Der Fall - Gert Heidenreich - E-Book

Der Fall E-Book

Gert Heidenreich

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  • Herausgeber: Klett-Cotta
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Eine dumme Sache, dass Swoboda sich an den Klippen nicht um den Toten kümmern wollte. Denn auf unerklärliche Weise wird nun von ihm verlangt,die Hintergründe seiner Ermordung aufzudecken. Er wird nicht frei von seinem früheren Leben sein, bevor er nicht seinen eigenen und den Tod des anderen Opfers aufgeklärt hat. In der realen Welt kommen bei den Untersuchungen der beiden Morde noch weitere ans Licht – und ein Geldwäscheskandal: Die sogenannte Gesellschaft der Trinker, ein Club von Superreichen aus ganz Europa, trifft sich regelmäßig in einem Loire-Schloss und bringt große Bargeldsummen mit. Aber sind die Trinker auch skrupellos genug, Morde zu begehen?

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Seitenzahl: 354

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GERTHEIDENREICH

DER

FALL

Kriminalroman

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2014 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Fotos von

© Paul Grand/Trevillion Images

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98019-6

E-Book: ISBN 978-3-608-10743-2

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2014 der Printausgabe.

Niemand weiß, ob unsere Persönlichkeit nach dem Tod in einer anderen Existenz oder in einer anderen Sphäre fortlebt, aber wenn wir ein hinreichend empfindliches Gerät entwickeln können, das von unserer Persönlichkeit aus dem Jenseits beeinflusst werden kann, dann sollte ein solches Gerät in der Lage sein, etwas aufzuzeichnen.

Thomas A. Edison, 1928

Dieses Gerät gibt es. Es ist der Roman.

G. H., 2014

VERWEIGERUNG

Vom Rand der Klippen schwingen sich die Möwen ins Licht und begrüßen mit ihren Schreien den Tag.

Noch liegt der Strand von Les Petites Dalles im Schatten der Kalkfelsen. In ihren Rissen und Schrunden hängen die schwarzen Reste der Nacht.

Am Fuß der Steilwände stakst und stolpert Swoboda über die runden Steine, die dreibeinige Staffelei links geschultert, rechts die Malkartonmappe am langen Riemen, in der Hand den Tubenkoffer mit Ölfarben, Paletten und Pinseln. Er flucht vor sich hin, weil seine Lederschuhe von den buckligen Kieseln abgleiten und jeder Schritt ihm die Füße verbiegt. Sein Gewicht macht ihm zu schaffen. Der Standpunkt, an dem er heute das erste Sonnenlicht auf dem Strand malen will, ist gut zweihundert Meter entfernt.

Ein falscher Schrei.

Der Maler bleibt stehen und sieht auf. Über der Kante der Kreideküste wachsen im dunstigen Himmel erste Inseln von normannischem Blau. Die Vögel sind verstummt. Sie geben ihre Kreise auf, kippen in den Wind und lassen sich hinaustragen über die See.

Swoboda weiß, dass er einen Menschenschrei gehört hat. Er weiß es und will es nicht wissen. Redet sich ein, er habe sich getäuscht. Die Silbermöwen, die in den weißen Felsen der Cote d’Albatre nisten, können kreischen wie Katzen und Babys und Frauen in Not.

Er entschließt sich, weiterzulaufen, blickt auf seine Schuhspitzen und versucht, zwischen den grauen Steinkugeln Halt zu finden. Er könnte es sich leicht machen und hinunter zur Dünung laufen, wo jetzt, mit fortschreitender Ebbe, ein nassbrauner Streifen Sand sichtbar wird. Doch Swoboda ist starrsinnig. Er folgt der Richtung, die er sich vorgenommen hat und die ihn zu dem hellen Fleck führt, wo das Sonnenlicht durch einen tiefen Einschnitt in den Kalkwänden eine halbe Stunde früher auf den Strand fällt.

Der Klippenrand ist jetzt eine glühende, gezackte Linie, unter der die gestaffelten Falaises über Les Grandes Dalles und Fécamp bis zum fernen Yport noch immer im Morgenschatten stehen.

Alexander Swoboda hat dieses feurige Band vor den Wolken und die dämmrigen Steilwände darunter wieder und wieder gemalt, von April bis in den September, und an keinem der Vormittage glichen sich die Farben.

Heute, am ersten Tag des Juni, war er früher als sonst aufgebrochen, nach einer schlaflosen Nacht.

Ein zweiter falscher Schrei. Der Maler blickt nach oben.

Der gebauchte Käfer, der über die Kante der Klippen rutscht, gerät ins Trudeln, fällt, die schwarzen Fühler suchen Halt, in halber Höhe schlagen die langen Hinterbeine gegen einen Vorsprung in der Wand, der Körper prallt ab, stürzt weiter, wird ein Mensch und trifft zwischen den nass schimmernden Gesteinstrümmern auf, die in Sturmfluten aus den Kalkfelsen gebrochen sind. Schwarz liegen sie in der Ebbe. Ihre Stille greift auf Swoboda über. Er spürt, dass sie in ihn eindringt.

Dann hört er wieder das Anbranden der Wellen, die sich an der weit vorgelagerten Untiefe eines Riffs brechen.

Er legt seine Utensilien ab und fixiert den Punkt, an dem der Gefallene liegen muss. Langsam hebt er den Kopf und blickt zum Rand der Felswand hinauf, wo der Sturz begonnen hatte. Nichts bewegt sich dort. Die Möwen kehren vom Meer zurück und schweben durch den Himmel, ohne zu schreien.

Selbstverständlich weiß Swoboda, was zu tun ist.

Schon beim ersten Gedanken an die Handlungen, die er sein Berufsleben lang vollzogen hat, rastet der Verweigerungsreflex ein. Er wird nicht zu dem Toten laufen. Der Maler steht still und konzentriert sich auf das, was er nicht tun wird. Nicht nachsehen. Nicht telefonieren – hier unten in der Bucht hat er ohnehin kein Netz, er müsste zum Parkplatz zurückgehen.

Er ist Pensionär, außer Dienst, er ist nicht mehr der Kriminalhauptkommissar, der er missmutig zweiunddreißig Jahre lang war, er ist nur noch und ausschließlich der Künstler Alexander Swoboda, der er seit seinem neunzehnten Lebensjahr sein wollte und endlich ungehindert sein kann.

Die Kollegen in der Mordkommission haben seine Kunst für ein Hobby gehalten. Aber sie war und ist sein Leben; dieses Leben waren nicht seine Erfolge als Ermittler, nicht die Frauen, nicht einmal seine Tochter Lena war es; sein Leben, das waren die Liebe zur Kunst und die mit ihr untrennbar verbundenen Zweifel.

Wenn er ehrlich ist, muss er zugeben, dass er seine Jahre mit Verstellung zugebracht hat: Ein Maler, der vorgab, Kriminalhauptkommissar zu sein, und die Rolle so gut spielte, dass man ihn für echt hielt. Seine Erfolge, zweifellos gab es sie, verdankten sich der Kunst: Oft hatte er in seiner Phantasie die Gesichter gesehen, nach denen gesucht wurde; sie nicht selten schon aufs Papier skizziert, bevor er erkannte, wer gemeint war. So hatte sich der legendäre Spruch verbreitet, den man ihm seinerzeit im Kommissariat des bayerischen Städtchens Zungen a.d. Nelda angehängt hatte: Der Swoboda malt sich seine Täter.

Er atmet tief und schließt die Augen. Der Geruch der See hilft ihm, nicht in die alten Gewohnheiten zurückzufallen. Doch im Dunkel hinter den Augenlidern leuchtet die Cote d’Albatre, und von ihrem Rand stürzt ein Schatten in die Tiefe und schlägt in Swobodas Gewissen auf.

Noch immer schreien die Möwen nicht.

Was wird er tun? Sich abwenden, weil er die Schnauze voll hat vom Tod, von der Gier, von der Verzweiflung, vom Schicksal und von Gottes Ebenbild? Er hat immer bestritten, dass die Polizei eine Gesellschaft reparieren kann. Er hat das Kapitalverbrechen als die größtmögliche Unordnung zwischen den Menschen erkannt und bezweifelt, dass durch Verfolgung und Strafe die verletzte Ordnung geheilt wird.

Er öffnet die Augen und starrt auf die schwarze Landschaft, die aus der Ebbe wächst. Scharfkantige Felsen, deren Kreideeinschlüsse das Meer ausgewaschen hat. Dort, in Höhlen und Tümpeln, hausen die grauen Krabben, flitzen die gläsernen Crevetten, warten Taschenkrebse auf die nächste Flut. Dort irgendwo liegt jetzt ein zerbrochener Körper, vielleicht auf dem Bauch, vielleicht mit dem, was übrig ist von seinem Gesicht, eingetaucht in ein Wasserloch, vielleicht eine Hand in einem Nest aus angeschwemmtem Blasentang.

Langsam dreht sich Swoboda um. Er ist allein. Die Betonmole kann er von hier unten nicht überblicken, doch er weiß, dass sie leer ist. Noch sind die weißen Strandkabinen nicht aufgebaut. Die Saison beginnt in zwei Wochen. Die tapferen Schwimmerinnen vom Altenheim in Linville-en-Caux sind nach ihrem Morgenbad im Meer schon wieder zuhause.

Jetzt, da er dem Toten den Rücken zuwendet, nimmt er sich vor, ihn zu vergessen. Die nächste Flut wird den Körper hinausschwemmen und in die Strömung schleusen, die sich an der Kanalküste entlangzieht, nach St. Valéry und Dieppe. Auf dem Weg dorthin liegen zwei Atomkraftwerke in engen Buchten. Vielleicht saugen ihre Kühlwasserpumpen den willenlosen Schwimmer ans Einlassgitter.

Ihm egal.

Plötzlich erinnert er sich, dass an einem ersten Juni John Lennon und Yoko Ono bei ihrem Bed-In den Song Give peace a chance eingespielt haben. Das Jahr hat er vergessen.

Eine Böe fliegt durch sein graues Haar, lässt die Hosenbeine flattern und bläht die Anglerjacke auf. Er biegt den Rücken durch und genießt den Wind. Vor Jahren war er mal Einsneunundachtzig groß, das Alter hat ihm vier Zentimeter gestohlen, die Schultern sind nicht mehr ganz so breit wie früher, dafür ist sein Bauchumfang gewachsen. Aber noch immer ist seine Gestalt beeindruckend.

Er verwirft den Plan für das heutige Bild, hebt die Freiluftstaffelei von den Steinen und legt sie sich auf die linke Schulter, hängt sich die Mappe mit Malkartons über die rechte, nimmt seinen Farbenkoffer auf und schlägt den Weg zurück zum Parkplatz ein.

Etwas knallt an die Schulter, Splitter des Staffeleiholzes fliegen neben seinem linken Ohr durch die Luft. Dann hört er den Schuss und begreift: Von der Klippe will einer seinen Tod.

Er wirft die Staffelei ab und beginnt zu laufen, den Hang aus schiebenden Kieseln hinauf zum Fuß der Falaises, wo dreisprachige Schilder vor Felssturz und Steinschlag warnen. Stets hat er sich daran gehalten, doch die Schüsse peitschen jetzt in dichter Folge. Vor dem sicheren Tod flieht Swoboda in den ungewissen.

Das jaulende Singen eines Querschlägers, der einen Quarzbrocken in der Kalkwand getroffen hat. Der nächste Schuss so nah neben seinem Kopf, dass ihm der Luftstoß den Atem nimmt. Großes Kaliber, Elefantenbüchse, das Arschloch steht oben am Rand der Klippen und feuert. Erst stößt er den anderen runter, dann muss der zufällige Zeuge dran glauben, die Dinge sind manchmal sehr einfach.

Unter der Felsnase bleibt Swoboda stehen und giert nach Luft. Sein Atem brennt in der Brust.

Dem oben wird es zu lang. Er ballert auf den Strand, hat Spaß an der Jagd, will sein Opfer aus der Deckung treiben.

Swoboda hält still. Legt den Koffer und die Mappe ab. Sein Platz ist sicher, hinter ihm vertieft sich die ausgehöhlte Steilwand zu einem offenen, schwarzen Spalt. Ein guter Schlupfwinkel, jedenfalls bis zur Flut.

Sonnenstrahlen gleiten über die Falaises. Ocker und rostrot und weiß leuchtet der Kalk auf, schwarz glimmen die horizontalen Schichtlinien aus Feuerstein. Der Maler kennt das Erwachen der Farben, wenn das Licht die Kante der Küste überschreitet und in die Bucht fällt.

Der Scharfschütze muss begriffen haben, dass es Zeit ist, seine Taktik zu ändern. Er wird von den Wiesen oben ins Dorf herunterkommen und bald darauf hier sein. Darauf zu warten, wäre Selbstmord. Doch vielleicht kalkuliert er die Vermutung seines Opfers ein, hält die Stellung und lauert darauf, dass es die Deckung verlässt? Für so schlau hält Swoboda ihn nicht.

Er hebt den Farbenkoffer als Schutzschild neben seinen Kopf, duckt sich und springt aus dem Schatten, rennt auf die Mole zu, die Kiesel scharren und kollern unter seinen Schritten, er erreicht die Betonschräge, nimmt sie zum eigenen Erstaunen leichtfüßig, läuft über die weiß markierten Stellplätze für Kabinen und Boote, rechnet mit dem nächsten Schuss, der ihn nicht verfehlen, sondern in den Rücken treffen wird. Haken schlagen kann er nicht mehr, er keucht, seine Schritte werden kürzer. Er weiß, dass er am Ende ist.

Der Parkplatz liegt in der Sonne. Ein zweiter Wagen. Schwarzer Luxusjeep. Der Fahrer hat ihn vor Swobodas weißem Kleintransporter abgestellt. Die Beifahrertür steht offen.

Sechzig andere Positionen wären frei gewesen. Der ganze Platz stand zur Verfügung. Warum parkt einer seinen Range Rover Schnauze an Schnauze mit Swobodas Citroën Berlingo?

Er will sich nicht mit der Frage befassen, nur in sein Fahrzeug flüchten, und greift nach der Türklinke.

Der Fahrer des Rover steigt aus. Er ist etwas kleiner als Swoboda, schmal, weißblonde Haarlocken, eine fällt in die Kinderstirn, weinroter Samtanzug, rosa Hemd mit offenem Kragen, schwarze Wildlederschuhe, gelb gesteppt. Swoboda hat die Personenbeschreibung bereits gespeichert, als er den roten Lederhandschuh sieht, der den Revolver umfasst: eine sechsschüssige Mateba 6 Unica mit 5 Zoll-Lauf, Patronen 44 Magnum. Der Mann beugt sich in sein Auto, nimmt mit der Linken einen breitkrempigen schwarzen Hut vom Beifahrersitz und setzt ihn auf. Offenbar eine Geste zur Vollendung seines Auftritts.

Zweimal in seinem Leben ist Swoboda von einem Täter mit vorgehaltener Waffe bedroht worden. Beide Male hat er nicht die Hände gehoben. Jetzt tut er es. Stellt seinen Farbenkoffer ab und hält dem anderen die offenen Handflächen entgegen. Sein Atem beruhigt sich, aber sein Herz schlägt laut und schnell.

Der andere scheint zu überlegen. Greift sich mit der freien Hand an den Hals, holt hinter dem Hemdkragen ein kleines Kreuz an einer Silberkette hervor und spielt damit.

Swoboda stellt fest, dass er einen Mann vor sich hat, der nicht spontan handelt. Intelligenter Ausdruck, etwas Feines, jedenfalls keine Schlägervisage und keine Spur von Lebensabgrund. Runde blaue Augen und eine niedliche Nase. Der Kopf etwas zu groß für den Körper. Kein Humor. Keine Naivität. Eher eine Art gepflegter Müdigkeit, vielleicht Enttäuschung, vielleicht Resignation.

Swoboda arbeitet unaufhörlich am Profil seines Gegenübers, er kann nicht anders, seine berufliche Deformation hat jetzt, da er bedroht wird, freies Spiel. Er schätzt den anderen als Melancholiker ein. Wie sich selbst. Schon entwirft er das Bild: Roter Mann vor den Falaises im ersten Licht des Morgens.

Hinter der Gestalt spannt sich der Küstenhimmel wolkenlos zum Horizont, gemischt aus wenig Kobaltblau, viel Kremserweiß und einem Hundertstel Ultramarin dunkel, ein Himmel mit jener durchlässigen, kalten Strahlkraft, die seit jeher Maler an die normannische Küste gezogen hat. Swoboda will an seine Gemälde denken. Das luzide Blau hatte er durch mehrere Lasuren auf einem harten, glatten Malgrund erreicht: Kreide, Eiweiß, Leinöl, schnelles Malmittel, Titanweiß. Über der durchgetrockneten Grundierung dann die Farbaufträge in der Arbeitsweise von Caspar David Friedrich. Delacroix hat in seinen Bildern dieser Bucht mit extremer Verdünnung gearbeitet, Monet mit Valeurs, Turner hat dem blauen Himmel misstraut.

Aber seine Gedanken halten sich nicht in der Kunst, rutschen ab in den Augenblick. Geht es um sein Leben? Er weiß: Zu fragen, wäre verhängnisvoll. Gar zu behaupten, er habe nichts gesehen, käme einem Geständnis mit unvermeidlich folgender Hinrichtung gleich.

Langsam legt der andere die linke Hand über die rechte auf die Pistole, und der Bulle im Maler weiß, dass diese Bewegung seine Lebenszeit schließt.

Wie in einem dunklen Spiegel ziehen sich die Reflexe des Morgenlichts über den Lauf der Waffe, der auf ihn gerichtet ist. Er betrachtet die karmesinroten Lederhandschuhe am schwarzen Stahl der Mateba, hat plötzlich das Wort Renaissance im Kopf; woher kommt es? Von der Kostümierung seines Gegners? Vom Rotschwarzkontrast aus Handschuhleder und Waffenstahl? Wer hat ihm die Wiedergeburt versprochen? Für den Mann im rosafarbenen Hemd scheint die Situation alltäglich zu sein. Swobodas Hände zittern, er hätte nicht gedacht, dass es anstrengend ist, sie hochzuhalten.

Dann sieht er im Gesicht des anderen den Entschluss: Die Lippen verraten das Urteil.

Ein Schlag vor das Brustbein, die ungeheure Wucht lässt allen Atem aus der Lunge schießen, und während Swoboda sich dreht und fällt, wird ihm klar, dass er den Knall schon nicht mehr vernommen hat, nur einen inneren Donner und den explodierenden Schmerz. Sein letzter Gedanke, bevor ihn sein Bewusstsein verlässt, ist ein ausformulierter Satz: Aber der Scharfschütze auf den Klippen hatte ein großkalibriges Gewehr.

Den Aufschlag seines Körpers auf dem Asphalt spürt er nicht mehr.

Der andere sieht sich um. Kein Geräusch außer der Brandung. An den Ferienhäusern der Bucht sind die Fensterläden geschlossen. Langsam geht er zu seinem Opfer, das auf dem Bauch liegt; der Kopf ist seitlich gedreht, eine Gesichtshälfte sichtbar, das Auge halb geschlossen. Man weiß: In einem, der so daliegt, ist kein Funken Leben mehr.

Der Schütze beugt sich zu ihm hinunter und legt die Mateba neben das Gesicht. Zieht die Handschuhe aus und breitet sie links und rechts der Tatwaffe wie Flügel eines großen roten Schmetterlings aus. Der Revolver ist der Leib des Falters. So beschenkt der Mörder den Toten, richtet sich auf, greift nach dem kleinen Silberkreuz an seinem Hals, führt es zum Mund und küsst es, lässt es wieder in den offenen Kragen gleiten. Er lächelt zufrieden.

Bevor er in seinen Wagen steigt, wendet er sich dem Strand zu, nimmt seinen schwarzen Hut ab, hebt ihn über den Kopf und grüßt mit weiten Schwüngen das Meer. Goldene Ringe blitzen an seinen Fingern. Er wendet sich um und blickt zu den Kreidefelsen auf. Von ihrer Kante grüßt ein winziger Schattenmensch, gleichfalls einen Hut schwenkend, zurück.

Beiden entgeht, dass am nördlichen Ende der Bucht, wo am Hang der Klippen die schmale Teerstraße Chemin de Belle Vue zu den höher gelegenen Häusern ansteigt, eine junge Frau sich zwischen den Containern einer Sammelstelle für Glas und Plastik verbirgt. Entsetzt hat sie den Mord auf dem Parkplatz beobachtet und den Karton mit leeren Flaschen vorsichtig abgestellt. Es ist Berthe Bellier, die aus Dieppe stammt, vierundzwanzig Jahre alt ist und als Feriendienstmädchen bei der Familie Drouot arbeitet. Deren Villa liegt auf halber Höhe, hinter Eichen verborgen.

Der neunzehnjährige Sohn der Drouots, César, verbringt hier mit zwei Freunden ein paar Ferientage, was zur Folge hat, dass Berthe täglich mit einem Karton Flaschen zu den Containern gehen muss.

Sie hat im Windgeheul um die Sammelbehälter und unter dem Knall der eingeworfenen Bier- und Weinflaschen die Schüsse von der Klippe nicht gehört, den Sturz nicht gesehen, erst den Mann, der über den Parkplatz rannte und jetzt dort liegt.

In der Schattengasse zwischen den dunkelgrünen, rostgefleckten Blechwänden steht sie und zittert, wagt kaum zu atmen, vom Dunst aus Vergorenem wird ihr schlecht, sie schließt die Augen, reißt sie wieder auf, sieht, dass der Hutschwenker im roten Anzug sich in seinen Range Rover gesetzt hat. Sie wünscht sich, dass sie träumt. Plötzlich packt sie der Mut – liegt es daran, dass ihr Name Bellier, Widder, auch ihr Sternbild ist? –, die blasse Frau tritt einen Schritt vor, kann sich vom gelben Kennzeichen des Wagens, der über den Platz kurvt und in der Dorfstraße verschwindet, die Buchstaben MT merken und dass es sich um eine alte 75er-Nummer handelt, eine Pariser Zulassung. Berthe tastet nach dem Telefon in ihrer Schürzentasche. Aber soll sie sich mit Killern aus Paris anlegen?

Auf dem Parkplatz steht der weiße Berlingo. Sie hat den Eindruck, er sei kleiner als zuvor. Neben ihm liegt der Tote im schwarzen Spiegel seines Bluts. Sie blickt auf zu den Kreidefelsen am anderen Ende der Bucht. Die kleine Figur, die mit ihrem Hut dem Mörder geantwortet hat, ist nicht mehr zu sehen.

Die Möwen schreien wieder.

DASLIED

Was geschah, ist geschehen, und man fragt sich, was nun werden soll. Wird die Hauptperson am Beginn einer Geschichte umgebracht, liegt auf der Hand, dass sie keine Chance auf ein nachvollziehbares Schicksal mehr haben wird. Kein weiterer Verlauf des Geschehens kann diese Barriere rückwärts durchbrechen, denn tot ist tot ist tot, und wer hoffen sollte, dass dieser skrupellos beseitigte Maler, Exhauptkommissar Alexander Swoboda aus Zungen a.d. Nelda, halbtot oder scheintot sei oder im Koma liege und am Ende all dessen, was noch zu erzählen sein wird, die Augen aufschlagen und sich erinnern oder auch nicht erinnern, jedenfalls das Sterben noch vor sich haben werde, sei gleich enttäuscht: Derartigen Spekulationen wird nicht nachgegeben.

Uns bleibt nur, ihm in den Tod zu folgen und – gewagt, doch warum nicht – darauf zu hoffen, dass wir in jenem unentdeckten Land entgegen aller Erfahrung seine Spur nicht verlieren. Überflüssig, zu erwähnen, dass die Chance verschwindend gering ist, ja jeder belegbaren Erfahrung widerspricht. Dennoch sind – wahr oder nicht – solche oder ähnliche Fälle überliefert, zumindest beharrlich behauptet, und wir wollen, wie generell, auch hier nicht zu früh aufgeben.

War ihm nicht Sekunden vor seinem Tod sogar das Wort Renaissance zugerufen worden? Wer möchte entscheiden, ob es kunstgeschichtlich oder religiös gemeint war oder nur ein blitzender Irrläufer in Swobodas Gehirn?

Er ist, während wir noch abwägen und damit befasst sind, unsere Vernunft zu prüfen, längst auf dem Weg, und keiner kann sagen, ob nach oben oder nach unten.

Unvermittelt steht er, den Farbenkoffer in der Hand, an einem Fluss und wartet auf ein Boot. Woher weiß er, dass es kommen wird? Das ist ungeklärt. Ebenso der Fahrplan der Fähre.

Das andere Ufer liegt unter dünnem Nebel, er nimmt schemenhafte Gestalten wahr, die sich dort bewegen, und unterdrückt den Wunsch, übers Wasser zu rufen; wüsste auch nicht, was angemessen wäre. Für ein skandinavisches Hej!, wie es derzeit Mode ist, scheint der Ort nicht geschaffen. Ebenso wenig für die Erinnerung daran, auf welchem Weg Swoboda an dieses Flussufer gelangt ist. War er nicht aufgebrochen, in freier Natur zu malen, mit dem kleinen Tubenkoffer, nur zwölf Fabrikfarben, drei weiß grundierten Malkartons vierzig mal sechzig, und der Pleinair-Staffelei über der Schulter? Doch wo war das? Was wollte er malen? Gewiss nicht diese Flussregion, die etwas Trostloses hat und in der kaum Licht herrscht. War es ihm nicht um das morgendliche Aufglühen des Klippenrands gegangen? Offensichtlich hat nicht nur uns, sondern auch ihn eine beträchtliche Ratlosigkeit befallen.

Er sieht sich um. Erst jetzt wird ihm bewusst, dass er in einer fast farblosen Welt steht. Graues Licht über dem schwarzen Wasser des Flusses. Er könnte hier mit Kohle arbeiten oder Graphitstiften, lavierter Tusche, den Materialien der Melancholie. Jetzt, da seine Augen sich gewöhnen, wächst etwas Gelb in der Luft, Grün in den Schatten. Dunkelrotes Licht ohne Herkunft schüttet Spuren aufs Wasser.

Ein Nachen aus hellem Holz legt vor ihm an. Der Mann, der am Heck steht und das Stangenruder hält, kommt ihm bekannt vor. Er scheint die Farben im Schlepptau zu haben. Die Stirnglatze, das schwarze Haar kurz geschoren, der elegante nachtblaue Anzug, das hellblaue Hemd mit bordeauxroter Krawatte, die ganze Erscheinung seriös und angenehm, nun lächelt er ihm aufmunternd zu, ja, diese ragende Nase, das muss Lecouteux sein, kein Zweifel, es ist Georges Lecouteux, der Commissaire, mit dem er einst in einigen Fällen zusammengearbeitet hat.

»Hallo Georges, das ist drei Jahre her!«

»Dreieinhalb, Alexandre!«

»Wie kommst du zu diesem Boot?«, fragt Swoboda, und Georges Lecouteux von der Police Judiciaire in Paris grinst.

»Das ist meine Feierabendbeschäftigung.«

Er spricht noch immer dieses daherschlingernde Deutsch, das er seiner elsässischen Mutter abgelauscht hat.

»Du weißt ja, ich bin noch lange nicht im richtigen Alter für die Pension, aber ich sehne mich danach.«

»Wohin geht es?«

»Nur ans andre Ufer. Wohin sonst. Wollen wir das nicht immer? Komm an Bord.«

Swoboda zögert nicht, steigt ein, steht, seinen Farbenkoffer zu Füßen, in der Mitte des Kahns, den Lecouteux mit dem Heckruder langsam in Fahrt wriggt und schräg zur Strömung über den schwarzen Fluss steuert.

»Ist das Wasser giftig?«

»Nein«, sagt der Fährmann, »da wo es entspringt, ist es hell und süß. Aber es fließt an den Müttern vorbei, sie weinen am Ufer ihre Tränen in den Fluss. Von den Tränen wird er schwarz und bitter. Schade, aber man kann ja die Frauen schlecht daran hindern, um ihre Kinder zu weinen, nur, damit das Wasser süß bleibt, oder?«

Eine irritierende Frage, und Swoboda schweigt. Er versucht, seine Gedanken zu ordnen, kommt jedoch zu keinem befriedigenden Ergebnis.

Man kann das verstehen, wenn man sich in seine Lage versetzt: eben noch unter dem blendenden Himmel der Normandie und bereit zu malen – und nun dahingleitend auf einem unbekannten, schwarzgeweinten Gewässer. Natürlich gibt er sich keine Blöße, fragt Lecouteux nicht nach dem Namen des Flusses, wüsste auch nicht, ob ihm der Name weiterhelfen würde.

Der Nachen wird von der Strömung mitgenommen, eine rauschende Schaumwelle bildet sich am Bug, und Lecouteux, unsichtbarer Route folgend, stemmt sich mit der Schulter gegen das Ruder und zwingt das Gefährt mit den beiden Freunden ans andere Ufer.

Swoboda erkennt die Bäume, die bis an die Böschung stehen: Es sind Ulmen, hinter denen der Himmel hell ist. Auf Lecouteux’ Ermunterung hin greift er nach seinem Malkoffer, springt aus dem Nachen in den Uferschlick, gleitet aus, fängt sich, sieht, dass sein Fährmann schon wieder abgelegt hat und ohne Abschied hinaus auf den Fluss steuert. Er würde ihm gern etwas nachrufen, bezweifelt aber, dass er ihn noch erreicht. Das Ufer, von dem sie kamen, ist im Dunst nur zu ahnen.

Als er sich umwendet, lehnt am Stamm der Ulme vor ihm ein Mann. Auch er kommt Swoboda bekannt vor, das weißblonde Haar unter dem schwarzen Hut, der dunkelrote Samtanzug, das rosafarbene Hemd, das Silberkreuz. Durch die goldberingten Finger gleiten die schwarzen Perlen eines Rosenkranzes.

»Haben Sie meine Waffe dabei?«, fragt er leise.

»Eine Waffe? Ich habe keine Waffe.«

Der andere lächelt. »Aber ich habe sie ihnen doch geliehen, meine Mateba Magnum, Sie müssen sich erinnern!«

Swoboda ärgert sich über die drängende Art des anderen und will an ihm vorbeigehen. Der Mann löst sich von der Ulme und stellt sich ihm in den Weg.

»Ich habe nichts gegen Sie, wirklich, ich will nur meine Waffe zurück, Sie tragen sie ja im Koffer mit sich herum, ich brauche sie, bitte, man hat mir alles genommen, meine Ehre, meine Selbstachtung, ich habe nur noch diese Mateba, soll ich auch sie noch verlieren? Wollen Sie das?«

Swoboda kniet sich in den Schlamm, legt seinen Malkoffer ab und öffnet ihn. Neben den Farbtuben, den von einem Gummiring gebündelten Pinseln, der kleinen Terpentinflasche und den zwei, in einen buntgefleckten Lappen eingewickelten Paletten liegt der schimmernde Revolver auf einem Paar karmesinroter Lederhandschuhe.

»Danke«, sagt der andere und nimmt sich die Waffe aus dem Koffer.

»Die Handschuhe?«, fragt Swoboda. Der andere schüttelt den Kopf.

»Was soll ich damit, sie gehören mir nicht, schenken Sie sie Ihrer Frau!«

Er klingt empört, steckt die Mateba in die Außentasche seines Jacketts, lüftet den Hut und wendet sich ab. Als Swoboda den Deckel des Malkoffers schließt und noch einwenden will, dass er nicht mehr verheiratet sei, sieht er den Mann hinunter zum Ufer gehen.

»Wie heißen Sie?«, ruft er ihm nach.

»Sjelo, Vedran Sjelo!«, antwortet der Gerufene und läuft in den Fluss, strebt entschlossen der Mitte zu, wo das Wasser über seinem Kopf zusammenschlägt, und der mattschwarze Hut treibt auf dem glanzschwarzen Wasser davon.

Der Farbenkoffer klebt im Schlick, er schmatzt, als Swoboda ihn anhebt. Warum macht sich der Maler keine Gedanken über den vor seinen Augen offenbar ertrunkenen Mann im roten Samtanzug? Warum scheint ihn nichts zu bewegen?

Wir müssen zugeben: Bereits jetzt kann man keine zuverlässige Auskunft über Swobodas Zustand mehr erteilen. Nur so viel ist festzustellen: Er ignoriert, was geschehen ist, und entschließt sich, zwischen den Ulmen einen kleinen Abhang, hier auf moosgepolsterter Erde, zu erklimmen, weil er in der Höhe einen hellen Schimmer wahrnimmt.

Doch ehe er aus dem kleinen Uferwald hinaustritt auf eine Wiese, die ihn dort im Farbenlicht eines unvermuteten Frühlings erwartet, hört er eine Kinderstimme singen und ist sicher, dass er sich selbst hört, es müssen über sechzig Jahre sein, die zwischen der Stimme und seinem heutigen Schweigen liegen; und ebenso lang hat er nicht verstanden, was dieses Lied, das er mit seiner Mutter gesungen hat, ihm voraussagte: Auf der Mauer, auf der Lauer, sitzt ’ne kleine Wanze, sieh dir mal die Wanze an, wie die Wanze tanzen kann, auf der Mauer, auf der Lauer sitzt ’ne kleine Wanze.

Er hatte gelernt, der Wanze von Strophe zu Strophe einen Buchstaben zu stehlen, so dass aus der Wanze ein Wanz wurde, aus dem tanzen ein tanz, dann ein Wan und ein tan, ein Wa und ein ta, ein W und ein t, ein – und ein –, ja, der Nichtbuchstabe war, was er zu lernen hatte. Das lustige Wortloch. Auf der Mauer, auf der Lauer sitzt ein kleines Nichts. Sieh dir mal das Nichts an, wie das Nichts nichts kann. Darauf lief es hinaus, man hatte es ihm rechtzeitig gesagt. Verborgen in einem Witz, einer Kuriosität, einer Weglassübung. Und wer das Nichts in seinem Mund bewahren konnte, hatte bestanden.

Erst jetzt, als er sich selbst mit der dünnen Knabenstimme singen hört, begreift er, wie die Erwachsenen ihren Kindern die Wahrheit über den Lauf des Lebens beibringen und zugleich verbergen. Also hört er sich weiter zu, während er sich zwischen den Ulmen der Stimme nähert. Und als die Wanze Buchstabe für Buchstabe verstümmelt, der Tanz seiner Bewegung beraubt und das Lied im Tonlosen verlaufen ist, sieht er den Jungen, der nun schweigt, im Moos sitzen: ein Waldkind offenbar, verdreckt, verlumpt, verschorft, das Haar ein Busch, die Augen frech, ein graues Fetzenhemd über die Knie gespannt, gekreuzt die pilzbraunen Füße. Und Swoboda weiß wieder wie damals, dass er ein solches Kind sein wollte. Er träumte davon: fortlaufen von zuhause, über die Mahrbrücke in den Wald und dort mit den Tieren leben, Beeren und Früchte essen, in einer Hütte aus Ästen wohnen, am Feuer sitzen. In die Sterne sehen. So ein Kind wollte er werden, wie es jetzt vor ihm sitzt. Der Junge ist freilich älter, als er selbst zur Zeit seiner Träume war; der kennt den Wald schon und weiß, wie man darin überlebt. Doch er hat ein fremdes Gesicht, das keiner Selbsterinnerung Swobodas ähnelt.

Die Augen erwarten einen Gruß.

Er aber steht ratlos und schlaff da, besinnt sich, richtet sich auf, streckt den Rücken durch und will aus dem Verstummungslied in die Sprache zurückfinden.

»Schön gesungen.«

Der Knabe fällt nicht darauf rein. Und Swoboda, seiner Ungeschicklichkeit bewusst, setzt nach:

»Hab ich auch mal gesungen.«

Das Kind, in dem Swoboda zu Unrecht sich selbst vermutet hat, könnte Mitleid mit dem Mann haben, der vor kurzer Zeit erschossen worden ist. Doch Kinder kennen Mitleid nicht, man muss es ihnen beibringen.

Der kleine Sänger verzieht keine Miene. Swoboda nickt mehrfach, weiß nicht, warum, nur, dass es jetzt so gekommen ist, wie seine Mutter ihm vorausgesungen hatte: Am Ende des Lebensliedes gehen uns die Buchstaben aus.

Er wendet sich um, erinnert sich an ein Gefühl seiner Kindheit, weiß auch das Wort noch dafür, Traurigkeit, und läuft zwischen den Ulmen zurück zum Waldweg, auf dem er die Frühlingswiese erreichen will.

Hinter ihm stimmt der Knabe das Wanzenlied von Neuem an, mit vollständigem Text und der hellen Zuversicht in der Stimme, dass das Verschwinden der Wörter für ihn noch in weiter Ferne liegt. Der Klang rührt Swoboda zu Tränen, doch er weint nicht, weiß nur von Tränen, die er nicht spürt. Als könnte er den eigenen Tod noch vermeiden, beeilt er sich, dem Kinderlied vom Verschwinden der Wanze auf der Mauer zu entkommen, bevor es im Buchstabennichts ausklingt. Er prägt sich die Botschaft ein: Am Ende hast du den Text noch im Kopf, doch dein Lied ist abgesungen.

Überhastet stolpert er den Pfad hinauf, läuft auf das Licht zu und hält inne, als am Waldrand die Sonne seine Stirn trifft. Sein Blick klärt sich, schweift über frische Wiesen, Chromoxydgrün mit einer Spur Neapelgelb hell, Apfelbäume in voller Blüte, ein Schaum aus Zinkweiß vor der Dächersilhouette am Horizont, Schieferglanz einer Kirchturmspitze, da liegt Varengeville vor ihm, wo er fast schon beheimatet ist, im ersten Stock des schmalen Bäckerhauses von Bernard Lecluse, der nach dem Tod seiner Frau Claire das Schlafzimmer und einen Nebenraum, beide nach Nordwesten gelegen und ohne Morgenlicht, vor zwei Jahren an Swoboda vermietet hat. Die Hitze der Backstube im Parterre wärmt den Fußboden. Lecluse hatte die um einen Germanen-Zuschlag erhöhte Miete wieder gemindert, als er erfuhr, dass Swoboda Maler war. Varengeville hat eine bedeutende Geschichte als Künstlerort, Braque und Miró waren dort, Renoir und Claude Monet, der mehrfach die Felsenküste, die Eglise Saint Valéry und das alte Zollhaus gemalt hat.

Eines Sonntagabends, vor dem freien Montag des Bäckers, hatte Lecluse seinen deutschen Mieter zum Cidre eingeladen, sie waren zum Rotwein übergegangen, hatten sich von Glas zu Glas besser verstanden, was vielleicht auch an Swobodas miserablem Französisch lag, und nannten sich, es war kurz vor Mitternacht, bei ihren Vornamen Bernard und Alexandre, umarmten einander, und Lecluse gestand leise, er habe seit dem Tod seiner Frau zum ersten Mal einen glücklichen Abend verbracht. Einen Monat später hat Alexander ihn porträtiert, einen mageren, ernst blickenden Mann mit hoher, weißer Mütze, im blau gestreiften Bäckerhemd, hellen Hosen und Mehlschürze vor den Eisentüren des Backofens. Und Bernard wunderte sich, dass er auf dem Bild eine Würde hatte, die ihm nicht bewusst war.

Das Licht über den Wiesen, den blühenden Apfelbäumen und den Dächern von Varengeville ist von unwirklicher Klarheit und erzeugt in Swobodas Augen eine neue Lesbarkeit der Welt.

Er ist befreit von Wanz und tanz und Nichts und meint plötzlich, alles zu verstehen; das, was war, so wie das, was kommen wird. Hintergründe werden sich enthüllen, Schatten sich aufheben, verborgene Dinge sich offenbaren. Eine lange nicht verspürte Zuversicht kommt in ihm auf, er lächelt der Landschaft entgegen und sieht seinen Berlingo auf einem Feldweg neben der Baumreihe stehen, läuft zu ihm hin, blickt durch die Heckscheibe in den Laderaum, drinnen liegt alles in der gewohnten Ordnung, die Mappe mit den Malkartons, die dünnbeinige Pleinair-Staffelei, er öffnet die Tür und legt den Farbenkoffer dazu, steigt ein, findet den Zündschlüssel in der Außentasche seiner Anglerjacke und fährt langsam den Dächern entgegen.

Der Feldweg wird zur asphaltierten Straße, Swoboda nähert sich Varengeville aus unbestimmbarer Himmelsrichtung und hat schon ein neues Bild im Kopf: Roter Mann vor den Falaises im ersten Licht des Morgens.

GESELLSCHAFT

Mitten in unserer Verwirrung wenden wir uns von dem Toten ab und der diesseitigen Welt zu.

Ein Schloss an der Loire – wie viele hat man nicht schon in Filmen gesehen, in Prospekten und Reiseführern, als Hausboottourist oder Buspassagier, und dieses entspricht durchaus dem Gesamteindruck aller anderen: schiefergedeckt aus dem sechzehnten Jahrhundert mit Haupthaus und Seitenflügeln und Erkern und einer von hellem Kies bestreuten, elliptischen Auffahrt, in deren äußerem Brennpunkt ein Taubenturm, ein Colombier, steht.

Es trägt wegen der zahlreichen hohen Linden seines Parks den Namen Charme-des-Tilleuls und liegt nicht direkt an der Loire, sondern an einem winzigen Zufluss, der Aubette, die kürzer ist als jene Aubette, die im Département Val-d’Oise als linker Nebenfluss in die Epte mündet, und schmaler als die Aubette der Île-de-France, ein rechter Nebenfluss des Bras de Mézy, der wiederum ein Seitenarm der Seine ist.

Die hier gemeinte Aubette ist zierlicher als ihre Namensschwestern, doch mindestens so lieblich. Ihre Windungen und Schlingen wirken, als habe das Flüsschen auf seinem Weg hin und wieder geträumt und dabei seine Spur verloren. Das Schloss Charme-des-Tilleuls, dessen Rückseite von einer dieser Schleifen umarmt wird, wechselte seit seiner Erbauung 1519–23 mehrfach den Besitzer und gehört, 1982 gründlich saniert, gegenwärtig einem gewissen Pascal Thierry Chevrier.

Er hat für heute seine Gesellschaft der Trinker zur Weinverkostung geladen, die er zweimal jährlich veranstaltet. Es geht dabei freilich nicht nur, nicht einmal in erster Linie, um Weine.

Chevrier ist ein kleiner Mann mittleren Alters, der versucht, durch das Hochziehen seiner Augenbrauen größer zu wirken. Über der stark gebogenen Stirn, die er für ein Zeichen seiner unabgeforderten Musikalität hält, balanciert er ein schwarzes, seitlich gescheiteltes Toupet, unter dem er seine Glatze verbirgt und das, obwohl er es alle drei Tage wäscht, einen öligen Eindruck macht. Chevrier färbt seine Augenbrauen schwarz, pflegt das auffallend blasse Gesicht mit Schweizer Herrenkosmetik und hat vielleicht darum eine so weiche Haut, dass er trotz aller Männlichkeitsbemühung feminin wirkt.

Dass seine sehr kleinen graugrünen Augen sich an die Nasenwurzel lehnen, verleiht ihm eine gewisse Undurchschaubarkeit und Suggestion, jedenfalls im Kreis jener Freunde, die er soeben mit einer weitschweifigen Geste ermuntert, seiner Einladung zum runden Tisch zu folgen.

In dessen Mitte stehen die Karaffen, in denen der Hausherr vor Stunden die Rotweine für die heutige Verkostung dekantiert hat. Die leeren Flaschen und ihre Korken hat er auf einem Beistelltisch so gruppiert, dass die Etiketten nicht zu erkennen sind. Die Karaffen unterschiedlicher Gestalt sind kreisförmig im Zentrum der Mahagoniplatte angeordnet, um die Trinkergesellschaft daran zu erinnern, wie sehr jeder hier im Raum von der Zuverlässigkeit des anderen abhängt.

Warum erzählen wir von ihm?

Pascal Thierry Chevrier ist nicht das, was sein Nachname besagt, er hütet keine Ziegen, sondern einen international operierenden Stahlbau-Konzern, kontrolliert dessen Töchter und Holdings, Subunternehmen und Beteiligungen sowie die angeschlossenen Anwaltsfirmen, die vornehmlich der politischen Einflussnahme und der Abwehr von Steuer- und Kartelluntersuchungen dienen. Doch nicht wegen seiner Funktionen, von denen diverse Vorstandsvorsitze nur die offiziellen sind, interessiert er uns, sondern als der Privatmann Chevrier, der bedeutende Teile seiner Vergütungen, Spekulationsgewinne und Prämien nicht dem französischen Staat und seiner Geldgier offeriert. Uns kann zurzeit gleich sein, wo er sein sauer verdientes Schwarzgeld ablagert – nicht in der Schweiz übrigens –, weshalb dieser Aspekt seines Charakters unsere Aufmerksamkeit noch nicht erfordert.

Doch hat er nur eine halbe Stunde, bevor die Gäste eintrafen, in der Küche seines Château mit einem Mann gesprochen, der uns bereits aus anderem Zusammenhang unangenehm vertraut ist.

Vedran Sjelo war über den hinter dem Schloss liegenden, gekiesten Parkplatz gekommen, hatte die Küche durch die Gartentür betreten, seinen schwarzen Hut auf den Tisch gelegt, sich eine Flasche Bier aus dem Getränkekühlschrank genommen, sie geöffnet und, ohne abzusetzen, geleert.

Seine goldberingten Finger am grünen Flaschenglas, die weißblonden Locken des Kroaten, das rosa Hemd, das Silberkreuz, der Anzug aus weinrotem Samt, die schwarzen, gelb gesteppten Wildlederschuhe, dieses Patchwork auffälliger Farben ist für Chevrier, der sich ausschließlich in Nuancen zwischen Nebelgrau, Anthrazit und Elfenbeinschwarz kleidet, eine provokative Orgie des schlechten Geschmacks. Seine Laune war darum miserabel, zumal Sjelo seine Anwesenheit im Schloss Charme-des-Tilleuls gegen die Regel durchgesetzt hatte.

Chevrier warf ihm den blassbraunen Geldumschlag wie einem Tier zum Fraß hin.

»Das ist noch nicht erledigt. Er wurde erpresst. Die Adresse liegt bei.«

Der Killer stellte die Bierflasche auf den Tisch, zog den Umschlag zu sich her und schob ihn in die Innentasche seines Jacketts.

Er fragte sich, warum Chevrier unzufrieden mit ihm war, und vermutete, dass die Liquidierung des zufälligen Zeugen in Les Petites Dalles seinen Auftraggeber beunruhigte; sagte ihm, er müsse sich keine Sorgen machen, auch wenn es diesmal, so was komme eben vor, einen Beobachter gegeben habe. Ein Maler bloß, niemand Wichtiges. Auf unvorhersehbare Komplikationen seien er und Dobrilo Moravac, er stupste sich dabei aus unerfindlichen Gründen mit gestrecktem Zeigerfinger unters Kinn, stets gefasst. Die Waffe habe er, wie immer, nur einmal benutzt. Dobrilos Gewehr liege auf dem Grund der Seine. Er habe es von der Pont de Brotonne geworfen. Und der Erpresser werde die nächsten Tage nicht überleben. Falls die Summe im Umschlag ausreichend sei.

Der kleine Schlossherr blieb stumm und sah Sjelo nicht an. Er hielt seinen Kopf gesenkt. Seine Zweifel verdichteten sich zu Fragen. Der Mann war bedingungslos zuverlässig, seit Jahren. Konnte es sein, dass ihm jetzt die Situation entglitt, dass er übereilt handelte und nicht nur, was seine Kälte betraf, nachließ, sondern seine Kenntnis der Hintergründe nutzen und als Mündel Vormund werden wollte? Der Hausherr sprach keine seiner Fragen aus. Erst, als Sjelo sich umdrehte und durch die offene Tür im Garten verschwinden wollte, hielt er ihn mit einem leisen Befehl zurück.

»Von jetzt an nie wieder hier. Kontakt über die Cloud und das Schließfach. Oder ich sende dir eine Nachricht nach Orléans.«

Der Kroate hielt mitten im Schritt unmerklich inne, seinem Auftraggeber nicht zugewandt, setzte dann die unterbrochene Bewegung fort. Er hatte den Mund nicht geöffnet, doch Chevrier hörte ein Lachen.

Der Satzaustausch zwischen ihnen, kaum als Konversation zu bezeichnen, verlief leise und, wie üblich, englisch und bestätigte die Tatsache, dass im Schloss Charme-des-Tilleuls eine weitreichende, ja schändliche Bedenkenlosigkeit vorherrscht. Sie ist bei Menschen dieses Schlages die Geschäftsgrundlage, über die man sich nur einmal, und zwar grundsätzlich, verständigen muss. Was das Geld betrifft, um das es hier wie allerorts, bei der Trinkergesellschaft aber in besonderem Maß geht, gibt es ohnehin Einigkeit:

Die Koffer, die im Weinkeller des Château deponiert sind und von Chevriers Vertrautem, Wout de Wever, gehütet werden, enthalten einer wie der andere Euroscheine. Wever, ein gebürtiger Belgier und zweiundsechzig Jahre alt, trägt sein weißes Haar lang bis auf die Schultern. Auffälliger ist, dass seine Augen ausdruckslos sind, schwarz, tief, auf nichts gerichtet. Er ist nicht blind, blickt nur beständig nach innen, seine Lippen bewegen sich wie in einem unaufhörlichen Selbstgespräch, von dem kein Laut nach außen dringt. Während er vernünftig und zuverlässig handelt, scheint er mit etwas anderem in sich selbst befasst zu sein, an dem er niemanden teilnehmen lässt.

Er hat, wie üblich, bei der Anreise der Trinker die Mitbringsel entgegengenommen und in einen, von Rotweinregalen halb verdeckten Stahlschrank eingeschlossen, der im Augenblick rund viereinhalb Millionen enthält. Noch fehlen zwei Koffer, weil zwei der Herrschaften sich verspäten.

Wever hört ein Geräusch und wendet sich um. Vedran Sjelo steht an dem langen Eichentisch, an dem Chevrier beim Eingang neuer Lieferungen die Weine zu verkosten pflegt.

»Na, was schätzt du, wie viel ist es diesmal.«

Wever ist ein schwerer, schweigsamer Mann, der seine früheren Erlebnisse als Söldner in afrikanischen Kriegen, die in den Weltnachrichten Konflikte genannt werden, in den Tiefen seiner Seele verborgen hat; nicht tief genug für seine Träume, deren Bilder ihn mit grausamer Zufälligkeit aus dem Schlaf hochjagen. Seiner nächtlichen Schreie wegen bewohnt er zwei Räume im Erdgeschoss, die weit entfernt von denen der Dienerschaft am Ende des Südflügels liegen.

»Ich öffne die Koffer nicht.«

»Chevrier hat Ärger. Diesmal geht es nicht so einfach wie in Perugia. Und nicht so glatt wie mit dem Fettsack in Florida. Du erinnerst dich, wir haben damals schon geahnt, dass dieses Spielchen hier irgendwann ein Ende hat.«

»Ich erinnere mich nicht, und ich weiß nichts«, knurrt Wever und steckt die Schlüssel zum Geldschrank ein.

Der Kroate zieht zwei rote Lederhandschuhe aus seinen Hosentaschen, greift sich unterm Jackett hinten an seinen Gürtel und zieht eine Pistole hervor, legt die Handschuhe wie das Flügelpaar eines großen Schmetterlings auf den Tisch und platziert die Waffe dazwischen.

»Die Herrschaften werden erpresst.«

Wout de Wever nickt. »Das ist schon vorgekommen.«

»Ich erledige den Kerl«, sagt Sjelo. »Fahre heute noch los. Chevrier glaubt, das ist damit erledigt. Ich glaube das nicht. Und wenn der Laden hier auffliegt, was wird dann aus dir? Na? Was wird aus dir?«

»Keine Ahnung, es geht immer irgendwie, und wenn nicht, dann nicht.«

Sjelo beugt sich vor und stützt sich auf den Tisch.

»Du hast Jahre die Arbeit für ihn gemacht. Und er kassiert und kassiert. Hat er dir was davon abgegeben? Hat er dir ein Häuschen gekauft, irgendwo, hat er dir was aufs Konto gepackt, hast du bekommen, was du verdienst? Ich wette, du bist nicht mal krankenversichert.«

Wever tritt einen Schritt zurück, als müsse er Abstand gewinnen. Sjelo hat die Angel ausgeworfen. Der Haken sitzt, der Belgier beißt an den Fragen. Damals, als Chevrier ihn aufgenommen hatte, war er ganz unten gewesen. Dann war dieser Schlossherr gekommen und hatte ihm Sicherheit geboten, Vertrauen geschenkt. Bei Sjelo war es nicht anders gewesen.

Chevrier hat einen Blick für Menschen, die wie verhungernde Hunde gegen den kleinsten Bissen ihre ganze Treue eintauschen. Er hatte Sjelo in Orléans ein Appartement gemietet und ihn sich verpflichtet.

»Jetzt sind wir endlich an der Reihe, Wout. Ich sag ja nicht, dass du klauen sollst. Wir machen die Erpressung weiter. Einfach weiter. So als ob der Kerl in München noch einen Komplizen hätte, der das Spielchen fortsetzt. Das ist ohne Risiko, an uns denkt dabei keiner!«

Der Belgier wiegt den Kopf hin und her. Sie hatten manchmal im Spaß darüber geredet, wie es wäre, ihren Auftraggeber in die Mangel zu nehmen. Doch sie hatten nicht gewusst, wie die Geschäfte abliefen. Offenbar ist ihm jetzt einer auf die Spur gekommen und setzt ihn so unter Druck, dass er beseitigt werden muss.

»Aber wenn er merkt, dass ich es bin, Vedran? Ich? Er war immer gut zu mir.«