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Vor Jahren sandte die Erde Ordensschwestern in die weit entfernte Dunkelheit des kolonisierten Weltalls aus, bewaffnet nur mit Kruzifixen und eisernem Glauben. Jetzt befinden sich die Schwestern des Ordens der Heiligen Rita in interstellarer Mission auf einem lebenden, atmenden Schiff, das entschlossen scheint, einen eigenen Willen zu entwickeln. Als der Orden einen Notruf von einer neu gegründeten Kolonie erhält, entdecken die Schwestern, dass nicht nur das Seelenheil ihrer weit verstreuten Gemeinde auf dem Spiel steht. Es droht tödliche Gefahr – und diese geht nicht zuletzt von der eigenen Kirche aus … Unsere Liebe Frau der Endlosen Welten ist eine Space-Opera über Glaube, Pflicht, Erlösung und Offenbarung … und natürlich über Nonnen, die in einer riesigen Weltraumschnecke durch das All missionieren.
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Seitenzahl: 178
Veröffentlichungsjahr: 2022
LINA RATHER
Ins Deutsche übertragen von Claudia Kern
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Copyright © 2019 Lina Rather. All rights reserved.
Titel der Englischen Originalausgabe: »Sisters of the Vast Black (Our Lady of Endless Worlds)« by Lina Rather, published 2019 by Tom Doherty Associates / Macmillan Publishing Group, LLC, New York, USA.
Deutsche Ausgabe 2022 Panini Verlags GmbH, Schlossstr. 76, 70176 Stuttgart.
Alle Rechte vorbehalten.
Geschäftsführer: Hermann Paul
Head of Editorial: Jo Löffler
Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])
Presse & PR: Steffen Volkmer
Übersetzung: Claudia Kern
Lektorat: Peter Thannisch
Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart
Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln
YDLIRA001 ISBN 978-3-7367-9846-5
Gedruckte Ausgabe: 1. Auflage, Februar 2022, ISBN 978-3-8332-4182-6
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I. Orate Fratres
Während der Streit der Schwestern auf der Unsere Liebe Frau der unmöglichen Konstellationen kein Ende nehmen wollte, saß die Mutter Oberin wie immer schweigend auf ihrem Stuhl am Kopfende der Kapelle und hörte sich die unterschiedlichsten, sich widersprechenden Argumente an.
Schwester Lucia war der Meinung, das Schiff müsse sich nicht an die Ordensregeln halten, da es ein Tier sei und daher keine vernunftbegabte Seele habe. Schwester Varvara hielt dagegen, ein Kloster sei ein heiliger Ort. Das Schiff, ob nun Tier, Pflanze oder ein Mineral, habe man in Übereinstimmung mit der Glaubenslehre geweiht. Ihm zu erlauben, den gegenwärtigen Kurs beizubehalten, stelle daher eine Entweihung dar, die all ihre Seelen beflecken würde. Schwester Varvaras Miene erinnerte mit ihrer grauen Strenge an die Oberfläche eines unbewohnten Monds. Normalerweise ließ dieses Gesicht keinen Widerspruch zu.
Sie verbrannten zu viele kostbare Chemlichter bei dieser Diskussion. Während eines langen Monologs, in dem Schwester Ewostatewos darüber sprach, wie die Kirche in ihrer Anfangszeit mit Nutztieren umgegangen war und welche Schlüsse man daraus für ihr momentanes Dilemma ziehen könne, betrachtete die Mutter Oberin das Kruzifix an der Wand. Jedes Schiffskloster und jedes arme Koloniepfarramt hatte das gleiche. Es war auf der Alten Erde in Massen produziert und kistenweise von neu geweihten Priestern gekauft worden, die ihre Härteposten hier draußen in der Schwärze verbracht hatten. Die Mutter Oberin hatte dieses hier selbst als junge Frau aufgehängt, vor vierzig Jahren, kurz nach Kriegsende, als das Schiff frisch geweiht worden war. Sie waren beide noch so jung gewesen. Sie hatte die Nägel des Kruzifixes mit einem Tropfen Biokleber versehen und es an der inneren Schiffsmembran befestigt. Dann hatte sie den Kopf an die schleimige Wand gelegt und dem Herzschlag gelauscht, der Flüssigkeit durch den pulsierenden Schiffskörper pumpte.
Schon seit Langem schickte die Alte Erde keine Schiffsladungen junger Priester mit identischen Kruzifixen mehr hinaus in die Dunkelheit, um die verlorenen Kolonien zu bekehren. Das Kruzifix der Mutter Oberin war ein Relikt aus einer vergangenen Ära, einer Ära der Ordnung und Fügsamkeit.
»Mutter«, sagte Schwester Gemma und riss sie damit aus ihren Gedanken. »Wir sind einem Konsens leider noch nicht näher gekommen.«
Die Mutter Oberin sah ihr Kruzifix kopfschüttelnd an. Sie und der kleine Heiland verstanden einander. Sie hob die Hände.
Schwester Lucia trat vor und kniete sich neben sie, um ihre Gesten zu betrachten. Die meisten verstanden die Gebärdensprache recht gut, sie jedoch am besten.
»Wir werden drei Tage lang über diese Angelegenheit nachdenken«, übersetzte Schwester Lucia, »und uns dann wieder zusammensetzen.«
»Was ist mit unserem Bischof?«, fragte Schwester Mary Catherine. Sie war klein und stämmig und die einzige Schwester, die von der Erde stammte, und ganz tief in ihren sündigen Herzen glaubten die anderen, dass sie sich deswegen zu sehr auf eine hierarchische Autorität verließ. Sie ignorierten sie. Sie waren so weit von der Erde entfernt, dass eine Nachricht dorthin drei Wochen benötigte, was bedeutete, dass die Ansicht des Bischofs zu diesem Thema nach drei weiteren Wochen eintreffen würde. Bis dahin mussten sie ihre Entscheidung, wie auch immer die aussehen würde, längst getroffen haben.
Zum Glück kannte nur Schwester Lucia die Mutter Oberin so gut, dass sie die kleinen Stolperer in ihrer Gebärdensprache bemerkte. Verärgerung. Müdigkeit. Schwester Mary Catherine war eine neue Aspirantin, die man diesem Kloster zugewiesen hatte, weil sie die gottlosen äußeren Systeme seelsorgerisch betreuen wollte. Anscheinend hatte niemand auf der Erde ihr gesagt, dass es in den weit entfernten Systemen jede Menge Götter gab oder dass die Schwestern auf der Unsere Liebe Frau der unmöglichen Konstellationen ihre Zeit größtenteils mit dem Heilen fleischlicher Wunden verbrachten, nicht damit, den Heiden Christus näherzubringen, und es auch gar nicht anders wollten. Wahrscheinlich würde sie nicht lange bei ihnen bleiben.
»Die Mutter Oberin sagt, dass sie dem Vatikan noch heute Abend eine Nachricht schicken wird.«
Und das würde sie, obwohl es noch viel zu tun gab. Sie waren zu einer neuen Kolonie gerufen worden, um Hochzeiten und eine Taufe durchzuführen, und sie würden in nur wenigen Stunden auf diesem Mond landen. Sie hatten sich zu lange mit dieser Sache aufgehalten. »Bis dahin werden wir uns dem Anflug auf Phoyongsa III widmen. Wir werden bis zur Landung fasten.«
Schwester Mary Catherine öffnete erneut den Mund, aber Schwester Faustina unterbrach sie so elegant, dass es nicht wie Absicht wirkte. »Wie Ihr wünscht, Mutter.«
Die Mutter Oberin klatschte, und das Quorum löste sich auf. Es gab viel zu tun. Es gab immer viel zu tun, sogar auf einem Pulmonatschiff wie diesem, das kein Öl oder Schweißarbeiten oder Ersatzteile benötigte. Schwester Mary Catherine und Schwester Ewostatewos hatten Pflanzendienst, damit alle auch weiterhin etwas zu essen bekamen. Schwester Gemma kümmerte sich um das Schiff, dass sie durch die Sterne trug. Die meisten anderen ruhten sich entweder aus oder meditierten. Und Schwester Faustina überwachte die Kommunikationssysteme. Die Wege des Herrn waren unergründlich und führten manchmal zu seltsamen Orten, hier in der ewigen Dunkelheit. Jederzeit konnte eine Nachricht eingehen, weshalb die Station stets besetzt war.
Die Mutter Oberin blieb allein in der Kapelle zurück. Sie streckte die Hände aus und versuchte ein Zittern zu unterdrücken. Sie war alt, aber das Flattern ihrer Hände gehörte zu einer noch älteren Person. Bisher hatte sie es überspielen können.
Als sie ging, legte sie die Hand auf das Schott zwischen der Kapelle und dem Kontrollraum. Unter der feuchten Haut verlief eine der beiden Hauptarterien des Schiffs, und sie konnte den Druck der Hämolymphe spüren, die vom Herz abgepumpt wurde, durch die wirbellosen Muskeln floss, vorbei an den Verdauungstubuli und den ausgedehnten Nervenknoten bis zum Kopf. Sie betete kurz für das Herz, damit es auch weiterhin schlug und sie alle am Leben hielt.
***
Schwester Gemma ging zu ihrem Labor. Sie hatte eine Diagnostikanalyse begonnen, die während des Quorums weitergelaufen war und deren Resultate mittlerweile vorliegen mussten. Sie suchte nach einer Lösung, obwohl sie wusste, dass es keine eindeutige gab.
Bevor sie sich den Ergebnissen widmen konnte, musste sie sich um das Schiff kümmern.
Sie mischte eine Hormoninjektion mit der Pipette zusammen und probierte sie aus, indem sie einen Tropfen auf einem Stückchen Schiffsfleisch verrieb, das sie in einer Petrischale kultiviert hatte. Das Fleisch sonderte ein gesundes Seladongrün ab. Das Schiff konnte zwar gut auf sich selbst achten, doch die zehn Menschen an Bord belasteten es. Die Injektionen beschleunigten die Abfallverarbeitung und die Aufnahme von zusätzlichen Proteinen und Methan.
Schwester Gemma zog eine Spritze auf und klopfte dagegen, um die Luftblasen im Inneren abzulassen. Soweit sie wusste, hatte noch niemand herausgefunden, was passierte, wenn ein lebendes Schiff eine Embolie bekam, und sie wollte nicht die Erste sein, die das erfuhr.
Bevor sie ihr Gelübde abgelegt hatte, war sie auf einer Schiffswerft in der Umlaufbahn des Saturns aufgewachsen. Mit vierzehneinhalb Jahren hatte sie ihren ersten Job angenommen und jugendliche Schiffe aus ihrer Larvenphase gelockt – während der sie aussahen wie eine Elysia chlorotica, die sich an eine beliebige Küste der Alten Erde schmiegte –, damit sie ins Vakuum gebracht werden konnten. Auf Schiffswerften züchteten Biologen die gefangenen Schiffe per Hand. Sie entschlüsselten das Genom eines jeden Individuums und machten die Verpaarung von der geschätzten Größe und den Risiken von Erbkrankheiten abhängig. Schiffsbauer warteten neben den großen Paarungsschiffen, bis sie ein gallertartiges Eierband ausstießen, das an knolligen Seetang erinnerte. Die Eier waren so empfindlich, dass sie nicht in der luftlosen Dunkelheit bleiben konnten, also verbanden die Schiffsbauer sie mit Gittern in klimatisierten Hangars. Während der Wachstumsphase wurden mehr und mehr Eier gekeult. Auf eine Ladung von mehreren tausend Eiern kamen nur fünf oder sechs brauchbare Schiffe und nur ein oder zwei, die groß genug waren, um eine Besatzung von über einem Dutzend Personen aufzunehmen. Diese Prozesse schienen nicht das Geringste mit Gott zu tun zu haben. Doch als Schwester Gemma in einem dieser Hangars die Gitter mit Nährflüssigkeit bestrich, hatte sie in den sich teilenden Zellen und der symbiotischen Fotosynthese der Schnecken zum ersten Mal etwas Göttliches erblickt.
Nun schnitt sie mit einem Skalpell durch die schleimige Membran, die das innere Fleisch des Schiffs vor Reizerregern schützte. Mit der Nadelspitze berührte sie den pulsierenden, viridiangrünen Muskel, der daraufhin leicht zitterte. Das Muskelgewebe eines Schiffs war weich und durchsichtig, gerade kräftig genug, um den Druckanforderungen des Weltraums zu genügen.
Das Schott hinter ihr stieß ein leises Sauggeräusch aus und Schwester Ewostatewos schob sich mit einem Korb in der Hand hindurch. Sie kramte in den Schränken mit chemischen Zusatzstoffen herum, offensichtlich auf der Suche nach etwas.
»Was stimmt denn nicht?«, fragte Schwester Gemma.
»In den Betten herrscht ein leichter Eisenmangel. Nichts Unerwartetes. Wir haben in letzter Zeit kein ungefiltertes Wasser aufgenommen.« Schwester Ewostatewos schüttete ein Päckchen Erdzusatz in eine Phiole mit klarer Flüssigkeit und schüttelte sie. Dann verband sie die Phiole mit der Nahrungsleitung der Hydrokulturanlage, damit die Sojabohnen und Karotten, die sie eine Woche zuvor gepflanzt hatten, damit versorgt wurden. »Du zögerst.«
Schwester Gemma senkte die Spritze und drückte ihre behandschuhte Hand auf den nackten Muskel, damit die Membran nicht wieder zusammenwuchs. »Ja.«
Schwester Ewostatewos war die Neueste von ihnen, abgesehen von Schwester Mary Catherine, die kaum zählte, weil alle wussten, dass sie nicht lange bleiben würde. Sie war auf einem luftlosen Mond in einer Blase aufgewachsen. Ihr Vater war ein äthiopischer Orthodoxer, ihre Mutter eine Katholikin, was, wie sie selbst zugab, eine seltsame Mischung war. Schwester Gemma hätte sie gern gefragt, wie sie sich für eine der beiden Richtungen hatte entscheiden können, aber manche Dinge waren zu intim. Oder die Antwort zu schwer zu erklären.
»Ich habe Angst, dass das meine Schuld sein könnte«, sagte sie.
»Dass sich das Schiff auf die Paarung vorbereitet?«
»Ja.« Schwester Gemma schluckte. Der Muskel unter ihrer Hand zuckte; winzige elektrische Impulse, die in den Nerven vibrierten. »Ich bin für seine Pflege verantwortlich. Es ist sehr jung für eine Paarung. Die meisten Schiffe werden erst zwanzig oder dreißig Jahre später reif. Vielleicht habe ich die Hormone falsch reguliert. Oder einen Vitaminmangel übersehen.«
»Ist das möglich?«
Schwester Gemma zuckte mit den Schultern. Vieles war möglich. Fast alles. Sie lebten am äußersten Rand des Wissens. Auf der Alten Erde untersuchte man lebende Schiffe in Laboren und Testanlagen auf dem Mond. Ihnen standen grenzenlos große Budgets für Zuchtprogramme und genetische Analysen zur Verfügung. Sie zogen eine Schiffsgeneration nach der anderen groß, mit unendlichen Variablen. Aber selbst dort wusste niemand so recht, wieso ein Neonat zu einem brauchbaren Schiff heranwuchs, ein anderer zu einem kammerlosen und unbrauchbaren. Als Schwester Gemma die Veränderungen im Hormonprofil des Schiffs aufgefallen waren, hatte sie diese für die ersten Anzeichen eines Organversagens gehalten. Dann hatte sie entdeckt, dass das Schiff irgendwo auf dieser Reise von einem paarungsbereiten Schiff geprägt worden war und nun versuchte, dessen Pheromonspur zu folgen, damit sie ihren biologischen Zweck erfüllen konnten. Zwei Sekunden lang war sie erleichtert gewesen, doch dann hatte sie angefangen, über die theologischen Implikationen nachzudenken. »Ich habe zwei führenden Forschungswerften eine Nachricht geschickt. Aber die Antwort wird nicht rechtzeitig eintreffen.«
»Wenn du getan hast, was du konntest, dann lag alles andere bei Gott.« Schwester Ewostatewos sagte so etwas nur, wenn es wahr war, weshalb sie zu Schwester Gemmas Lieblingsmenschen zählte. In diesem Leben gab es viele, deren Mund voll von leeren Plattitüden war.
»Ich habe Angst«, gestand Schwester Gemma. Nicht nur vor dem Schiff, doch das sprach sie nicht aus.
»Es gibt immer schwierige Entscheidungen. Selbst wenn wir das erste religiöse Haus sind, das vor so einem Dilemma steht, werden wir nicht das letzte sein. Jedes Jahr entscheiden sich weitere Orden für lebende Schiffe. Vielleicht wird man sich deshalb einmal in den Lehren an uns erinnern. Wie viele können das von sich behaupten?«
»Wie hochmütig von dir.«
Schwester Ewostatewos lachte, weil das ein Scherz war. »Wir sind alle nur Menschen. Kopf hoch, Schwester. Niemand kann die Vergangenheit korrigieren.«
»Das stimmt natürlich.« Schwester Gemma nahm die Hand vom Muskel des Schiffs und drückte die Spritze geschickt hinein. Der Muskel zuckte und entspannte sich, als sie den Kolben nach unten schob. Der Rand der Membran war wegen ihres Trödelns trocken und klebrig geworden. Sie rieb ihn mit etwas Feuchtigkeitsgel ein. Sie musste die Membran nicht zusammendrücken. Sobald das Schiff das Gel absorbiert hatte, verschwand der Einschnitt spurlos. Diese Schiffe würden sie immer, immer verblüffen. Selbst wenn sie das Leben auf ihnen eines Tages hinter sich ließ, würde sie das Gefühl eines sie umgebenen Herzschlags nie vergessen.
»Ich habe nicht gehört, wofür du eben gestimmt hast. Darf ich dich das fragen?«
»Ich habe mich noch nicht entschieden. Ich glaube nicht, dass das Schiff eine Seele hat oder eine heilige Pflicht erfüllt. Wenn wir eine Kuh hätten, würden wir ihr erlauben, sich fortzupflanzen. Aber wir leben nicht in einer Kuh. Nutztiere werden nicht gesegnet.« Schwester Gemma schüttelte den Kopf. »Ich kann jedes Argument, das mir einfällt, widerlegen.«
»Vielleicht wird dir eine Antwort einfallen, wenn wir die Schwerkraft abschalten. Das macht mir immer den Kopf frei.«
»Könnte sein.«
Schwester Ewostatewos lächelte sie an und verschwand mit ihren Mineralienzusätzen durchs Schott. Als sie weg war, berührte Schwester Gemma die Stelle, die sie gerade aufgeschnitten hatte. Sie war so glatt wie die feuchte Haut eines neugeborenen Kalbs. Sie glaubte nicht, dass das Schiff eine Seele hatte. Aber sie glaubte, dass es einen Willen hatte. Vielleicht würde sie, wenn sie hierblieb und lauschte, seine Stimme hören. Vielleicht würde es ihr sagen, was sie tun sollte.
***
Schwester Faustina machte sich eine Tasse Tee mit viel Sahne und Zucker. Das passte vielleicht nicht so recht zu der bevorstehenden Fastenzeit, aber sie würde den Tee noch vor dem nächsten Glockenschlag austrinken. Sie waren schließlich keine Armen Klarissen, die auf alle irdischen Freuden verzichteten. Es war sinnlos, jetzt schon auf etwas zu verzichten, wenn ihnen jede Menge Verzicht bevorstand. Als das Wasser kochte, nahm sie ein Päckchen mit grünem Tee aus der Schublade und verrührte das Pulver in der Tasse, bis es sich aufgelöst hatte. Sie hatte gehört, dass es sich bei Tee – echtem Tee – um irgendein Pflanzenblatt handelte, aber sie hatte so etwas noch nie gesehen. Das klang nach einer dieser ressourcenintensiven Verschwendungen, die typisch für Alt-Irdische waren. Sie erlaubte sich zwei Löffel Sahne und Zucker aus den entsprechenden Behältern, woraufhin ihr Tee die Farbe von hellbraunem Packpapier annahm.
Sie schraubte den Deckel auf ihre Tasse und setzte sich auf den Stuhl vor den Kommunikationssystemen. Die Person, die dieses Schiff aufgezogen hatte, war viel größer gewesen als sie, und der Stuhl wurde nicht bequemer, egal, wie oft sie Schwester Gemma bat, ihn anzupassen. Schiffe behielten immer einen Abdruck des Originaldesigns, und dieses weigerte sich, auf dem Fettklumpen, der ihren Stuhl darstellte, eine neun Zentimeter tiefere Kopfstütze wachsen zu lassen.
Sie stellte ihre Tasse links neben dem Bildschirm ab und rieb mit dem Daumen über das weiche Moos, das die Konsole bedeckte, bis es an der Tasse emporwuchs, sodass sie nicht wegrutschen konnte. Zuerst musste sie die Daten der Bittstellerkolonie überprüfen. Klöster waren schon mit falschen Gebetsgesuchen in den Tod gelockt worden, obwohl das selten vorkam. Schiffe waren wertvoll, ebenso wie der Rest ihrer Ausrüstung. Je weiter man sich von der Erde entfernte, desto schwerer wurde es, Chemlichter zu finden oder veredeltes Chrom oder Medikamente, die von jemandem mit einem Universitätsabschluss hergestellt worden waren.
Schwester Faustina öffnete die Nachricht der Kolonie. Zuerst – ein Werbeschwall. Das beste Essen im Dritten System! Reparieren Sie Ihr Schiff bei Vishni und Söhne – wir sind auf die Reparatur von Lebendschiff-Antrieben spezialisiert! Lassen Sie sich auf unserem wunderschönen Mond nieder – so klares Wasser haben Sie noch nie gesehen! Viele unterschiedliche Signale klinkten sich in die legitimen Kommunikationen ein. Unter der Werbung tauchten ältere Signale als Hintergrundgeräusche auf, einige sogar noch aus der Zeit vor dem Krieg. Propagandasendungen und Hörbücher. Die meisten hatte Mrs August vorgelesen, die nicht näher benannte Stimme der irdischen Zentralregierung. Jahrelang hatte sie Sendungen eingesprochen, alle mit dieser ganz besonderen, wunderschönen Stimme. Sogar noch nach dem Krieg, in dem sie höchstwahrscheinlich einer Bombardierung zum Opfer gefallen war, hatten sich die Kinder in den äußeren Systemen ihre Gute-Nacht-Geschichten angehört, weil die Downloadrechte kostenlos zu haben waren.
Schwester Faustina nahm sich vor, beim nächsten Besuch auf einer Station mit einem halbwegs vernünftigen Programmierer die Spamfilter aktualisieren zu lassen.
Die Kolonie hatte ein Video geschickt, eine eigentlich unnötige Ausgabe, die jedoch die Identifikation erleichterte. Fünf Personen drängten sich auf dem Bildschirm.
»Wir grüßen die Schwestern auf der Unsere Liebe Frau der unmöglichen Konstellationen«, sagte die Frau in der Mitte. Sie sprach das Erd-Englisch sorgfältig aus. Ihr Akzent war Schwester Faustina vertraut, denn sie war auch mit dem Dialekt der Asteroiden- und Schiffswrackgürtel aufgewachsen. Sie wusste genau, woher diese Frau mit den stark gelockten dunklen Haaren, den schmalen Augen und der sanft sienafarbenen Haut kam. Die letzten Zweifel räumte ihre angeborene Heterochromie aus. Der plutonische Archipel. Ein Raumschifffriedhof am äußersten Rand des Ersten Systems. Der Archipel war von zwei Familien besiedelt worden, einer aus Nigeria und einer aus Tibet. Gemeinsam hatten sie ein Bergungsimperium aus dem scheinbar wertlosen Schrott aufgebaut. Die Phuntsok-Familie war legendär. Generationenlang waren sie die Könige der Plünderer gewesen. Die meisten von ihnen hatten im Krieg gegen die Erde gekämpft und waren umgekommen. Soweit Schwester Faustina wusste, waren von dem Archipel nur schimmernde Trümmer übrig geblieben, die um den Gravitationsbrunnen des kalten Planetoiden kreisten. Diese junge Frau gehörte wahrscheinlich zur zweiten Generation, die nicht mehr dort aufgewachsen war. »Wir haben eine neue Kolonie auf dem Mond Phoyongsa III gegründet. Wir möchten ihn segnen lassen, drei Paare würden auch gern heiraten. Und …« Sie lächelte, der dunkelhäutigere Mann neben ihr strahlte über das ganze Gesicht und war wahrscheinlich ihr Ehemann. »… wir werden bis dahin ein Baby haben, das getauft werden sollte. Wir schicken Ihnen die Koordinaten unseres Mondes. Außerdem haben wir Waren, mit denen wir handeln können. Wir verbleiben in freudiger Erwartung Ihrer Antwort.«
Schwester Faustina überprüfte ihr Kolonieregister und hatte keine Beanstandungen. Taufen machten immer Spaß. Irgendein Alkohol wurde herumgereicht – meistens Gerstenwein –, jeder nahm das Baby auf den Arm, ein echtes Feuer brannte und man konnte Nahrung essen, die in Erde gewachsen war.
In der Datenbank gab es noch eine Nachricht, die ebenfalls an das Kloster adressiert war. Wie ungewöhnlich. Sie kam von sehr, sehr weit her. Die Signatur und die Liste der Satelliten und Schiffe, die sie für ihre Reise benutzt hatte, verriet, dass sie aus dem Ersten System stammte.
Schwester Faustina nippte an ihrem Tee. Eine Nachricht aus dem Ersten System war entweder etwas sehr Gutes oder etwas sehr Schlechtes. Vierzig Jahre waren seit dem Großen Krieg vergangen, und in dieser Zeit hatte sich die Alte Erde in sich zurückgezogen und die anderen drei Systeme mehr oder weniger sich selbst überlassen. In letzter Zeit regte sich die graue Dame jedoch. Immer mehr von der irdischen Zentralregierung gesponserte Händler sprangen ins Zweite, Dritte und Vierte System. Sie führten verlockende Waren mit sich, die man nur auf der Erde herstellen konnte, so wie Seide und echten schwarzen Pfeffer und Wein aus der Vorkriegszeit und diesen Tee aus feuchten Blättern, den sie vergötterten. Schwester Faustina hatte das ungute Gefühl, dass die Alte Erde ihre Kinder wieder mit eiserner Faust regieren wollte.
Die Nachricht war mit dem Verschlüsselungscode ihres Kardinals versiegelt. Sie gab den Schlüssel ein. Nur zwei Personen an Bord kannten ihn: sie und die Mutter Oberin. Sie hörten so selten etwas von dem Kardinal, und normalerweise ging es in solchen Nachrichten um Protokolländerungen: um die Länge, die der Wimpel ihrer Ordenstracht haben sollte, um eine Neuübersetzung der Liturgien, auf welcher Station Hostien abgeholt werden konnten. Sie hatten seit drei Jahren keinen Priester mehr gesehen, doch das war nicht nötig. Vor hundert Jahren hatte das Vierte Vatikanische Konzil entschieden, dass Schwestern, die am Ordensleben teilnahmen, jedes Sakrament abgesehen von der Beichte, der Kommunion und der Priesterweihe erteilen durften. In der Schwärze gab es nicht genug Priester für all diese Aufgaben und so hatte man es sowieso immer schon gehandhabt.
Liebste Schwestern von Unserer Lieben Frau der unmöglichen Konstellationen, fing die Nachricht an. Seine Heiligkeit Pius XVI, Bischof von Rom, Stellvertreter Jesu Christi, Nachfolger des Apostelfürsten, oberster Brückenbauer der Weltenkirche, Primas von Italien, Erzbischof und Metropolit der Kirchenprovinz Rom, Souverän des Staates der Vatikanstadt, Diener der Diener Gottes, hat eine Analyse der Kirchenliturgen verfügt.
Der letzte Papst, von dem sie gehört hatten, war der verstorbene Urban X gewesen. Die Ernennung von Pius XVI mussten sie irgendwie verpasst haben. Ihr gefiel das Wort »Analyse« nicht, aber Schwester Faustina musste sich oft sagen lassen, dass sie der Obrigkeit zu sehr misstraute.
Ein Priester wird bei nächster Gelegenheit zu Ihnen stoßen. Er wird eine Analyse Ihrer Aktivitäten und Ordensgröße vornehmen und die Ergebnisse dem Heiligen Stuhl übermitteln. Der Ihnen zugewiesene Priester wird drei Orden, inklusive des Ihren, begutachten und seine Zeit zwischen ihnen entsprechend aufteilen.