Schwedenbitter - Simone Buchholz - E-Book

Schwedenbitter E-Book

Simone Buchholz

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Beschreibung

Hamburg Wilhelmsburg – »Problemstadtteil«: Ein amerikanisches Ehepaar wird tot aufgefunden, sie waren die letzten Mieter in einer alten Villa. Staatsanwältin Chastity Riley nimmt sich mit ihrem Team der Sache an und stößt schnell an Grenzen: Immobilienhaie, Baubehörde – undurchdringlicher Sumpf. Und dann ist da auch noch dieser Husten, der Chastity seit Wochen plagt. Doch nichts, wirklich gar nichts kann sie davon abhalten, selbst im dichtesten Novembernebel klare Verhältnisse zu schaffen.

Im Hamburger Süden schreitet die Gentrifizierung voran. Aber würden die Spekulanten und Immobilienhaie, die sie antreiben, wirklich so weit gehen, ein altes Ehepaar zu Tode zu prügeln? Tatsache ist: Das Ganze sieht nach einer Botschaft aus. Und die verstockten Beamten von der Baubehörde scheinen lieber auf Tauchstation gehen zu wollen.
Privat sieht Chastity Rileys Leben ähnlich verfahren aus: Ihr Freund Klatsche rutscht gefährlich nah an das Milieu heran, aus dem er sich eigentlich fernhalten wollte, ihre Freundin Carla ist ungewollt schwanger und ein neuer Kollege macht Chastity mächtig nervös. Zu allem Überfluss funkt auch noch Ex-Kommissar Faller als Privatermittler in ihrem Fall dazwischen. Doch vielleicht ist das gar nicht so schlecht …

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Seitenzahl: 153

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cover

Titel

Simone Buchholz

Schwedenbitter

Kriminalroman

Suhrkamp

Impressum

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Der vorliegende Text ist eine von der Autorin überarbeitete Version des 2011 bei Droemer/Knaur, München, erschienenen gleichnamigen Titels.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 5499.

Revidierte Neuausgabe© Suhrkamp Verlag GmbH, Berlin, 2025

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagfoto: Achim Multhaupt

eISBN 978-3-518-78236-1

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Christopher Riley

Motto

And in this grey, in this blue shade my tears dry on their own.

Amy Winehouse

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

Den Sack zur Seite schieben und reingehen

Den Winter überleben

Nichts auf der Welt

Balkanmärchen

Totaler Hammer

Schlechtes Staatsanwältinnen-Origami

Hinsetzen und hinlegen

Hooligans

,

Nazis

,

Autonome

Haare ab

Ecke

,

Tor

Falco

Die Vorzüge von Erotik-Boutiquen

Du sprichst mit Geschäftsleuten

Matjes oder Bismarck?

Pietät & Co

Schuldig

Zlatan Bajramovic

Licht

,

Licht und Licht

Entmilitarisierte Zone

Das internationale Netz von allem

Kommst du mit

Hartnäckig und zuverlässig

Wenn man eh schon schreit

,

kann man sich auch gleich anbrüllen

Steine umdrehen in Wilhelmsburg

Der Sound von Autos

Rutschen

Blitzlichtgewitter

Wichtige und unwichtige Funktionen

›La Bohème‹

,

Das Musical

Die fressen Seelen

Picknick

Hamburg – Roubaix

Der alte Mann und der Fisch

Ihr seid jung und habt es richtig nötig

Gemütlich wegrutschen

Was alte Wände alles aushalten

The one and only mit Milch und Zucker

Augen kann man schwer fälschen

So läuft das

Profiboxer

Alle mal durchatmen

Die Luft riecht nach Meer

Dienstanweisung!

Knie an Knie

Can

t help

Drohung oder Versprechen

Deckel drauf

Plakatmassaker

Ist das gedeckt?

Unser Mann in Kopenhagen

Nasskalte Glühwürmchen

Kommt ein Kellner in die Pizzeria und brüllt

Schwerlasttransporter

Keine Zeit

,

keine Zeit!

I shot a man in Reno just to watch him die

Mutteranstalt

Schlechte Sicht

Und der Geruch

Der Schlangenmensch

Spinner und ihre Spinnereien

Honduras

Die Beule

Das große Zeugensterben

Sieht ja richtig super aus

Prostataprosa

Unschlagbares Argument

Halbweltgigolos

The last Diskokugel

Informationen zum Buch

Schwedenbitter

Den Sack zur Seite schieben und reingehen

Das ist kein Anfängerhusten. Alle paar Minuten kommt ein schmutziger alter Hofhund aus meinen Lungen gekrochen und rasselt beim Bellen mit der Kette. Ich sollte im Bett liegen und Tee trinken. Stattdessen stehe ich im Hamburger Süden rum, schaue auf die zerschmetterten Köpfe zweier alter Menschen und rauche. Ich halte mir den Unterarm vor den Mund.

»Sie sind krank«, sagt Calabretta und nimmt mir die Zigarette weg.

»Sie sollten endlich zum Arzt gehen«, sagt Brückner streng, geradezu gescheitelt.

»Sie will das nicht hören«, sagt Schulle. »Und das ist eine Frechheit.« Er sieht mich an, fasst sich an den Kehlkopf und macht Altmännergeräusche. »Ich hab auch schon die Pest am Hals.«

Ja, ja, denke ich und huste zu Ende. Es schmeckt ein bisschen nach Blut. Als der bellende Hund meine Stimme wieder freigibt, sage ich: »Ihr könnt euch ja über mich beschweren. Kann ich meine Zigarette wiederhaben?«

»Nein«, sagt Calabretta. Er geht ins Nebenzimmer, um mit dem neuen Chef der KTU zu sprechen. Hollerieth und sein ewiger Bandscheibenvorfall sind in den Vorruhestand gegangen, halleluja. Der neue heißt Kessler. Talentierter junger Mann, modern und unaufgeregt. Hätte er nicht so eine ambitionierte Frisur, ich fände ihn richtig super.

Die Wohnung von Walt und Lorraine Tucker ist ein bisschen wie nach Hause kommen, es sieht genauso beschissen aus wie bei Tante Grace und Onkel Luke in Bellehaven, North Carolina. Der Holzfußboden ist dunkel lackiert, darauf liegen in wirrer Folge dicke Teppiche in angeblich gemütlichen Farben wie Rostrot und Mintgrün. Die Tapeten an den Wänden sind vergilbt und waren vielleicht mal weiß, vielleicht auch nicht. Die Decke ist mit haselnussbraunen Holzkassetten verbaut. In der Mitte des Zimmers, genau vor dem riesigen Plasmabildschirm, steht ein massiges, groß geblümtes Sofa, sehr viele Pastellfarben. In der Ecke rechts vom Fernseher: ein alter brauner Waffenschrank, die Tür steht offen. Der Schrank ist mit einer Südstaatenflagge ausgeschlagen.

»Darf man das?«, frage ich.

»Was«, sagt Brückner, »eine Rechtsaußenfahne haben?«

»Seine Knarren in so einem unzuverlässigen Schrank aufbewahren«, sage ich.

»Ich würde beides verbieten«, sagt Brückner.

Links vom Fernseher wackelt ein Teewagen unter den Schritten der Kollegen. Der Teewagen musste bei den Tuckers offenbar als Bar herhalten, es stehen fünf schwere Kristallkaraffen darauf, alle eher halbleer als halbvoll, ich tippe auf billigen Bourbon.

Außer nach Blut riecht es sehr stark nach Alkohol, nach altem Staub und nach Frittenfett von vorgestern.

Ich gehe einmal um das Sofa herum, damit ich mir die Tuckers in Ruhe anschauen kann. Von hier hinten kann ich nur sehen, dass die Kopfschüsse ziemliche Austrittswunden hinterlassen haben, um nicht zu sagen: Hackfleisch. Der Holzboden knarzt unter meinen Füßen.

»Hoppla«, sage ich, als ich auch noch die zerschlagenen Gesichter der alten Leute sehe, »da hätte man aber gar nicht mehr unbedingt schießen müssen.«

»Und dann auch noch mit einem ganz schön fetten Kaliber«, sagt Schulle. »Hat was von Gewaltexzess, oder?«

Ich muss husten.

Schulle schaut mich an, schüttelt den Kopf und geht seinem Kollegen Brückner hinterher, der sich auf den Weg durch die Wohnung gemacht hat. Calabretta steht mit den KTU-Leuten um den Schreibtisch im Arbeitszimmer herum. Da liegt die Munition zum Waffenschrank.

Ich bleibe noch ein bisschen vor dem toten Ehepaar stehen. Die zerstörten Gesichter, das ganze Blut. Lorraine Tuckers Klamotten – und so weit man das noch beurteilen kann, auch ihre Frisur – erinnern an die gefürchtete Miss-Ellie-Phase von Donna Reed. Alles ist aufgetürmt, gerüscht, gepufft. Ihr Kleid oder Kittel oder Nachthemd ist apricotfarben. Ihre Pantoffeln sind aus weißem Plüsch. Und auch wenn sie tot ist, wirkt sie, als würde sie gleich aufspringen, weil sie vergessen hat, Kekse anzubieten.

Walt Tuckers toter Körper wirkt aggressiv, als wollte er immer noch jedem und allem eine verpassen, und dann wächst da aber kein Gras mehr. Sein kariertes Hemd spannt über breiten Fast-Food-Hüften und einem mächtigen Brustkorb. Er trägt keine Hosen, sondern Shorts. Im November. Aus den Shorts wachsen dicke, haarige Beine raus. Seine Frau musste sich das Tag für Tag anschauen.

So unangenehm ich die Tuckers vermutlich gefunden hätte, irgendwie rühren sie mich auch. Sie fassen meine Vergangenheit an, die zugeschütteten Ecken meiner Erinnerung, und etwas auf dem Fußboden meines Herzens fängt an zu rascheln.

»Chef?«

Calabretta. Ich räuspere mich und muss husten.

»Was machen Sie da?«

Ich fühle, denke ich. Und ich frage mich mal wieder, was wohl aus mir geworden wäre, wenn mein Vater nicht mit mir in Deutschland geblieben wäre. Wenn wir zusammen in North Carolina gelebt hätten. Wenn ich Amerikanerin geworden wäre, Südstaatenamerikanerin. Wenn ich eine Heimat hätte, wenn da mehr wäre als nur mein Name.

»Nichts«, sage ich, »gar nichts.«

Ich warte, bis alle sich wieder mit was auch immer beschäftigen. Dann verschwinde ich im Treppenhaus, ohne mich zu verabschieden. Es ist ein einsames, trauriges Treppenhaus. Die Holzstufen sind teilweise so abgetreten, dass ich immer wieder abrutsche und den Weg nach unten fast auf dem Hosenboden mache. Es ärgert mich, wenn Gebäude so verrotten. Wenn Leute Häuser einfach kaputtgehen lassen. Alte Häuser haben doch eine Seele. Um die muss man sich kümmern, dann kann man da auch wohnen. Hier hat sich niemand gekümmert, seit Jahren nicht. Die Tuckers waren die letzten Mieter, und die leere Erdgeschosswohnung hat nicht mal mehr eine Tür. Da ist nur ein leerer Sack an den Rahmen genagelt. Ich schiebe den Sack zur Seite und gehe rein. Es ist keiner da, aber wenn es dunkel wird, sind hier wohl eine Menge Leute, die das Loch als Dach überm Kopf benutzen. In fast jeder Ecke jedes Zimmers liegen ein ranziger Schlafsack oder eine alte Decke und eine fleckige Matratze. Manche von den Fenstern gibt es noch, die meisten nicht, und dann ist nicht mal eine Plastiktüte oder so was vorgeklebt.

Calabretta hat gesagt, dass es einer von den Leuten hier gewesen sein muss, der die Tuckers entdeckt und anonym die Polizei angerufen hat. Er geht davon aus, dass wir von denen keinen finden und dass die hier nie wieder aufkreuzen werden. Dass den Zuhauselosen jetzt auch dieses Zuhause weggebrochen ist.

Ich bleibe noch eine Minute in einem der ehemaligen Zimmer stehen. An einer Wand hängt ein Bild. Windjammer vor heruntergerissener Tapete.

Niemand kümmert sich. Niemand.

Den Winter überleben

Der Himmel schimmert in diesem speziellen, dunklen Herbstblau, das den Winter ankündigt. Das kommt von den Wolken. Sie sind schwerer als im Frühling und im Sommer, sie haben eine andere Macht. Mehr Gewicht, mehr Tempo, und das drückt natürlich auf den Himmel. Und auch, wenn die Sonne mal da ist, hat sie die Dunkelheit immer schon im Gepäck. Der Hamburger Novemberhimmel ist ein aufdringliches Ding in Moll, ein sentimentales, dramatisches Gebilde, aber ich versuche, es nicht so ernst zu nehmen. Tut der Himmel ja selber nicht, sonst würde er den Winter nicht überleben.

Ich laufe zum S-Bahnhof Wilhelmsburg und nehme mir da ein Taxi. Wichtig, wenn man sowieso schon angeschlagen ist: Niemals den öffentlichen Nahverkehr nutzen, schon gar nicht die Linie S3, schon gar nicht südlich der Elbe, denn danach steht man ganz sicher nicht mehr auf.

Nichts auf der Welt

Tagsüber zu Hause zu sein, ist dermaßen nichts für mich. Ich komme ja sowieso nicht gut damit zurecht, zu Hause zu sein. Und dann auch noch tagsüber. Und dann auch noch im Bett. Noch fünf Minuten, und ich werde wirklich krank. Ich rufe Calabretta an.

»Sie liegen hoffentlich im Bett und rühren sich nicht«, sagt er.

»Ja«, sage ich. »Es ist furchtbar.«

»Genau richtig«, sagt Calabretta. »Und Finger weg von den Kippen. Sie bringen sich noch um, Chef.«

»Das ist nur eine blöde Bronchitis«, sage ich und huste in meine Armbeuge.

»Auf dem Weg zur Lungenentzündung«, sagt er.

Auf dem Weg in die Hölle, denke ich und zünde mir eine Zigarette an.

»Wir haben erste Ergebnisse aus der Gerichtsmedizin«, sagt er. »Die Tuckers waren schon so gut wie tot, als sie erschossen wurden. Schwere Schädelverletzungen.«

»So sah das ja auch aus«, sage ich.

»Da wollte jemand auf Nummer supersicher gehen«, sagt er.

Supersicher, wo hat er das denn her, mit wem trifft der sich denn?

Ich lege die Zigarette in den Aschenbecher neben dem Bett.

»Sonst noch was?«

»Tatzeit muss zwischen einundzwanzig und dreiundzwanzig Uhr gewesen sein«, sagt er. »Und wir haben ein bisschen DNA. Hautpartikel unter Walt Tuckers Fingernägeln, die nicht ihm gehören. Er hat offensichtlich noch Zeit gehabt, sich zu wehren.«

»Haben Sie mit unserer schönen Gerichtsmedizinerin gesprochen?«, frage ich.

»Betty redet nicht mehr mit mir«, sagt er.

»Seit wann das denn?«

»Seit ungefähr vier Wochen«, sagt er. »Ich hatte es ja tatsächlich geschafft, dass sie mit mir ausgeht. Aber dann hab ich’s verbockt. Und jetzt ist sie sauer.«

»Was haben Sie denn verbockt?«, frage ich.

»Ach«, sagt er. »Ich hab’s halt verbockt.«

Pause.

Dann: »Bin einfach aus der Übung.«

Calabretta wünscht sich nichts auf der Welt sehnlicher als eine Frau und eine Familie, das hat er oft durchblicken lassen. Und von nichts auf der Welt ist er so weit entfernt.

»Was sagt die Ballistik?«, frage ich, in einem hilflosen Ablenkungsversuch. Mir tut’s leid, dass ich Betty erwähnt habe. »Das geschichtsträchtige Schießeisen, das neben den beiden auf der Couch lag, war das die Tatwaffe?«

»Jo«, sagt Calabretta. »Ein alter Smith & Wesson Revolver aus Walt Tuckers Waffenschrank. Kaliber 38 Special.«

»Klassische Liebhaberwumme«, sage ich.

»Richtet immer ordentlich was an«, sagt er.

»Soll uns das was sagen?«

»Na ja«, sagt Calabretta, »mit der eigenen Pistole zu schießen und die dann wieder mitzunehmen, wäre irgendwie diskreter gewesen. Aber deshalb muss ja nicht gleich eine Botschaft dahinterstecken. Schulle und Brückner zerpflücken gerade noch den Tucker’schen Hintergrund. Wir treffen uns dann morgen Nachmittag zur ersten Besprechung.«

Ich nehme die Zigarette aus dem Aschenbecher, ziehe ein letztes Mal daran und drücke sie aus.

»Wenn Sie möchten, können Sie ja dazukommen.«

Natürlich möchte ich.

»Wieso sind Sie vorhin eigentlich so schnell verschwunden?«

Ich lege auf, weil ich husten muss.

Balkanmärchen

Die Musik ist traurig, aber mit einem Augenzwinkern, und sie geht mir sofort in die Fasern. Ich kenne die Melodie nicht, aber es ist, als hätte ich sie mein ganzes Leben lang gehört – eine verdrehte Balkanmusik, die ein bisschen klingt wie die Essenz von allem. Die ursprüngliche Idee. Als wäre es genau so gemeint gewesen, und nicht anders, und zwar wirklich alles.

Ich gehe zum Fenster, mache es auf und schaue runter auf die Straße, und da sind sie: zwei halbseidene Typen, der eine hat eine Trompete an den Lippen, der andere ein Schifferklavier zwischen den Händen. Sie schlingern unsere Straße entlang, ich glaube, die sind angetrunken, wenn nicht sogar vollkommen besoffen. Sie torkeln bis zum Ende der Straße, die Musik wird nur langsam leiser. Bevor sie links abbiegen, bleiben sie stehen, hören kurz auf zu spielen und rufen etwas in die Dämmerung. Natürlich verstehe ich die Sprache nicht, aber ich denke, sie erwarten auch keine Antwort von mir.

Dann spielen sie weiter, ein neues Lied, und es klingt genauso vertraut wie das davor. Als ich in Frankfurt studiert habe, gab es eine alte Frau in unserem Haus, die hat eine ähnliche Musik gehört, und in ihren bunten Kleidern und geblümten Kopftüchern und mit dem vielen, dunkelgoldenen Schmuck überall sah sie aus, als wäre sie einem Balkanmärchen entsprungen. Wenn ich sie auch nur von weitem gesehen hab, hatte ich schon einen Kloß im Hals. Ich habe nie begriffen, was genau da los war.

Die beiden sind schon lange nicht mehr zu sehen, doch ihre Melodien kleben immer noch in unserer Straße. An den Wänden, an den Fenstern, in meinem Gehirn. Würde ich tanzen, würde ich jetzt tanzen.

Stattdessen bekomme ich einen höllischen Hustenanfall.

Totaler Hammer

Klatsche steht in meinem Türrahmen und legt mir die Hand auf die Stirn.

»Du hast doch Fieber.«

»Nein«, sage ich, »Blödsinn.«

»Du siehst schlimm aus.«

»Danke, sehr freundlich.«

»So war das nicht gemeint.«

»Schon okay. Komm rein, du Verbrecher.«

»Ex-Verbrecher, bitte. So viel Zeit muss sein.«

Er entert mit großen Schritten meinen Flur, biegt ins Schlafzimmer ein, schmeißt sich aufs Bett und sagt:

»Komm her, Baby. Du solltest dich wirklich hinlegen.«

Ich habe nicht die Kraft, ihm zu erklären, dass er mich nicht Baby nennen soll, überhaupt habe ich nicht die Kraft für irgendwas, ich bin das denkbar leichteste Opfer für einen strammen Mittzwanziger, also lasse ich mich auch aufs Bett fallen und warte, was kommt. Klatsche will wahrscheinlich ein bisschen rummachen, das sehe ich an seinem Blick, an seinen blitzenden Augen, an dem gespannten Zug um den Mund. Er liegt neben mir, auf den rechten Ellenbogen gestützt, und starrt mich geradezu an. Vielleicht will er doch nicht rummachen, vielleicht will er mich provozieren.

»Was«, sage ich.

»Baby, ich werde eventuell umsatteln«, sagt er.

»Wie, umsatteln?«, frage ich. »Bin ich dir zu alt?«

»Bullshit.«

Er gibt mir einen Kuss auf die Stirn, dreht sich auf den Rücken, zündet sich eine Zigarette an und sagt: »Ich denke darüber nach, in die Gastronomie einzusteigen.«

Ich ziehe eine Augenbraue hoch und sage: »Pff.«

»Nicht gut?«

»Ich weiß nicht«, sage ich. »Wo genau willst du denn einsteigen?«

»Pass auf«, sagt er und stützt sich wieder auf den Ellenbogen, »Ali geht in Rente.«

»Welcher Ali?«

»Ali, der dicke Türke, dem die Blaue Nacht gehört«, sagt er, »der Typ, der damals den kleinen Heiner Matzen versteckt hat, weißt du noch?«

Ich nicke. Das weiß ich noch sehr gut. Und ich weiß auch, dass Ali nicht nur Gastronom ist, Ali hat seine Finger ganz tief im Kiez stecken.

»Also«, sagt Klatsche, »Ali hat Rocco und mich gefragt, ob wir seinen Laden übernehmen wollen.« Er setzt sich auf und macht ein wichtiges Gesicht. »Ich meine, der große Ali fragt uns kleine Checker, ob wir sein Erbe antreten wollen. Das ist ein Hammer!«

Totaler Hammer. Der ehemalige Einbrecherkönig Klatsche und sein Knastkumpel Rocco Malutki machen zusammen eine Kneipe im Rotlichtviertel auf.

»Jetzt sag schon!«

»Totaler Hammer«, sage ich und muss husten.

»Ja«, sagt er, »Riesenkompliment von Ali, oder? Da kann man doch nicht nein sagen. Hörst du irgendwann eigentlich auch mal wieder auf zu husten?«

Ich schüttele den Kopf und huste weiter.

Als es wieder still ist, streicht er mir übers Haar und fragt: »Und? Was gibt’s bei dir Neues? Außer deiner Schwindsucht, meine ich.«

»Ein totes altes Ehepaar in Hamburg-Süd«, sage ich.

»Da ist meins jetzt aber aufregender, oder?«

Ich hab den Jungen ja wirklich gern, nur manchmal könnte ich ihm echt den Arsch versohlen.

Schlechtes Staatsanwältinnen-Origami

Der Taxifahrer setzt mich am S-Bahnhof Wilhelmsburg ab. Der Hamburger Süden ist eine undurchsichtige Gegend. Angeblich der heiße Scheiß, der nächste Szenestadtteil, der Sprung über die Elbe, Wilhelmsburg, die neue Mitte, Hamburg, wachsende Stadt.

So ein Blödsinn, echt.