Schwerer Abschied vom Vater - Gert Rothberg - E-Book

Schwerer Abschied vom Vater E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. »Tor, Tor!«, schrie der achtjährige Jörg und machte vor Freude einen Handstand. »Mensch, Sebastian, das war einfach klasse.« Über das frische Gesicht des kleinen Sebastian von Bredow flog ein glückliches Leuchten. Vor Freude über das Lob des älteren Freundes wurde er bis über die Ohren rot. »Darf ich nun bei euch in der Mannschaft richtig mitspielen?«, fragte er etwas atemlos. Jörg musterte den Jüngeren etwas abschätzend. »Mal sehen«, antwortete er gönnerhaft. »Ich werde mit Malte sprechen.« »Ach, bitte, tu das recht bald. Ich könnte doch gut in der Verteidigung spielen. Ich werde mir auch mächtig Mühe geben.« »Das muss Malte entscheiden. Er kommt heute Nachmittag nach Sophienlust. Dann werde ich mit ihm reden.« Die anderen Buben, die ebenfalls mitgespielt hatten, hatten das Gespräch mit Spannung verfolgt. »Ich glaube nicht, dass Malte den Sebastian mitspielen lassen wird«, meinte der kleine Bernd, der genau wie Sebastian sieben Jahre alt war.

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Seitenzahl: 159

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Sophienlust Extra – 112 –Schwerer Abschied vom Vater

Unveröffentlichter Roman

Gert Rothberg

»Tor, Tor!«, schrie der achtjährige Jörg und machte vor Freude einen Handstand. »Mensch, Sebastian, das war einfach klasse.«

Über das frische Gesicht des kleinen Sebastian von Bredow flog ein glückliches Leuchten. Vor Freude über das Lob des älteren Freundes wurde er bis über die Ohren rot.

»Darf ich nun bei euch in der Mannschaft richtig mitspielen?«, fragte er etwas atemlos.

Jörg musterte den Jüngeren etwas abschätzend.

»Mal sehen«, antwortete er gönnerhaft. »Ich werde mit Malte sprechen.«

»Ach, bitte, tu das recht bald. Ich könnte doch gut in der Verteidigung spielen. Ich werde mir auch mächtig Mühe geben.«

»Das muss Malte entscheiden. Er kommt heute Nachmittag nach Sophienlust. Dann werde ich mit ihm reden.«

Die anderen Buben, die ebenfalls mitgespielt hatten, hatten das Gespräch mit Spannung verfolgt.

»Ich glaube nicht, dass Malte den Sebastian mitspielen lassen wird«, meinte der kleine Bernd, der genau wie Sebastian sieben Jahre alt war. »Der Malte denkt immer, er wäre etwas Besonderes. Und aus dem Heim sieht er von oben herab an. Unser Klassenlehrer hat neulich mit ihm geschimpft, weil er mich in der Pause angerempelt hat. Das ist ein richtiger Angeber. Findest du nicht auch, Sebastian?«

Sebastian wusste nicht recht, was er dazu sagen sollte. Wenn er ehrlich sein sollte, dann musste er seinem Freund Bernd recht geben, aber zugleich wollte er es sich nicht mit Jörg verderben, denn Jörg war Maltes Freund.

Noch bevor Sebastian sich äußern konnte, ertönten aus der Ferne zwölf Glockenschläge.

»Essenszeit«, schrie Jörg. Er lief zu seinem Fahrrad, das am Rande des kleinen Fußballplatzes im Grase lag.

Auch den anderen Jungen war jetzt das bevorstehende Mittagessen wichtiger als der Fußball. »Bis heute Nachmittag«, riefen sie und fuhren winkend auf ihren Fahrrädern davon. Sie gehörten in den kleinen Ort Wildmoos, wo sie zusammen mit Jörg, Bernd und Sebastian die Volksschule besuchten. Im Augenblick waren aber Herbstferien, und bei dem schönen Wetter nutzten die Buben die freie Zeit und waren fast den ganzen Tag auf dem kleinen Fußballplatz, der ganz in der Nähe des Kinderheims Sophienlust lag.

»Habe ich einen Hunger«, stöhnte Jörg und rieb sich seinen Bauch. »Mir ist, als hätte ich heute noch nichts zu essen bekommen.« Damit schwang er sich auf sein Fahrrad. »Los, beeilt euch, damit wir nicht zu spät kommen. Wir müssen uns noch waschen.« Er fuhr in einem so rasanten Tempo los, dass ihm die beiden jüngeren Buben kaum folgen konnten.

Die drei konnten jedoch nicht weit mit den Rädern fahren, denn in dem schönen Park von Sophienlust war es verboten, mit den Fahrrädern zu fahren. So schoben sie ihre Räder das letzte Stück und kamen erhitzt beim Herrenhaus an, wo sie von der Heimleiterin, Frau Rennert, die von den Kindern liebevoll Tante Ma genannt wurde, empfangen wurden. Kopfschüttelnd sah die mütterliche Frau, die früher einmal Fürsorgerin gewesen war, den Kindern entgegen. »Wie seht ihr nur wieder aus. Wie die Dreckspatzen. Mein Gott, Sebastian, bist du in den Schlamm gefallen?«

Sebastian sah etwas schuldbewusst an sich herab. Seine Knie waren schwarz, und sein hübsches kariertes Sporthemd zeigte dicke Schmutzstreifen. »Wir haben doch bloß Fußball gespielt«, sagte er etwas kleinlaut.

Else Rennert lachte. »Das kann ich mir denken. Ihr und euer Fußball. Doch nun lauft und beeilt euch. Dass ihr mir ja sauber gewaschen bei Tisch erscheint.«

Die Buben stürmten ins Haus. Die Heimleiterin wollte ihnen folgen, aber in diesem Augenblick bog der Wagen Denise von Schoeneckers in die Auffahrt ein. Frau Rennert blieb stehen und wartete, bis die Herrin von Sophienlust und Schoeneich ausgestiegen war. Mit raschen, aber sehr graziösen Schritten kam Denise auf die Heimleiterin zu. »Ich habe mich verspätet«, sagte sie etwas atemlos und reichte Else Rennert die Hand. »Ich wurde in Maibach aufgehalten. Gibt es hier etwas Neues?«

Else Rennert schüttelte den Kopf. »Fast möchte ich sagen, gottlob nicht. Ich bin immer froh, wenn alles in einem gleichmäßigen Trott verläuft. Die Kinder genießen bei dem schönen Herbstwetter ihre Ferien.«

»Hoffentlich hält sich das Wetter noch ein paar Tage so. Ich habe übrigens heute Sebastians Vater getroffen. Es ist sein Wunsch, dass der Junge noch einige Zeit in Sophienlust bleibt. Wie er mir sagte, hat er noch niemand gefunden, der sich zu Hause um Sebastian kümmern könnte.« Denise von Schoenecker sagte das sehr ernst und mit einem recht bekümmerten Gesicht.

»Wie geht es Herrn von Bredow?«, fragte Frau Rennert leise.

»Wie es einem Menschen geht, der fast ein Jahr lang in Untersuchungshaft war und dann wegen Mangel an Beweisen entlassen wurde. Solange seine Unschuld nicht einwandfrei bewiesen ist, wird der Verdacht, dass er seine Frau erschossen hat, immer auf ihm lasten. Wie Sie wissen, Frau Rennert, kenne ich Herrn von Bredow recht gut. Mein Mann und ich gehören dem gleichen Reitklub an wie er. Wir können nicht glauben, dass dieser Mann seine Frau erschossen hat. Wäre es aber ein Unglücksfall gewesen, dann hätte er das ganz gewiss zugegeben und zu seiner Tat gestanden. Ich bitte Sie, Frau Rennert, sprechen Sie nicht darüber. Es war Herrn von Bredows Wunsch, dass Sebastian in Sophienlust leben solle, als er selbst verhaftet wurde. Für Sebastian ist sein Vater auch jetzt noch auf Reisen. Mitunter denke ich, dass man dem Jungen die Wahrheit hätte sagen sollen, aber es war der Wunsch des Vaters, Sebastian damit nicht zu belasten. Der Tod seiner Mutter scheint dem Jungen jedoch nicht sehr nahegegangen zu sein. Allerdings hat sich Sybille von Bredow auch nie besonders um ihren kleinen Sohn gekümmert. Sie war kein mütterlicher Typ. Ich hatte immer den Eindruck, dass ihr das Kind lästig war. Sie war sehr lebenslustig, aber jetzt ist sie schon fast ein Jahr tot.«

Denise schüttelte den Kopf, als könnte sie noch immer nicht fassen, dass diese schöne Frau nicht mehr am Leben war. »Ein Jahr«, murmelte sie vor sich hin. »Damals hatten wir kein so schönes Herbstwetter. Es war kalt und nass. Es regnete an dem ereignisreichen Tag, und ich hatte gar keine Lust, an dem Jagdrennen teilzunehmen.«

Else Rennert räusperte sich. »Hoffentlich können wir Sebastian auch weiterhin in dem Glauben lassen, dass sich sein Vater auf Reisen befindet. Ich meine, einmal muss er es doch erfahren.«

»Ja, einmal muss er die Wahrheit erfahren, und davor habe ich Angst. In unserer schnelllebigen Zeit wird zwar rasch vergessen. Das, was heute Schlagzeile macht, ist morgen bereits in Vergessenheit geraten. Aber jetzt wurde Klaus von Bredow aus der Untersuchungshaft entlassen, und damit wird die breite Öffentlichkeit noch einmal auf den Fall aufmerksam gemacht. Wir müssen sehr vorsichtig sein, Frau Rennert. Hier in Sophienlust weiß nur ein kleiner Kreis, dass Sebastian der Sohn von Klaus von Bredow ist. Mein Mann weiß es natürlich, dann Sie und Schwester Regine und Frau Dr. Anja Frey. Ich mache mir Sorgen um Sebastian, der nun ein Jahr in Sophienlust ist. Er ist ein liebenswerter kleiner Kerl, ehrlich und anständig. Immer wieder habe ich mit heimlicher Freude beobachtet, dass er bei Groß und Klein beliebt ist.«

»Das ist er wirklich«, stimmte die Heimleiterin ihr zu. »Er hängt übrigens sehr an seinem Vater und vermisst ihn auch. Ganz im Gegenteil zu seiner Mutter. Ich habe ihn nie von seiner Mutter sprechen hören, immer nur von seinem Vater.«

Denise von Schoenecker seufzte. »Und deshalb wird es Sebastian auch hart treffen, wenn er erfährt, dass sein Vater verdächtigt wird, seine Mutter erschossen zu haben. Bitte, Frau Rennert, wir müssen da in der kommenden Zeit ganz besonders vorsichtig sein. Sprechen Sie doch auch mit Schwester Regine darüber. Es wäre besser gewesen, Klaus von Bredow hätte seinen Sohn damals vor einem Jahr in eine ganz andere Gegend gebracht. Vielleicht nach Norddeutschland. Gut Bredow liegt leider nur zwanzig Kilometer von Sophienlust entfernt. Jeder hier kennt den Namen Bredow. Ich halte es geradezu für ein Wunder, dass das Kind nicht schon längst von Fremden mit der Wahrheit konfrontiert wurde. Auf jeden Fall werde ich noch heute mit Frau Dr. Anja Frey sprechen. Als Ärztin kennt sie unsere Kinder besonders gut. Aber jetzt muss ich mich beeilen. Ich glaube, die Kinder sitzen schon bei Tisch.« Leichtfüßig eilte Denise von Schoenecker davon.

Else Rennert blieb zurück und sah sinnend vor sich hin. Sie hatte in ihrem Leben schon viele schwere Schicksale kennengelernt, hatte viel Leid und Tränen gesehen. Jetzt grübelte sie darüber nach, wie dem kleinen Sebastian am besten zu helfen sei. Eines Tages musste er erfahren, dass sein Vater in Untersuchungshaft gewesen war, dass man ihn beschuldigt hatte, seine Frau getötet zu haben. Obwohl die Tat ihm nicht hatte nachgewiesen werden können, blieb doch noch immer ein Verdacht an ihm haften, solange der Fall nicht restlos aufgeklärt war. Wie würde ein Kind von sieben Jahren damit fertig werden? Und wie konnte man einem Kind die Wahrheit sagen, ohne dass es dabei einen seelischen Schaden nahm? Denise von Schoenecker sprach für Klaus von Bredow. Sie kannte ihn persönlich und hielt ihn für unschuldig. Aber war sie als Gutsnachbarin nicht vielleicht voreingenommen?

Schon als Frau Rennert dieser Gedanke kam, schalt sie sich selbst. Denise von Schoenecker war ganz gewiss nicht voreingenommen. Das entsprach einfach nicht ihrer Art. Sie war eine gute Menschenkennerin, und sie war durch die schwere Zeit, die sie nach dem frühen Tod ihres ersten Mannes hatte durchstehen müssen, zu einer starken Persönlichkeit gereift.

Die Heimleiterin fuhr etwas schuldbewusst aus ihren Gedanken auf. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie sich beeilen musste, wenn sie nicht zu spät zum Essen kommen wollte.

Jetzt, in den Ferien, ließ man sich etwas mehr Zeit für die Mahlzeiten. Es ging dabei stets recht lebhaft zu und fast so wie in einer großen Familie. Auch Henrik von Schoenecker, Denises Sohn aus ihrer zweiten Ehe mit Alexander von Schoenecker, nahm in den Ferien meist an den Mahlzeiten teil. Er fand es in dem großen Kreis der Kinder sehr viel vergnüglicher als daheim in Schoeneich.

Während sich die Mädchen bei Tisch für einen gemeinsamen Spaziergang am Nachmittag entschlossen, stand bei den Buben fest, dass sie sich wieder alle auf dem Fußballplatz einfinden wollten. Worte wie Elfmeter oder abseits und Stürmer und Verteidiger schwirrten durch die Luft.

Denise hielt sich schließlich lachend die Ohren zu. »Kinder, könnt ihr denn an nichts anderes mehr denken als an Fußball?«

»Das verstehst du nicht, Mutti«, schrie Henrik über den Tisch hinweg. »Du solltest einmal zu unserem Fußballplatz kommen und zuschauen. Du würdest staunen, wie toll wir alle sind.«

Denise lachte. »Ich glaube euch gern, dass ihr toll seid. Wenn es meine Zeit erlaubt, dann komme ich wirklich einmal und schaue euch zu, aber heute wird wohl nichts daraus werden.«

»Macht nichts, Mutti. Wir haben heute auch viel vor. Weißt du, wir wollen eine richtige Mannschaft aufstellen. Ich gehe ins Tor, das steht fest.« Henrik sah sich strahlend im Kreise um, aber nur bei den Buben fand er Bewunderung. Die Mädchen lächelten etwas mitleidig und kicherten verstohlen.

»Ich möchte auch einmal im Tor stehen«, sagte Sebastian mit einem tiefen Seufzer und sah bewundernd zu Henrik hinüber, den er heimlich beneidete und nachahmte.

Denise lächelte Sebastian zu.

»Du darfst sicher auch einmal im Tor stehen.«

Sebastian lächelte dankbar zurück. »Vielleicht werde ich in der neuen Mannschaft aufgestellt. Jörg hat gesagt, dass er mit Malte sprechen will.«

»Ist das der Malte Hennig aus Wildmoos?«, fragte Denise. Sie sah dabei Jörg an. »Er geht in deine Klasse, nicht wahr, Jörg?«

Jörg nickte. »Malte ist unser Klassensprecher. Er versteht etwas vom Fußballspielen. Sein Vater spielt auch. Malte darf sich jedes Fußballspiel im Fernsehen ansehen.«

»Toll!«, riefen die Buben mit glänzenden Augen.

»So einen Vater müsste man auch haben«, sagte der kleine Bernd. Seine Augen wurden dabei verdächtig feucht. »So einen Vater müsste man haben«, wiederholte er noch einmal kaum verständlich.

Sebastian, der neben ihm saß, legte tröstend den Arm um die Schulter seines Freundes. »Lass man, Bernd, wenn mein Vati erst von seiner Reise zurück ist und ich wieder bei ihm zu Hause bin, dann lade ich dich ein. Dann sehen wir uns auch einmal ein ganz tolles großes Spiel an.«

Das Gesicht von Bernd Klein, der Vollwaise war, hellte sich bei diesen Worten sofort auf.

Denise betrachtete die beiden kleinen Buben mit Rührung. Sebastian hat ein gutes Herz, dachte sie. Ich wünschte, alle unsere Kinder würden uns so wenig Sorgen bereiten wie er. Der Junge ist verträglich, bescheiden sowie immer freundlich und hilfsbereit.

Gleich nach dem Essen holten die Buben wieder ihre Räder hervor und schoben sie laut schwatzend durch den Park zum Tor. Dort schwangen sie sich in den Sattel und fuhren zum Fußballplatz, wo sie von den Buben aus Wildmoos schon erwartet wurden. Die Dorfbuben hatten ihre Räder bereits zusammengestellt. Sie standen in einer kleinen Gruppe beisammen und diskutierten eifrig. Ihr Wortführer war ein großer stämmiger Junge, der eifrig auf die anderen einsprach. Als sich jetzt die Jungen aus Sophienlust näherten, verstummte plötzlich das Gespräch. Malte, der Wortführer, stemmte die Arme in die Hüften und sah mit zusammengezogenen Augenbrauen auf die kleine Gruppe, die ihre Räder eben ins Gras legte.

»Warum habt ihr denn den mitgebracht?«, fragte Malte und deutete mit dem Zeigefinder auf Sebastian. »Mit dem wollen wir nichts mehr zu tun haben. Los, hau ab, Sebastian.«

»Warum denn?«, schrie Henrik. »Was hat Sebastian dir denn getan?«

»Er soll abhauen, haben wir gesagt. Mit so einem wollen wir nichts mehr zu tun haben.«

Sebastian war blass geworden. Er hatte sein Fahrrad noch in der Hand und sah verstört zu den Jungen aus Wildmoos hinüber. »Ich habe dir doch gar nichts getan«, stammelte er.

»Tu doch nicht so! Meinst du, wir spielen noch mit einem, dessen Vater im Zuchthaus saß?«

»Du spinnst wohl!« rief Henrik empört. »Wie kommst du denn auf den Quatsch? Sebastians Vater macht eine große Reise.«

Malte brach in schallendes Gelächter aus.

»Reise ist gut. Mein Vater hat es heute in der Zeitung gelesen, und er hat es uns laut vorgelesen. Sebastians Vater hat im Zuchthaus gesessen. Er hat seine Frau erschossen.«

»Das ist nicht wahr, du lügst!«, schrie Sebastian. Er warf das Rad ins Gras und wollte mit geballten Fäusten auf den Größeren losgehen, aber Henrik und Jörg hielten ihn fest. »Er lügt«, schrie Sebastian. »Er lügt! Meine Mutter ist tot, und Vati macht eine Reise. Ich weiß es ganz genau. Mein Vati hat nicht im Zuchthaus gesessen. Mein Vati hat auch nicht meine Mutter erschossen. Du lügst, du lügst!«

»So, ich lüge? Und das hier?« Damit zog Malte ein Zeitungsblatt aus der Hosentasche. »Da steht es schwarz auf weiß. Ihr könnt es ja lesen, wenn ihr mir nicht glaubt.« Triumphierend schwenkte er das Zeitungsblatt wie eine Fahne. »Sebastians Vater hat unter Mordverdacht im Gefängnis gesessen, und man hat ihn jetzt nur deshalb nach Hause geschickt, weil man ihm die Tat nicht nachweisen kann. Aber mein Vater sagt, dass er ganz bestimmt der Mörder ist. Ein anderer kommt gar nicht infrage.«

Sebastian sah sich verstört um. »Vati … Ich will zu meinem Vati«, wimmerte er leise vor sich hin.

Die anderen Kinder achteten im Augenblick nicht auf ihn. Sie hatten Malte das Zeitungsblatt aus er Hand gerissen, und Henrik begann laut vorzulesen. Die anderen Jungen standen dicht um ihn herum, nur Sebastian blieb abseits. Er war so aufgeregt, dass er kein Wort von dem verstand, was Henrik vorlas. Ihm dröhnten noch immer die Worte in den Ohren, die Malte ihm so unbarmherzig entgegengeschleudert hatte: »Dein Vater hat im Zuchthaus gesessen. Er hat deine Mutter erschossen. Dein Vater ist ein Mörder.«

Henrik las noch immer laut den Zeitungsartikel vor, in dem noch einmal der ganze Fall in allen Einzelheiten aufgerollt worden war. Wie gebannt lauschten die Buben, und dabei achtete niemand auf Sebastian.

Der kleine Junge hatte jetzt nur einen einzigen Wunsch. Er wollte nach Hause. Er wollte nach Hause zu seinem Vati, der ihm sagen würde, dass das alles nicht wahr war. Wenn er erst wieder zu Hause in Bredow sein würde, dann würde ganz bestimmt alles wieder gut sein.

Tränen liefen dem Kind jetzt unentwegt über die Wangen. Ohne dass die anderen Kinder es bemerkten, schob Sebastian sein Rad auf die Straße und radelte davon. Er kannte die Straßen hier ganz genau. Außerdem hatte Schwester Regine ihm erst vor ein paar Tagen bei einem Spaziergang erzählt, dass von der Hauptstraße eine schmale Landstraße abging, auf der man nach Bredow kam. Fünfundzwanzig Kilometer sollten es bis dorthin sein.

Darunter konnte sich Sebastian nichts vorstellen. Er wusste auch nicht, dass die Landstraße durch viele kleine Dörfchen führte und verkehrsreiche Straßen überquerte, und dass es für einen siebenjährigen Buben gar nicht so einfach war, sich nicht zu verfahren. Für Sebastian war die Landstraße, die Schwester Regine ihm gezeigt hatte, bereits ein Stück seines Zuhauses. Und im Augenblick wollte er nichts anderes, als sich zu Hause in die Arme seines Vaters zu stürzen.

Noch immer liefen dem Jungen unentwegt die Tränen über die Wangen. So rasch es ihm möglich war, fuhr er mit seinem Rad davon. Sein Atem ging schwer, und die Augen brannten ihm von den Tränen und dem Wind, der über die Felder wehte. Eine Zeitrechnung hatte Sebastian nicht, und als er zehn Kilometer gefahren war, ließen seine Kräfte nach. Sein Hals war trocken, eine tiefe Verzweiflung überkam ihn. Er kam sich verlassen und verloren vor. Mit zitternden Knien stieg er vom Rad ab. Einen kleinen Augenblick nur wollte er sich ausruhen. Er warf sich ins Gras und presste das heiße Gesicht in den feuchten Boden.

*

Marina Riedmann lebte erst seit ein paar Wochen in dieser Gegend. Am Mittwochnachmittag hatte die kleine Buchhandlung, in der sie als Buchhändlerin angestellt war, stets geschlossen. Diesen freien Nachmittag benutzte Marina, um bei dem schönen Herbstwetter die nähere Umgebung ihres neuen Wohnortes kennenzulernen. Sie fuhr gleich nach dem Mittagessen los, denn die Tage wurden schon merklich kürzer.

Marina war sehr glücklich, wieder als Buchhändlerin tätig sein zu können. In den letzten zwei Jahren hatte sie in einem Hotel in München als Sekretärin gearbeitet. Diese Stelle hatte sie vor zwei Jahren aushilfsweise angenommen und geglaubt, dass es nur für ein paar Wochen sein würde, aber dann waren zwei Jahre daraus geworden. Wahrscheinlich wäre sie jetzt noch in dem Hotel tätig, wenn sie nicht die Enttäuschung mit Hans Renner erlebt hätte. Sie war auf dem besten Wege gewesen, sich in diesen Mann zu verlieben, hatte aber zum Glück gerade noch rechtzeitig erfahren, dass er bereits verheiratet war. Marina war dem Schicksal sehr dankbar, dass ihr bald darauf die Stellung als Buchhändlerin angeboten worden war. Ohne großen Abschiedsschmerz hatte sie München verlassen und war in die kleine Stadt im Württembergischen übergesiedelt. Dort fühlte sie sich sehr wohl. Ihr Chef war ein älterer Herr, der sich kaum noch um die Buchhandlung kümmerte, sondern froh war, alles jüngeren Händen überlassen zu können, Marina war also so gut wie ihr eigener Herr. Es gab in der Buchhandlung noch einen jungen Mann, der ihr zur Hand ging, und ein junges Mädchen. Auch eine nette kleine Wohnung hatte Marina gleich im Nachbarhaus gefunden. Sie bestand zwar nur aus einem großen Zimmer, aber sie hatte eine eigene kleine Küche und ein Bad. Ihre Wirtin war eine freundliche Dame mittleren Alters, die immer für einen kleinen Plausch Zeit hatte, aber nie aufdringlich wurde.