Schwimmhäute - Jana Volkmann - E-Book

Schwimmhäute E-Book

Jana Volkmann

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Beschreibung

Eine Frau schleicht sich in fremde Schlafzimmer, die nächste in einen fremden Körper, eine andere nimmt Abschied von ihrer Kindheit, eine weitere von der schwindenden Liebe ihres Freundes. Die Kurzgeschichten der Berliner Autorin Jana Volkmann spielen in der Großstadt, in Altbauwohnungen, Sushibars, Swingerclubs, auf der Straße, in Betten, Verliesen und in Gedankenlabyrinthen. Sie sind alltäglich, doch surreal, finster und dabei feinfühlig, oft erotisch und niemals platt. Die Protagonistinnen der sechsundzwanzig Metamorphosen schwimmen zwischen Realität und Phantasie. Sie strampeln zwischen Innen und Außen, tauchen ein in Selbstzweifel und Ängste, verlieren sich im Wahn – und tauchen nicht immer rechtzeitig wieder auf.

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Seitenzahl: 149

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Jana Volkmann

Schwimmhäute

26 Metamorphosen

periplaneta

JANA VOLKMANN:

„Schwimmhäute – 26 Metamorphosen“ © Periplaneta - Verlag und Mediengruppe Edition Periplaneta, März 2012 Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Straße 81a, 10439 Berlin www.periplaneta.com - [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, mechanische, elektronische oder fotografische Vervielfältigung, eine kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Ungekürzte, digitale Ausgabe der Printausgabe ISBN: 978-3-940767-92-9

Der Printausgabe liegt eine CD bei, die auch als MP3 Download zu erwerben ist: 

E-Book-Version: 1.24 Projektmanagement und Lektorat: Nadine Heßdörfer Coverfoto: Steve Zeidler / Quelle: Photocase Autorinnenfoto: Jana Legler

Satz und Konvertierung: Thomas Manegold

www.periplaneta.com

Cécile auf Reisen

Der Teppich im Hotel hatte einen weichen und beinahe zu hohen Flor, hier und dort fadenscheinig, verstaubt, abgewetzt. Cécile zog den klobigen Koffer nach, als ginge sie durch Sand; die Rollen stockten auf dem unebenen Boden. Das ganze Kofferkonstrukt schwankte hin und her.

Seltsam ruhig war es hier auf dem Flur, aber allein fühlte sie sich dennoch nicht: So viele Menschen waren hier ein- und ausgegangen, angekommen, abgereist, hatten ein- und wieder ausgecheckt, Geschäftsleute, Familien, Heimatlose wie sie, Durchreisende, Bleibende, Zimmermädchen, mit Koffern, Handgepäck, Reisetaschen. Wo waren die heute? Es roch nach ihnen allen, ihren Haustieren, ihren Parfums. Die Wände warfen einander leise noch ihre Stimmen zu, die verblassten Knöpfe im Lift waren über die Jahre von ihren Fingern verwischt, die Zahlen unsauber mit einem Stift nachgezeichnet worden.

Céciles Gepäck bestand aus einem großen Koffer für ihre Kleidung und einem kleinen für Kosmetik. Geld und Scheckkarte steckten in der Innentasche ihres Mantels. Der Ausweis war vor ein paar Stunden durch ein Loch ins Futter und mittlerweile bis an die unterste und hinterste Kante des Saums gerutscht. Bislang hatte sie das aber nicht in Verlegenheit gebracht: Wer wollte den schon sehen? Was sagt denn so etwas aus? Die Adresse, die hinten auf dem Personalausweis stand, bezeichnete einen Ort, mit dem sie nichts verband. Das Foto zeigte jemanden, der dort wohnen könnte, eine Frau, die Cécile nur vage bekannt vorkam. Vorhin im Taxi, hatte sie auf ihrem Ausweis gesessen, die laminierten Kanten hatten ihr ins Fleisch gedrückt. Der Fahrer hatte nicht nur ihr Malheur nicht bemerkt, sondern schien auch Cécile selbst nicht wahrzunehmen. Stattdessen lief im Wagen ein Radiosender mit Jazzmusik, die die ganze Wahrnehmung des Fahrers verschlang. Es war das reinste Wunder, dass er den Trompeten noch genug Aufmerksamkeit abringen konnte, um sie sicher zum Hotel zu bringen.Hotel Bel Air. Mehr hatte sie nicht gesagt. Ihre Stimme klang fremd wie die drei fremden Worte, die sie aussprach. Schweigend nahm er am Schluss die dreitausend Forint für die Fahrt entgegen. Schweigend holte er ihr Gepäck aus dem Kofferraum. Mühsam war das Reisen, und manchmal unbequem, einsam war es immer.

Cécile war viel herumgekommen. Das war eine Sache, um die man sie sicher beneidet hätte, wäre da noch einmangewesen – stattdessen waren die Neider mittlerweile auf der Strecke geblieben. Sie waren in Häuser gezogen, die ein Fundament und einen Keller hatten, manche einen Partykeller, andere sogar einen Hobbykeller, manche einen ausgebauten Spitzboden oder einen Wintergarten, andere Fachwerk und eine Geschichte, an Orte festgenagelt, durch die Cécile ihrer Erinnerung gemäß höchstens einmal kurz durchgefahren war. Sie selbst lebte an vielen Orten, hauptsächlich aber in ihrem taubenblauen Samsonite-Koffer, in dem das Nötigste und ein paar unnötige Sachen waren: Anziehsachen, Unterwäsche, Reiseschecks, ein Buch von Murakami:Wilde Schafsjagd, es war ihr liebstes und die Seiten lösten sich vom Einband, was ihr gefiel und zur Geschichte passte; ein Kästchen mit dem Schmuck, den sie geerbt hatte, eine Schildkröte aus Glas und eine große Packung Paracetamol, ansonsten noch mehr Anziehsachen, noch mehr Unterwäsche, zwei Paar Schuhe und so weiter.

Die Schlüsselanhänger sahen immer gleich aus. Groß, schwer, aus einem Metall, das leicht anlief und das man wohl besser nicht für Modeschmuck verwenden sollte, wegen der Allergien. Cécile kannte sich ein bisschen aus und trug nur mehr das Geerbte, Kostbare, Echte. Eingraviert in die Schlüsselanhänger war stets eine dreistellige Nummer, deren erste Ziffer das Stockwerk bezeichnete. Es gab natürlich auch Hotels mit vierstelligen Zahlen, nur zählte dieses hier eben nicht dazu. Zwei-drei-fünf war ihre Wohnung für diese Nacht und ein paar weitere, die noch kommen würden.

Cécile ließ den Koffer los, sobald die Zimmertür ins Schloss gefallen war, mühte sich nicht, die Stiefel ordentlich aufzustellen, den Mantel ließ sie zu Boden sinken. Sie war in genügend Hotels gewesen, um zielstrebig zu finden, was sie nun brauchte: In der obersten Schublade des Nachtschränkchens war ein Heftchen mit Nähzeug. Cécile legte es auf dem Schrank ab, sie durfte nicht vergessen, dass sie das Loch in ihrem Mantel stopfen musste, gleich morgen früh. Der marineblaue Zwirn würde auf dem Futterstoff nicht groß auffallen. In der Minibar gab es ein paar sehr kleine Aludosen mit Nüssen. Cécile entschied sich für gesalzene Macadamianüsse. Sie schmeckten alt und rochen muffig. Der Duft ließ sie an den Dachboden auf dem Trakehner-Gestüt denken, wo sie als Kind in den Schulferien reiten war. Im Grunde erinnerte sie sich kaum an etwas von früher – außer sie fand zufällig einen dieser raren Gerüche wieder. Das Fett, mit dem sie Sattel und Trense geschmeidig gemacht hatte. Der Flieder vorm Haus. Lavendelseife. Rübeneintopf. Melisse. Irgendwann war sie taub geworden, blind, hatte aufgehört, für die Vergangenheit empfänglich zu sein.

Wie hatte das angefangen? Wann? Gab es einen Auslöser? Gab es viele? Wie sollte jemand das wissen, der nicht zurückzudenken vermag? Fest stand, dass Cécile schon immer etwas losgelöst war von ihrer Umgebung, sie nahm sie anders wahr, bewegte sich anders in ihr. Als Kind betrat sie ihr Klassenzimmer jeden Morgen zum ersten Mal. Es gibt ein unbeschreibbares Gefühl, das andere nur nach einem Umzug oder im Urlaub haben:

Die Wege zum Bäcker, zur Bushaltestelle, zum Briefkasten werden, je öfter man sie geht, kürzer und weniger spannend. Ist das neue Revier einmal abgesteckt, vollzieht sich eine Art Symbiose zwischen der Umwelt und einem selbst. Bei Cécile kam es nie soweit. Sie ging immer zum ersten Mal zum Bäcker, zum ersten Mal nahm sie den Bus, warf zum ersten Mal einen Brief in den postgelben Kasten um die Ecke, wunderte sich über die Hausnummern, die hohen Bürgersteige, die Nachbarn. Man sagtmit jemandem warm werden, wenn man sich an die Gesellschaft einer Person genug gewöhnt hat, um sich darin wohlzufühlen.

Cécile wurde nie mit jemandem warm, blieb immer kalt und spröde wie ein Herbstmorgen. Manche mochten sie deshalb, lang an ihrer Seite blieb niemand. Nicht Jasmin, die sich in der Schule neben sie gesetzt hatte und sie jahrelang bereitwillig und ohne eine Gegenleistung zu verlangen aus ihrem Matheheft abschreiben ließ. Nach dem Abi zog sie nach Göttingen und rief nie wieder an. Nicht Thomas, der ihr in der Bibliothek aufgelauert hatte, dieselben Seminare wie sie belegte, sie wie ein Besessener liebte und irgendwann still davonzog, wie jemand, der plötzlich etwas eingesehen hatte; dem die Antwort auf seine Frage, die er sich von Cécile erhofft hatte, mit einem Mal selbst einfiel. In Céciles Erinnerung hat Thomas einen blassen Abdruck hinterlassen, so flüchtig wie die Kuhle, die sein Kopf in ihr Kissen gedrückt hatte oder wie die Furchen in den Rücken ihrer Bücher, die er immer zu grob aufschlug, was ihr missfiel, was sie ihm sagte, was er kleinlich und sie wiederum unverzeihlich fand.

Irgendwann hatte sie angefangen, die Gesichter, die sie nachts in ihren Träumen beschimpften, auch tagsüber zu sehen, im Hörsaal tauchte auf einmal einer dieser Köpfe auf. Zwei Reihen vor ihr hatte er gesessen, sich während der Vorlesung zu ihr umgedreht und den Mund aufgerissen, als würde er schreien: „Was glotzt du so, Cécile, du hässliches Ding, du Schlampe, was glotzt du so?“, obwohl er es nicht tat. Cécile wurde übel. Sie verließ den Hörsaal und rannte heim.

Sogar ihren Mantel ließ sie einfach liegen; Thomas brachte ihn später, fragte, was sei. Sie sagte: „Ich fühlte mich sehr unwohl.“ Weiter fragte er nichts.

Sie räumte ihr Gedächtnis leer von solchen Erinnerungen und kehrte alles kräftig aus. Thomas merkte nichts von ihrer plötzlichen, inneren Reinlichkeit, er kannte ja die Gesichter nicht und auch nicht diese Träume, überhaupt kannte er wenig. Iris kannte er. Cécile kannte sie auch. Man sagte irgendwann, dass die beiden geheiratet hätten und fortgezogen wären, aber das betraf Cécile nicht mehr. So viele andere waren spurlos aus ihrem Leben verschwunden, auf dieselbe oder eine andere Art, dass sie sich nicht erst die Mühe machte, Gesichter und Namen wachzurufen. Thomas. Iris. Jasmin. Wer?

Unter der Tapete ihres Zimmers raunten hingegen so viele Erinnerungen, dass sie schon ganz wellig war, als würde sie jeden Moment von den Wänden fallen. Es war eine dicke Tapete, Brokat. Cécile fiel es schwer, sich den Raum vorzustellen, wie er ausgesehen hatte, als er neu gewesen war. Vielleicht hatte er schon immer so ausgesehen, war von Anfang an aus der Zeit gestolpert oder hatte sich einfach geweigert, an ihr teilzunehmen. Vielleicht gab es hier vor ein paar Jahren Handwerker, die die Leisten angenagelt und die Lichtstärke gemessen, die Heizungsrohre verlegt und die Tapete glattgestrichen hatten. Heute gab es hier jedenfalls niemanden außer Cécile und den Alten unten an der Rezeption, der über die Schlüssel wachte, Geld zählte, Anrufe entgegennahm, Reservierungen vormerkte, auf die Ferien wartete, rauchte. Es war eine eigentümliche Stille.

Vom Fenster aus sah Cécile drei Männer mit Instrumenten: Akkordeon, Kontrabass, das dritte eine Klarinette oder vielleicht eine Oboe; sie kannte sich nicht aus. Kein Laut drang zu ihr hinauf, aber sie hörte plötzlich eine Polka, hektisch, wild und fremdartig, die nicht von den Instrumenten kam, sondern von woanders, aus der Mitte des Raums. Akkordeon und Kontrabass, Oboe, aber nicht die auf der Straße. Cécile fragte sich nicht mehr, was ausgedacht und was echt war. Was in ihr stattfand und was von außen in sie eindrang. Was sie zum ersten Mal hörte und was ihr bekannt sein sollte. Es gab kein Innen und kein Außen mehr, seit sie alles in den blauen Koffer gepackt hatte. Cécile war müde.

Sie griff ihren Mantel, ließ sich aufs Bett fallen, tastete den Stoff ab, bis sie ihren Ausweis fühlte: Da war er noch, gleich unter der linken Tasche lag er jetzt. Ein beruhigendes Gefühl, ihn da zu wissen. Sie fragte sich, ob es nicht klüger wäre, den Futterstoff an der Naht aufzutrennen, gleich dort, wo der Pass nun saß, und das Loch hinterher wieder zu vernähen. So müsste sie ihn nicht erst bis zum vorhandenen Loch in der Tasche und dann nach draußen befördern. Das würde sie aber erst am nächsten Morgen entscheiden. Ihr letzter Blick galt dem Nähzeug, das auf dem Nachtschränkchen lag. Dann schaltete sie das Licht aus und die Polka, die nie da gewesen war, verstummte.

Tragende Wände

Die Schaukel quietscht besonders laut, seit sie niemand mehr benutzt. Jeder Windzug weht dieses Geräusch über den Innenhof, in Monikas offenes Küchenfenster hinein. Der Walnussbaum hat die Schaukel mit Blättern beregnet, als wolle er sie verstecken, nun, da sie überflüssig ist. Manchmal rieseln einige von ihnen zu Boden, wenn so ein Windstoß kommt und die Scharniere der Schaukel knarzen.

Die Leute mit den Kindern scheinen alle gleichzeitig fortgezogen zu sein und eine Weile schien das Haus wie unbewohnt, als sei niemand außer Monika geblieben, als habe sie den Grund für diesen Exodus als einzige versäumt. Verschlafen, den Auszug aus dem Altbauland.

Nun aber wohnen andere in den Wohnungen, Paare zumeist, junge. Bald werden die Paare wiederum Kinder bekommen und bald darauf wird die Schaukel wieder benutzt werden. Einige der neuen Nachbarn leben zu mehreren in Wohngemeinschaften, dort in den großen Appartements. Im Seitenflügel hat man zwei kleine zu einer großen Wohnung verbunden, indem man die Wände einriss. Heute braucht man offenbar mehr Platz als in diesem Damals, in der Belle Epoque, der schönen Zeit, als das Haus gebaut wurde. Nicht viel davon ist geblieben. Der Stuck an den Decken vielleicht, der so oft schon übergestrichen wurde, dass man kaum mehr die Ornamente erkennen kann. Die Dielen, denen Monika das schiefe Bücherregal zu verdanken hat, weil einfach nichts in diesem Haus im rechten Winkel gebaut ist. Und die Toiletten auf der halben Treppe – die Türen gibt es noch, zwischen den Etagen – aber wer weiß, wer den Schlüssel hat und was dahinter ist?

Aus den anderen Wohnungen fällt Licht durch die Gardinen und manchmal sieht man eine Silhouette auf den Stoffen vorbeihuschen. Manchmal mehrere. Manchmal möchte Monika bei dem Paar im Erdgeschoss klingeln und sie darauf hinweisen, dass sie das Basilikum auf der Fensterbank vergessen haben. Sie vergessen es nämlich immer. Die Blätter hängen erst nur matt herunter, dann werden sie von den Rändern her braun und irgendwann ist nur Laub übrig. Das mag einen von innen nicht stören, steht die Pflanze doch hinter der Gardine. Von außen sieht man es umso deutlicher.

Vielleicht ist das Paar mit anderen Dingen beschäftigt, vielleicht sind sie auch einfach nur nachlässig. Wenn man durch die Vorhänge sieht, wie er sie küsst, weiß Monika nicht, ob sie hin- oder wegsehen möchte. Ehe sie sich fürs Wegsehen entscheiden kann, ist der Kuss oft vorbei und die Schatten weitergekrochen, hinein in ein anderes Zimmer. Oder hinaus in die Stadt.

Einmal hat Monika die Frau aus dem Erdgeschoss allein im Flur angetroffen, den Briefkasten aufschließend, eine dicke Zeitung fiel ihr entgegen und in Einzelteilen zu Boden. Da sah Monika einen Schlüssel im Briefkasten liegen und hätte das lieber nicht gesehen. Ganz starr und ohne zu helfen stand sie neben der Frau, die die Zeitung zusammenklaubte und sie beim Schließen der Tür ein wenig erstaunt ansah.

Die Gewissheit, dass dort in dem weißen Briefkasten mit den zwei Namen ein Schlüssel lag, der aussah wie ihr eigener – zum Greifen nah, wenn man sich geschickt anstellte – ließ sie einen Moment das Atmen vergessen. Von da an war alles anders und anders machte ihr Angst.

Wie viele Türen hatte sie schon öffnen wollen und es nie gewagt. Wie oft schon sich gefragt, was man alles durch ein Fenster nicht sieht, was neben dem Rahmen und hinter der nächsten Zimmertür liegen mochte.

Als Monika sich ans Werk machte, war es dunkel hinter den Fenstern im Erdgeschoss. Das war es oft, tagelang. Sie musste sich dennoch eilen. Es gab so viele Menschen hier im Haus und niemand von ihnen durfte sie sehen. Den Draht hatte sie aus einem Orchideentopf gezogen und am Ende zu einem Haken geformt. Sie angelte mit zittrigen Fingern nach dem Schlüsselring. So einfach war das plötzlich. Wie von allein drehte sich der Ersatzschlüssel im Schloss.

Durch das Küchenfenster fiel Licht aus den anderen Wohnungen hinein in den Flur; es landete direkt vor ihren Füßen. Die Schatten und Umrisse wurden immer präziser, je mehr sich Monikas Augen an das Dunkel gewöhnten. In der Wohnung sah es anders aus, ganz anders als in ihrer Vorstellung. Ihre Fingerspitzen berührten sacht die Tapete. Wie kalt sie war. Ein Zimmer war leer. Sie staunte und erschrak vor dem Hall ihrer Schritte. Ein anderes Zimmer war dafür umso voller.

Das Schlafzimmer roch verbraucht, etwas Obszönes lag in der schweren Luft. Ein Geheimnis. Nie hätte Monika gedacht, das Paar könne solche Geheimnisse haben. Sie sog den Duft ein, legte sich aufs Bett und drückte ihr rechtes Ohr fest auf eines der Kissen. Als könne sie so die Geheimnisse hören, die hier in der Wohnung gehütet wurden. Als würden sie ihr ins Ohr geflüstert. Sie stellte sich vor, wie die Frau hier lag, das Gesicht im Kissen begraben, die Finger fest um die Streben des Bettgestells gekrallt, er hinter ihr, seine Hand in ihrem Haar, fest den Kopf der Frau nach unten pressend. In ihrer Vorstellung sah das gefährlich aus. Als wolle sie nicht und ließ es doch geschehen. Monika tastete neben sich nach Abdrücken auf der Matratze, strich über die Falten im Laken und stellte sich vor, wie sie entstanden sein mochten. Wo sein Knie gewesen sein mochte. Wo ihr Ellbogen. Ein dunkler Fleck zeichnete sich auf dem Laken ab, in etwa auf Höhe der Brust. Blut wahrscheinlich. Doch es war nicht möglich, das bei diesen Lichtverhältnissen sicher zu sagen. Monika roch vorsichtig daran, es roch nach nichts, und sie zog ihren Rock und die Strumpfhose in die Kniekehlen.

Es musste nicht gut aussehen, da niemand sie sah. Ihre linke Hand fuhr fest und hastig an ihrem Oberschenkel entlang, ehe sie zwischen ihren Beinen verschwand. Ja, leise sein, dachte Monika. Schnell und leise. Sie hasste die Routine, mit der die Fingerspitzen wie von selbst wussten, wie sie sie anzufassen hatten. Sie ekelte sich vor der Nässe, vor den Geräuschen, wenn sie erst einen, dann zwei Finger in sich hineinschob. Sie ekelte sich vor der Gier und ihrer Lust und doch liebte sie diesen Ekel. Sie widerstand dem Drang, an dem dunklen Fleck zu lecken. Ekelte sich noch mehr vor sich selbst als vor dem, was hier im Zimmer geschehen sein mochte. Es ging schnell: Sie kam ganz stumm, ein kurzes Zucken, ein Zischen, bevor sie wieder zu Atmen begann. Ein Rauschen. Sie fühlte das Blut durch ihren ganzen Körper strömen und fühlte gleichzeitig, wie sich die Scham in ihr breitmachte. Mit roten Wangen verließ sie die Wohnung.

Die Möglichkeit, dass ihr auf dem Hausflur jemand begegnen könnte, war ihr nicht in den Sinn gekommen. Als sie den jungen Mann sah, der in der Wohnung neben ihrer wohnte, war die Überraschung größer als der Schock. Der Nachbar trug einen Dreitagebart und eine rote Plastiktüte vom türkischen Supermarkt, aus der zwei Lauchstangen ragten.

Nichts merkte er, nichts.

„Wohnen Sie jetzt hier unten?“, fragte er neugierig. „Wir hatten nämlich überlegt, die WG zu vergrößern. Dann können wir vielleicht Ihre alte Wohnung zusätzlich mieten und die Wand dazwischen...“

„Nein“, fiel Monika ihm ins Wort. „Nein, ich bleibe. Ich gieße hier nur das Basilikum. Die Mieter sind verreist und die Wand, von der Du sprichst, das ist eine tragende. Die kann man nicht einreißen. Dann stürzt alles ein.“