Schweigekind - Gert Heidenreich - E-Book

Schweigekind E-Book

Gert Heidenreich

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Psychotherapeut Hans Sahlfeldt beschuldigt sich selbst, in geistig verwirrtem Zustand einen Mann getötet und verbrannt zu haben. Noch während der Nachforschungen begibt er sich zur Behandlung in eine psychiatrische Klinik. Die therapeutischen Gespräche dort führen zurück in die Vergangenheit. Eines Abends war eine mysteriöse Frau in Sahlfeldts Praxis aufgetaucht und hatte ihn um Hilfe gebeten: Ihre Tochter Hanna schweige seit dem achten Geburtstag. In den Wochen nach dem ersten Treffen entsteht eine vorsichtige, für ihn vielleicht letzte Liebe. Er ahnt, dass das Schweigen der Tochter mit der Lebensgeschichte der Mutter zusammenhängt, doch die gibt ihr Geheimnis nicht preis. Eines Tages ist sie verschwunden. Sie hinterlässt Sahlfeldt Briefe, die sie an ihn geschrieben, aber nie abgeschickt hatte – und aus ihnen erfährt er die wahre Geschichte des Schweigekinds, die auch in seine eigene Kindheit und hinter die Fassaden der kleinstädtischen Idylle führt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 285

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Oh, lift me as a wave, a leaf, a cloud!

I fall upon the thorns of life! I bleed!

P. B. Shelley

Ode to the West Wind

Gert Heidenreich

SCHWEIGEKIND

Roman

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

1

NACH WOCHEN TROCKENER KÄLTE begann an jenem Dezembernachmittag Schnee zu fallen. In den freien Morgenhimmel waren von den Bergen her einzelne Wolken eingezogen, hatten sich über dem See gesammelt und zu einer grauen Schicht verbunden.

Während die ersten Flocken durch die Luft irrten, lief Hans Sahlfeldt zum Ende des Uferstegs, der auf die Eisfläche ragte. Sein kleiner, altersmagerer Begleiter versuchte zu folgen, kam aber auf den glatten Holzplanken kaum voran und rief seinem Patienten zu:

»Das Eis trägt nicht!«

»Wer will aufs Eis?«, wandte sich Sahlfeldt zurück. »Ich sehe den Schnee auf dem See, mein Gott, ist das schön, kommen Sie, Tiefenbach, morgen trägt der See ein Fell, und wir dürfen es jetzt schon wachsen sehen!«

Der Arzt holte ihn ein, stellte sich neben ihn an die Kante des Badestegs, ergriff seinen Arm, beide schwiegen. Das Schneegestöber nahm zu, und die blauschwarze Bergkette hinter dem jenseitigen Ufer wurde zu einem einförmigen Schatten, der schließlich verschwand.

Hans Sahlfeldt nahm seinen Hut ab, legte den Kopf in den Nacken und schien zu genießen, dass auf seinen geschlossenen Augen die Flocken schmolzen.

»Die schönen Tage von Aranjuez sind nun vorbei…«, sagte er leise und leckte das Schmelzwasser von seinen Lippen. »Sehen Sie, Tiefenbach, da ist es wieder, ich habe einen Satz im Kopf und weiß nicht woher und weiß nicht, warum und wohin, obwohl es schneit.«

Tiefenbach nahm ihm den Hut aus der Hand und setzte ihn sich selbst auf. »Ich werde mich erkälten Ihretwegen!«

Sahlfeldt lachte. »Sie können von Glück sagen! Unsereiner weiß überhaupt nicht, was Schnee ist! Sie hingegen! Die Flocken schweben auf Ihren nackten Schädel nieder, und jede schenkt Ihnen eine Gewissheit über die Menschenseele!«

»Bitte kommen Sie, Hans. Mir ist kalt, unser Therapieraum ist wunderbar warm, wir unterhalten uns dort über die Gewissheiten des Schnees und meinetwegen auch über meine Glatze.«

Sein Patient blieb ungerührt stehen, breitete die Arme aus und sagte: »Es geschieht. Und so früh.«

Tiefenbach trat einen Schritt zurück. Er deutete auf das Nottelefon der Klinik, das in einem kleinen Holzkasten neben dem Steg an einem Pfahl installiert war. »Ich kann Sie auch von der Aufsicht holen lassen!«

»Ja! Holen Sie, holen Sie ruhig!«, rief Sahlfeldt, »eine Bankrotterklärung für den Seelenarzt, das wissen Sie, holen Sie! Der Schnee fällt dennoch, dennoch, dennoch! Schauen Sie, wie er auf dem Eis liegt, wir wollen Spuren hinterlassen!«

Er stieg die Eisentreppe hinab, und Bruno Tiefenbach, mit seinen fünfundsiebzig Jahren weniger trittsicher als sein acht Jahre jüngerer Patient, sah sich genötigt zu folgen und hielt sich an Sahlfeldts Mantel fest. Nebeneinander stapften sie auf den See hinaus.

Der Schnee fiel jetzt dicht, leichter Wind erhob sich, die Welt schien sich aufzulösen.

Ein Knall zerschoss die Stille.

Wachsam und wie gegen einen Feind verbündet, blieben die beiden Männer stehen. Weitere Schläge peitschten durch die Eisdecke und verliefen sich. Dann erklang unter ihnen ein dunkler Ton, als klagte ein Tier am Grund. Der Ton schwoll an und löste sich in Donner auf, der über den See rollte und am unsichtbaren Ufer gegenüber erstarb.

»Hören Sie«, flüsterte Sahlfeldt und umklammerte Tiefenbachs Arm, »hören Sie. Das Eis singt für uns. Man muss einen Bericht schreiben, einen präzisen Bericht!«

»Ja, genau das wollen wir jetzt tun. Kommen Sie.«

Folgsam wandte Sahlfeldt sich um, die beiden Männer arbeiteten sich, der große Patient Hand in Hand mit seinem vor Kälte zitternden Arzt, zur Treppe am Steg vor und liefen durch das Schneetreiben zurück zum Sanatorium.

Der Fußboden des Therapieraums aus hellgrau lackierten Holzbohlen war beheizt, weshalb Tiefenbach seine Stunden hier in Stoffschuhen abhielt und auch seine Patienten bat, ihre Schuhe vor der Tür zu lassen und die in ihren Krankenzimmern bereitliegenden Pantoffeln zu tragen.

Er hatte für Sahlfeldt und sich selbst Tee zubereitet, man saß einander in dunkelgrünen Ledersesseln mit hoher Rückenlehne und Ohrenbacken gegenüber, getrennt von einem kleinen weißen Korbtisch. Darauf standen die Tassen, zu denen die Männer gleichzeitig griffen, daraus tranken, sie wieder abstellten. Sahlfeldt räusperte sich und schwieg. Sein Therapeut fixierte ihn und lehnte sich im Sessel zurück. Zum ersten Mal in seiner Zeit als Analytiker hatte er einen Patienten, der selbst Therapeut war – wenn auch von anderer Richtung und Schule: Als Paar- und Familientherapeut hielt Hans Sahlfeldt die Behandlungsweise nach Sigmund Freud für überholt und hatte seit Jahren mit der Methode gearbeitet, die auf die Amerikanerin Virginia Satir zurückging. Von ihr wiederum war Tiefenbach nicht überzeugt.

Der Raum wurde von Lichtleisten erhellt, die unterhalb der Decke die Wände umliefen. Auf halber Höhe wechselte hinter dem Patientensessel eine Digitaluhr, die in die Mauer eingelassen war, geräuschlos ihre Ziffern. Vor den drei Fenstertüren, aus denen man auf den Hortensiengarten und die Liegewiese des Sanatoriums blickte, fiel in der frühen Dämmerung fortdauernd Schnee und schien mit seiner rieselnden Lautlosigkeit die Stille im Zimmer noch zu vertiefen.

»Ich muss nicht erzählen«, sagte Sahlfeldt plötzlich. Tiefenbach nickte. »Ihr Analytiker«, fuhr Sahlfeldt nach einer Pause fort, »wollt ja immer was von der Kindheit hören und von Mutterliebe, aber ich habe keine Lust, von meiner Kindheit zu sprechen, überhaupt keine Lust, ganz und gar keine, und von der Liebe meiner Mutter schon erst recht nicht.«

»Natürlich nicht.« Tiefenbach schien amüsiert. »Aber wir wollen auch nicht schon wieder unsere Arbeitsweisen diskutieren, nicht wahr? Ich haben Ihnen damals, als Sie bei mir die Lehranalyse machten –«

»Abgebrochen!«, fuhr Sahlfeldt auf. »Aus gutem Grund abgebrochen!«

»Das kann man so sehen oder anders. Vielleicht wären Sie kein schlechter Analytiker geworden. Wie immer wir das betrachten, so ist doch festzuhalten, dass wir in der unvorhergesehenen Situation hier und jetzt keine Kollegen sind, sondern Sie sind der Patient und ich bin Ihr Arzt, der feststellen darf, dass Sie längst begonnen haben, über Ihre Kindheit zu sprechen.«

»Habe ich nicht.«

»Die schönen Tage in Aranjuez sind nun zu Ende«, griff Tiefenbach auf, was Sahlfeldt keine Stunde zuvor im Schnee gesagt hatte, und wartete. Als die Reaktion ausblieb, half er nach: »Hat der junge Don Carlos nicht einen gewaltigen Konflikt mit seinem Vater, der ihm die Verlobte weggeheiratet hat, weswegen Carlos jetzt folglich die Stiefmutter liebt? Also, warum fiel Ihnen der erste Satz aus Schillers Drama ein?«

Sahlfeldt presste die Lippen aufeinander und schlug zornig mit den Handflächen auf die Sessellehnen.

»Es gibt auch andere Sätze!«

»Gewiss. Ich höre jeden gern von Ihnen.«

Wieder trat Stille ein, Tiefenbach schloss die Augen und lehnte den Kopf zurück. Der Spaziergang im Schnee hatte ihn erschöpft. Sahlfeldt entschied sich, ihn am Schlaf zu hindern.

»Wohin geht das Glück, wenn es verschwindet?«

Der Analytiker öffnete ein Auge. »Wie?«

Laut wiederholte Sahlfeldt: »Wohin – geht – das – Glück, – wenn – es – ver – schwindet?«

Tiefenbach war sofort hellwach. »Eine sehr gute Frage. Was antworten Sie?«

Sein Patient stöhnte, schlug die Hände vors Gesicht und überließ sich seiner Erinnerung. Nach Minuten öffnete er die Augen und fuhr sich mit beiden Händen über die Wangen.

»Ich danke Ihnen«, sagte Tiefenbach leise und beugte sich zu seiner Teetasse vor. »Lassen Sie uns über diese Frau reden, deren Schuld Sie auf sich nehmen.«

Sahlfeldt atmete tief und beruhigte sich. »Wenn Sie das so sehen, hat es keinen Sinn. Ich verlange Gitter vor meinem Fenster und Zäune um das ganze Areal. Dieses Sanatorium ist ein Skandal. Einen wie mich derart ungesichert herumlaufen zu lassen! Sie werden sich verantworten müssen!«

Der Therapeut nickte und stellte seine Tasse zurück.

»Wird gemacht. Das ist ein erheblicher Aufwand für einen Unschuldigen, denn die Untersuchungen werden ergeben, dass Sie den alten Mann keineswegs getötet haben.«

»Verbrannt!«, rief Sahlfeldt, »verbrannt! Ich habe beabsichtigt, ihn als tote, tote, tote Asche zu hinterlassen!«

»Nicht mal der Untersuchungsrichter hat Ihnen das geglaubt. Und ich weiß, dass es andere Gründe für Ihr Geständnis geben muss.«

»Sie wissen? Dann nur heraus damit, Herr Tiefenbach, heraus damit, ich bin begierig zu hören, was der Analytiker weiß!«

Tiefenbach herrschte ihn an: »Wohin – geht – das Glück, wenn es – verschwindet? Das war doch die Frage, nicht wahr?!«

Sein Patient starrte zu ihm hinüber. Er schien nicht zu begreifen, was Tiefenbach bewog, derart zu intervenieren. Dann besann er sich und nickte. Leise sagte er:

»Lenja war nackt. Oktober. Sonne. Irgendwo zwischen Berg und Tal.«

Sie hatte sich auf dem Grashang zu ihm her gewälzt. »Wohin geht das Glück, Hans, wenn es verschwindet?«

Er hatte geantwortet: »Nach dem Energieerhaltungsgesetz kann es nicht verschwinden.«

»Oh doch. Doch. Du wirst sehen, eines Morgens wachen wir auf, und es hat sich davon gemacht. Warum ziehst du dich nicht aus?«

»Wenn jemand kommt.«

Lenja lachte. »Niemand kommt.«

»Wir sind gekommen…«

Er hockte sich neben sie und zog Hemd und Unterhemd aus.

»Das Glück«, sagte er, »ist ein Komet und kehrt nach hundert Jahren wieder.«

»Nach tausend«, widersprach sie.

»Nein. Hundert.«

Sie setzte sich auf und strich mit den Fingerspitzen über seinen Mund.

»Die Sonne auf der Haut wird dir gut tun.«

Damals hatten sie in einer Mulde der Alm miteinander geschlafen, er voller Angst, Wanderer könnten sie überraschen. Als sie dann sorglos im Mittagslicht lagen, wunderte er sich über die Unbedenklichkeit, mit der er sich unter dem Himmel ausstreckte. Er wünschte, der Augenblick möge anhalten, und sagte:

»Ich würde dich gern fotografieren.«

»Warum?«

»Warum malt ein Maler seine Geliebte? Du bist schön, und der Augenblick ist flüchtig.«

Lenja setzte sich auf, zog die Knie an den Körper und umschlang sie mit ihren Armen.

»Was machst du mit dem Foto?«

Er begriff, dass er die Stimmung zerstört hatte, und wollte widerrufen. »Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe, verzeih.«

Sie löste ihre Arme, warf sich zurück ins Gras, ließ ihre angewinkelten Beine auffallen. »Origine du monde… Für alte Kerle.«

»Und?«, fragte Tiefenbach, »haben Sie fotografiert?«

»Ich habe mich geschämt!« Sahlfeldt schrie. »Man fotografiert nicht, wenn man sich schämt! Man schämt sich! Es wäre gut, wenn Sie nicht solche Fragen stellen würden, für die Sie sich schämen sollten!«

Er hatte sich wütend abgewandt, seine Kleider von der Wiese gerafft und sich angezogen.

Lenja legte sich auf die Seite und igelte sich ein. Er hörte, dass sie weinte. Er hatte keinerlei Recht, getroffen zu sein, es stimmte, er war ein alter Kerl, Jahrgang 1948. Und sie war in diesem sommerlich warmen Oktober siebenunddreißig. Eine aussichtslose Beziehung. Auch wenn sie nicht seine Patientin war, wie konnte er sich auf sie einlassen, ohne zu bedenken, dass er sich lächerlich machte? Und sie? Seit zwei Wochen war er ihr Geliebter, doch sie hatte von sich fast nichts preisgegeben. Wie lange würde sie ihn ertragen?

Der Gebirgszug gegenüber, der ihm mittags noch behütend erschienen war, sah jetzt bedrohlich aus. Die Schatten hatten Risse und Senken gefüllt und die Konturen der Grate und Scharten geschärft. Oder war es sein Blick? Er wusste, dass seine Seelenstimmung seine Sichtweise veränderte und ihn manchmal Bilder sehen ließ, die mit der Realität nicht übereinstimmten.

»Bitte.« Sie lehnte sich an seinen Rücken. »Irgendwann bin ich das los. Das Glück ist nicht verschwunden, ja? Sag, dass es nicht verschwunden ist, Hans.«

Er wandte sich zu ihr um.

»An diesem unheimlichen Gebirgsbild arbeiten wir morgen weiter«, sagte Tiefenbach, »für heute, lieber Sahlfeldt, halten wir fest, dass Sie damals ein glücklicher Mensch gewesen sind.«

Sein Patient stand sofort auf.

»Morgen wieder ein Gang in den Schnee?«

»Wenn es sein muss.« Tiefenbach nickte.

2

MAN HATTE SAHLFELDT EINEN Einzeltisch im kleineren Speiseraum, der dem Hauptraum angegliedert war, zugewiesen, was ihm recht war. Sich auf andere Klinikpatienten und ihre Krankheitsgeschichten einlassen zu sollen, war eine Vorstellung, die spürbar Widerwillen in ihm erregte, eine Idiosynkrasie, die er sich als bedenklich attestierte; sollte sie anhalten, würde er seinen Beruf aufgeben müssen.

Während der Mahlzeiten beobachtete er beim Gang durch den Speisesaal, wie an den Tischen vertraut geplaudert wurde und man wohl nicht nur die Krankengeschichten, sondern auch Details des Privatlebens austauschte. Die wenigsten hatten damit gerechnet, sich hier postoperativ oder prophylaktisch, posttraumatisch oder mit Burnout einzufinden; die meisten fühlten sich von ihrer Beschädigung hinterrücks überfallen und sahen sich als Opfer, was sie für die Zeit des Aufenthalts solidarisch mit den anderen Opfern werden ließ.

Sahlfeldt nahm an, dass die Gespräche nach dem Abendessen in der Weinstube des Sanatoriums fortgesetzt wurden und dass sich beim Genuss der ausgeschenkten Weine die Einsicht in die Biografien vertiefte. Er schloss nicht aus, dass in der mit Eiche getäfelten Bar erotische Beziehungen geknüpft wurden, die sich heilsamer auswirkten als die verordneten Behandlungen. Selbst ließ er sich nie in der Weinstube sehen und sah allen Grund, den Anlass seiner Anwesenheit in der Klinik zu verbergen – preiszugeben, dass ein Therapeut Therapie brauchte, hätte die verbreiteten Vorurteile gegen seinen Berufsstand befeuert.

Im kleinen Speiseraum standen außer seinem noch zwei Zweiertische. Am einen saß ein magerer Greis mit abweisender Miene seiner sichtlich jüngeren Frau gegenüber. Er hatte flusiges graues Haar und trug einen weißen Backenbart, der von den Schläfen bis zu den Kinnmuskeln reichte. Anscheinend sah und hörte er schlecht, denn bei der Wahl der Nachspeise von der täglichen Menükarte las seine Gattin ihm die Alternativen laut vor, wobei sie jede Silbe von der anderen trennte: »Li-mo-nen-tor-te?«

Am anderen Tisch redete eine Frau um die Sechzig, deren schwarze Haare das Gesicht in Fransen umhingen, unaufhörlich und ohne ihn anzusehen, auf ihren überreifen, dicklichen Sohn ein, der dann und wann »Ja« sagte, oder, wenn er sich ermannte, »Vielleicht«. Er fotografierte seine bleiche Mutter bei jeder Mahlzeit. Zu diesem Zweck stand er auf, richtete ihr Mobiltelefon von schräg oben auf ihren Kopf, an dem Hautinseln sichtbar waren, und reichte es ihr anschließend zurück. Sahlfeldt nahm an, dass auf keinem der Bilder ihr Gesicht erkennbar war, und hatte den Sohn im Verdacht, eben dies zu beabsichtigen.

Keinem der vier Menschen, die mit ihm den Raum teilten, auch nicht der Bedienung, die ihn zu den Mahlzeiten in bayerischem Dialekt begrüßte, hätte er erklären können, weshalb er hier war.

Am darauf folgenden Tag verzichteten Tiefenbach und Sahlfeldt auf den vereinbarten Spaziergang und fühlten sich am frühen Nachmittag zu Beginn der Therapiestunde etwas dösig. In der Nacht war Schnee mit alpenländischer Ausgiebigkeit auf das Klinikgelände gefallen, hatte sich zu Pilzhauben auf den Dächern getürmt, die Wege verschüttet, und, als er am hellen Vormittag nachließ und schließlich aufhörte, eine Stille hinterlassen, die von nun an endgültig zu sein schien. Niemand hatte damit gerechnet, dass der Dezember so entschieden winterlich beginnen würde. Die Hausmeister liefen mit Dachlatten in den Händen an den Unterkünften entlang und schlugen von den Regenrinnen Eiszapfen ab. Blitzend fielen sie durch das Licht der Wintersonne und zersplitterten auf der Brüstung der Balkone.

»Was liegt uns heute auf der Leber?«

Wenn Tiefenbach versuchte, seine eigene Rolle zu ironisieren, erweckte er zuverlässig Sahlfeldts Ärger.

»Ich habe beim Frühstück Ihren Namen vergessen. Und es dauerte fast eine halbe Stunde, bis ich wieder wusste, dass Sie Bruno Tiefenbach heißen, und ich kam nur darauf, weil ich mich erinnerte, dass ich damals schon dachte, mit dem Namen blieb dem armen Mann ja nichts anderes übrig als Analytiker zu werden, wie finden Sie das?«

Der Arzt verkniff sich ein Grinsen. »Nicht ungewöhnlich.«

»Nicht ungewöhnlich? Ich verliere stündlich Namen! Sie machen sich aus meinem Kopf davon! Nur die Gesichter bleiben. Ich versuche, die zerrissenen Erinnerungsfäden wieder zu verknoten, ich arbeite wie eine Spinne, aber je mehr ich mich bemühe, bestimmten Augen einen bestimmten Namen zuzuordnen, um so schneller weichen sie aus, als ob es sie erleichtert, nicht mehr in Verbindung zu sein. Das finde ich durchaus ungewöhnlich, ich finde es beängstigend, es deutet auf eine fortschreitende –«

»Nein, deutet es nicht«, unterbrach ihn Tiefenbach. »Ich muss Sie enttäuschen, Demenz ist nicht Ihr Problem. Oder noch nicht. Sie wurden nach allen Regeln ärztlicher Kunst untersucht. Es handelt sich zweifellos um ein seelisches Phänomen. Sie trennen sich von den Menschen. Sie bestrafen sie mit Auslöschung. Ihr Gehirn, lieber Sahlfeldt, ist vollkommen in Ordnung. Es ist ihre Einstellung zur Menschheit, die Ihnen zu schaffen macht! Und ich fände es an der Zeit, dass Sie mir endlich erzählen, wann Sie begonnen haben mit dieser Verachtung.«

Sahlfeldt stand auf. »Ich verachte niemanden!«

»Sie können gern ein wenig herumlaufen, wenn es Sie belustigt, aber dann bitte ich Sie, sich wieder zu setzen.«

Sein Patient trat ans Fenster, zog den Vorhang zur Seite und blickte hinaus in die weiße Landschaft.

»Dass etwas so Kaltes so tröstlich sein kann.«

»Manche denken beim Schnee an ein Leichentuch.«

Tiefenbachs Stimme schien Sahlfeldt nicht aus dem Raum hinter ihm zu kommen, sondern aus einer weit größeren Entfernung. Er wandte sich zu ihm um.

»Warum denken Sie beim Schnee an den Tod?«

Tiefenbach wedelte abwehrend mit der Hand. »Sie sind der Patient. Vielleicht werden wir einmal die Rollen tauschen. Aber nicht jetzt. Erzählen Sie mir von Lenja. Beginnen Sie mit der ersten Begegnung.«

»Davon haben wir schon gesprochen.«

»Ich bin ein vergesslicher alter Mann und erinnere mich nur daran, dass es Herbst war, nein?«

Sahlfeldt drehte sich wieder zum Fenster.

»Es war Herbst. Ja. Der zweite Oktober.«

Wohin ging der Sommer? Er hätte ihn gern festgehalten. Hans Sahlfeldt stand am Fenster seiner Praxis und blickte in die Straße hinab.

Unten flackerten die Laternen auf. Ihr Licht spiegelte sich in den nassen Autodächern: der abendliche Korso aus Missmut und Müdigkeit.

Seine letzten Patienten für heute traten aus dem Haus auf den Bürgersteig. Er konnte sehen, wie die blonde Frau den Streit als brennende Schleppe hinter sich her über den Asphalt zog. Er wusste, dass er nicht die Wirklichkeit, sondern seine Ausdeutung sah. Hier oben noch hatte seine Einbildung ihm den Mann gezeigt, wie er sich in der Tür umwandte, ihn feindselig ansah und zwei Hände voll Asche im Korridor verstreute, bevor das Paar, wütend über das erneute Misslingen der Stunde, die Treppe hinunter lief: hilflose Dreißigjährige, keine Freude, kein Sex; ihr Hass aufeinander war das einzige Gefühl, das ihnen geblieben war, und Sahlfeldt fragte sich, ob er ihnen auch den noch nehmen durfte.

Dünner Regen fiel in die Straße. Das Paar stand schweigend auf dem Bürgersteig. Sie wandte sich grußlos ab, der Mann sah ihr nach. Erstaunlich, wie lange er brauchte, um zu begreifen, dass er in die entgegen gesetzte Richtung gehen musste.

Sahlfeldt betrachtete sein eigenes Bild im Fenster, sah einen leicht gebeugten Mann mit grauen, gelockten Haaren, das Gesicht verschwommen bis auf die lange Nase und die leicht abstehenden Ohren. »Du bist eigentlich nicht der Sommertyp«, sagte er.

Das stimmte, seine Generation war auf Schatten gewachsen, ohne noch zu wissen, wer sie geworfen hatte.

Dennoch hatte es Jahre gegeben, in denen er dem Herbst widerstand und bis in den November trotzig Leinenanzüge und einen Strohhut trug; andere Jahre, in denen er dem Herbst nachgab wie die Bäume. Und wieder andere, in denen er den Verdacht hatte, dass ihm das Verwelken gefiel. Bewährte Einsichten brachten sich in Erinnerung: Was man nicht festhalten kann, soll man freigeben, den Sommer an den Herbst, das Licht an die Dämmerung. Die sterbende Liebe – an den Hass?

Im Herbst breiteten sich Trübsinn und Ratlosigkeit in seiner Praxis aus. Wenn das Licht abnahm, schien das Gewicht der Tage zuzunehmen. Paare luden ihr missglücktes Leben bei ihm ab, ohne danach erleichtert zu sein. Patienten, die in den Mai-Sitzungen redselig Lösungen suchten, verstummten Ende Oktober, ihr Rücken bog sich, sie neigten sich nach vorn, sanken in einen Sekundenschlaf, zuckten hoch, richteten sich auf und baten lächelnd um Entschuldigung; er nickte, sie lehnten sich erleichtert in den Sessel zurück, und während er auf eine Traumerzählung, eine Klage, eine Verdächtigung, eine Erinnerung, eine Selbstbezichtigung wartete, ließen sie ihren Kopf in den Nacken fallen, schlossen die Augen und taten so, als ob sie nachdenken würden. Er nannte das im Stillen ihre vorgetäuschte Kooperation und überließ sie der Erschöpfung ihrer Seele. Er zog sich selbst hinter seine Augenlider zurück und genoss das Schweigen. »Im Herbst«, hatte er seiner Frau gesagt, »arbeite ich gemeinsam mit meinen Klienten das im Sommer angesammelte Schlafdefizit auf und lasse mich auch noch dafür bezahlen.«

Noch immer blickte er hinunter in die Straße. Der Regen ließ nach. Die Autokolonnen schoben sich als rote und weiße Lichterketten aneinander vorbei nach Süden und Norden. Auf dem Bürgersteig gegenüber leuchteten die Peitschenlampen durch das gelbe Laub der Platanen, im Himmel über den Kaminen der Gründerzeithäuser glühten die Wolkenränder.

Die Kanten der Möbel waren in der Dämmerung unscharf geworden, der runde Couchtisch aus Glas, um den sieben weiße Sessel standen, verlor seinen Glanz. In der Zimmerecke für die Kinder der Patienten verwandelten sich die Schaumstoffkissen, Spielzeugsäcke und Polsterrollen in winterschlafende Tiere.

Ihm war nach Whisky zumute, den er meiden sollte; nach Wein, den er gemäß einer Vereinbarung mit sich selbst nicht vor sieben Uhr abends trank; nach einer Zigarette, die er nicht im Haus hatte. Noch immer zählte er die nikotinfreien Monate seit dem Ende seiner Ehe; achtunddreißig waren es inzwischen.

Die Oleanderbüsche, die in drei Terrakotta-Kübeln auf Fußschalen vor den Fenstern standen, trugen Blütenknospen. Sie widerlegten die Regeln, die Reinhild seinerzeit für die Pflege der Oleander aufgestellt hatte. Weder transportierte er die Pflanzen im Winter ins ungeheizte Nebenzimmer im Parterre, noch stellte er sie je auf die Terrasse zum Garten an der Rückseite des Hauses. Er düngte und goss, und die Oleander gediehen und blühten im Therapieraum ohne Einhaltung der Jahreszeiten. Er fand gerecht, dass die Büsche nach dem Ende der Ehe seine Partei ergriffen hatten. Demnächst würde er Reinhild von den Knospen berichten, in dem triumphierenden Ton, den sie nicht ertrug.

Nach der Trennung hatten sie einen Turnus von Begegnungen vereinbart, um die unvermeidlichen Streitigkeiten nicht eskalieren zu lassen. Als Familienrichterin war Reinhild vorwiegend mit Scheidungsfällen befasst und vermied in eigener Sache die Konflikte, die sie bei anderen Paaren schlichten musste. Gemeinsame Freunde blieben auch nach der Ehe erhalten, ebenso wie Gençay Güler, die, nun Ende fünfzig, seit Jahren den Haushalt besorgte und weiterhin montags Sahlfeldts Wohnung und die Praxis in Ordnung hielt. Überhaupt wirkte die Auflösung der Beziehung so vernünftig und diszipliniert, als habe sich die einstige Liebe der Beteiligten schon lange zuvor zu einem geübten freundschaftlichen Gefühl vermindert.

Er trat vom Fenster zurück, lief durch den Therapieraum zur Küche, prüfte, ob die Kaffeemaschine ausgeschaltet war, ging in die Toilette, machte das Licht aus und nahm im Flur seine Lederjacke von der Garderobe. Das Wartezimmer lag im Dunkeln. Er wollte die Tür schließen, als er den schmalen Schatten sah, der sich vor dem Licht der Straßenlaternen im Fenster erhob. Sahlfeldt blieb stehen.

»Entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht kommen hören. Haben Sie einen Termin? Dann müsste ich das vergessen haben, tut mir leid, das kommt vor.«

»Sie sind mir empfohlen worden.«

Die Stimme war angenehm und klang nach einer Raucherin. Er schaltete das Licht ein, und die Frau im schwarzen Mantel schützte mit der Hand ihre Augen.

»Die Tür stand offen«, sagte sie.

Es war der zweite Oktober, der erste Freitag des Monats und, wie er später erfuhr, World Smile Day, der Internationale Tag des Lächelns. Er schaltete die Stehlampe neben dem Glastisch ein. Die Frau behielt ihren Mantel an. Er bat sie, sich zu setzen.

Tiefenbach lag zurückgelehnt in seinem Sessel, hielt die Augen geschlossen und pfiff beim Ausatmen leise. Die Schneelandschaft vor den Fenstern sandte eine bläuliche Dämmerung in den Raum. Hans ging zum Teetisch zurück, setzte sich, schwieg, und wartete darauf, dass der Glücks-Komet wiederkehrte.

Sein Therapeut hob den Kopf. »Da sind Sie ja, ich hatte schon gefürchtet, Sie würden am Fenster festwachsen.«

»Wozu habe ich Ihnen das alles erzählt?«

»Damit ich es erfahre«, sagte Tiefenbach.

»Sie haben geschlafen!«

»Nicht wirklich.«

Sahlfeldt richtete den Zeigerfinger auf ihn. »Sie haben geschnarcht!«

»Das ist meine Art nachzudenken. Und jetzt sagen Sie mir bitte, wann Sie endlich aufhören wollen, mir die Wahrheit vorzuenthalten. Wir kreisen immer um dieselben Fragen, und Sie reichen mir nicht mal den kleinen Finger aus Ihrem selbst konstruierten Käfig. Die einzige Krankheit, an der Sie leiden, ist die Liebeskrankheit, die wiederum auf ein völlig intaktes Gefühlsleben schließen lässt.«

»Das ist eine krasse Fehldiagnose!«

Tiefenbach seufzte. »Sie wissen doch hoffentlich selbst, dass Sie die unglückliche Lenja vom ersten Augenblick an geliebt, nein, sagen wir, begehrt haben.«

»Ganz und gar nicht. Ich war geradezu abweisend!«

»Eben«, murmelte Tiefenbach, »eben. Ich werde jetzt das Licht einschalten.«

Lenjas erster Brief

Sehr geehrter Herr Sahlfeldt, gestern haben wir uns kennen gelernt. Es war nicht meine, sondern Tiefenbachs Idee, dass ich mit Hannas Problem in Ihre Praxis kommen sollte. Ich hatte ihn wegen der alten Geschichten aufgesucht, auch er gehört zu denen, die mich im Stich gelassen haben, als ich im selben Alter war wie Hanna jetzt. Ebenso wie Ihr Vater, seinerzeit Staatsanwalt. Er sei in einem Altersheim, sagt Tiefenbach. Rollstuhl. Eine viel zu milde Strafe.

Tiefenbach konnte ich verzeihen. Er hat eingesehen und bereut, was er damals getan hat, oder besser gesagt, nicht getan hat. Als ich ihm erzählte, dass meine Tochter Hanna seit ihrem achten Geburtstag nur noch schweigt, meinte er, ich sollte zu Ihnen gehen. Er sei zu alt für eine solche Therapie.

Vielleicht könnten Sie etwas von der Schuld Ihres Vaters wieder gut machen? Tiefenbach hält viel von Ihnen, obwohl er irgendwelche Vorbehalte gegen Ihre Methoden hat, die ich nicht verstehe. Die Tür zu Ihrer Praxis stand offen, ich setzte mich ins Wartezimmer. Auf der Treppe war mir ein wütender Mann begegnet. Sie waren so freundlich, mir zuzuhören, obwohl Ihr Arbeitstag eigentlich beendet war. Ich würde Sie, wenn wir noch im Gespräch bleiben, gern nach Ihrem Vater befragen. Ich weiß immer noch nicht, warum er mir damals nicht geholfen hat. Ich glaube nicht, dass ich Ihnen diesen Brief schicken soll. Sie wären sicher sehr verwundert. Jedenfalls danke ich Ihnen, dass Sie mich nicht abgewiesen, sondern sogar zum Essen eingeladen haben. Ich fand den Abend – ja, wie? Doch, ich habe mich wohl gefühlt. Komisch. Denn ich fühle mich eigentlich nie wohl. Tatsächlich nie. Keinen Boden unter den Füßen. Aber es geht ja nicht um meine Geschichte, sondern um Hanna. Vielleicht ist es gar keine gute Idee, Ihnen zu schreiben, vielleicht schreibe ich den Brief überhaupt nicht an Sie, sondern an mich selbst? Nein, er ist doch an Sie! Er ist wirklich an Sie. Und ich möchte eigentlich, dass Sie ihn lesen. Aber ich stecke ihn nicht in den Umschlag und bringe ihn nicht zur Post.

3

»NEIN, ICH WERDE IHRE Personalien nicht notieren«, hatte Sahlfeldt gesagt, »weil ich noch nicht weiß, ob ich Ihnen überhaupt helfen kann, dann sehen wir weiter, im Moment weiß ich nur, dass Ihre Tochter – wie heißt sie?«

Die Frau im Mantel hatte sofort geantwortet: »Hanna. Sie heißt Hanna.«

»Hanna. Gut, also Hanna hat an ihrem achten Geburtstag aufgehört zu sprechen.«

»Jetzt haben Sie sich doch den Namen notiert!«

Triumph in ihrer Stimme. Sie gehört zu den Verwirrern, dachte er. Seiner Erfahrung nach gab es Flehende, Monologisierer, Verstockte und Verwirrer. Die Verwirrer mussten ihren Therapeuten zwanghaft bei Widersprüchen erwischen oder bei seiner Vergesslichkeit. Hannas Mutter versuchte gleich zu Beginn sein Verhalten infrage zu stellen. Er wollte sich nicht auf ein Geplänkel einlassen und hatte am Tagesende nach sechs Sitzungen mit Paaren und Kindern auch keine Kraft mehr, einfühlsam zu sein. Er betrachtete schweigend das Gesicht der Fremden: eine rätselhafte Mischung aus Kindlichkeit und Härte.

»Warum, denken Sie, spricht sie nicht mehr?«

Sie wandte den Kopf ab. »Keine Ahnung.«

»Sie haben einen Verdacht.«

»Nein, wirklich, ich weiß es nicht.«

Er beugte sich vor und sagte leise: »Wer wirklich sagt, meint ehrlich und lügt fast immer.«

»Ich nicht. Wenn ich es wüsste, wäre ich nicht hier!«

»Warum ist Hanna nicht hier?«, fragte er.

»Schule. Sie ist im Internat. In drei Wochen hat sie Ferien.«

»Und Sie haben – wirklich – keinen Verdacht?«

»Sagte ich schon.«

Sahlfeldt hatte keine Lust, behutsam gegen ihre Blockade anzugehen. Außerdem spürte er Hunger. Er entschloss sich zu einer paradoxen Intervention und stand auf.

»Lassen Sie uns essen gehen. Zwei Ecken weiter ist mein Stammitaliener. Bocca della Verità: Da macht das Lügen viel mehr Spaß.«

Ettore zwinkerte ihm zu. Endlich kam er mit einer neuen Frau in sein Restaurant. Sie aß die Tagliatelle mit weißen Trüffeln. Er den Steinbutt und schwarze Linsen. Eine Flasche Greco di Tufo.

»Beschreiben Sie mir Hanna, wie ist sie so?«

»Groß, geht mir bis zur Schulter. Schmal. Sieht eher aus wie meine jüngere Schwester. Fröhlich. Sehr gut in der Schule. Manchmal motzig. Wie sie so sind mit neun. Schon pubertär vielleicht, keine Ahnung.«

»Würden Sie mir ein Bild von ihr zeigen?«, fragte er.

Sie lachte. »Wenn es eins gäbe.«

Er sah sie ungläubig an und wartete auf eine Erklärung.

»Mit Sieben hat sie alle Bilder zuhause verbrannt, zwei Fotoalben, die Filme, die Abzüge, alles, digital hatte ich nur welche im Handy. Sie hat so lange geschrien, bis ich die auch gelöscht habe. Ich habe nicht gewagt, sie zu betrügen. Und seither weigert sie sich, fotografiert zu werden, sie kriegt Wutanfälle, wenn es jemand versucht, nicht mal ein Babyfoto ist übrig. Sie will einfach kein Bild von sich, ich habe mich damit abgefunden, ihre Freunde auch. Keine Ausnahme.«

Sahlfeldt schüttelte den Kopf. »Wer hat ihr eingeredet, dass sie hässlich sei?«

»Niemand. Sie sieht sich ja auch im Spiegel an und findet, dass sie nicht schlecht aussieht. Sie will nur einfach nicht festgehalten werden, ich weiß nicht, ob es dafür eine Diagnose gibt.«

Er lachte. »Antinarzissmus? Ich glaube, das wird sich nach der Pubertät geben. Die Eitelkeit ist eine ungeheure Macht. Aber dann werden ihr die Bilder fehlen. Haben Sie noch andere Kinder?«

»Nein.« Sie hielt ihm ihr leeres Glas hin, er hörte den verschwiegenen Vorwurf, unaufmerksam zu sein, schenkte nach und übersah, dass auch sein eigenes leer war.

»Müssen Sie noch fahren?«

»Oh nein, ich wohne im Haus. Unter der Therapie. Also Hanna ist jetzt neun, das heißt, sie schweigt seit einem Jahr.«

»Im nächsten Jahr kommt sie aufs Gymnasium, dazu muss sie das Internat aber nicht wechseln.«

Er hielt die Flasche noch immer in der Hand, goss sich ein und stellte den Wein in den Kühler zurück.

»Seit einem Jahr. Und jetzt erst kommen Sie zu mir.«

»Aber man hat alles für sie getan in der Schule, nichts hat geholfen, Vertrauenslehrerin, Schulpsychologe, man wollte ihr Zeit geben, ich war viel im Ausland unterwegs, konnte mich nicht immer kümmern. Ich bin erst seit einem halben Jahr wieder hier.«

»Wer hat mich Ihnen empfohlen?«

»Ein anderer Therapeut, älter als Sie, zu alt für Hanna, er meinte –«

Sahlfeldt wartete und schob den Rest Linsen auf seinem Teller zusammen. Dann setzte er ihren Satz fort.

»Er meinte, ich könnte vielleicht besser mit einem Kind ins Gespräch kommen. Einem schweigenden Kind. Und wer ist er?«

»Sie kennen ihn nicht.«

»Ich kenne jeden Therapeuten hier, die Stadt ist ja nicht groß. Lassen Sie mich raten. Bruno Tiefenbach?«

Sie legte Gabel und Löffel laut auf dem Teller zusammen. »Das tut doch überhaupt nichts zur Sache, ich will bloß, dass Hanna wieder spricht!«

Zwei junge Männer vom Nebentisch sahen herüber.

»Offenbar geht das nicht, indem man zwei, drei lockere Schrauben festzieht.« Er klang unfreundlicher, als er wollte. Sie nahm die Serviette und wischte sich über den Mund. Sahlfeldt griff nach seinem Glas.

»Eigentlich wollte ich mir nur eine Vorstellung von Hanna machen, bevor ich mit ihr spreche, oder zu ihr spreche, oder mit ihr schweige, je nachdem. Sieht sie Ihnen ähnlich?«

Sie stieß mit ihm an und lächelte. »Nicht sehr.«

»Schade.« Es rutschte ihm heraus, sie sah ihn erstaunt an.

Ettore kam zum Tisch und fragte nach den Dessertwünschen. Sie entschied sich für die Zuppa inglese, er für das Zitronensorbet und registrierte im selben Augenblick, dass er seit undenklicher Zeit zum ersten Mal eine Nachspeise bestellte. Auch Ettore wunderte sich, klatschte in seine kleinen Hände und ging.

»Sie hat dunkle Haare wie ich, mehr braun als rotbraun, ihre Haut ist dunkler als meine, also mehr so wie Sie, entschuldigen Sie, na ja, nicht so bleich wie ich.«

»Wie der Vater vielleicht.«

»Nein, nein. Nicht wie der Vater. Bestimmt nicht.«

Sie sah ihn herausfordernd an, und Sahlfeldt entschied sich, nicht nachzufragen. »Aber bestimmt hat sie Ihre grünen Augen!«

Sie lachte verlegen. »Graugrün, ja, aber ihre sind meergrün, so wie mein Kleid, und größer, ja, sie hat größere Augen als ich.«

»Und sie hat natürlich Ihren Mund – mit dem sie nicht spricht.«

Ettore brachte die Nachspeisen. Er hatte es gut gemeint und große Portionen angerichtet.

»Oh je, ob wir das schaffen?« Mit einem Mal klang sie wie ein Kind, und es berührte ihn, dass sie nicht von sich, sondern von ihnen beiden gesprochen hatte.

»Wir müssen es versuchen«, sagte er, »Ettore weint, wenn wir etwas übrig lassen.«

Jetzt erst nahm er bewusst wahr, dass ihr langärmeliges, hoch geschlossenes Wollkleid ihre Figur nachzeichnete, und er versuchte, sie sich kleiner, mädchenhaft vorzustellen, um ein Bild von Hanna zu gewinnen.

Die Bar hieß Only4theRich, der Weg vom Bocca della Verità dorthin zog sich, wenn man die sogenannte Schmale Straße zur Uferpromenade hinab gegangen war, am Fluss unter Laternen entlang. Der Nebel blähte ihren gelben Schein zu diffusen Wolken. Die leeren Bänke waren schemenhaft am Wegrand zu erkennen, Sahlfeldt und die Frau liefen an ihnen vorüber, sprachen nichts, sahen nicht zueinander hin.

Sie hatte darauf bestanden, sich für seine Einladung bei Ettore zu revanchieren. In der feuchten Kälte schritten sie zügig aus und ließen ihre Arme schwingen. Als er den Abstand zu ihr verringerte, berührten sich unbeabsichtigt ihre Hände, und die Frau zuckte zurück, presste ihren Arm an den Körper, stolperte zur Seite, fing sich und blieb leicht gebeugt stehen.

Er drehte sich zu ihr um und ging auf sie zu. Sie schüttelte stumm den Kopf und hatte sich wieder in der Gewalt.

»Alles okay?«, fragte er.

Sie richtete sich auf und lief weiter.

»Wodka, doppelt, ohne Eis, aber in einem geeisten Glas, wenn ihr hier so was habt«, verlangte sie. Der Barmann verkniff sich eine Bemerkung, taxierte das Paar aus Alt und Jung, schob Sahlfeldt den gewünschten Bourbon zu, holte ein Glas aus dem Eisschrank und füllte es über den zweiten Eichstrich mit Wodka.