können doch nicht einfach hier hereinplatzen und mein Telefongespräch beenden«, entrüstete er sich. Doch Hannes Baumann war nicht mehr zu bremsen.

»Und ob ich das kann«, polterte er los. Ein Schwall knoblauchgeschwängerter Atemluft bahnte sich seinen Weg zu Adrians Riechorgan.

»Was glauben Sie, was heute Nacht passiert ist? Na? Das wird für Sie noch ein Nachspiel haben.«

Schnaubend stützte er sich auf Adrians Schreibtisch ab und beugte sich mit grimmigem Gesichtsausdruck immer weiter zu ihm herüber. Oh, oh. Was auch immer passiert war, der Kerl war auf 180, dachte Adrian bei sich. In beruhigendem Ton startete er den Versuch, die Situation ein wenig zu deeskalieren.

»Herr Baumann, wollen Sie sich nicht erst einmal setzen? Vielleicht nehmen Sie ein Wasser und erzählen mir erst einmal, was vorgefallen ist.«

Er drückte eine Taste seiner Telefonanlage und orderte bei Susan das Getränk. Doch Hannes Baumann schien das noch mehr in Rage zu bringen.

»Ich will mit Ihnen nicht Brüderschaft trinken, sondern wissen, warum Sie mir diesen Scheiß verkauft haben.«

Schnaubend ließ er sich nun doch in den gepolsterten Freischwinger plumpsen, holte ein kariertes Stofftaschentuch aus der Sakkotasche und wischte sich damit den Schweiß von der dunkelrot angelaufenen Stirn.

»Ich verstehe nicht. Wollen Sie vielleicht andeuten, dass unsere Sicherheitsanlage nicht in Ordnung ist? Wo liegt denn das Problem?« Immer noch völlig ruhig, lehnte Adrian sich in seinem Stuhl zurück und schaute seinem Gegenüber direkt in die Augen. Er wollte, dass Hannes Baumann sich ernst genommen fühlte. Er konnte in seinem Metier keine unzufriedenen Kunden gebrauchen. Viel zu sehr war die Firma, die er zusammen mit seinem Freund Sascha führte, auf Mundpropaganda angewiesen. Das brachte in vielen Fällen mehr neue Aufträge als die teilweise sehr teure Anzeigenwerbung.

Hannes Baumann führte seine linke Hand zum Hals und lockerte mit Hilfe zweier Finger seinen Hemdkragen. Im selben Augenblick klopfte es und Susan brachte auf einem kleinen Tablett ein großes Glas Mineralwasser. Auf der Wasseroberfläche schwamm eine Scheibe Zitrone. Sie stellte das Tablett vor Hannes Baumann auf den Schreibtisch und drückte ihm das Glas in die Hand.

»Bitte, nehmen Sie einen Schluck. Sie sehen nicht gut aus. Oder soll ich Ihnen einen Arzt rufen?«

Fürsorglich legte sie ihre Hand auf den Unterarm des Kunden. Adrian registrierte, wie Hannes Baumann den Kopf schüttelte, nachdem er gehorsam getrunken hatte. Dankbar blinzelte Adrian seiner Vorzimmerdame zu und gab ihr mit einer leichten Kopfbewegung zu verstehen, dass sie nun gehen könnte. Er hoffte, alles unter Kontrolle zu haben. Nach einem kurzen Räuspern, wandte er sich dem nun deutlich ruhigeren Kunden zu.

»So, nun erzählen Sie bitte. Wo liegt das Problem?«, wollte er wissen.

»Ihre Anlage hat auf ganzer Linie versagt.« Baumann knallte die Faust auf den Tisch. Mit der Ruhe war es anscheinend schon wieder vorbei. Hoffentlich bekam der Mensch keinen Herzinfarkt, hier mitten in seinem Büro.

»Gestern ist bei mir eingebrochen worden. Der ganze Schmuck meiner Frau und ein Haufen Bargeld wurde dabei gestohlen. Meine Frau hatte den Schmuck von ihrer Mutter geerbt. Der ideelle Wert ist neben dem immensen Vermögenswert nicht zu ersetzen. Und genau davor sollte uns doch die Alarmanlage von Hollstein und Kruger, Security Systems eigentlich schützen.«

Adrian versteifte sich und zog die Augenbrauen hoch.

»Verstehe ich das richtig, die Anlage hat keinen Alarm ausgelöst?«

»Ganz genau. Weder ging die Sirene hoch, noch wurde eine Verbindung zum nächsten Polizeirevier aufgebaut, was Sie mir aber ausdrücklich versprochen hatten. Von wegen, die Polizei ist in solch einem Fall innerhalb von zehn Minuten da.«

Wie ein trotziges Kind presste Baumann die Lippen zusammen und kreuzte die Arme vor der Brust.

»Demnach ist der Einbruch passiert, während Sie zu Hause waren?« Ungläubig starrte Adrian Baumann an.

»Nein. Gott sei Dank besuchten wir gerade ein Konzert des Villinger Philharmonie Orchesters im Franziskaner Konzerthaus. Aber den Schock, als wir heimkamen und eine aufgebrochene Hintertür vorfanden, können Sie sich kaum vorstellen. Alles war durchwühlt worden. Überall lagen unsere Sachen herum. Ganz private Dinge von Fremden begrabscht. Was glauben Sie, wie man sich da jetzt fühlt? Absolut scheiße. Und selbst den Safe haben sie gefunden und ausgeräumt. Das waren Profis. Die Täter müssen sich ziemlich lange im Haus aufgehalten haben. Aber keine Spur von Polizei. Die erfuhr erst durch unseren Anruf davon. Und nun frage ich Sie …«, mit zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen, den Kopf leicht schief haltend beugte er sich vor und stieß den Zeigefinger auf Adrians Brust, »… was ist da schiefgelaufen? Oder stecken Sie vielleicht dahinter?«

»Wo soll ich dahinterstecken? Dass die Alarmanlage nicht funktionierte oder hinter dem Einbruch? Ich rate Ihnen, auch wenn Sie natürlich verärgert sind, und ich möchte ausdrücklich betonen zu Recht verärgert sind, die Kirche im Dorf zu lassen. Ich verdiene mein Geld, indem ich meine Kunden schütze und mit nichts anderem.«

»Ach ja? Und wie erklären Sie sich dann diesen Einbruch? Nennen Sie das etwa Schutz Ihrer Kunden?«

»Das kann ich aus dem Stegreif nicht beantworten. Aber mein Partner und ich werden der Sache natürlich auf den Grund gehen. Vielleicht hat ein Softwareproblem vorgelegen.«

»Es ist mir ehrlich gesagt scheißegal, an was es gelegen hat. Ich habe kein Vertrauen mehr in Ihre Dienstleitung. Ich werde ein anderes Unternehmen mit der Installation einer Sicherheitsanlage beauftragen. Das bedeutet, Sie bekommen von mir nicht einen Cent für den Schrott, den Sie mir da eingebaut haben. Außerdem werden Sie mir den Schaden ersetzen. Meine Versicherung zahlt nämlich keinen Cent bei einer nicht funktionierenden Alarmanlage. Aber für solche Fälle sind Sie ja sicher auch versichert«, schnaubte Adrians aufgebrachter Besucher. Schon wieder puterrot im Gesicht, wie ein Hummer im kochenden Wasser, erhob sich Baumann. Mit zusammengepressten Lippen drehte er sich grimmig dreinschauend um und stapfte zur Tür hinaus, ohne Susan dabei auch nur eines Blickes zu würdigen.

Adrians Kehle entwich ein tiefer Seufzer. Er war innerlich längst nicht so ruhig, wie er Hannes Baumann gegenüber glaubhaft machen wollte. Ganz im Gegenteil. Seine Hände, die er unauffällig auf seinen Knien deponiert hatte, zitterten wie bei einem alten Tattergreis. Die Gedanken in seinem Kopf fuhren Achterbahn.

Wie zum Teufel sollten sie diesen Schaden ausgleichen? Die Versicherung der Firma würde sicher nicht dafür aufkommen. Aufgrund der schlechten Auftragslage in den zurückliegenden Monaten hatten er und Sascha die letzten beiden Versicherungsbeiträge nicht geleistet. Ein grober Fehler, wie sich nun herausstellte. Und dann Baumann. Sicherlich würde er diesen Zwischenfall nicht für sich behalten. Nicht auszumalen, wenn seine Kunden das Vertrauen in die Sicherheitstechnik der Firma verloren. Das konnte der Ruin sein. Dabei hatte Hollstein & Kruger, Security Systems erst vor ein paar Wochen Schlagzeilen gemacht, als bei einem Einbruch stiller Alarm ausgelöst wurde. Oh ja, dort hatte das System funktioniert. Aber der Einbrecher hatte weniger Glück. Er wurde durch ein Missverständnis tödlich angeschossen. Nun könnte jemand auf die blöde Idee kommen, Sascha und er hätten vielleicht irgendetwas am Alarmsystem gedreht, um eine Wiederholung solch eines Szenarios zu vermeiden. Klar, schwachsinnig, wer so etwas glaubte. Aber konnte man wirklich vorhersagen, wie ihre Klientel auf die Ereignisse reagierte? Er sah sich auf jeden Fall genötigt, unbedingt so schnell wie möglich mit seinem Partner zu reden. Sie mussten sich etwas einfallen lassen, wenn sie eine Insolvenz in absehbarer Zeit verhindern wollten.

Gegenwart

»Kommt überhaupt nicht in Frage«, polterte Ines los und stellte die Kaffeetasse mit lautem Scheppern auf dem Küchentisch ab, sodass sich ein Schwall des braunen Heißgetränks direkt neben dem Marmeladenglas auf die Tischplatte ergoss.

»Wie stellst du dir das denn vor? Du bist den ganzen Tag in der Schule und ich geh arbeiten. Du kannst doch so ein Tier nicht die ganze Zeit sich selbst überlassen. Oder würdest du es etwa lustig finden, wenn man dich den ganzen Tag mutterseelenallein einsperrt?« Mit zusammengezogenen Augenbrauen starrte sie ihre Tochter an, die sich gerade eine Portion Cornflakes einverleibte.

»Ach komm. Omi ist doch auch noch da«, meinte Daniela kauend und mampfend zwischen zwei Löffelladungen. »Die würde sich um ihn kümmern, wenn von uns niemand zu Hause ist.«

War das zu fassen? Anscheinend hatte Danny, wie Daniela von allen nur genannt wurde, sich ganz genau überlegt, wie sie ihrer Mutter am besten den Wind aus den Segeln nehmen konnte. Oh, wie ich diese verdammte Pubertät hasse, dachte Ines bei sich, was sie natürlich nicht laut von sich gab. Stattdessen krauste sie die Stirn.

»Du hast Oma schon gefragt? Wenn du glaubst, mich damit unter Druck setzen zu können, bist du auf dem Holzweg. Ich bin hier die Erziehungsberechtigte, nicht deine Oma.« Ines lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Mensch, Mom. Jetzt sei doch nicht so. Es heißt doch immer, Kinder und Jugendliche sollen Verantwortung übernehmen. Das könnte ich doch ganz leicht mit so einem kleinen Fellknäuel«, hielt sie dagegen und grinste dabei breit über das ganze Gesicht, sodass das Grübchen an ihrer Wange voll zum Vorschein kam. Wieder einmal mehr wurde Ines in diesem Augenblick bewusst, wie sehr Daniela doch ihrem Vater ähnlich sah. Durch die langen, schwarzen Haare, die ihrer Tochter in ungleichmäßigen Wellen über den Rücken fielen und die leicht gebräunte Haut war der Einfluss der italienischen Gene nicht zu leugnen. Dazu die braunen Augen, die in Augenblicken wie diesen vor Lebenslust leuchteten. Schmerzlich wurde Ines bewusst, dass ihre Tochter mit ihren fünfzehn Jahren allmählich erwachsen wurde. Gewaltsam riss sie sich aus diesen Gedanken. Jetzt musste erst einmal dieses Thema vom Tisch.

»Verantwortung? Du willst Verantwortung übernehmen? Oh, da finden wir ganz bestimmt etwas für dich. Und dieses Etwas heißt ganz sicher nicht Hundewelpe.«

»Du bist echt fies«, maulte Daniela. »Dominik findet die Idee auch super.«

»Ach, habt ihr euch alle schon geeinigt? Na bravo. Dann kann Dominik ihn auch mit in die Kanzlei nehmen. Freut seine Klienten bestimmt. Muss er halt seine Termine kürzer halten.« Wütend schob Ines ihre Unterlippe nach vorne.

»Habe ich da meinen Namen gehört?« Ein dunkler Schopf lugte um die Ecke der Küchenzarge, umgeben von einer Duftwolke Duschdas. »Oh, oh. Sieht nach Gewitter am frühen Morgen aus. Dabei ist es doch eigentlich viel zu kalt draußen für Blitz und Donner«, witzelte er, als er Ines grimmige Miene sah. Nur mit einem Handtuch um die Hüften betrat Ines Lebensgefährte den Raum und gab ihr einen Kuss zur Begrüßung, wobei sein Oberlippenbart leicht kitzelte. Sie schloss kurz die Augen und sog seinen frischen Duft ein.

»Du hast auch schon mal bessere Witze gerissen«, meinte sie schon wieder etwas besänftigter. »Wie könnt ihr euch alle einfach gegen mich verschwören? Ein Welpe macht unheimlich viel Arbeit. Und was ist, wenn Danny eine Ausbildung anfängt? Oder nach dem Abitur auf große Reise gehen möchte? Soll er dann ins Tierheim? Meine Mutter wird schließlich auch nicht jünger. Wisst ihr eigentlich, wie viele Tiere ausgesetzt werden, nur weil die Leute die Arbeit mit so einem Tier unterschätzt haben? Ganz zu schweigen von den Kosten. Anschaffung, Futter, Tierarzt, …« Ihre Finger zählten mit. Doch Dominique umschloss mit seiner Hand Ines Finger und unterbrach so ihre Aufzählung. Zärtlich streichelte er ihr über die Wange, schaute sie aus seinen himmelblauen Augen an, als könnte er kein Wässerchen trüben.

»Komm, lass es dir wenigstens durch den Kopf gehen. Vielleicht finden wir eine Lösung, die uns alle zufrieden stellt.«

»Vielleicht hast du recht. Aber …« Weiter kam Ines nicht. Ein penetrantes Klingeln ihres Diensthandys machte der familiären Diskussion ein Ende. »Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen«, meinte sie mit erhobenem Zeigefinger in Richtung Daniela, als sie deren siegessicheres Grinsen bemerkte, während sie sich das Telefon ans Ohr hielt. Noch zwei liebevolle Luftküsse zu ihren Lieben, einen sehnsuchtsvollen Blick in Richtung Dominik, dann schlüpfte sie in Parka und Stiefel und schnappte sich den grauen Strickschal von der Hutablage der Garderobe. Gleichzeitig stopfte sie ihren Schlüsselbund in die Jackentasche, während das Telefon zwischen Ohr und Schulter klemmte.

»Alles klar, bin auf dem Weg«, hörten Daniela und Dominik noch, bevor sie endgültig die Haustür hinter sich zuzog.

Schon von Weitem erkannte Ines den roten Haarschopf ihres Kollegen. Eigentlich arbeitete Hauptkommissar Tobias Wehrle in Rottweil. Doch die beiden Kommissariate von Rottweil und Villingen unterstützten sich regelmäßig bei Personalengpässen. Ines mochte die unkomplizierte Art des 41-Jährigen, der mit seinen hundertachtzig Zentimetern Ines um einen Kopf überragte. Obwohl Ines nur ein Jahr älter und beide somit fast gleichalt waren, gab es zwischen ihnen nie Kompetenzgerangel. Teamarbeit stand im Vordergrund. Und so hatten sie schon mehr als einen Fall zusammen gelöst.

Tobias wartete bereits vor dem Villinger Kommissariat auf Ines, als sie mit ihrem orangefarbenen Seat Ibiza eintraf. Breit grinsend kam er ihr entgegen.

»Wie ich sehe, fährst du immer noch Rennen.« Lachend zeigte er auf die schwarzen Rallyestreifen, die sich über Motorhaube, Autodach und Heck ihres Seat Ibiza zogen.

»Klar. Du weißt doch, ich hab’s immer eilig. Außerdem erkennen mich die Kollegen auf den tollen Schnappschüssen ihrer Blitzanlagen dann schneller.« Sie schloss den Wagen ab und marschierte mit Tobias zum bereitstehenden, grauen Dienst-BMW.

»Und was haben wir?«, wollte sie beim Einsteigen wissen. Tobias startete den Wagen und fädelte sich in den morgendlichen Berufsverkehr ein. Zum Glück mussten sie nicht quer durch ganz Villingen fahren. Die Villinger Innenstadt war bei Autofahrern nicht sehr beliebt. Das lag hauptsächlich an den vielen Einbahnstraßen. Aber anders war das hohe Verkehrsaufkommen in diesem Bereich nicht zu kontrollieren.

»Eine männliche Leiche auf einem Waldparkplatz in Donaueschingen. Sieht nach Selbstmord aus. Die entsprechende Pistole lag direkt neben ihm.«

»Selbstmord? Und warum kommen dann wir ins Spiel?«, wollte Ines wissen.

»Nur zur Sicherheit. Die Kollegen vom Dauerdienst fanden die Umstände etwas merkwürdig.« Tobias warf einen Blick über die Schulter, setzte den Blinker und bog auf die B 33 Richtung Donaueschingen ab. »Der Typ hat sich hinter seinem Auto erschossen. Dabei stand der Kofferraum noch auf.«

Überrascht schaute Ines zu ihrem Kollegen hinüber. »Bist du sicher, dass es sich um einen Suizid handelt?«, fragte sie.

»Genau das wollen die Kollegen nun von uns wissen. Wie schon gesagt, die Waffe lag neben ihm. Aber es wäre ja nicht das erste Mal, dass irgendjemand es nur so aussehen lassen will, als ob sich derjenige das Leben freiwillig genommen hätte. Die Spusi müsste auf jeden Fall inzwischen vor Ort sein. Dementsprechend gibt es vielleicht schon Genaueres.«

Knappe zwanzig Minuten später trafen sie am Ort des Geschehens ein. Unübersehbar der Pulk von Einsatzfahrzeugen sowie das rot-weiße Absperrband, vor dem sich trotz der frühen Morgenstunde eine Menge Gaffer dicht an dicht die Füße in den Bauch standen, die Hälse streckten und wegen der Kälte unruhig auf der Stelle traten. Sie erinnerten Ines an einen Haufen Pinguine im tiefsten Winter in der Antarktis. Der ein oder andere schlug sich dabei die Arme wärmend um den Körper. Beim Reden entwichen immer wieder kleine Dampfwölkchen den Mündern. Auf der anderen Seite der Absperrung, ungefähr 20 bis 30 Meter von den unerwünschten Zaungästen entfernt, werkelten emsig die Leute von der Spurensicherung herum, gut zu erkennen an dem Gewusel von Menschen in weißen und blauen Schutzoveralls.

Nachdem Tobias den BMW an der Seite abgestellt hatte und mit Ines zum Fundort marschierte, ließ seine Kollegin ihren Blick über die Schaulustigen schweifen.

»Dass Gaffen zum Volkssport mutiert, ist ja inzwischen allseits bekannt. Dass man dazu aber sogar schon Sportklamotten trägt, ist mir dann doch sehr suspekt«, meinte die Kommissarin kopfschüttelnd, während sie kaum mit den ausladenden Schritten ihres rothaarigen Kollegen mithalten konnte. Tobias lachte.

»So weit sind wir Gott sei Dank noch nicht. Die Leute kommen von ihrer ersten Sporteinheit, denn ein paar Hundert Meter weiter befindet sich eine Rehaklinik. Wenn ich mich recht erinnere, handelt es sich um eine Einrichtung, die auf Orthopädie spezialisiert ist.«

»Ah, das erklärt einiges. Schau mal, da vorn ist Professor Maier.«

Sie wies mit ausgestrecktem Arm auf einen höchstens ein Meter sechzig großen Mann, der neben einem aufgestellten Sichtschutzzelt stand und mit einem Schutzpolizisten redete. Das Zelt deckte den Bereich eines einzelnen Stellplatzes ab. Ines registrierte, dass der gesamte Parkplatz in drei Bereiche aufgeteilt war, jeweils mit zwei gegenüberliegenden Parkreihen, mit viel Grün drumherum. Bequem konnte man von hier den Bürgersteig erreichen, der wiederum, wie Ines inzwischen wusste, ambulante Rehapatienten zur Einrichtung führte. Auf der anderen Seite befand sich ein größeres Waldstück, in das ein Wanderweg hineinführte. Eine große Tafel zeigte die verschiedenen Wandermöglichkeiten an. Zumindest vermutete das die Kommissarin, denn im Morgengrauen war diese Tafel nur schemenhaft zu erkennen.

Obwohl der Professor wie seine Kollegen in einem blauen Plastikoverall steckte, erkannte Ines ihn an der für ihn typischen, leicht rundlichen Figur.

»Ah, welch eine Freude. Da kommt ja meine Lieblingsermittlerin«, meinte Wolfgang Maier mit einem Grinsen im Gesicht. »Na dann, junge Frau, kommen Sie mal mit.« Ines und Tobias folgten dem Gerichtsmediziner aus Freiburg um das Zelt herum, wobei ihre Schritte ein knirschendes Geräusch auf der gefrorenen Wiese verursachten. Am Eingang blieben sie stehen. Ihr erster Blick fiel auf den großen, weißen Wagen mit der geöffneten Heckklappe. Verspritztes Blut und Hirnmasse überall: innen auf der rechten, hinteren Seitenscheibe, auf den Plastikabdeckungen im Kofferraum, auf der Ladekante, im Stoßstangenbereich, durch die Kälte größtenteils angefroren. Es fiel Ines sehr schwer, nicht zu würgen. Ihr Blick wanderte weiter über den Boden, wo ihr erst jetzt der am Boden liegende, mit einer Plane abgedeckte Körper auffiel. Mit angewinkeltem Bein lag er da. Dort, wo sich vermutlich der Kopf befand, war ziemlich viel Blut ausgelaufen, sodass Ines selbst neben der Plane in Kopfhöhe ein Stück der gefrorenen Blutlache erkennen konnte. Ein Arm schaute mit der Handfläche nach oben unter der Plane hervor. Wenn es nicht unbedingt sein musste, wollte sie den toten Mann unter der Plane gar nicht sehen. Von seinem Kopf war sicher nicht mehr allzu viel übrig. Mit einem Ruck riss sie sich von dem Anblick los.

»Und Doktor, was meinen Sie? Handelt es sich tatsächlich um einen Suizid?«, wollte sie von dem Mediziner wissen. Dr. Wolfgang Maier rubbelte sich zuerst am Kinn, kratzte sich dann leicht an der Schläfe.

»Im Moment sieht es tatsächlich so aus. Natürlich ist, genau wie hier, bei einem Suizid die Waffe nicht in der Hand zu finden. Durch das Erschlaffen der Muskeln fällt sie aufgrund der Schwerkraft als Erstes zu Boden. Es steht auf jeden Fall zweifelsfrei fest, dass der Tote geschossen hat. Frau Neumann von der KTU hat einen ersten Schnelltest durchgeführt. Auf der Abzugshand sind definitiv Schmauchspuren nachweisbar. Die Art, wie die Leiche platziert ist, Schussein und -austrittswinkel lassen eigentlich keinen Zweifel an einem Suizid zu. Aber sehen sie mal hier …« Professor Maier ging in die Hocke, zeigte auf einen blutigen Schuhabdruck der sich, schwächer werdend, ein paar Mal wiederholte und zu dem Nebenparkplatz führte.

»Könnten die Abdrücke eventuell vom Finder der Leiche stammen? Der ist sicher sehr erschrocken, hier einen Toten vor sich zu haben«, gab Tobias zu bedenken. Doch Maier schüttelte den Kopf, hob abwehrend die Hände.

»Ist nicht mein Fachgebiet, aber Frau Neumann wird das von ihren Leuten überprüfen lassen. Und die versteht ihr Handwerk. Ich wollte Sie nur vorab schon mal darauf hinweisen, dass hier vermutlich ein zweiter Wagen stand. Wie lange, ob während oder erst nach der Tat …« Er ließ den Rest des Satzes offen und hob die Arme. »Außerdem sollten Sie sich das mal anschauen.« Er ging zwei Schritte weiter und wies auf einen graubraunen, ungleichmäßig erhabenen Fleck am Boden. Um besser sehen zu können, ging Tobias in die Knie. Mit zusammengezogenen Augenbrauen betrachtete er diesen Fleck von allen Seiten. Dann schien der Groschen zu fallen. »Ist es das, was ich denke?«, wollte er von Wolfgang Maier wissen.

»Nun, guter Mann, ich habe zwar eine mehrjährige Ausbildung sowie einige Jahrzehnte Berufserfahrung hinter mir, aber hellsehen kann ich noch nicht, geschweige denn Gedankenlesen«, stellte er klar. »Aber wenn Sie dabei an Erbrochenes gedacht haben, dann gebe ich Ihnen hundert Punkte.«

»Aha, also doch Hellseher.« Tobias grinste, wurde aber gleich wieder ernst. »Das könnte also bedeuten, dass noch jemand am Tatort war, als …, um wen handelt es sich eigentlich? Wissen wir das schon?« Ines zog die Stirn in Falten.

»Mich müssen Sie das nicht fragen«, erklärte der Gerichtsmediziner. »Steht nicht in meiner Jobbeschreibung, wird auch nicht extra bezahlt. Dafür ist die Fußtruppe zuständig.« Er wies in Richtung Streifenwagen, an dem zwei uniformierte Beamte standen und bei diesem ungemütlich nasskalten Wetter von einem Fuß auf den anderen traten.

»Können Sie schon was zum Todeszeitpunkt sagen?«, fragte Tobias.

Professor Maier zog die Stirn kraus, warf einen Blick auf seine mit einem braunen Lederband versehene Armbanduhr. »Nun, der Körper ist wegen der kalten Nacht relativ weit ausgekühlt. Allerdings haben wir es hier auch mit einer nahezu voll ausgeprägten Totenstarre zu tun. Deshalb würde ich so auf ungefähr dreiundzwanzig Uhr gestern Abend tippen, plus minus einer Stunde.«

»Okay. Damit können wir doch schon mal arbeiten. Am besten sorge ich gleich dafür, dass sich die Kollegen dort drüben nicht in Eiszapfen verwandeln«, grinste Ines und meinte an Maier gewandt: »Und Sie können sich schon mal darauf einstellen, unseren Toten genauer unter die Lupe nehmen zu dürfen. Ich werde bei der Staatsanwaltschaft die Genehmigung zur Obduktion beantragen. Sicher ist sicher.«

»Dachte ich mir schon. Mein Bericht liegt morgen früh bei Ihnen auf den Tisch.« Damit war für ihn die Arbeit vor Ort vorerst erledigt. Er gab zwei Männern in schwarzen Mänteln in der Nähe ein Zeichen, worauf diese einen Zinksarg aus dem Inneren eines Kombis holten, um die Leiche für die Gerichtsmedizin abzutransportieren.

Ines zog sich den Schal fester um den Hals und versuchte, ihn auch ein Stück über die Ohren zu ziehen. Es ärgerte sie, dass sie heute Morgen nicht an ihre Strickmütze gedacht hatte. Nun fühlten sich die Ohren an, als hätten sie über Nacht in der Tiefkühltruhe gelegen. Und ihr graute schon davor, wenn sie kribbelnd und stechend im geheizten Büro wieder auftauten. Sie hauchte in die Hände und rieb sie aneinander.

Dabei streifte ihr Blick suchend über das Gelände.

»Komm, lass uns zu Vanessa Neumann gehen. Vielleicht weiß sie schon mehr«, meinte sie zu Tobias und zeigte auf eine schlanke Gestalt, die sich gerade auf der Beifahrerseite in den großen SUV beugte. Bei Vanessa Neumann handelte es sich um die Abteilungsleiterin der KTU, die zudem noch die Ehefrau von Robert Neumann, Kriminaloberrat und Leiter der Kripo Rottweil, war. Vanessa genoss als leitende Kriminaltechnikerin einen exzellenten Ruf, den sie nicht der Stellung ihres Mannes, sondern ausschließlich ihres fachlichen Könnens zu verdanken hatte. Dazu war die 37-Jährige durch ihr stets freundliches Auftreten bei allen sehr beliebt. Ines fand, Vanessa hatte ein bisschen Ähnlichkeit mit der britisch-amerikanischen Schauspielerin Jane Seymour in ihren besten Zeiten. Selbst in diesem weißen Ganzkörperkondom über der Winterjacke machte sie eine gute Figur.

»Ah, die Hauptkommissare Sandner und Wehrle«, bemerkte Vanessa, als sie sich nach der Inspektion des Handschuhfaches rückwärts aus dem Wagen schälte. »Lassen Sie mich raten: Sie wollen wissen, ob ich Ihnen schon mit Neuigkeiten dienen kann.« Keck hob sie das Kinn und blickte direkt in Tobias grüne Augen, was dieser mit einem Schmunzeln quittierte.

»Und, können Sie? Für den Augenblick sehen wir nur ein ganz großes Fragezeichen über dieser Geschichte. Fürs Erste wären schon mal Namen und Adresse des Toten sehr hilfreich.«

»Wenn’s weiter nichts ist, damit kann ich dienen.« Sie lief um den SUV herum und griff in eine graue Kunststoffkiste, aus der sie einen Asservatenbeutel zog. Sie schwenkte ihn in der Luft. »Hier haben wir seinen Geldbeutel mit Ausweis, Kreditkarte, Führerschein und Visitenkarte. Allerdings habe ich mir das noch nicht genauer angeschaut. Ich wollte erst einmal das Auto grob unter die Lupe nehmen, bevor es zur genaueren Untersuchung in unsere Werkstatt kommt. Der Abschlepper ist nämlich schon unterwegs.« Mit Schwung drückte sie den Beutel in Tobias Hand, lächelte und wandte sich wieder der Untersuchung des Wagens zu. Ines schlüpfte in ein paar Einweghandschuhe, die sie für solche Fälle in der Innentasche ihres Parkas mit sich führte.

»Dann wollen wir doch mal sehen, mit wem wir es zu tun haben«, meinte sie, ließ sich von Tobias die durchsichtige Tüte geben und angelte das Portemonnaie heraus. Mit klammen Fingern klappte sie das Leder auf und zog den Personalausweis heraus. Hellblaue Augen in einem glatt rasierten Gesicht, umrahmt von schwarzem, lockigem Haar schauten sie an.

»Adrian Hollstein«, las sie vor. »Mensch, Tobias, der Mann war laut seinem Geburtsdatum erst fünfunddreißig.« Sichtlich geschockt hielt sie ihrem Kollegen die Plastikkarte vors Gesicht. Obwohl sie tagtäglich in ihrem Job mit dem Tod auf unterschiedlichste Art konfrontiert wurde, war das etwas, woran sie sich wohl nie gewöhnen würde. »Und er hat in Donaueschingen gewohnt. Falkenweg.«

»Okay. Sollen wir da gleich mal vorbeifahren?«, wollte ihr Kollege wissen.

»Warte, wir schauen uns noch den Rest an.« Ines zog noch eine Karte heraus. »Seine Visitenkarte. Hollstein & Kruger, Security Systems. Sieht so aus, als hätte er zusammen mit einem Kompagnon eine Sicherheitsfirma. Zumindest deutet das Logo darauf hin, oder was meinst du?«

»Damit könntest du Recht haben. Warte, ich mache kurz ein Foto.« Ratschend öffnete er den Reißverschluss seiner Jacke und fischte sein Handy aus der Innentasche, um den Aufdruck von Ausweis und Visitenkarte abzulichten. Anschließend packte Ines alles zusammen wieder in die Plastiktüte. Sie zog den Zipper zu und legte ihn zurück in die graue Plastikbox.

»Frag mal Google, wo dieser Falkenweg ist«, bat Ines, weil Tobias noch das Handy in der Hand hielt. Dieser tippte auf dem Display herum und zog die Augenbrauen zusammen.

»Was ist? Stimmt was nicht?«, wollte sie wissen.

»Kannst du mir erklären, warum einer mit dem Auto auf diesen Parkplatz fährt, sich die Birne wegbläst und dabei nicht mal einen Kilometer entfernt wohnt? Das ist mit dem Auto gerade Mal zwei Minuten entfernt.«

Sein Blick drückte absolute Ratlosigkeit aus. Doch Ines zuckte nur mit den Schultern.

»Vielleicht wollte er seiner Familie die Sauerei ersparen.«

»Ist schon irgendwie einleuchtend. Aber andererseits, wenn’s nur darum ginge, wäre er da nicht zu Fuß besser unterwegs gewesen? Und warum genau hier?«

Verflucht, sie hatte doch auch keine Ahnung.

»Weißt du was? Wir überprüfen die Adresse. Vielleicht gibt es Angehörige, die uns auch gleich noch eine Erklärung liefern können. Mal ganz davon abgesehen, dass wir sowieso jemand über seinen Tod informieren müssen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, zog sie die Einweghandschuhe aus und steckte die Hände in die Taschen ihrer Jacke, während sie gleichzeitig in Richtung Auto marschierte. Wohl oder übel musste Tobias ihr folgen. Als sie bei den beiden tiefgekühlten Beamten des Streifenwagens vorbeikamen, wies Ines sie an, die Personalien der gaffenden Menschen aufzunehmen. Vor ihrer nächsten Aufgabe graute es ihr. Nichts war schlimmer, als eine Todesnachricht überbringen zu müssen. Aber das gehörte nun mal zu ihrem Job.

Vor vier Monaten

»Und was, bitte schön, erwartest du jetzt von mir?« Scharf wie ein Peitschenhieb schleuderte Magnus Schönfeldt seinem Schwiegersohn die Worte entgegen. »Du hast dir diesen Schlamassel selbst eingebrockt. Musstest ja unbedingt dein eigener Chef sein. Dabei sind dir bei mir alle Türen offen gestanden.«

Der 58-Jährige strich sich mit der Handfläche über die akkurat angeordneten, grau melierten Haare. Mit seinen 180 Zentimetern war er nur einen Tick größer als Adrian. Trotzdem fühlte sich dieser im Beisein seines Schwiegervaters äußerst unwohl. Fast wie ein Schuljunge, der dem Rektor einen Knallfrosch unter den Stuhl gelegt hatte. Magnus ließ den Mann seiner Tochter nur zu gerne spüren, wie wenig er von ihm hielt. In seinen Augen passte Adrian einfach nicht in die Familie Schönfeld. Das wusste Adrian. Doch in diesem Punkt hatte sich Magnus’ Tochter vor fünf Jahren durchgesetzt und Adrian geheiratet. Wie sie immer alles bekam, was ihr vorschwebte. Selbst Magnus wickelte sie gekonnt um den kleinen Finger.

»Was nun? Hat es dir die Sprache verschlagen?«, riss Magnus Adrian aus seinen Gedanken. »Wenn du glaubst, ich greife dir finanziell unter die Arme, dann hast du falsch gedacht.«

Adrian zog den Kopf zwischen die Schultern und ballte die Hände zu Fäusten. Warum war er nur auf die blödsinnige Idee gekommen, ausgerechnet Magnus um Hilfe bitten zu wollen? Dessen Reaktion war doch vorhersehbar gewesen.

»Ich will doch von dir nur eine Bankbürgschaft, damit ich einen Kredit bekomme. Das kostet dich keinen Cent«, versuchte er es trotzdem.

»Eine Bankbürgschaft? Kostet mich keinen Cent, meinst du? Pah, dass ich nicht lache. Wie lange, glaubst du, dauert es, bis die Bank von mir deine Schulden einfordert, weil du eben doch wieder nicht auf einen grünen Zweig kommst? Ich persönlich gebe dir kein halbes Jahr dafür.«

Magnus machte eine wegwerfende Handbewegung und drehte sich zur Glasfront seines großzügig geschnittenen Büros, in dem der alte Mahagonischreibtisch in Kombination mit der supermodernen Ledergarnitur und passendem schwarzen Glasbeistelltisch irgendwie wie ein Fremdkörper wirkte. Aber Adrian wusste, dass es sich bei jenem Schreibtisch um ein Erbstück von Magnus Großvater handelte. Ob der wohl auch so stur wie sein Enkel gewesen war?

»Und was ist mit deiner Tochter? Willst du wirklich, dass sie die Unannehmlichkeiten einer Insolvenz durchleben muss? Denn wenn Hannes Baumann mit seiner Klage auf Schadensersatz Recht bekommt, wird es darauf hinauslaufen«, versuchte Adrian Magnus doch noch positiv zu stimmen. Doch Magnus schnaubte nur und winkte erneut ab.

»Cynthia wusste, worauf sie sich einlässt. Außerdem, wenn sie einsieht, dass du einfach immer auf der Verliererseite stehen wirst, wird sie dich sowieso verlassen. So gut kann der Sex mit dir für sie gar nicht sein, dass sie dafür auf alle anderen angenehmen Seiten des Lebens verzichtet. Für sie steht bei Vera und mir immer eine Tür offen. Irgendwann wird sie schon begreifen, wo sie besser aufgehoben ist.«

Was für ein eingebildetes Arschloch. Doch Adrian zwang sich, sich nicht aus der Reserve locken zu lassen. Fest biss er die Zähne aufeinander, sodass kein gehässiges Wort über seine Lippen kam. Von ihm aus sollte der Alte doch an seinem Geldhaufen hier in diesem Nobelbüro in der Nähe des Schwenninger Flugplatzes ersticken.

»Du musst es ja wissen«, meinte er schließlich. »Entschuldige, dass ich deine kostbare Zeit in Anspruch genommen habe.«