Schweine befreien - Jens Kirschneck - E-Book

Schweine befreien E-Book

Jens Kirschneck

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Beschreibung

Grabowski, 35, Teilzeitjournalist und semiprofessioneller Trübsalbläser, hat ein Problem. Nein, einen Sack voller Probleme! Ist er im Suff etwa Zeuge eines perfiden Verbrechens geworden? Oder ist es jetzt schon so weit, dass er sich ins Delirium getrunken hat? Warum taucht an jeder Ecke seine Exfreundin mit diesem furchtbaren Künstler auf? Und woher kommen die Schmerzen? Bei seinem Versuch, zumindest dem vermeintlichen Verbrechen auf den Grund zu gehen, stößt er auf merkwürdige Vorgänge beim örtlichen Fußballklub. Etwas stimmt nicht mit dem FC Teutonia. Volker Wunsch, der stets joviale Manager, wirkt plötzlich sehr angespannt, Machtkämpfe toben auf allen Ebenen, und was hat das mit den vielen Spielern vom Balkan zu tun? Die Spur führt bis nach Kroatien, wo die Dinge endgültig aus dem Ruder laufen. Grabowski muss lernen, dass im Fußballgeschäft manches anders ist, als er sich das vorgestellt hat. Er entdeckt Zusammenhänge, die bis in die Zeit des Jugoslawienkriegs zurückreichen. Und dann kommt es, weit weg in Amerika, zu einem Ereignis, nach dem die Welt sowieso nicht mehr dieselbe ist. Ein ironischer Kriminalroman über Fußball, Provinz und die ewige Suche nach einem besseren Leben – und gleichzeitig der erste Roman des 11Freunde-Redakteurs Jens Kirschneck!

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Jens Kirschneck

SCHWEINE BEFREIEN

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Impressum und Copyright

Personal

Volker Wunsch: Taucht an einem unpassenden Ort auf, womit das Schlamassel beginnt.

Udo Jäger: Weiß als Mann der alten Schule, wo der Barthel den Most holt.

Aleksandar Raznatovic: Handelt mit falschen Hoffnungen und hat das alles so satt.

Milena Balic: Hat noch längst nichts satt und zudem ein erstaunliches Stehvermögen.

Dieter Linnenbrügger: Hat kein Stehvermögen mehr, aber dafür ein intaktes Näschen.

Der schöne Ronnie: Ist ein Quereinsteiger mit Ambitionen.

»Toni« zur Heyden: Arbeitet auf dem Berg und hat von dort einen guten Überblick.

Marco Sjelo: Meint, noch eine Rechnung aus dem Krieg offen zu haben.

Astrid Feldkamp: Hat sich vieles anders vorgestellt, auch das mit der Katze.

Zlatan Beslic: Erhält eine Lektion über Moral im Fußballgeschäft.

Hasan Yalcin: Wird vielleicht der Nachfolger seines Nachfolgers.

Thorsten Oberschelp: Versucht, möglichst nicht anzuecken, aber das klappt nicht.

Dr. Günter Berg: Hat Insiderwissen und teilt es gerne.

Pamela Arroyo: Steht mehr auf erfolgreiche Künstler als auf erfolglose Schreiber.

Hanno Schlagmichtot: Malt abstrakt und nervt konkret.

Grabowski: Begreift fast zu spät, wie das alles zusammenhängt.

1 Der Teufel hat den Schnaps gemacht

Das Erste, was Grabowski an diesem Tag in den Sinn kommt, ist ein blöder Gedanke. Zumindest wäre der nüchterne Grabowski dieser Meinung gewesen, der noch besoffene ist zur Meinungsbildung vorerst nicht in der Lage. Der Gedanke lautet: Wussten Sie, dass eine Currywurst lediglich fünf Prozent Fleisch enthält?

Üblicherweise hätte Grabowski dabei gelächelt, jetzt aber ist ihm nicht nach Lächeln zumute, was eher physischen als psychischen Ursachen geschuldet ist. Er hat in der Nacht zuvor siebzehn Tequila (und vier Bier) getrunken und sechs Frauen (und zwei Männern) die Zunge in den Hals gesteckt – und das alles, weil seine Exfreundin vor seinen Augen dasselbe gemacht hat: Tequila getrunken und einem (anderen) Mann die Zunge in den Hals gesteckt.

Aber das weiß er in diesem Moment nicht mehr. Im Moment weiß er gerade noch, dass er Theo Grabowski heißt.

Er steht auf und schlurft in seine winzige Küche, stößt sich den Kopf an der Dachschräge, flucht und nimmt die ranzige, längst nicht mehr silberfarbene spanische Espressokanne vom Herd. Ihm fällt auf, dass er die ganze Nacht seine Armbanduhr getragen hat, was ihm zwei Erkenntnisse beschert, auf die er lieber verzichtet hätte.

Zunächst mal stellt er fest, dass der Chronometer erheblich beschädigt ist. Er ist stehen geblieben und das Glas über dem Zifferblatt ist zersplittert. Dann kommt ihm Pamela in den Sinn, denn die hat ihm die hübsche Uhr (Tissot!) zum Geburtstag geschenkt. Für den Bruchteil einer Sekunde flackert eine Ahnung davon auf, was am letzten Abend geschehen ist.

»Scheiße, Pamela«, seufzt Grabowski, aber mehr innerlich. Damit ist die Lage ganz treffend zusammengefasst.

Er nimmt den Kaffee mit ins Bett und versucht, seinen Kopf in Ordnung zu bringen, doch er kann sich tatsächlich an kaum etwas erinnern. Er glaubt, dass er zu viel getrunken hat, das kommt ja öfter mal vor; aber es fehlen belastbare Erinnerungen an konkrete Ereignisse. Stattdessen nur lose Fetzen, die auf diffuse Weise unangenehme Assoziationen wecken – und keinen blassen Schimmer, wie er nach Hause gekommen ist. Grabowski wird den Gedanken nicht los, dass etwas sehr Unerfreuliches passiert ist.

Nachdem er eine halbe Stunde dagelegen hat und der kaum angerührte Kaffee kalt geworden ist, geht er aufs Klo und erbricht sich. Das unangenehm vertraute Aroma lässt ihn ahnen, dass er dies nicht zum ersten Mal in den letzten Stunden getan hat.

Quasi aus dem Nichts fliegt ihm ein Bild zu: Pamela und Hanno. Grabowski saugt scharf Luft ein. Hanno! Künstlerjeck, manierierte Kanaille. Eine Welle des Ekels überkommt ihn, die er mit einem kümmerlichen Rest Magensaft in die Kloschüssel entsorgt.

Danach schleppt er sich zurück ins Schlafzimmer. Seit Tagen ist es ungewöhnlich warm, selbst für Ende August, und obwohl es noch nicht sehr spät sein kann, liegt bereits eine brütende Hitze über der Stadt. Er reißt das Fenster auf, und eine homöopathische Dosis frischerer Luft vermischt sich mit der abgestandenen im Zimmer.

Grabowski schaut auf den Wecker, dessen Batterie schon vor einer ganzen Weile den Geist aufgegeben hat. Er schaltet den Fernseher ein und sieht im Videotext, dass es gerade halb elf ist. Besser wäre, er würde noch etwas schlafen, doch das ist aussichtslos. Mit Restalkohol ist er traditionell kein guter Langschläfer, und auch wenn er nur wenig vom letzten Abend weiß, so weiß er doch eines ganz genau: dass er einen mordsmäßigen Kater hat.

Lustlos durchstöbert er die Nachrichten. Eine Soulsängerin ist mit dem Flugzeug abgestürzt, ein korrupter deutscher Manager in Österreich verhaftet worden, und der norwegische Kronprinz hat eine Bürgerliche geheiratet. Die Welt ist über Nacht mal wieder nicht besser geworden.

Wie ein Zerrbild aus dem Monstrositätenkabinett erscheinen erneut Pamela und Hanno: Pamela Arroyo, ein Meter achtundfünfzig, hollandblonde Halbspanierin mit koboldhaften Gesichtszügen und Grabowskis Exfreundin – falls diese Bezeichnung nach dem Ende einer hartnäckig als Affäre titulierten Verbindung gestattet ist – und Hanno Schlagmichtot, große Hoffnung der lokalen Kunstszene, aber wenn es nach Grabowski geht, nicht mehr als ein nichtsnutziger und ungewaschener Schrat, der bestimmt nur einmal die Woche die Unterhose wechselt, weil er wegen seines dauerhaften Kreativitätsrausches nie dazu kommt, die Wäsche zu machen.

»Wieso, der schaut doch gut aus«, würde Pamela in ihrer unbefangenen Art sagen, »und er ist interessant.«

Wenn der interessant ist, lässt sich das vermutlich auch über eine Kabelmuffe sagen, denkt Grabowski. Für ihn ist Hanno Schlagmichtot – den richtigen Nachnamen vergisst er stets absichtlich – nicht mehr als ein aufgeblasener Popanz, der in seiner verkaterten Sonntagmorgenfantasie überdies aussieht wie eine Figur von Manfred Deix. Und eben diese Deix-Figur taucht nun in seinem schmerzhaft klaren Erinnerungsfilm im Chihuahua auf, den rechten Arm lässig um die dreißig Zentimeter kleinere Pamela gelegt. Ungezwungen grinsend kommen die beiden herein, begrüßen Freunde, gehen an die Theke und lassen sich Tequila servieren, mit Zitrone und Salz, das volle Programm. Dann stellen sie sich an den Rand der Tanzfläche, und Hanno Schlagmichtot in der Manfred-Deix-Variante beugt sich herüber zu Pamela Arroyo – wegen des Größenunterschieds muss er ein bisschen in die Knie gehen – und katapultiert seine echsenartig hervorschießende Künstlerzunge in den Mund der aparten Halbspanierin. Grabowski ist keine drei Meter entfernt, doch er kann nicht weg, er ist festgetackert in diesem Laden, an dieser Stelle, denn er muss auflegen, noch fast eine halbe Stunde lang. Könnte also bitte, bitte jemand die Polizei rufen?

Der aktuelle Grabowski wechselt zu den Sportnachrichten, um die bösen Bilder aus seinem Kopf zu verbannen. Im DFB-Pokal sind die Überraschungen ausgeblieben, lediglich der FC Teutonia hat sich schwergetan: 0:0 nach Verlängerung gegen einen Verein aus der sechsten Liga, dann erst der Sieg im Elfmeterschießen, mit Hängen und Würgen. Grabowski kann sich die Reaktionen der Verantwortlichen lebhaft vorstellen. Trainer Udo Jäger wird drastische Maßnahmen für die kommende Trainingswoche ankündigen, während Manager Volker Wunsch (»So darf man sich einfach nicht präsentieren!«) wieder mal Abbitte bei den mitgereisten Fans leisten muss.

Grabowskis zuvor mechanisch die Meldungen des Videotextes anwählender Daumen hält inne. Ganz kurz hat das Thema in seinem toxisch verseuchten Gehirn eine Saite zum Klingen gebracht, nur eine winzige Irritation.

Jedenfalls ist er froh, dass man ihn nicht zu diesem Grottenkick geschickt hat, auch wenn er das Geld natürlich gut hätte brauchen können. Doch der Anzeiger hat für den Besuch solcher »Pille-Palle-Spiele« (O-Ton Chefredakteur Hannemann) kein Geld. Da tut es dann auch mal der Sport-Informations-Dienst.

Grabowski geht unter die Dusche und genießt den warmen Strahl auf seiner partykontaminierten Haut. Leider regnen mit dem Wasser auch einige nicht sehr schöne Erinnerungen auf ihn herab. In chronologisch sortierter Reihenfolge (und ansteigender Peinlichkeit) sind es folgende:

1.) Ein Dialog mit Sandra Behrens. Grabowski kennt sie nur vom Sehen und hat noch nie mit ihr geredet, doch als nach seiner überfälligen Entlassung aus dem DJ-Gefängnis Pamela und Hanno den freien Abzug zur Theke blockiert haben, hat er sich in seiner Not zu Sandra geflüchtet, die in der Nähe stand und das Geschehen auf der Tanzfläche beobachtete. Sandra Behrens hat, dem inländisch klingenden Namen zum Trotz, etwas Asiatisches an sich, und weil ihm gerade nichts Besseres eingefallen ist, hat er gegen die Musik angebrüllt: »Sag mal, wo genau kommen eigentlich deine Eltern her?« Sandra hat ihn komisch angesehen und zurückgebrüllt: »Von hier!« Spätestens damit hätte Grabowski es gut sein lassen müssen, aber er hat noch mal nachgehakt: »Ich meine, ursprünglich!« – »Immer noch von hier!«, hat Sandra Behrens geschrien, jetzt lauter als nötig. Wahrscheinlich hat er danach betreten aus der Wäsche geschaut, jedenfalls hat sie versöhnlich hinzugefügt: »Sie bestehen nun mal darauf. Was soll ich machen?«

2.) Die kurz darauf (aus beiderseits unerfindlichen Gründen) erfolgten Küsse mit Sandra Behrens; und der weniger unerfindliche, dafür umso unredlichere Versuch seinerseits, Sandra und sich während der Aktion so um die eigene Achse zu drehen, dass es Pamela unmöglich war, nicht zu sehen, was vor sich ging.

3.) Sandra Behrens’ gerechter Zorn, als sie bemerkt hat, was da gespielt wurde.

4.) Ein Zungenkuss mit seinem alten Bandkumpel Tommy Bandow (ob der ebenfalls in Pamelas Sichtfeld stattgefunden hat, kann Grabowski nicht sagen, da ihm spätestens ab da jeglicher Durchblick fehlte).

5.) Die öffentlichen Reaktionen auf den Kuss mit Tommy Bandow, vor allem von René Peter, der schmierigen Koksnase: »Dann will ich aber auch!« Anschließend (bei der Erinnerung schüttelt es ihn) ein Zungenkuss mit René Peter.

6.) Plötzlich auftretende Übelkeit an der Theke. Er hat noch lässig mit seinen DJ-Getränkemarken gewedelt, als auf einmal die pure Säure aus seinen Eingeweiden nach oben geschossen kam. Gerade so hat er es vermeiden können, auf den Tresen zu reihern, sich mit einer ungelenken Geste entschuldigt und ist in der Hoffnung, ein bisschen frische Luft würde ihm guttun, aus dem Laden getorkelt. Die gar nicht so frische Luft in der warmen Sommernacht hat aber alles nur schlimmer gemacht. Also ist er hinter dem Chihuahua auf allen Vieren den Bahndamm hinaufgeklettert und hat auf die Schienen gekotzt.

Und 7.) – Oh, Gott! – die Sache mit Solli. Zurück im Chihuahua ist ihm Pamelas leicht adipöse Freundin Solveig begegnet, nur dass er sie (Übergewicht hin oder her) auf einmal recht attraktiv fand. Sie haben sich kurz unterhalten, vermutlich – nein, mit Sicherheit! – über Pamela und Hanno, als Grabowski (es hat keinen Zweck, vor dieser unangenehmen Wahrheit zu fliehen) auf die Idee gekommen ist, eine Knutscherei anzuzetteln. »Lass mal besser«, hat Solveig gesagt. Der Rest ist verschwommen, aber leider nicht verschwommen genug. »Ach Solli, bitte«, hat Grabowski bedauerlicherweise gefleht und ihren Kopf in beide Hände genommen. Es folgten ein kurzes Gemetzel, sich flüchtig verhakende Zungen, ein rüder Abbruch und Solveigs abschließendes Urteil: »Idiot! Und du stinkst aus dem Maul wie ein toter Fisch!«

Danach ein gnädiger Filmriss.

»Ich bin fünfunddreißig und mach solche Sachen«, murmelt Grabowski, als er aus der Dusche steigt und sich abtrocknet. »Ich brauch echt mal ’ne Therapie.«

Später macht er es sich mit Rührei und dem zweiten Kaffee auf dem Sofa bequem und denkt über die Spätfolgen des Abends nach. Heutzutage wird man ja schneller zur Unperson, als man denkt.

Frage ans Hohe Gericht: Hat Theo Grabowski noch alle Tassen im Schrank?

Definitiv nicht!

Hat Theo Grabowski sich vielmehr in einer Weise zum Affen gemacht, die in der Geschichte dieses Gemeinwesens ohne Beispiel ist?

Vieles, wenn nicht alles, spricht dafür!

Muss Theo Grabowski deshalb aus der Stadt gejagt und seine Ehre den Löwen zum Fraß vorgeworfen werden?

Möglicherweise … Na ja, wahrscheinlich.

Fest steht, dass er mehr Informationen braucht, um den Sachverhalt abschließend beurteilen zu können. Zweifelsohne handelt es sich bei den Tequilapartys des Kombinats Abendunterhaltung um Veranstaltungen der derberen Art, bei denen die selbst ernannte subkulturelle Boheme der Stadt regelmäßig die Sau rauslässt; Kritiker sprechen in diesem Zusammenhang auch von einem Indie-Ballermann. Deshalb ist zwar unklar, ob die anderen Gäste, die mit Sicherheit selbst gut betankt waren, überhaupt viel mitbekommen haben. Andererseits hat er dafür gesorgt, dass zumindest Pamela voll im Bilde ist, und die Sache mit Solveig ist schon sehr unangenehm (und die mit René Peter auch; das mit Sandra Behrens lässt sich vielleicht in einem Vier-Augen-Gespräch klären, oder man lebt weiter nebeneinanderher).

Dummerweise wird Grabowski das Gefühl nicht los, dass er längst nicht alles weiß, was er wissen müsste – und dass es sich bei dem, was im Verborgenen lauert, nicht um eine der üblichen Peinlichkeiten, sondern um etwas wirklich Beunruhigendes handelt. Scheiß Suff, denkt er und verwirft die Idee, sich ein Konterbier aufzumachen.

Er überlegt, Marco anzurufen, und ruft Pamela an. Lässt es ewig klingeln und will schon auflegen, aber da ist eine plötzliche Lähmung in seinem rechten Arm. Warum schaltet sich nicht wenigstens der verdammte AB an?

»Hm?« Pamela klingt schwer verschlafen.

»Ist der Künstler bei dir?«

»Wer … Bist du das, Grabowski?«

Er kommt sich bereits jetzt dämlich vor. »Sag schon! Ist er da?«

Schweigen am anderen Ende. Grabowski räuspert sich, um Zeit zu gewinnen, das erscheint ihm auf jeden Fall sinnvoller, als zum dritten Mal dieselbe Frage zu stellen. Dann taucht aus der Tiefe des Raumes Pamelas Stimme wieder auf, doch nun ist es nicht mehr die verschlafene Pamela, sondern die selbstbewusste; die, die ihn fasziniert, die ihm aber auch (nicht dass er sich das je eingestehen würde) eine Scheißangst einjagt.

»Er ist im Atelier. Du weißt doch, dass er in drei Wochen seine große Ausstellung hat.«

Große Ausstellung, natürlich. Weiß Grabowski nicht. Will er auch gar nicht wissen.

»Ich wollte nur …«, hebt Grabowski an und bleibt stecken. Ja, was will er eigentlich?

»Wolltest du fragen, ob Solli dich angezeigt und René Peter nach deiner Telefonnummer gefragt hat? Oder was aus den Kontaktlinsen von dieser Thekentussi geworden ist?«

Kontaktlinsen? Thekentussi? Grabowski wünscht sich, er hätte nie angerufen. Andererseits gefällt ihm die Wortwahl. Offenbar hat er mit der Frau von der Theke (beziehungsweise deren Kontaktlinsen) etwas gemacht, was Pamelas Unmut geweckt hat, sonst würde sie kaum von der »Thekentussi« sprechen. Kann er am Ende gar Eifersucht in Betracht ziehen?

Pamela lacht. Das war’s dann mit Eifersucht, wäre ja auch zu schön gewesen.

»Thekentussi?«, fragt er, so neutral wie möglich.

»Thekentussi«, sagt Pamela. So kann das bis heute Abend weitergehen.

»Du weißt es nicht mehr«, kichert Pamela.

»Nach der Sache mit Solli?«

»Mein Lieber, du hast erst danach richtig losgelegt.«

Ihm wird wieder übel. Warum hat er nicht Marco angerufen, seinen lieben, guten, alten, stets solidarischen Marco? Nun ist es zu spät, und das Verhängnis nimmt seinen Lauf.

»Du bist regelrecht Amok gelaufen!«

Zehn Minuten später liegt ihm ein detaillierter Bericht über den restlichen Abend vor. Offenbar hat er noch mehrere »Geschlechtsanbahnungen« (Zitat Pamela) versucht, einige davon sogar halbwegs erfolgreich. Bei einem seiner regelmäßigen Besuche an der Tequilatheke hat er sich auf den Rand des Tresens gesetzt und ist eingeschlafen – und zwar so, dass sein Hinterkopf im Spülbecken für die Schnapsgläser versunken ist. Zwar war zu der Zeit bereits alles egal, doch die Thekentussi – Pamela kennt ihren Namen nicht, Grabowski leider schon – hat ihn geweckt, als die Theke um vier Uhr zumachte. Kurz darauf ist er auf allen Vieren durchs Frauenklo gerobbt, was für einen ziemlichen Aufruhr gesorgt hat. Vom Veranstalter zur Rede gestellt, hat er behauptet, die Kontaktlinsen der Thekenfrau zu suchen, was diese bestritten hat. Dann ist er im hohen Bogen aus dem Laden geflogen.

»Verdammt, das konnten die doch nicht machen!«, sagt Grabowski entrüstet. »Ich war immerhin einer der DJs.«

»Das hat dir auch nicht mehr geholfen«, meint Pamela trocken, und fügt hinzu: »Du musst mal ein bisschen weniger trinken, Grabowski.«

Na toll, denkt Grabowski. Er ist jetzt ernsthaft angefressen. Warum trinke ich wohl so viel, Eisprinzessin? Wer hat mir denn kühl seinen Dolch ins Herz gerammt? Aber darüber muss man in dieser Lage nicht auch noch reden. Stattdessen fragt er: »Und was ist jetzt mit Hanno?«

»Mach’s gut«, sagt Pamela und legt auf.

Nach dem Telefonat braucht er dann doch ein Konterbier. Gott sei Dank findet er noch zwei Dosen im Kühlschrank. Vielleicht sollte er später zur Tanke gehen, um Nachschub zu holen – oder besser nicht.

Grabowski stellt sich mit dem Bier ans offene Fenster und überlegt, was er mit dem Rest des Tages anfangen soll. Draußen herrscht mittlerweile eine unerträgliche Schwüle, dabei ist es gerade erst mittags. Er könnte zu Marco gehen, nimmt aber an, dass Astrid ihn in Beschlag nimmt. Oder die verrückte Katze. Oder beide. Eigentlich müsste er dringend seine Mutter anrufen, aber dafür ist er heute entschieden zu schwach.

Er denkt über das nach, was Pamela gesagt hat. Kurz nach vier hat man ihn angeblich aus dem Chihuahua geworfen, danach hat sie ihn nicht mehr gesehen. Seine Uhr ist um zwanzig vor sechs stehen geblieben. Ist er unterwegs eingeschlafen? Gestürzt und liegen geblieben? Müsste er dann nicht ernsthaft verletzt sein? Er untersucht sich flüchtig und bemerkt eine kleine Schwellung an der rechten Hand. Er hat sich doch nicht etwa geprügelt? Ein ungeheuerlicher Gedanke! Er, der schmächtige Brillenträger, der jeder körperlichen Auseinandersetzung aus dem Weg geht? Und hat er (schließlich ist es nur eine kleine Schwellung) am Ende vielleicht gar gewonnen?

»Immer schön realistisch bleiben«, murmelt er und will noch einen Schluck Bier nehmen. Außerdem bekommt er bereits wieder Hunger. Curry-Dieter könnte eine Alternative sein. Grabowski lässt die zu zwei Dritteln zum Mund geführte Bierdose wieder sinken und ruft: »Scheiße!« Und dann noch einmal: »Scheiße!«

Doch diesmal hat das nichts mit Pamela, Solli oder René Peter zu tun. Diesmal erinnert er sich, was er getan hat, nachdem er aus dem Chihuahua gekommen ist.

2 Die Katze des Grauens

Da war der Heimweg im Morgengrauen. Der Schlachthof. Der Wagen mit den Schweinen. Das Geschrei. Und ein Mann mit einer Mission. »Befreie sie!«, rief die innere Stimme. Wie? Keine Ahnung. Ohne Know-how aber ist schlecht Schweine befreien. Weshalb der Mann mit einer Mission den perspektivlosen Viechern noch einmal Mut zusprach und als Ausdruck seines Protestes mit der Faust gegen das Gitter hieb, was wohl die Uhr ruinierte.

Aber das ist gar nicht das Entscheidende.

Viel wichtiger ist, dass er jetzt endlich weiß, was ihn die ganze Zeit so beunruhigt hat. Etwas, das er im Transporter zwischen den Schweinen gesehen hat. Ein Mensch in schlechter Verfassung, möglicherweise tot.

Volker Wunsch. Der Volker Wunsch, Sportdirektor des FC Teutonia.

»Scheiße!«, ruft Grabowski ein drittes Mal und trinkt den Rest des Bieres in einem Zug aus.

Ein paar Minuten noch steht er am Fenster, dann nimmt er die letzte Dose aus dem Kühlschrank und geht damit zurück ins Bett. Er hat rasende Kopfschmerzen, aber er muss nachdenken. Das ist doch totaler Quatsch! Muss einfach Quatsch sein. Vielleicht sollte er sich weniger um den Manager des örtlichen Zweitligaklubs sorgen als um sich selbst.

Doch die Bilder bleiben, kaum dass sie einmal da sind, erschreckend real. Wunsch hat auf dem Boden des Schweinetransporters gelegen, die Augen geschlossen, und eines der Schweine hat an ihm geschnuppert (oder genagt?). Grabowski hat schreien wollen, doch im selben Moment hat sich der Transporter in Bewegung gesetzt und ist auf den Innenhof des Schlachthofs gefahren; und noch bevor sein von zu viel Tequila benebeltes Hirn das Gesehene vernünftig abspeichern konnte, haben sich die Rolltore geschlossen, und der Lastwagen ist aus seinem Blickfeld verschwunden.

Vielleicht war ja LSD in dem Schnaps, denkt er und rekapituliert, was er nach seinem Kurzauftritt als militanter Tierschützer getan hat: Er ist zum 24-Stunden-Griechen am Bahnhof gegangen und hat eine Currywurst gegessen. – Aber wer weiß schon, dass eine Currywurst lediglich fünf Prozent Fleisch enthält. Gerade mal fünf Prozent.

Nun lächelt Grabowski doch, wenn auch nur kurz, wischt sich etwas Bier aus dem Mundwinkel und schläft wieder ein.

Am Abend kommt er bei dem Thema mit Marco auf keinen grünen Zweig.

»Fünf Prozent? Wo hast du denn das her?«

»Hab ich gelesen«, beharrt Grabowski.

»Glaub ich nicht«, sagt Marco. »Und der Rest?«

»Teig, Gedärm, Krümel. Halt alles, was auf dem Boden so rumliegt.«

»Du spinnst doch«, sagt Marco.

Sie sitzen in dessen schicker Altbauwohnung, haben ein Bier auf dem Tisch und schwitzen. Draußen kommt ein Gewitter auf, und es ist noch schwüler geworden. Trotzdem fühlt sich Grabowski jetzt besser als vor ein paar Stunden. Der Schlaf hat ihm gutgetan, nur das Bild des hilflosen Volker Wunsch auf dem Boden des Schweinetransporters will ihm nicht aus dem Kopf gehen.

Und hier die aktuellen Buchmacherquoten betreffend die erschreckenden Visionen des Theo Grabowski:

a) G. wurde zufällig Zeuge eines spektakulären Kriminalfalls: 27 für 10.

b) G. erlitt eine drogenindizierte Halluzination: 11,5 für 10.

Eigentlich kann das alles nicht sein. Dann wieder wirkt der Film in seinem Kopf unglaublich echt.

Grabowski würde zu gern mit Marco darüber reden, aber das ist nicht so einfach. Wie fängt man das an, ohne gleich als der besoffene Volldepp rüberzukommen, der man tatsächlich ist? Außerdem ist da noch Astrid. Die sitzt in der hinteren Ecke des Sofas, tut so, als lese sie in einem Buch, und krault das dumme Vieh.

»Ich zeig dir mal was«, sagt Marco, geht zum Schreibtisch und fährt seinen Computer hoch.

»Keine neuen Sounds, bitte«, sagt Grabowski. »Dafür bin ich heute echt nicht gemacht.« Seit dem Ende der Band hat sich Marco zu einem Tontüftler der ziemlich unangenehmen Art entwickelt.

»Keine Angst«, sagt Marco.

Grabowski steht auf und sieht, wie er eine Seite im Internet öffnet.

»Was ist das?«

»Neue Suchmaschine. Viel effektiver als AltaVista.«

»Aha. Und wer braucht das?«

Marco ignoriert die Bemerkung, seine Finger fliegen über die Tasten. »Hier! Fleischgehalt bei Bratwürsten: bis zu achtzig Prozent.«

»Heißt ja nicht, dass es nicht auch welche mit fünf Prozent gibt.«

»Ziemlich breites Spektrum, oder?«

»Du bist der Mathematiker. Wurst-Mathematiker.«

Marco lacht.

»Die Info ist bestimmt von der Fleischlobby lanciert worden«, sagt Grabowski.

»Du legst dir die Dinge halt gern so zurecht, wie sie dir in den Kram passen«, kommt es aus der Sofaecke. Grabowski und Marco fahren herum, kurz überrascht, dass sie nicht allein im Raum sind.

»Ausgerechnet die Vegetarierin«, mault Grabowski.

»Es geht ums Prinzip«, kontert die Sofaecke.

»Lass gut sein, Astrid«, beschwichtigt Marco.

Grabowski bekommt wieder Kopfschmerzen, vielleicht sollte er besser gehen. Vorerst aber setzt er sich wieder ans andere Ende des Sofas, zwei Meter Sicherheitsabstand zur Katze (und zu Astrid). Er muss jetzt mal das Gespräch auf das Thema bringen, das ihm eigentlich wichtig ist. Warum kann sich Astrid nicht in einen anderen Raum dieser großzügig geschnittenen Wohnung verziehen? Marco und er könnten natürlich auch in die Küche gehen, aber das kann Grabowski als Gast ja schlecht selbst vorschlagen. – »Lass mal in die Küche gehen! Astrid nervt.« Kann man nicht einfach so machen.

»Hast du gestern Teutonia gesehen?«, fragt Grabowski.

»Nur von gehört«, sagt Marco. »Angeblich soll Hasan wieder in den Startlöchern sitzen.«

Das ist Grabowski jetzt neu. Hasan Yalcin ist Teutonias Excoach, und er war vor vielen Jahren Marcos Jugendtrainer, als der als talentierter Nachwuchstorwart beim FC Teutonia gespielt hat.

»Ich verstehe nicht, warum die so lange an Jäger festhalten.«

Das versteht keiner, aber Grabowski ist es gerade egal. »Wunsch spielt ja nun auch nicht die glücklichste Rolle«, sagt er.

»Hör mir auf mit Wunsch!« Volker Wunsch ist Marcos Lieblingsthema. »Der hat völlig den Faden verloren.«

»Aber warum?«, fragt Grabowski.

»Das wüsste ich auch gerne.«

Unglücklicherweise wird Grabowski in diesem Moment von der Katze abgelenkt, die sich aus Astrids Schoß gelöst hat und träge über das Sofa gestreunt kommt. Grabowski ist gleich alarmiert, denn das Tier hat echt nicht alle Tassen im Schrank. Aber er darf sich nicht aus dem Konzept bringen lassen.

»Weißt du, was ich bei Wunsch nicht verstehe?«

»Maike, komm her«, sagt Astrid.

Maike. Allein schon der Name. Er könnte durchdrehen. Die Katze, die ihn sonst konsequent meidet (sie weiß, warum!), kommt irritierenderweise immer näher, und aus einem Reflex heraus entschließt sich Grabowski zu einer beiläufigen Geste des guten Willens. Entspannungspolitik. Während er überlegt, wie er die Sache mit Wunsch am besten anbringen könnte, streckt er die Hand aus, um der Katze über den Kopf zu streicheln. Doch dazu kommt es nicht, denn kaum hat er eine Bewegung in ihre Richtung gemacht, faucht sie los und schlägt mit der Pfote nach ihm. Und zwar nicht einmal, sondern (das fürs Protokoll) mehrfach!

»Aua!«, schreit Grabowski und springt vom Sofa.

»Maike!«, ruft Astrid, vordergründig im strengen Tonfall der Erziehungsberechtigten, aber auch ein wenig triumphierend, wie ihm scheint.

Er blickt auf seine Hand und sieht, dass er blutet. Marco geht ins Bad, um Verbandszeug zu holen.

»Du musst ein bisschen auf den Teppich aufpassen«, sagt Astrid tatsächlich.

Und du musst dein Scheißvieh besser erziehen, hätte Grabowski am liebsten gesagt, aber das würde ja auch nichts mehr ändern. Also achtet er darauf, dass das Blut nur auf seine Jeans tropft und nicht auf den flauschigen, samtgrünen Teppichboden, mit dem Astrid ihr Wohnzimmer ausgelegt hat.

Danach ist der Abend natürlich im Eimer. Marco verarztet Grabowski und mahnt eine Tetanusimpfung an.

»Hab ich«, sagt Grabowski, beschließt allerdings zu Hause nachzusehen, ob damit alles in Ordnung ist. Anschließend machen sie etwas gezwungen Konversation, und Grabowski gelingt es leider nicht, noch einmal auf Volker Wunsch und den FC Teutonia zu sprechen zu kommen. Immerhin bleibt es ihm erspart, über die Party vom Vorabend die Hosen runterzulassen. Wie sich herausstellt, sind Marco und Astrid mal wieder bereits um eins gegangen und haben von Grabowskis Exzessen nichts mitbekommen.

»Was ist jetzt eigentlich mit Pamela?«, fragt Marco.

»Vergiss es«, sagt Grabowski.

Kurz darauf verabschiedet er sich. Die Katze liegt eingerollt unter einer Stehlampe und beobachtet ihn argwöhnisch. Fürs Erste entschließen sich beide Parteien zu einem Waffenstillstand.

Als er aus dem Haus tritt, zerplatzt ein großer Regentropfen auf seiner Stirn. Innerhalb von Sekunden wird aus dem Tropfen ein Wolkenbruch, am Himmel zucken Blitze und ein starker Wind kommt auf. Doch Grabowski spürt das alles kaum. Er denkt über sein Leben nach, und als sei das nicht schon anstrengend genug, denkt er auch über das Leben von Marco und Astrid nach. Die beiden sind mal (und das ist gar nicht lange her) das Glamourpaar der Stadt gewesen. Der Sänger / Gitarrist der tollsten Band und die Hippiebraut aus dem autonomen Jugendzentrum. Jede(r) wollte Marco. Und jede(r) wollte Astrid. Nicht gerade John und Yoko, das nicht, aber doch die lokale Grunge-Variante davon. Dann ging es mit der Band zu Ende. Dann legte sich Astrid den praktischen Kurzhaarschnitt zu. Dann kamen die »richtigen« Jobs. Dann die Langeweile. Dann wollten sie Kinder (oder war das nur Astrid?). Dann erfuhren sie, dass es mit den Kindern nichts werden würde. Und dann schafften sie sich die Katze an, um zu retten, was nicht mehr zu retten war.

Zu allem Überfluss hat das Tier einen schlechten Charakter. Das ist nun wirklich ein Gebiet, das noch viel zu wenig erforscht ist, denkt Grabowski: Haustiere mit schlechtem Charakter. Aber trotzdem immer gute Miene zum bösen Spiel; liebe Maike, feine Maike. Marco hätte echt auch mal was sagen können.

Grabowski betrachtet den durchnässten Verband an seiner rechten Hand, soweit die vom Regen verschmierte Brille das zulässt, und er weiß, dass er ungerecht ist. Schlimmer noch: dass er die Verbitterung über seine eigene mittelmäßige Existenz an Menschen auslässt, die wenigstens Steuern zahlen. Aber blutend, durchnässt und verkatert, im strömenden Regen am Ende eines weiteren verlorenen Wochenendes, muss das auch mal gestattet sein.

Er erinnert sich an ein Gespräch mit Marco.

»Wir sind die Deppen, die es nicht aus dieser Stadt rausgeschafft haben.« – »Aber wir hatten gute Gründe dafür.« – »Nur fallen uns die leider gerade nicht ein.«

Grabowski grinst. Als er zu Hause ankommt, ist das Thema erledigt. Das Leben geht ja trotzdem irgendwie weiter.

3 Klötenkrebs

Am nächsten Morgen spürt Grabowski beim Aufwachen ein Ziehen im Schritt und ist innerhalb weniger Minuten davon überzeugt, dass er Hodenkrebs hat.

Bald läuft er in seiner Wohnung auf und ab, soweit das in einer Behausung dieser Größe überhaupt möglich ist, und versucht, seine Nerven in den Griff zu bekommen. Gestern noch ist alles in Ordnung gewesen, wenn man mal davon absieht, dass sein Körper eine mittelschwere Alkoholvergiftung kompensieren musste. Zudem ist er von einer (tollwütigen?) Katze blutig gekratzt worden.

Grabowskis Gedanken gehen wild durcheinander. Ist der Schmerz im rechten Hoden vielleicht mehr ein Indiz für einen beginnenden Wundstarrkrampf, verursacht durch die Verletzung an seiner (ebenfalls rechten!) Hand? Was ist mit den dazwischenliegenden Bereichen? Wird es innerhalb der nächsten Stunden zu einer Lähmung der gesamten rechten Körperhälfte kommen – inklusive des Arms, sodass er zu schwach sein könnte, nach dem Telefonhörer zu greifen, um Hilfe zu holen? Er durchwühlt seine Unterlagen und findet den Impfpass; mit dem Tetanusschutz ist so weit alles paletti.

Was aber, wenn die Katze tatsächlich Tollwut hat? Wie würde sich das beim Menschen zeigen? Vage erinnert sich Grabowski an Schauergeschichten, die seine Mutter früher erzählt hat, wenn er mit Freunden in den Wald gegangen ist. Von schnödem Klötenschmerz war da nicht die Rede, eher von mit Schaum vor dem Mund durch die Gegend wankenden Zombies. Außerdem haben Marco und Astrid die Katze erst vor drei Monaten aus dem Tierheim geholt. Das ging sicher nicht, ohne dass das Vieh sämtliche notwendige Impfungen bekommen hat. Und Tollwut gehörte ja wohl hoffentlich dazu!

Dann also doch Krebs.

Jetzt mal ganz ruhig, denkt er, denn er ahnt ja, wie er darauf gekommen ist. Erst letzte Woche hat man bei Zlatan Beslic Hodenkrebs diagnostiziert; das ist der bosnische Torjäger des FC Teutonia. Die Sache ist groß durch die Medien gegangen, sogar die Bild hat mal wieder was über Teutonia gebracht: »Krebsdrama bei Stürmerstar!«

An dieser Schlagzeile könnte man einiges kritisieren, findet Grabowski. Zwar ist Beslic nach wie vor ein wichtiger Mann, doch auch er hat zuletzt nicht mehr seine Leistung gebracht, und zudem spielt Teutonia nur noch in der zweiten Liga. »Stürmerstar« trifft es seiner Meinung nach deshalb nicht so recht, eher schon »alternder, formschwacher Knipser«. Ein »Krebsdrama« ist es hingegen wohl, wenngleich Beslic gute Genesungschancen eingeräumt werden.

Grabowski geht ins Bad, zieht die Unterhose aus und versucht, im Badezimmerspiegel seine Hoden zu betrachten. Wie sie sich präsentieren, könnte es sein, dass der rechte ein bisschen weiter unten hängt als der linke, hinabgezogen von einem rasch wachsenden Tumor. Allerdings ist der Blickwinkel für ein verlässliches Urteil zu ungünstig. Grabowskis Badezimmerspiegel ist lediglich die Vorderseite eines in Kopfhöhe angebrachten Kosmetikschranks; um dort seine Klöten vernünftig sehen zu können, muss er sich gegen die rückwärtige Badezimmerwand pressen und den Körper abenteuerlich verrenken.

Er duscht, zieht sich an und geht an den Schreibtisch. Eigentlich müsste er etwas für den Anzeiger schreiben. Grabowski hat eine Esoterikmesse besucht und soll darüber einen seiner »flott formulierten, ironischen, aber nie verletzenden Texte« verfassen (Zitat Hannemann). Doch er kann sich nicht konzentrieren.

Stattdessen probiert er die Suchmaschine aus, von der Marco behauptet, sie würde das Internet revolutionieren. Grabowski ist nicht gerade eine Koryphäe, was das Thema betrifft. »Als Journalist solltest du das aber sein«, pflegt Marco zu sagen. Da hat er durchaus recht, aber … na ja, Grabowski ist es halt nicht.

Eine halbe Stunde später hat er dennoch einige beunruhigende Details herausgefunden:

Hodenkrebs betrifft vor allem junge Männer zwischen zwanzig und vierzig Jahren.Der »Altersgipfel« für eine bestimmte Unterart, die sogenannten Seminome, liegt im siebenunddreißigsten Lebensjahr (Grabowski wird im Januar, wenn er dann noch lebt, sechsunddreißig werden, befindet sich also wenige Monate vor Beginn seines siebenunddreißigsten Lebensjahres).Die Entwicklung der Krankheit verläuft über lange Zeit völlig schmerzfrei.Und wenn es schmerzt, ist eh alles zu spät.

Nun, Letzteres steht da nicht, jedenfalls nicht so explizit, aber für Grabowski ist es die logische Schlussfolgerung. Er liest außerdem, dass der Tumor in der Regel vom Patienten ertastet werden kann. Also steht er von seinem Schreibtischstuhl auf, öffnet die Jeans, lässt sie bis auf die Knöchel fallen und unterzieht seinen rechten Hoden einer ausführlichen Untersuchung.

Beim ersten Durchgang kann er nichts feststellen, doch beim zweiten glaubt er ganz hinten, da, wo der Hodensack in die Leiste übergeht, einen Fremdkörper zu entdecken. Immer wieder fühlt er nach – es ist gar nicht so einfach, mit den Fingern dort hinzukommen –, doch der Befund ist letztlich eindeutig: eine gummiartige Verdickung, von der Größe einer Erbse vielleicht. Ihm bricht der Schweiß aus.

Während der folgenden Stunden geht er durch die Hölle. Steckt sich eine Zigarette an der anderen an (das tut er sonst allenfalls spät nachts) und grübelt, grübelt, grübelt. Leider ist kein Bier mehr im Haus, das würde helfen. In einer Minute ist er der festen Meinung, nicht mehr lange zu leben zu haben, in der nächsten ermahnt er sich, kein verdammter Hypochonder zu sein.

Vor neun Jahren hätte ihn um ein Haar ein Blinddarmdurchbruch dahingerafft. Okay, möglicherweise ist das arg dramatisch ausgedrückt, doch immerhin hat er während einer Tour mit der Band operiert werden müssen und danach eine Woche lang allein in einem Krankenhaus in Prag gelegen. Im Jahr darauf ist sein Vater von einem Tag auf den anderen an einem Herzinfarkt gestorben. Kein Wunder also, wenn er der eigenen Gesundheit besondere, manchmal vielleicht etwas übertriebene Aufmerksamkeit schenkt.

In diesem Fall kann jedoch von Übertreibung nicht die Rede sein. Er hat das Ding doch gefühlt! Wieder springt er auf, zieht die Hose herunter und forscht nach der Schwellung. Da hinten? Er ist sich nicht sicher.

Grabowski wünscht sich, er wäre ein bisschen ausgeruhter, dann hätte er seine Nerven auch besser im Griff. Nach dem missglückten Abend bei Marco ist er mitten in der Nacht aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen. In seiner Dachwohnung hat sich die Hitze gestaut, daran hatte auch das heftige Gewitter nicht viel geändert. Grabowski hat in seinem Schweiß gelegen und mal an Volker Wunsch, mal an Pamela Arroyo gedacht.

Er fragt sich, ob Hanno Schlagmichtot, nachdem er ein bis drei weitere geniale Kunstwerke fertiggestellt hat, wohl wieder zu Pamela gefahren ist. Oder hat sie ihn etwa in seinem Atelier besucht und dann inmitten seiner raffinierten Collagen und Installationen …

Schnitt! Dann doch lieber Wunsch. Vielleicht ist der ja tatsächlich entführt, ermordet und auf dem Schlachthof entsorgt worden. Vielleicht liegt er auch in einem Kingsize-Bett in seiner vermutlich erstklassig klimatisierten Villa und schläft den Schlaf des Gerechten. Wen aber hat Grabowski dann zwischen den Schweinen gesehen?

Ihm kommt eine Idee, doch die gefällt ihm nicht. Was nämlich, wenn der Klötenkrebs schon Metastasen gebildet hat, zum Beispiel im Gehirn, und die Visionen von gestern nur Trugbilder eines todkranken Geistes waren?

Gegen Mittag hält er es nicht mehr aus, schnappt sich sein Fahrrad und fährt in die Praxis von Dr. Berg.

»Ohne Termin? Das wird aber schwierig.« Hinter der Sprechstundenhilfe liegt das Wartezimmer fast leer im Halbdunkel. Lediglich eine Handvoll Leute döst dort vor sich hin, doch die Frau scheint es ernst zu meinen. »Dr. Berg muss nachher zum Training. Ich schau mal, ob ich Sie noch dazwischenschieben kann.«

Im Grunde ist Grabowski überrascht, dass sich Dr. Berg überhaupt in der Praxis aufhält. Da sich einer seiner Kompagnons allerdings im Urlaub befindet, bleibt ihm wohl nichts anderes übrig.

Im Wartezimmer kommt er sich schon fast wieder blöd vor. Ist er vielleicht Opfer eines hysterischen Anfalls geworden? Kurz erwägt er, auf die Toilette zu gehen und zu überprüfen, ob die Erbse hinter dem Hoden noch da ist. Wenn nicht, könnte er der Sprechstundenhilfe sagen, dass es sich um ein Missverständnis handele, und einfach wieder gehen. Andererseits wäre das auch albern. Soll Dr. Berg sich das ruhig mal ansehen.

Eine gewisse geistige Schwere (und Schwermut) überkommt Grabowski, die Schlaflosigkeit der vergangenen Nacht macht ihm zu schaffen. Wie wird die Welt wohl in einer Stunde aussehen? »Ich muss Ihnen leider etwas sehr Ernstes mitteilen, Herr Grabowski.« Würde Pamela bereuen, was sie getan hat? Würde sie um ihn trauern?

Er betrachtet die gerahmten Bilder an der Wand des Wartezimmers. Neben den Diplomen der drei Ärzte der Gemeinschaftspraxis befinden sich verschiedene Fotografien mit Bildern des FC Teutonia; überwiegend Mannschaftsbilder mit Autogrammen, dazu ein paar Schnappschüsse auf und abseits des Platzes. Auf allen ist Dr. Berg zu sehen.

Günter Berg ist seit dreizehn Jahren Mannschaftsarzt bei Teutonia. Als er anfing, war der Verein in der dritten Liga versunken. Dann kamen die Ära Linnenbrügger und der Aufstieg bis in die erste Klasse, die grandiose Mannschaft um Spielmacher Volker Wunsch, der später Linnenbrügger als Manager ablöste, die Jahre im Fahrstuhl zwischen den Ligen, und an der Seitenlinie immer Dr. Berg, der Mann mit dem Medizinkoffer. In all den Jahren ist aus einem jungen Arzt unter vielen ein populärer Mediziner und ein respektiertes Mitglied der städtischen Gesellschaft geworden. Davon profitiert auch die Praxis, weshalb seine Kollegen großzügig darüber hinwegsehen, dass Dr. Berg mehr mit dem FC Teutonia als mit seinen Patienten beschäftigt ist.

Seit zwei Jahren, seit er für den Anzeiger über Teutonia schreibt, geht auch Grabowski hierhin. Der Arzt steht im Ruf, eine Plaudertasche zu sein, und Grabowski hofft auf die eine oder andere Insiderinformation. Weil Berg aber so gut wie nie in seiner Praxis anzutreffen ist, geht der Plan nicht recht auf.

»Herr Grabowski!«

Er schreckt hoch und blickt in das ungeduldige Gesicht der Sprechstundenhilfe. Sie deutet auf eine Tür am Ende des Flurs und zieht sich wieder auf ihren Platz am Empfangsschalter zurück.

Grabowski klopft an und hört ein schneidiges »Herein!«. Günter Berg stammt ursprünglich aus Bayern, was man seinem Idiom immer noch anhört. Als Grabowski eintritt, erhebt sich der Arzt von seinem Schreibtisch: ein großer, solide erhaltener Mann Anfang fünfzig, dessen Gesicht ausschließlich aus einem roten Schnurrbart zu bestehen scheint, der sich an den Enden nach oben zwirbelt, als sei sein Besitzer der zurückgelassene Angehörige eines untergegangenen Zeitalters. Der Bart gibt ihm etwas Catweazlehaftes, denkt Grabowski immer. Das bedeutet aber keineswegs, dass Berg von gestern ist.

»Der Herr Fragesteller!« Der Arzt schüttelt ihm kräftig die Hand. Das ist auch so eine Sache, die Grabowski nicht bedacht hatte, als er sich Indiskretionen erhoffte: Dr. Berg weiß mittlerweile natürlich längst, wer er ist. Nun ist Grabowski nicht gerade als Investigativreporter berüchtigt, aber Journalist bleibt doch Journalist.