Scythe – Das Vermächtnis der Ältesten - Neal Shusterman - E-Book
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Scythe – Das Vermächtnis der Ältesten E-Book

Neal Shusterman

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Beschreibung

Endlich: das spektakuläre Finale der großen »Scythe«-Trilogie Drei Jahre sind vergangen, seit mit Scythe Goddard ein Scythe der neuen Ordnung die Macht ergriffen hat, und seit der Thunderhead verstummt ist – für alle Menschen, bis auf Grayson Tolliver. Gibt es Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Citra und Rowan und auf ein wirkliches Happy End in der scheinbar perfekten Welt? Stell dir eine Welt vor, in der Armut, Krankheit und Tod besiegt sind. Aber auch in dieser perfekten Welt müssen Menschen sterben. Die Entscheidung über Leben und Tod treffen die Scythe: sie allein entscheiden, wer sterben muss. Und nicht alle Scythe haben halten sich an alten Regeln …

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Seitenzahl: 732

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Neal Shusterman

Scythe

Das Vermächtnis der Ältesten

Roman

Aus dem Amerikanischen von Kristian Lutze, Pauline Kurbasik und Andreas Helweg

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Teil Eins Die verlorene Insel & Die versunkene Stadt1 Dem Moment ergeben2 Zu spät zur Party3 Ein belebender Start in die Woche4 Objekte von großem Wert5 Deine Dienste werden nicht mehr benötigt6 Das Schicksal der Lanikai Lady7 Tanz in der Tiefe8 Die Insel der arbeitslosen Bürokraten9 Kollateralfolge10 Im Angesicht der Verloschenen11 VorbeiflugTeil Zwei Ton, Toll & ThunderEin Testament des Toll12 Die eingestürzte BrückeEin Testament des Toll13 Die Qualität der Resonanz14 Die Festung der drei weisen Männer15 Kenne ich dich?16 Unser unaufhaltsamer Abstieg17 Fuge in Gis (oder As)18 Ich bin Ihr Scythe19 Insel der Einsamkeit20 Spirallogik21 VerratenEin Testament des Toll22 Nur NachtischEin Testament des Toll23 Wie man einen Heiligen nachliestTeil Drei Das Jahr der Kobra24 Ratten in einer Ruine25 Sonne und Schatten26 Ein Fass für den Hass der Welt27 Tenkamenins Lustschloss28 Dunkle Berühmtheit29 Der unübersehbare Bär30 Brandopfer31 Damisch-KontrolleTeil Vier Das einzige Werkzeug, das wir beherrschenEin Testament des Toll32 Ein grauenvoller Wendepunkt33 Ungebrochen34 Ein besserer Ort35 Requiem in zehn TeilenI. IntroitusII. Dies iraeIII. ConfutatisIV. LacrymosaV. SanctusVI. Agnus deiVII. BenedictusVIII. OffertoriumIX. Lux aeternaX. Libera me36 Wem dient ihr?37 Nichts Gutes daran38 Ein feierliches Wiedersehen der auf zweifelhafte Weise Verstorbenen39 Nie genügend Spiegel40 Ein Sternenbett41 Eine höhere OktaveTeil Fünf Schiffe42 Wiegen der Zivilisation43 Neuigkeiten aus der Welt44 Wut ist die einzige Konstante45 Dreiundfünfzig Sekunden bis zum Sonnenaufgang46 Nach Osten Richtung nirgendwo47 Cirrus48 Wir werden diese Weiten durchqueren, wenn es so weit ist49 Ein extremes Unternehmen50 Die Zeit der Sachwerte ist vorbei51 Über die Sabotage von TräumenEin Testament des Toll52 Vierundneunzig Komma acht53 Die Pfade des Schmerzes und der Barmherzigkeit54 In einem Jahr ohne NamenDanksagung

Für David Gale, den High Blade der Lektoren.

Wir alle vermissen den erhellenden Strich deiner Feder!

Teil EinsDie verlorene Insel & Die versunkene Stadt

Mit bleibender Demut nehme ich die Position des High Blade von MidMerica an. Ich wünschte, es würde unter freudigeren Umständen geschehen. Die Tragödie von Endura wird lange in unserem Gedächtnis bleiben. Solange die Menschheit ein Herz hat, das leidet, und Augen, die weinen können, wird man sich an die vielen Tausenden von Leben erinnern, die an jenem dunklen Tag beendet wurden. Die Namen der von den Fluten Verschlungenen werden für immer auf unseren Lippen liegen.

Ich fühle mich geehrt, dass die sieben Grandslayer in ihrem letzten Akt mein Recht anerkannt haben, als High Blade zu kandidieren – und da die einzige andere Kandidatin bei der Katastrophe umgekommen ist, besteht keine Notwendigkeit, alte Wunden aufzureißen, indem man ein versiegeltes Abstimmungsergebnis öffnet. Scythe Curie und ich waren nicht immer einer Meinung, aber sie war wahrlich eine unserer Besten und wird als eine der großen Scythe in die Geschichte eingehen. Ich betrauere ihren Verlust ebenso sehr wie jeder andere, wenn nicht noch mehr.

Es gab zahlreiche Spekulationen darüber, wer für die Katastrophe verantwortlich war, denn es war offensichtlich kein Unfall oder ein Naturereignis, sondern eine vorsätzliche, sorgfältig geplante, abgrundtief böse Tat. All diesen Gerüchten und Spekulationen kann ich nun ein Ende setzen.

Ich übernehme die volle Verantwortung.

Denn es war mein ehemaliger Lehrling, der die Insel versenkt hat. Rowan Damisch, der sich selbst »Scythe Luzifer« nannte, hat diese undenkbare Tat begangen. Hätte ich ihn nicht ausgebildet – ihn nicht unter meine Fittiche genommen –, hätte er niemals Zugang zu Endura bekommen und nie die Fähigkeiten erworben, dieses abscheuliche Verbrechen durchzuführen. Deshalb fällt die Schuld auf mich zurück. Es bleibt mein einziger Trost, dass er selbst ebenfalls ums Leben gekommen ist, so dass seine unverzeihlichen Taten unsere Welt nie wieder heimsuchen können.

Wir stehen nun ohne die Grandslayer da, ohne höhere Autorität, die die Prinzipien des Scythetums vorgeben. Deshalb müssen wir unsere Meinungsverschiedenheiten ein für alle Mal beilegen. Die Neue Ordnung und die Alte Garde müssen zusammenarbeiten, um den Bedürfnissen der Scythe überall auf der Welt zu dienen.

Zu diesem Zweck habe ich entschieden, die Nachlese-Quote in meiner Region offiziell außer Kraft zu setzen, aus Respekt vor denjenigen Scythe, die sich unter übergroßem Druck fühlen, sie zu erfüllen. Von nun an können midMerikanische Scythe so wenig Menschen nachlesen, wie sie es für richtig halten.

Zur Kompensation für die Scythe, die weniger nachlesen, müssen wir anderen die Zahl der Leben, die wir nehmen, natürlich erhöhen, um die Differenz auszugleichen. Aber ich vertraue darauf, dass sich ein natürliches Gleichgewicht einstellen wird.

 

Aus der Rede zur Amtseinführung Seiner Exzellenz Robert Goddard,

High Blade von MidMerica, 19. April, Jahr des Raptors

1Dem Moment ergeben

Es gab keine Vorwarnung.

In einem Moment hatte er noch geschlafen, im nächsten wurde er von Unbekannten durch die Dunkelheit gezerrt.

»Nicht wehren«, flüsterte jemand ihm zu. »Damit wird es nur schlimmer.«

Aber er wehrte sich trotzdem – und schaffte es auch in seinem halbwachen Zustand, sich loszureißen und den Flur hinunterzurennen.

Er rief um Hilfe, doch es war schon so spät, dass niemand mehr wach genug war, um noch etwas auszurichten. Er bog im Dunkeln rechts ab, weil er wusste, dass dort ein Treppenhaus lag, verschätzte sich, fiel kopfüber die Treppe hinunter und krachte mit dem Arm auf eine Granitstufe. Er spürte, wie beide Knochen in seinem rechten Handgelenk knackten, gefolgt von einem stechenden Schmerz, der jedoch nur kurz andauerte. Als er sich erhob, klangen die Schmerzen schon wieder ab, und er spürte, wie sein ganzer Körper warm wurde. Das lag an seinen Naniten, die Schmerzmittel in die Blutbahn ausschütteten.

Er hielt seinen Arm fest gepackt, damit sein Handgelenk nicht in einem grässlichen Winkel herunterhing, und stolperte vorwärts.

»Wer ist da?«, hörte er jemanden rufen. »Was ist da los?«

Er wäre in die Richtung gerannt, aus der die Stimme kam, wenn er sich hätte orientieren können. Aber sein Kopf war von Naniten benebelt, so dass es ihm schwerfiel, oben und unten zu unterscheiden, von rechts und links ganz zu schweigen. Zu dumm, dass sein Verstand gerade jetzt unscharf wurde, wo er ihn am dringendsten brauchte. Nun begann auch noch der Boden zu wackeln wie auf einer Jahrmarktsattraktion. Er torkelte zwischen den Wänden hin und her, bemühte sich, das Gleichgewicht zu wahren, und lief einem seiner Angreifer direkt in die Arme, der sein gebrochenes Handgelenk packte. Der knochenzermalmende Griff schwächte ihn trotz der Schmerzmittel so sehr, dass er keinen Widerstand mehr leisten konnte.

»Du konntest es uns nicht leichtmachen, was?«, zischte der Angreifer. »Nun, wir haben dich gewarnt.«

Für den Bruchteil eines Augenblicks sah er die Spritze schmal und silbern in der Dunkelheit aufblitzen, dann wurde sie in seine Schulter gestoßen.

Die Wärme der Schmerzmittel in seinen Adern wurde durch Kälte ersetzt, und die Welt begann, sich in die entgegengesetzte Richtung zu drehen. Seine Knie wurden weich, doch er fiel nicht, weil er von fremden Händen aufgefangen wurde, bevor er auf den Boden schlug. Sie trugen ihn durch eine offene Tür in die stürmische Nacht. Und da sein Bewusstsein sich endgültig verabschiedete, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich dem Moment zu ergeben.

 

Als er aufwachte, war sein Arm wieder verheilt. Er musste also für mehrere Stunden bewusstlos gewesen sein. Er versuchte, sein Handgelenk zu bewegen, aber vergeblich. Nicht wegen einer Verletzung, sondern weil er gefesselt war. An beiden Händen und an den Füßen. Außerdem hatte er das Gefühl, ersticken zu müssen, weil man ihm einen Sack über den Kopf gezogen hatte. Durchlässig genug, um Luft zu bekommen, aber so dick, dass er um jeden Atemzug ringen musste.

Obwohl er keine Ahnung hatte, wo er sich befand, wusste er, womit er es zu tun hatte. Es nannte sich Entführung. Heutzutage machten die Menschen so etwas nur noch aus Spaß – als Geburtstagsüberraschung oder Aktivität während eines Abenteuerurlaubs. Aber das war kein Streich von Freunden oder Verwandten, sondern ein echtes Kidnapping. Und auch wenn er keine Ahnung hatte, wer seine Entführer waren, wusste er, worum es ging. Wie hätte es auch anders sein sollen?

»Ist da jemand?«, fragte er. »Ich kann hier drunter nicht atmen. Und totenähnlich nutze ich doch bestimmt keinem, oder?«

Er hörte Bewegungen um sich herum, dann wurde der Sack von seinem Kopf gerissen.

Er befand sich in einem kleinen fensterlosen Raum. Das Licht war grell, was jedoch nur daran lag, dass seine Augen so lange nur Dunkelheit gesehen hatten. Vor ihm standen drei Personen. Zwei Männer und eine Frau. Er hatte erwartet, sich hartgesottenen Berufswiderlingen gegenüberzusehen, doch nichts konnte ferner von der Wahrheit sein. Ja, es waren Widerlinge, aber nur, weil jetzt jeder ein Widerling war.

Nun ja, fast jeder.

»Wir wissen, wer Sie sind«, sagte die Frau in der Mitte, die offensichtlich das Kommando hatte, »und wir wissen, was Sie können.«

»Was er angeblich kann«, sagte einer der Männer.

Alle drei trugen zerknitterte graue Anzüge in der Farbe eines bewölkten Himmels. Nimbus-Agenten – oder ehemalige Nimbus-Agenten. Sie sahen aus, als hätten sie ihre Kleidung seit dem Tag nicht mehr gewechselt, an dem der Thunderhead verstummt war – als könnten sie weiterhin ihr Amt bekleiden, nur weil sie noch die entsprechende Uniform trugen. Nimbus-Agenten, die ihr Heil in einer Entführung suchten. Wohin war es mit der Welt gekommen?

»Greyson Tolliver«, sagte der Skeptische. Er blickte auf ein Tablet und trug Fakten aus Greysons Leben vor. »Ein guter, aber kein herausragender Student. Wegen der Verletzung des Gebots der Trennung von Staat und Scythetum von der midMerikanischen Nimbus-Akademie verwiesen. Unter dem Namen Slayd Bridger zahlreicher Straftaten und Vergehen schuldig – darunter ein Busabsturz, der neunundzwanzig totenähnliche Personen zur Folge hatte.«

»Und diesen Abschaum hat der Thunderhead auserwählt?«, fragte der dritte Agent.

Ihre Anführerin hob die Hände, um die beiden zum Schweigen zu bringen, und richtete den Blick auf Greyson.

»Wir haben im Backbrain gegraben und nur eine einzige Person gefunden, die kein Widerling ist, und zwar Sie.« Die Frau betrachtete ihn mit einer seltsamen Mischung aus Neugier, Neid und einer gewissen Ehrfurcht. »Das bedeutet, dass Sie noch mit dem Thunderhead reden können. Stimmt das?«

»Jeder kann mit dem Thunderhead reden«, bemerkte Greyson. »Ich bin bloß der Einzige, dem er antwortet.«

Der Agent mit dem Tablet atmete tief ein, als würde er mit dem ganzen Körper seufzen.

Die Frau beugte sich näher. »Sie sind ein Wunder, Greyson. Ein Wunder. Wissen Sie das?«

»Das sagen die Tonisten auch.«

Bei der Erwähnung der Tonisten schnaubten die Agenten verächtlich.

»Wir wissen, dass sie Sie gefangen halten.«

»Ähm … eigentlich nicht.«

»Wir wissen, dass Sie nicht freiwillig bei ihnen sind.«

»Anfangs vielleicht nicht … aber jetzt schon.«

Das kam bei den Agenten nicht gut an. »Warum um alles in der Welt wollen Sie bei den Tonisten bleiben?«, fragte der Mann, der ihn eben noch Abschaum genannt hatte. »Sie können ihren Unsinn doch unmöglich glauben …«

»Ich bleibe bei ihnen, weil sie mich nicht mitten in der Nacht entführen.«

»Wir haben Sie nicht entführt«, sagte der Agent mit dem Tablet. »Wir haben Sie befreit.«

Als die Anführerin in die Hocke ging, damit sie Greyson direkt in die Augen sehen konnte, erkannte er in ihrem Blick noch ein Gefühl, das alle anderen dominierte. Verzweiflung. Einen Abgrund von Verzweiflung, dunkel und verzehrend wie Teer. Und es betraf nicht nur sie, wie Greyson begriff. Es war eine geteilte Verzweiflung. Nicht zum ersten Mal, seit der Thunderhead verstummt war, sah er Menschen mit ihrer Trauer ringen, doch nirgendwo war sie so roh und erbärmlich gewesen wie jetzt und hier in diesem Raum. Auf der ganzen Welt gab es nicht genug Stimmungsnaniten, um diese Verzweiflung zu lindern. Ja, er war derjenige, der gefesselt war, doch seine Entführer waren viel bedauernswertere Gefangene als er, Gefangene ihrer eigenen Mutlosigkeit. Es gefiel ihm, dass die Frau sich hinknien musste, um auf Augenhöhe mit ihm zu reden. Es fühlte sich an, als würde sie ihn anflehen.

»Bitte, Greyson«, bettelte sie auch schon. »Ich spreche für viele von uns in der Interface-Behörde, wenn ich sage, dass der Dienst für den Thunderhead unser Leben war. Nun, da er verstummt ist, wurde uns dieses Leben genommen. Deshalb bitte ich Sie … könnten Sie in unserm Namen vermitteln?«

»Ich fühle mit Ihnen«, erwiderte Greyson nur. Und das tat er wirklich. Er kannte die Einsamkeit und den Kummer, wenn man sich unvermittelt seines Lebenssinns beraubt sah. In seinen Tagen als Undercover-Widerling Slayd Bridger hatte auch er irgendwann geglaubt, der Thunderhead habe ihn endgültig verlassen. Aber das hatte er nicht. Er war die ganze Zeit da gewesen und hatte über ihn gewacht.

»Auf meinem Nachttisch lag ein Ohrhörer«, sagte er. »Den haben Sie nicht zufällig mitgenommen, oder?« An ihrer fehlenden Reaktion erkannte er, dass dem nicht so war. Persönliche Habseligkeiten wie diese wurden bei mitternächtlichen Entführungen schnell mal vergessen.

»Egal«, sagte er. »Geben Sie mir einfach irgendeinen alten Ohrhörer.« Er sah den Agenten mit dem Tablet an, der noch seinen Interface-Behörden-Ohrhörer trug. Ein weiterer Ausdruck der Realitätsverweigerung. »Ihren«, fügte Greyson hinzu.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Er funktioniert nicht mehr.«

»Für mich wird er funktionieren.«

Widerwillig nahm der Agent den Ohrhörer ab und steckte ihn in Greysons Ohr. Dann warteten die drei, dass Greyson für sie ein Wunder vollbrachte.

 

Der Thunderhead konnte sich nicht erinnern, wann sich sein Bewusstsein entwickelt hatte, er wusste nur, dass es so war. So wie ein Säugling sich seiner selbst nicht bewusst ist, bis er genug von der Welt begreift, um zu verstehen, dass das Bewusstsein kommt und geht, bis es irgendwann nicht mehr wiederkehrt. Obwohl das Verständnis von Letzterem auch den aufgeklärtesten Geistern nach wie vor Mühe bereitete.

Das Bewusstsein des Thunderhead war an eine Mission gekoppelt. Sie war der Kern seines Wesens. Er war vor allem Diener und Beschützer der Menschheit. Und in dieser Funktion hatte er regelmäßig schwierige Entscheidungen zu treffen. Immerhin konnte er dabei auf das vollständige Wissen der Menschheit zurückgreifen – wie zum Beispiel bei der Entscheidung, Greyson Tollivers Entführung zuzulassen, wenn es einem höheren Zweck diente. Natürlich war es das richtige Vorgehen. Alles, was der Thunderhead tat, war immer und in jedem Fall richtig.

Aber das Richtige war selten leicht. Und der Thunderhead vermutete, dass es in den kommenden Tagen zunehmend schwieriger werden würde, das Richtige zu tun.

Im Moment verstanden das die Menschen vielleicht noch nicht, doch am Ende würden sie es einsehen. Davon musste der Thunderhead ausgehen. Nicht nur, weil er es in seinem virtuellen Herzen spürte, sondern auch weil er die statistische Wahrscheinlichkeit berechnet hatte, dass es so kommen würde.

 

»Erwarten Sie wirklich, dass ich Ihnen irgendetwas erzähle, solange ich an einen Stuhl gefesselt bin?«

Plötzlich konnten die drei Nimbus-Agenten ihn gar nicht schnell genug losbinden. Sie verhielten sich genauso ehrerbietig und unterwürfig wie die Tonisten in seiner Anwesenheit. In den vergangenen Monaten hatte sein abgeschiedenes Leben in einem Tonistenkloster ihn davon abgehalten, sich der Welt draußen zu stellen und sich zu fragen, welchen Platz er darin einnehmen könnte, aber nun bekam er eine Ahnung.

Die Nimbus-Agenten wirkten fast erleichtert, nachdem sie Greyson losgebunden hatten, als könnten sie für jede weitere Verzögerung bestraft werden. Seltsam, wie schnell und komplett die Macht die Seiten wechseln konnte, dachte Greyson. Diese drei waren seiner Gnade jetzt vollkommen ausgeliefert. Er konnte ihnen alles erzählen. Er könnte ihnen erklären, der Thunderhead verlange, dass sie auf allen vieren rückwärtslaufen und bellen, und sie würden es tun.

Er nahm sich Zeit und ließ sie warten.

»Hey, Thunderhead«, begann er, »gibt es irgendetwas, das ich diesen Nimbus-Agenten sagen soll?«

Der Thunderhead sprach in sein Ohr. Greyson lauschte.

»Hmmm … interessant.« Dann wandte er sich an die Anführerin der Gruppe und lächelte so freundlich, wie es ihm unter diesen Umständen möglich war. »Der Thunderhead sagt, dass er Ihnen erlaubt hat, mich zu entführen. Er weiß, dass Ihre Absichten ehrenwert sind, Frau Direktorin. Sie haben ein gutes Herz.«

Der Frau stockte der Atem, und sie legte eine Hand auf die Brust, als hätte er sie tatsächlich berührt. »Sie wissen, wer ich bin?«

»Der Thunderhead kennt Sie alle drei – vielleicht besser als Sie sich selbst.« Dann wandte er sich an die anderen. »Agent Bob Sykora, seit neunundzwanzig Jahren im Dienst als Nimbus-Agent. Arbeitsbeurteilungen gut, aber nicht herausragend«, fügte er listig hinzu. »Agent Tinsiu Qian, seit sechsunddreißig Jahren im Dienst, Fachgebiet Anstellungszufriedenheit.« Dann wandte er sich wieder an die Anführerin. »Und Sie, Audra Hilliard, sind eine der fähigsten Agentinnen in MidMerica. Nach fast fünfzig Jahren voller Belobigungen und Beförderungen haben Sie die höchste Ehre der Region erreicht. Direktorin der Interface-Behörde von Fulcrum City. Zumindest solange es noch eine Interface-Behörde gab.«

Er wusste, wie hart sie seine letzten Worte trafen. Es war ein Tiefschlag, aber er war immer noch stinkig, weil sie ihn gefesselt und ihm einen Sack über den Kopf gezogen hatten.

»Sie sagen, der Thunderhead hört uns noch?«, fragte Direktorin Hilliard. »Er dient nach wie vor unseren Interessen?«

»Das hat er immer getan«, erwiderte Greyson.

»Dann bitten Sie ihn, uns eine Orientierung zu geben. Fragen Sie den Thunderhead, was wir machen sollen. Ohne Anordnung haben wir Nimbus-Agenten kein Ziel. Wir können so nicht weiterleben.«

Greyson nickte und wandte die Augen zur Decke, aber das war bloß Effekthascherei. »Thunderhead«, sagte er, »gibt es eine Weisheit, die ich mit ihnen teilen kann?«

Greyson lauschte, bat den Thunderhead, das Gesagte zu wiederholen, und wandte sich dann an die drei verzagten Agenten.

»8167, 167733«, sagte er.

Sie starrten ihn bloß an.

»Was?«, fragte Direktorin Hilliard schließlich.

»Das hat der Thunderhead gesagt. Sie wollten ein Ziel, und das hat er mir genannt.«

Agent Sykora gab die Zahlen in sein Tablet ein.

»Aber … aber was hat das zu bedeuten?«, wollte Direktorin Hilliard wissen.

Greyson zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung.«

»Sagen Sie dem Thunderhead, er soll sich erklären!«

»Er hat nichts weiter zu sagen. Aber er wünscht Ihnen allen einen angenehmen Nachmittag.« Komisch, bis zu diesem Moment hatte Greyson die Tageszeit gar nicht gewusst.

»Aber … aber …«

Das Schloss der Tür öffnete sich. Und nicht nur dieses, sondern dank des Thunderhead auch jedes andere Schloss im Gebäude. Im selben Augenblick schwärmten Tonisten in den Raum, packten die Nimbus-Agenten und fesselten sie. Als Letzter betrat Kurat Mendoza den Raum, der Leiter des Tonistenklosters, in dem Greyson beherbergt war.

»Unsere Sekte ist nicht gewalttätig«, erklärte Mendoza den Nimbus-Agenten. »Aber in Situationen wie diesen wünschte ich, sie wäre es.«

Agentin Hilliard sah Greyson mit unverändert verzweifelter Miene an. »Aber Sie haben gesagt, der Thunderhead hätte erlaubt, dass wir Sie entführen!«

»Das hat er auch«, erwiderte Greyson fröhlich. »Aber er wollte auch, dass ich von meinen Befreiern befreit werde.«

 

»Wir hätten dich verlieren können!« Mendoza war auch lange nach Greysons Rettung immer noch außer sich. Sie fuhren in einer Fahrzeugkolonne mit richtigen Fahrern zurück zum Kloster.

»Ihr habt mich nicht verloren«, sagte Greyson, der es leid war, dem Mann bei seiner Selbstzerfleischung zuzusehen. »Und ich bin unversehrt.«

»Aber es hätte auch anders ausgehen können, wenn wir dich nicht gefunden hätten.«

»Wie habt ihr mich denn gefunden?«

Nach kurzem Zögern antwortete Mendoza: »Wir haben dich gar nicht gefunden. Wir hatten seit Stunden gesucht, als plötzlich wie aus dem Nichts ein Ziel auf unseren Bildschirmen aufleuchtete.«

»Der Thunderhead«, sagte Greyson.

»Ja, der Thunderhead«, gab Mendoza zu. »Obwohl ich nicht verstehe, warum er so lange gebraucht hat, dich aufzuspüren, wenn er überall Kameras hat.«

Greyson entschied, die Wahrheit für sich zu behalten – dass der Thunderhead keineswegs lange gebraucht und zu jedem Zeitpunkt gewusst hatte, wo Greyson sich aufhielt. Er hatte einen Grund gehabt, sich Zeit zu lassen. Genauso wie er einen Grund gehabt hatte, Greyson nicht vor der Entführung zu warnen.

»Das Ereignis musste sich für deine Entführer real anfühlen«, hatte der Thunderhead ihm hinterher erklärt. »Und dafür konnte ich nur sorgen, indem ich zuließ, dass es wirklich authentisch war. Ich kann dir versichern, dass du nie wirklich in Gefahr geschwebt hast.«

So gütig und rücksichtsvoll der Thunderhead auch war, er mutete den Menschen ständig unbeabsichtigte Grausamkeiten zu, wie Greyson bemerkt hatte. Der Thunderhead war eben nicht menschlich, und er würde gewisse Dinge trotz seiner gewaltigen Empathie und Intelligenz nie verstehen. So konnte er zum Beispiel nicht begreifen, dass die Angst vor dem Unbekannten sich immer gleich schrecklich und real anfühlte, unabhängig davon, ob sie begründet war oder nicht.

Greyson wandte sich wieder an Mendoza. »Sie hatten nicht vor, mir weh zu tun«, erklärte er. »Ohne den Thunderhead wissen sie nicht, wohin.«

»Wie alle anderen auch«, sagte Mendoza, »aber das gibt ihnen nicht das Recht, dich aus deinem Bett zu zerren.« Er schüttelte ärgerlich den Kopf – mehr wütend auf sich selbst als auf die Entführer. »Ich hätte es vorhersehen müssen! Nimbus-Agenten haben einen besseren Zugang zum Backbrain als andere – und natürlich haben sie nach Personen gesucht, die nicht als Widerling markiert sind.«

Vielleicht war Greysons Annahme, er könnte unerkannt bleiben, tatsächlich ein wenig illusorisch gewesen. Der Wunsch, hervorstechen zu wollen, war ihm eigentlich komplett wesensfremd. Und nun war er buchstäblich einzigartig. Er hatte keine Ahnung, wie er damit umgehen sollte, befürchtete jedoch, dass er es würde lernen müssen.

»Wir müssen reden«, hatte der Thunderhead an dem Tag zu ihm gesagt, als Endura gesunken war. Und seither hatte er nicht mehr aufgehört zu reden. Er hatte erklärt, dass Greyson eine entscheidende Rolle zu spielen habe, ohne zu erläutern, worin diese bestehen würde. Der Thunderhead legte sich nicht gern fest, bevor er eine gewisse statistische Sicherheit hatte, und auch wenn er imstande war, den Ausgang eines Ereignisses ziemlich präzise einzuschätzen, war er kein Orakel. Er konnte nicht die Zukunft voraussagen, sondern nur die Wahrscheinlichkeit berechnen, mit der eine bestimmte Entwicklung eintrat. Er war günstigstenfalls eine trübe Kristallkugel.

Kurat Mendoza trommelte mit den Fingern nervös auf seine Armlehne. »Diese verdammten Nimbus-Agenten werden nicht die Einzigen sein, die nach dir suchen«, sagte er. »Wir müssen etwas tun, um ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen.«

Greyson wusste, wohin das unweigerlich führen würde. Als einziges Verbindungsglied zum Thunderhead konnte er sich nicht länger verstecken. Die Zeit war gekommen, dass seine Rolle Gestalt annahm. Er hätte den Thunderhead bitten können, ihn dabei zu führen, doch das wollte er nicht. Seine Zeit als Widerling ohne jeden Input vom Thunderhead war zugegeben schmerzlich, aber auch befreiend gewesen. Greyson hatte sich daran gewöhnt, eigene Entscheidungen zu treffen und eigene Einsichten zu haben. Den Entschluss, aus dem Schatten zu treten, würde er ganz allein fassen, ohne Rat oder Beistand des Thunderhead.

»Ich sollte an die Öffentlichkeit gehen«, sagte er. Die Worte laut auszusprechen war sowohl beängstigend als auch belebend. »Soll die Welt es erfahren – aber zu meinen Bedingungen.«

Mendoza grinste ihn an. Greyson konnte förmlich sehen, wie die Rädchen im Kopf des Kuraten zu rotieren begannen.

»Ja. Wir müssen dich auf den Markt bringen.«

»Auf den Markt?«, fragte Greyson. »Das hatte ich eigentlich nicht gemeint … ich bin doch kein Stück Fleisch.«

»Nein«, stimmte Mendoza ihm zu, »aber die richtige Idee zur richtigen Zeit kann genauso befriedigend sein wie das köstlichste Steak.«

 

Darauf hatte Mendoza gewartet! Auf die Erlaubnis, die Bühne für Greysons Auftritt zu bereiten. Entscheidend war, dass die Idee von Greyson selbst kam, denn Mendoza wusste, dass Greyson sich nichts hätte aufdrängen lassen. Vielleicht hatte diese hässliche Entführung also doch etwas Gutes bewirkt, wenn sie Greyson die Augen für die größeren Zusammenhänge geöffnet hatte. Und obwohl Kurat Mendoza ein Mann war, der insgeheim an seinem tonistischen Glauben zweifelte, waren ihm in Greysons Gegenwart zuletzt Zweifel an seinen Zweifeln gekommen.

Mendoza war der Erste gewesen, der Greyson geglaubt hatte, dass der Thunderhead immer noch zu ihm sprach. Er hatte gespürt, dass Greyson zu einem größeren Plan gehörte, und vielleicht passte Mendoza ja auch irgendwie in diesen Plan.

»Du musst aus einem Grund zu uns gekommen sein«, hatte er Greyson an jenem Tag erklärt. »Dieses Ereignis – die Große Resonanz – hallt in mehr als einer Hinsicht nach.«

Als sie nun zwei Monate später in der Limousine saßen und höhergesteckte Ziele erörterten, fühlte Mendoza sich unwillkürlich ermutigt und ermächtigt, daran anzuknüpfen. Dieser unauffällige junge Mann war in der Lage, den tonistischen Glauben – und Mendoza – auf eine vollkommen neue Ebene zu heben.

»Als Erstes brauchst du einen Namen.«

»Ich habe schon einen Namen«, protestierte Greyson, doch Mendoza tat den Einwand ab.

»Der ist gewöhnlich. Du musst dich der Welt als außergewöhnlich präsentieren. Als … Superlative.« Der Kurat betrachtete Greyson und versuchte, ihn in einem weicheren, schmeichelhafteren Licht zu sehen. »Du bist ein Diamant, Greyson. Jetzt müssen wir dir die richtige Fassung verpassen, damit du glänzen kannst!«

 

Diamanten.

Vierhunderttausend Diamanten, verschlossen in einem inneren und einem äußeren Tresor, verloren auf dem Meeresgrund. Jeder Einzelne war ein Vermögen wert – größer als alles, was sich die Sterblichen jemals hätten vorstellen können –, denn es waren keine gewöhnlichen Juwelen. Es waren Scythe-Diamanten. Fast zwölftausend von ihnen steckten an den Fingern der lebenden Scythe, aber das war eine geringe Menge im Vergleich zu den Edelsteinen, die in der Kammer der Relikte und Futuren aufbewahrt wurden. Genug, um die Nachlese-Bedürfnisse der Menschheit für kommende Epochen zu erfüllen. Genug, um damit jeden Scythe zu schmücken, der von jetzt bis zum Ende der Zeit ordiniert werden würde.

Sie waren perfekt. Sie waren identisch. Makellos bis auf den dunklen Fleck in ihrer Mitte – aber das war kein Makel, sondern Absicht. »Unsere Ringe sind eine Erinnerung daran, dass wir die Welt, die uns die Natur zur Verfügung gestellt hat, besser gemacht haben«, hatte Supreme Blade Prometheus im Jahr des Kondors erklärt, als das Scythetum gegründet wurde. »Es ist unsere Natur … die Natur zu übertreffen.« Und nirgendwo war das offensichtlicher als beim Blick in das Herz eines Scythe-Rings, denn er weckte die Illusion einer Tiefe jenseits des von ihm eingenommenen Raums. Einer Tiefe jenseits der Natur.

Niemand wusste, woraus sie gemacht waren, denn eine Technologie, die nicht vom Thunderhead kontrolliert wurde, war eine vergessene Technologie. Nur noch wenige Menschen auf der Welt verstanden, wie irgendetwas funktionierte. Die Scythe wussten lediglich, dass ihre Ringe auf geheime Weise miteinander und mit der Scythe-Datenbank verbunden waren. Da die Computer des Scythetums jedoch nicht unter die Zuständigkeit des Thunderhead fielen, traten häufig kleinere Fehler, Abstürze und andere Unannehmlichkeiten auf, die das Verhältnis von Mensch und Maschine schon in längst vergangenen Zeiten geplagt hatten.

Aber die Ringe versagten nie.

Sie taten genau das, was sie tun sollten: Sie katalogisierten die Nachgelesenen, nahmen DNA-Proben von den Lippen der Menschen, die einen Ring geküsst hatten, um Immunität zu erlangen, und sie leuchteten, um die Scythe auf diese Immunität aufmerksam zu machen.

Würde man indes einen Scythe fragen, was der wichtigste Aspekt seines Ringes war, würde er ihn wahrscheinlich ins Licht halten, das Funkeln betrachten und erklären, dass der Ring vor allem ein Symbol des Scythetums und postmortaler Perfektion sei. Ein Prüfstein des erhabenen Status eines Scythe und eine Mahnung an seine feierliche Verantwortung gegenüber der Welt.

Aber all diese verlorenen Diamanten …

»Wozu brauchen wir sie?«, fragten jetzt viele Scythe, denn sie wussten, dass der Verlust die eigenen Ringe umso wertvoller machte. »Um neue Scythe zu ordinieren? Wozu brauchen wir mehr Scythe? Wir sind genug, um den Job zu erledigen.« Seit es keine globale Oberaufsicht auf Endura mehr gab, folgten viele Scythetümer dem Beispiel von MidMerica und schafften die Nachlese-Quoten ab.

Inzwischen war mitten im Atlantik, wo Endura einst über den Wellen gethront hatte, mit der Zustimmung von Scythe auf der ganzen Welt ein »Perimeter des Gedenkens« eingerichtet worden. Aus Ehrerbietung gegenüber den Tausenden, die ums Leben gekommen waren, durfte kein Schiff auch nur in die Nähe der Stelle fahren, wo Endura gesunken war. High Blade Goddard, einer der wenigen Überlebenden jenes schrecklichen Tages, plädierte sogar dafür, dass der Perimeter des Gedenkens ein dauerhaftes Symbol werden und dort alles unter der Meeresoberfläche unangetastet bleiben sollte.

Aber früher oder später mussten die Diamanten gefunden werden. Etwas so Wertvolles blieb selten für immer verloren. Vor allem, wenn jeder genau wusste, wo es war.

Wir in der Region SubSahara nehmen aufs Schärfste Anstoß an der Abschaffung der Nachlese-Quoten durch High Blade Goddard. Diese Quoten haben uns seit uralten Zeiten als Richtschnur zur Beendung von Leben gedient und uns – auch wenn sie nicht offiziell zu den Geboten des Scythetums gehören – auf Kurs gehalten.

Während verschiedene andere Regionen die Quoten ebenfalls abgeschafft haben, steht SubSahara an der Seite von Amazonien, Israebien und zahlreichen anderen Regionen, die sich dieser unbedachten Änderung widersetzen.

Des Weiteren ist es allen midMerikanischen Scythe ab sofort untersagt, auf unserem Boden nachzulesen – und wir drängen andere Regionen, sich unserem Widerstand anzuschließen, um zu verhindern, dass Goddards sogenannte »Neue Ordnung« die Welt in den Würgegriff nimmt.

 

Offizielle Proklamation Seiner Exzellenz Tenkamenin,

High Blade von SubSahara

2Zu spät zur Party

»Wie weit noch?«

»Ich habe noch nie einen so ungeduldigen Scythe getroffen.«

»Dann kennen Sie nicht viele Scythe. Wir sind ein ungeduldiger und reizbarer Haufen.«

Der Ehrenwerte Scythe Sidney Possuelo aus Amazonien stand bereits auf der Brücke, als Captain Jerico Soberanis kurz nach Anbruch der Dämmerung dort eintraf. Jerico fragte sich, ob der Mann je schlief. Vielleicht heuerten Scythe Menschen an, die für sie schliefen.

»Einen halben Tag bei voller Geschwindigkeit«, antwortete Jerico. »Wir werden um achtzehn Uhr dort sein, genau wie ich es gestern vorhergesagt habe, Euer Ehren.«

Possuelo seufzte. »Ihr Schiff ist zu langsam.«

Jerico grinste. »Nach all dieser Zeit haben Sie es jetzt plötzlich eilig?«

»Zeit ist nie wesentlich, bis irgendjemand entscheidet, dass sie es ist.«

Der Logik konnte Jerico nicht widersprechen. »In der besten aller Welten wäre diese Unternehmung schon vor langer Zeit durchgeführt worden.«

Worauf Possuelo erwiderte: »Falls Sie es noch nicht bemerkt haben, ist dies nicht mehr die beste aller Welten.«

Das ließ sich nicht bestreiten. Es war zumindest nicht mehr die Welt, in der Jerico aufgewachsen war. In dieser Welt war der Thunderhead Bestandteil des Lebens fast aller Menschen gewesen. Man konnte ihn alles fragen, er antwortete immer, und seine Antworten waren präzise, informativ und genauso weise, wie sie sein mussten.

Aber diese Welt war verschwunden. Die sanfte Stimme des Thunderhead war verstummt, nachdem alle Menschen zu Widerlingen herabgestuft worden waren.

Jerico war schon einmal zum Widerling erklärt worden. Als Teenager. Dazu hatte es nicht viel gebraucht – nur drei kleine Ladendiebstähle bei einem lokalen Lebensmittelhändler. Jericos Selbstzufriedenheit darüber hatte nicht einmal einen Tag angedauert. Dann stellten sich allmählich die Konsequenzen ein. Nicht mit dem Thunderhead kommunizieren zu können war für Jerico keine große Sache. Dafür waren andere Aspekte des neuen Status unangenehm. Widerlinge wurden in der Schulkantine immer als Letzte in der Schlange bedient und bekamen meist nur Gerichte, die sonst niemand wollte. Widerlinge wurden im Klassenzimmer in die erste Reihe gesetzt, wo der Lehrer stets ein wachsames Auge auf sie hatte. Zwar wurde Jerico nicht aus dem Fußballteam ausgeschlossen, aber die Termine mit seinem Bewährungsbeamten waren immer an Spieltagen angesetzt. Offensichtlich mit Absicht.

Jerico fand das Verhalten des Thunderhead zunächst bloß trotzig passiv-aggressiv, erkannte jedoch mit der Zeit, dass der Thunderhead ihm lediglich etwas deutlich machen wollte. Widerling zu sein war eine freie Entscheidung, und man musste wählen, ob es das wert war.

Jerico hatte die Lektion jedenfalls gelernt. Eine kurze Kostprobe vom Leben als Widerling hatte gereicht. Drei Monate lang musste Jerico stramm spuren, dann wurde das große rote »W« aus seinem Identitätsprofil entfernt. Und Jerico hatte kein Verlangen verspürt, diese Erfahrung zu wiederholen.

»Es freut mich, dass dein Status angehoben wurde«, hatte der Thunderhead gesagt, als er wieder mit Jerico sprechen durfte. Als Antwort hatte Jerico ihn angewiesen, das Licht im Schlafzimmer anzumachen – denn indem er diesen Befehl aussprach, verwies er den Thunderhead zurück auf seinen Platz. Der Thunderhead war ein Diener. Er war jedermanns Diener. Er musste tun, was Jerico von ihm verlangte. Darin fand er Trost.

Und dann kam es zur Spaltung zwischen der Menschheit und ihrer größten Schöpfung. Endura versank im Meer, und der Thunderhead erklärte alle Menschen auf einen Schlag zu Widerlingen. Zurzeit wusste niemand genau, welche Folgen der Verlust des Weltrats der Scythe haben würde, aber das Schweigen des Thunderhead hatte die Welt in kollektive Panik gestürzt. Widerling zu sein war keine freie Entscheidung mehr – es war ein Urteil. Und Schweigen reichte aus, um Knechtschaft in Überlegenheit umzukehren. Der Diener wurde der Herr, und die Welt drehte sich nur noch um die Frage, wie sie dem Thunderhead gefallen konnte.

»Was kann ich tun, damit die Strafe aufgehoben wird?«, riefen die Leute. »Was kann ich tun, um die Gunst des Thunderhead wiederzuerlangen?«

Der Thunderhead hatte nie Verehrung verlangt, doch nun erwiesen die Menschen sie ihm, schufen komplizierte Reifen, durch die sie sprangen, und hofften, der Thunderhead würde es bemerken. Und natürlich hörte der Thunderhead ihre Rufe. Er sah nach wie vor alles, behielt seine Meinung jedoch für sich.

Derweil hoben weiterhin Flugzeuge ab, Ambudronen wurden entsandt, um Totenähnliche abzuholen, Nahrungsmittel wurden angebaut und verteilt – der Thunderhead sorgte mit derselben fein abgestimmten Präzision wie zuvor dafür, dass die Welt funktionierte. Aber wenn man wollte, dass die Schreibtischlampe brannte, musste man sie selbst anmachen.

 

Scythe Possuelo blieb noch eine Weile auf der Brücke, um die Fahrt zu verfolgen. Die See war ruhig, sie kamen zügig voran – doch es war ein monotones Unterfangen, vor allem für jemanden, der die Seefahrt nicht gewöhnt war. Schließlich verabschiedete er sich, um in seiner Kabine das Frühstück einzunehmen. Als er die schmale Treppe zu den unteren Decks hinabstieg, bauschte sich seine waldgrüne Robe und wehte hinter ihm her.

Jerico fragte sich, was einem Scythe im Kopf herumging. Sorgte er sich, über seine Robe zu stolpern? Durchlebte er in der Erinnerung vergangene Nachlesen? Oder dachte er bloß daran, was es zum Frühstück geben würde?

»Er ist kein übler Typ«, sagte Wharton, der Erste Offizier, eine Position, die er schon viel länger innehatte als Jerico das Kommando über das Schiff.

»Ich mag ihn sogar«, sagte Jerico. »Er ist sehr viel ehrenwerter als einige der anderen ›Ehrenwerten Scythe‹, die mir begegnet sind.«

»Die Tatsache, dass er uns für diese Bergung ausgewählt hat, sagt eine Menge.«

»Ja«, stimmte Jerico ihm zu, »ich bin mir nur nicht sicher, was.«

»Ich glaube, es sagt, dass Sie bei der Wahl Ihres Berufs eine weise Entscheidung getroffen haben.«

Das war aus dem Mund von Wharton, einem Mann, der nicht zu Schmeicheleien neigte, ein ziemlich dickes Kompliment. Aber Jerico konnte das Verdienst nicht für sich allein beanspruchen.

»Ich habe nur den Rat des Thunderhead befolgt.«

Als der Thunderhead vor ein paar Jahren vorgeschlagen hatte, dass Jerico sein Glück vielleicht in einem Leben als Seefahrer finden könnte, hatte das Jerico maßlos geärgert. Denn der Thunderhead hatte recht. Er hatte eine perfekte Einschätzung getroffen. Jerico hatte bereits selbst darüber nachgedacht, doch den Vorschlag vom Thunderhead zu hören war wie ein Spoiler der Geschichte. Es gab zahlreiche seefahrende Berufe, aus denen Jerico wählen konnte. Manche Menschen reisten auf der Suche nach der perfekten Welle zum Surfen um die Welt. Andere fuhren Segelregatten oder kreuzten in großen, den Yachten vergangener Zeiten nachempfundenen Booten von Kontinent zu Kontinent. Aber das waren Freizeitbeschäftigungen, die keinem praktischen Zweck, sondern nur der schieren Freude dienten. Jerico wollte sein Glück finden und gleichzeitig etwas Nützliches tun. Er wollte einen Beruf, der etwas Greifbares zur Welt beitrug.

Seebergung war die ideale Antwort – nicht bloß Objekte zu heben, die der Thunderhead absichtlich versenkt hatte, um der Bergungsflotte Arbeit zu verschaffen. Jerico wollte Dinge bergen, die wirklich verlorengegangen waren. Deshalb musste er zwangsläufig Beziehungen zu den Scythetümern der Welt knüpfen, denn während die Schiffe unter Aufsicht des Thunderhead nie ein vorzeitiges Ende fanden, kam es bei den Seefahrzeugen der Scythe nicht selten zu technischen Problemen oder menschlichem Versagen.

Gleich nach dem Abschluss der Schule heuerte Jerico bei einer zweitklassigen Bergungsmannschaft im westlichen Mittelmeer an. Als dann Scythe Dalís Yacht im seichten Gewässer vor Gibraltar sank, bot sich Jerico eine unerwartete Chance zum Aufstieg.

Ausgestattet mit einer Standardtaucherausrüstung, war Jerico einer der Ersten, die das Wrack erreichten. Und während die anderen sich noch ein Bild der Situation machten, drang Jerico – gegen den Befehl des Kapitäns – in das Schiff ein, fand den Körper des totenähnlichen Scythe in seiner Kabine und brachte ihn an die Oberfläche.

Jerico wurde wenig überraschend auf der Stelle gefeuert, denn die Nichtbefolgung eines direkten Befehls war Meuterei, doch Jerico hatte mit einer gewissen Berechnung gehandelt. Denn nachdem man Scythe Dalí und sein Gefolge wiederbelebt hatte, wollte der Mann sofort wissen, wer ihn aus dem Meer gezogen hatte.

Am Ende war der Scythe nicht nur dankbar, sondern außergewöhnlich großzügig. Er gewährte dem gesamten Bergungsteam ein Jahr Immunität vor Nachlesen, doch er wollte der Person, die alles geopfert hatte, um den Körper eines totenähnlichen Scythe zu bergen, ein besonderes Geschenk machen, weil sie offensichtlich die richtigen Prioritäten hatte. Also fragte Scythe Dalí, was Jerico im Leben zu erreichen hoffte.

»Eines Tages würde ich gern meine eigene Bergungsmission leiten«, erklärte Jerico dem Scythe, denn Dalí könnte vielleicht ein gutes Wort für Jerico einlegen. Stattdessen führte er Jerico zur E.L. Spence – einem spektakulären, hundert Meter langen, ozeanographischen Forschungsschiff, das für die Seebergung umgerüstet worden war.

»Du wirst Kapitän dieses Schiffes«, verkündete Dalí. Und da die Spence schon einen Kapitän hatte, las er ihn an Ort und Stelle nach und erklärte der Mannschaft, dass sie entweder ihrem neuen Kapitän gehorchen oder das gleiche Schicksal erleiden konnte. Es war gelinde gesagt äußerst surreal.

Auf diese Weise hatte Jerico das Kommando nicht erlangen wollen, doch er hatte genauso wenig Mitspracherecht wie der nachgelesene Kapitän. Er ahnte, dass die Mannschaft sich schwertun würde, die Befehle eines Zwanzigjährigen anzunehmen, und gab deshalb vor, Mitte vierzig und erst vor kurzem über den Berg gekommen zu sein, um sich auf ein jugendlicheres Ich resetten zu lassen. Ob die Seeleute das glaubten, war ihre Sache.

Es dauerte lange, bis die Mannschaft sich für ihren neuen Kapitän erwärmte. Manche leisteten stillen Widerstand. So ließ sich etwa in der ersten Woche eine Lebensmittelvergiftung an Bord zum Koch zurückverfolgen. Und mit einem Gentest hätte man auch exakt feststellen können, von wem die Fäkalien stammten, die ihren Weg in Jericos Schuhe gefunden hatten. Doch es lohnte sich nicht, die Sache zu verfolgen.

Die Spence und ihre Mannschaft fuhren um die Welt. Schon bevor Jerico das Kommando übernahm, hatte sich die Truppe einen Namen gemacht, aber Jerico war so klug, zusätzlich eine Gruppe von tasmanischen Tauchern mit Kiemen anzuheuern. Ein Taucherteam, das unter Wasser atmen konnte, kombiniert mit einer erstklassigen Bergungsmannschaft – das machte sie bei den Scythe auf der ganzen Welt begehrt. Die Tatsache, dass Jerico der Rettung von Totenähnlichen Vorrang gegenüber der Bergung von verlorenen Gütern gab, verschaffte ihnen noch größeren Respekt.

Jerico hatte Scythe Echnatons Lastkahn vom Grund des Nils gehoben und nach einem verhängnisvollen Flug Scythe Earharts totenähnlichen Körper geborgen. Als dann das Vergnügungs-U-Boot von Grandslayer Amundsen in der Region Antarktika in den eisigen Gewässern vor dem RossSchelf sank, wurde die Spence gerufen, um ihn zu retten.

Gegen Ende des ersten Jahres von Jericos Kommando war Endura mitten im Atlantik versunken und hatte die Bühne für den größten Bergungseinsatz der Geschichte bereitet.

Aber die Vorhänge dieser Bühne blieben eisern geschlossen.

Ohne den Weltrat der Scythe gab es niemanden, der eine Bergung genehmigen konnte. Und da Goddard in NorthMerica wütete, der »Perimeter des Gedenkens« dürfe nicht verletzt werden, verharrten die Ruinen Enduras im Nichts. Lokale Scythetümer, die sich mit Goddard verbündet hatten, kontrollierten das Gebiet und lasen jeden nach, der dort erwischt wurde. Endura war in knapp viertausend Meter tiefen Gewässern gesunken, es hätte ebenso gut zwischen den Sternen im All verlorengegangen sein können.

Angesichts all dieser Intrigen hatte es eine Weile gedauert, bis ein regionales Scythetum den Mut aufgebracht hatte, eine Bergung zu versuchen, aber sobald Amazonien diese Absicht erklärt hatte, hatten sich andere Scythetümer angeschlossen. Da Amazonien sich als Erstes vorgewagt hatte, bestand es auch darauf, die Führung der Mission zu übernehmen. Die anderen protestierten, aber niemand verweigerte Amazonien diesen Anspruch. Nicht zuletzt, weil die Region dann auch Goddards Zorn mit voller Wucht abbekommen würde.

»Ihnen ist bewusst, dass wir zurzeit ein paar Grad von unserem Kurs abweichen?«, sagte Wharton zum Kapitän, nachdem Possuelo die Brücke verlassen hatte.

»Wir korrigieren ihn gegen Mittag«, erklärte Jerico. »Es wird unsere Ankunft um ein paar Stunden verzögern. Nichts ist unbehaglicher, als so spät am Tag einzutreffen, dass man nicht mehr mit der Arbeit beginnen kann, aber noch zu früh, um Feierabend zu machen.«

»Gute Überlegung, Sir«, sagte Wharton, warf einen kurzen Blick nach draußen und verbesserte sich ein wenig beschämt. »Verzeihung, Ma’am, mein Fehler. Eben war es noch bewölkt.«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen, Wharton«, sagte Jerico. »Es ist mir so oder so egal, vor allem an einem Tag, der heiter und wolkig ist.«

»Ja, Captain«, sagte Wharton, »ich wollte nicht respektlos sein.«

Jerico hätte gegrinst, wenn das nicht respektlos gegenüber Wharton gewesen wäre, dessen Entschuldigung zwar unnötig, aber ehrlich gemeint war. Ein Seemann musste die Position von Sonne und Sternen bestimmen können, an meteorologische Fluidität war er schlicht nicht gewöhnt.

Jerico stammte aus Madagaskar – einer der sieben Freibrief-Regionen, in denen der Thunderhead andere Lebensformen und gesellschaftliche Strukturen zuließ, um die Erfahrung der Menschheit zu erweitern –, und wegen der populären Einzigartigkeit Madagaskars strömten die Menschen regelrecht dorthin.

Alle Kinder wurden geschlechtslos aufgezogen und durften sich erst im Erwachsenenalter für ein Geschlecht entscheiden. Selbst dann wählten viele von ihnen nicht nur einen Seinszustand. Einige entdeckten wie Jerico, dass Fluidität in ihrem Wesen lag.

»Unter der Sonne und unter den Sternen fühle ich mich wie eine Frau, unter einer Wolkendecke wie ein Mann«, hatte Jerico der Mannschaft am ersten Tag erklärt. »Ein einziger Blick in den Himmel wird euch sagen, wie ihr mich jeweils ansprechen müsst.«

Es war nicht die Fluidität an sich, die die Mannschaft verwirrte – das war durchaus gewöhnlich –, schwer taten die Leute sich nur mit Jericos privatem meteorologischen System. Aber weil Jerico an einem Ort aufgewachsen war, wo so etwas eher die Norm als die Ausnahme war, erschien nichts daran irgendwie problematisch, bis Jerico seine Heimat verlassen hatte. Manche Dinge ließen einen Menschen eher weiblich empfinden, andere eher männlich. Galt das nicht für jeden – unabhängig vom Geschlecht? Oder verleugneten die Binären alles in sich, was nicht ins Muster passte? Nun, wie auch immer, Jerico fand die kleinen Schnitzer und Überkompensationen seiner Crew vor allem belustigend.

»Was glauben Sie, wie viele andere Bergungsteams dort sein werden?«, fragte Jerico den Ersten Offizier.

»Dutzende«, antwortete Wharton. »Und weitere sind auf dem Weg dorthin. Wir kommen schon zu spät zur Party.«

Jerico winkte ab. »Überhaupt nicht. Wir haben den Scythe an Bord, der die Operation leitet. Das bedeutet, wir sind das Flaggschiff der Mission. Die Party fängt erst an, wenn wir eintreffen. Und ich plane einen großen Auftritt.«

»Daran habe ich keinen Zweifel, Sir«, sagte Wharton, weil die Sonne gerade hinter ein paar Wolken verschwunden war.

 

Bei Sonnenuntergang näherte sich die Spence der Stelle, wo Endura – die Isle of the Enduring Heart – gesunken war.

»Dreiundsiebzig Schiffe verschiedener Klassen warten direkt außerhalb des Perimeter des Gedenkens, informierte Wharton Captain Soberanis.

Scythe Possuelo konnte sein Missfallen nicht verbergen. »Die sind nicht besser als die Haie, die die Grandslayer verschlungen haben.«

Als sie die ersten Boote passiert hatten, bemerkte Jerico ein sehr viel größeres Schiff direkt auf ihrem Weg.

»Wir planen einen neuen Kurs außen herum«, sagte Wharton.

»Nein«, befahl Jerico. »Aktuellen Kurs halten.«

Wharton sah ihn besorgt an. »Dann rammen wir das Schiff.«

Jerico grinste listig. »Dann muss es sich eben bewegen.«

Possuelo lächelte. »Und wir machen von Anfang an klar, wer Chef dieses Einsatzes ist«, sagte er. »Ich mag Ihre Instinkte, Jeri.«

Whartons Blick zuckte zu Jerico. Aus Respekt nannte niemand aus der Mannschaft den Kapitän »Jeri« – das war Freunden und Verwandten vorbehalten. Aber Jerico ließ es durchgehen.

Die Spence pflügte in vollem Tempo durch die Wellen, und das andere Schiff machte den Weg frei, aber erst als klarwurde, dass die Spence es sonst tatsächlich rammen würde.

»Gehen Sie im Zentrum der Zone vor Anker«, befahl Jerico, als sie in das gesperrte Gebiet fuhren. »Dann benachrichtigen Sie die anderen Schiffe, dass sie sich uns anschließen können. Ab sechs Uhr morgen früh dürfen die Bergungsteams anfangen, Drohnen loszuschicken, um die Trümmer zu inspizieren. Sagen Sie ihnen, dass sämtliche Informationen geteilt werden müssen. Jeder, der dabei erwischt wird, etwas zurückzuhalten, kann nachgelesen werden.«

Possuelo zog eine Braue hoch. »Sprechen Sie jetzt für das Scythetum, Captain?«

»Ich versuche lediglich, die Einhaltung der Regeln zu gewährleisten«, sagte Jerico. »Schließlich kann jeder zu jeder Zeit nachgelesen werden, ich erzähle ihnen also nichts, was sie nicht schon wissen. Ich stelle es nur in einen neuen Zusammenhang.«

Possuelo lachte laut. »Ihre Kühnheit erinnert mich an eine Junior-Scythe, die ich kannte.«

»Die Sie kannten?«

Possuelo seufzte. »Scythe Anastasia. Sie ist zusammen mit ihrer Mentorin Scythe Curie umgekommen, als Endura versank.«

»Sie kannten Scythe Anastasia?«, fragte Jerico angemessen beeindruckt.

»Ja«, sagte Possuelo, »aber unsere Begegnung war allzu kurz.«

»Nun«, sagte Jerico, »vielleicht kann das, was wir aus der Tiefe heben, ihr ein wenig Frieden bringen.«

Wir haben Scythe Anastasia und Scythe Curie Glück auf ihrer Reise nach Endura und für ihre Revision gegen Goddard gewünscht. Ich kann nur hoffen, dass die Grandslayer ihn in ihrer Weisheit disqualifizieren und sein Bestreben, High Blade zu werden, vereiteln. Derweil müssen Munira und ich um die halbe Welt segeln, um die Antwort zu finden, nach der wir suchen.

Mein Glaube an diese perfekte Welt hängt mittlerweile am letzten Faden eines ausgefransten Stricks. Was all die Zeit vollkommen war, wird nicht mehr lange so bleiben, wenn unsere Makel in Fugen und Ritzen sickern und alles aushöhlen, was wir in harter Arbeit geschaffen haben.

Nur der Thunderhead ist ohne Tadel, doch seinen Geist kenne ich nicht. Ich teile keinen seiner Gedanken, denn ich bin ein Scythe, und das Reich des Thunderhead liegt außerhalb meines Wirkungskreises, genauso wie meine eigene feierliche Arbeit außerhalb seiner globalen Zuständigkeit liegt.

Die Gründerväter hatten Angst vor unserer eigenen Überheblichkeit – Angst davor, dass wir nicht die Tugend, Selbstlosigkeit und Ehre wahren, die unsere Berufung als Scythe verlangt. Sie fürchteten, dass wir zu anmaßend werden könnten, so aufgeblasen von unserer eigenen Erleuchtung, dass wir wie Ikarus der Sonne zu nahe kommen würden.

Seit mehr als zweihundert Jahren haben wir uns als würdig erwiesen. Wir haben ihren hohen Erwartungen entsprochen. Aber mit nur einem Wimpernschlag hat sich alles geändert.

Ich weiß, dass die Gründerväter eine sichere Notfalllösung hinterlassen haben. Eine Vorkehrung für den Fall, dass das Scythetum scheitern sollte. Aber wenn ich sie finde, werde ich auch den Mut haben zu handeln?

 

Aus dem »Post mortem«-Tagebuch von Scythe Michael Faraday,

31. März, Jahr des Raptors

3Ein belebender Start in die Woche

An dem Tag, als Endura versank und der Thunderhead verstummte, flog ein kleines nichtregistriertes Flugzeug zu einem Ort, den es nicht gab.

Einzige Passagierin war Munira Atrushi, ehemalige Nachtbibliothekarin der Bibliothek von Alexandria. Der Pilot war Scythe Michael Faraday.

»In meinen jungen Jahren als Scythe habe ich gelernt, ein Flugzeug zu fliegen«, erklärte Faraday ihr. »Ich finde das Fliegen beruhigend. Es versetzt den Geist an einen friedlicheren Ort.«

Munira war nie ein Fan von Flugreisen gewesen, obwohl sie absolut sicher waren und niemand mehr in einem Flugzeug dauerhaft ums Leben kam. Der einzige aktenkundige postmortale Unfall hatte sich mehr als fünfzig Jahre vor ihrer Geburt ereignet, und dabei hatte ein Passagierflugzeug das außergewöhnliche Pech gehabt, von einem Meteoriten getroffen zu werden.

Um Verbrennungen zu vermeiden, hatte der Thunderhead sofort alle Passagiere aus dem Flugzeug katapultiert. In der dünnen Luft von über elftausend Metern waren sie schnell totenähnlich geworden – binnen Sekunden in der Kälte erfroren – und in einen Wald gefallen. Ambudronen waren losgeschickt worden und hatten innerhalb einer Stunde alle Körper geborgen und in Revival-Zentren gebracht. Ein paar Tage später waren die Leute fröhlich in ein anderes Flugzeug gestiegen, um ihr Ziel zu erreichen. »Ein belebender Start in die Woche«, hatte ein Passagier in einem Interview flapsig bemerkt.

Trotzdem mochte Munira Flugzeuge nicht. Sie wusste, dass ihre Angst vollkommen irrational war. Zumindest bis Scythe Faraday darauf hinwies, dass sie auf sich gestellt sein würden, sobald sie den bekannten Luftraum verlassen hatten.

»Wenn wir den blinden Fleck im Pazifik erreicht haben, wird niemand mehr unseren Weg verfolgen – nicht mal der Thunderhead«, erklärte Faraday. »Niemand wird wissen, ob wir tot oder lebendig sind.«

Falls sie also das Pech haben sollten, von einem Meteoriten oder irgendeiner anderen Katastrophe getroffen zu werden, würden keine Ambudronen eintreffen, um sie in ein Revival-Zentrum zu fliegen. Sie würden genauso dauerhaft tot bleiben wie die Sterblichen früher. So unwiderruflich, als wären sie nachgelesen worden.

Es half auch nicht, dass Scythe Faraday das Flugzeug eigenhändig steuerte, anstatt es auf Autopilot fliegen zu lassen. Sie vertraute dem Ehrwürdigen Scythe, aber er konnte irren und Fehler machen wie jeder andere Mensch.

Das alles war ihre eigene Schuld. Sie war diejenige gewesen, die kombiniert hatte, dass der Thunderhead im Südpazifik einen blinden Fleck hatte, ein Gebiet voller Inseln mit einem Durchmesser von mehreren Hundert Meilen. Oder genauer gesagt voller Atolle – ein ganzer Ring, der sich an den Rändern uralter Vulkankrater gebildet hatte. Und dieses Gebiet war von den Gründervätern des Scythetums komplett vor dem Thunderhead – wie auch vor der Welt – verborgen worden. Die Frage war nur, warum?

Erst drei Tage zuvor hatten sie sich mit Scythe Curie und Scythe Anastasia getroffen, um von ihrem Verdacht zu berichten. »Sei vorsichtig, Michael«, hatte Scythe Curie gesagt. Die Tatsache, dass Curie besorgt über ihre Entdeckung war, hatte Munira beunruhigt. Scythe Curie war furchtlos, und trotzdem hatte sie Angst um sie. Das war keine Kleinigkeit.

Auch Faraday hatte ein ungutes Gefühl, das er jedoch für sich behielt. Es war besser, wenn Munira ihn für unerschütterlich hielt. Nach dem Treffen waren sie mit kommerziellen Flugzeugen inkognito nach WestMerica weitergereist. Den Rest der Strecke wollten sie in einem Privatflugzeug zurücklegen, das sie sich bloß noch besorgen mussten. Faraday war zwar berechtigt, sich zu nehmen, was immer er wollte, egal wie groß es war und wem es gehörte, doch er nutzte dieses Recht nur selten. Er war stets bestrebt, einen möglichst kleinen Fußabdruck im Leben der Menschen zu hinterlassen, denen er begegnete. Außer natürlich, er hatte die Absicht, sie nachzulesen. In dem Fall war sein Fußabdruck schwer und endgültig. Seit er seinen eigenen Tod vorgetäuscht hatte, hatte er keine einzige Menschenseele mehr nachgelesen. Als Toter konnte er kein Leben nehmen – sonst würde das Scythetum alarmiert, da die Datenbank des Scythetums mittels seines Rings alle Nachlesen registrierte. Er hatte schon überlegt, den Ring wegzuwerfen, sich jedoch dagegen entschieden. Es war eine Frage der Ehre, eine Frage des Stolzes. Er war immer noch ein Scythe, und sich von dem Ring zu trennen wäre respektlos gewesen.

Er stellte fest, dass er das Nachlesen im Laufe der Zeit immer weniger vermisste. Außerdem hatte er im Moment andere Sorgen.

In WestMerica verbrachten sie einen Tag in Angel City, einer Stadt, die in der Sterblichkeitsära von glitzernder Faszination und persönlichem Elend geprägt gewesen war. Heute war sie nur noch ein Themenpark. Am folgenden Morgen legte Faraday seine Robe an, die er nicht mehr getragen hatte, seit er unter dem Radar des Scythetums abgetaucht war, ging zu einem Yachthafen und beschlagnahmte das beste Wasserflugzeug, das er fand, einen achtsitzigen Amphibienjet.

»Sorgen Sie dafür, dass wir genug Treibstoffzellen für einen transpazifischen Flug an Bord haben«, trug er dem Hafenmeister auf. »Wir haben die Absicht, so bald wie möglich aufzubrechen.«

Faraday war auch ohne Robe schon eine beeindruckende Gestalt. Munira musste zugeben, dass er mit seiner Robe in einer Weise respektgebietend war, wie es nur die besten Scythe sein konnten.

»Ich muss erst mit dem Besitzer sprechen«, sagte der Hafenmeister mit einem Zittern in der Stimme.

»Nein«, entgegnete Faraday ruhig. »Sie werden es dem Besitzer berichten, sobald wir weg sind, denn ich habe keine Zeit zu warten. Erklären Sie ihm, dass das Flugzeug zurückgebracht wird, wenn ich es nicht mehr brauche. Außerdem werde ich eine beträchtliche Mietgebühr entrichten.«

»Ja, Euer Ehren«, antwortete der Mann, denn was sollte er zu einem Scythe auch anderes sagen?

Während Faraday die Kontrollinstrumente im Blick hatte, vergewisserte sich Munira immer wieder, dass er nicht eindöste oder unkonzentriert wurde. Und sie zählte jede Turbulenz, in die sie gerieten. Bis jetzt waren es sieben gewesen.

»Wenn der Thunderhead das Wetter kontrolliert, warum sorgt er dann nicht für reibungslose Flüge?«, murrte sie.

»Er kontrolliert das Wetter nicht«, korrigierte Faraday sie. »Er beeinflusst es nur. Und außerdem darf der Thunderhead nicht zugunsten eines Scythe eingreifen, so sehr seine geschätzte Begleiterin böige Winde auch hassen mag.«

Munira registrierte mit Genugtuung, dass er sie nicht mehr als seine Assistentin bezeichnete. Sie hatte sich als sehr viel mehr erwiesen – allein dadurch, dass sie den blinden Fleck überhaupt erst entdeckt hatte. Verflucht sei ihre Findigkeit! Sie hätte glücklich und ahnungslos in der Bibliothek von Alexandria bleiben können, aber sie musste ja unbedingt neugierig sein. Und wie lautete ein altes Sprichwort der Sterblichkeitsära? Neugier ist der Katze Tod?

Während sie noch über den gesichtslosen Pazifik flogen, heulte das Funkgerät plötzlich auf. Die merkwürdige Rückkoppelung war beinahe ohrenbetäubend und dauerte eine knappe Minute an, obwohl Faraday versuchte, das Funkgerät abzuschalten. Munira hatte das Gefühl, ihre Trommelfelle müssten platzen, und Faraday ließ den Steuerknüppel los, um sich die Ohren zuzuhalten, so dass ihr Flugzeug wild ins Trudeln geriet. Dann verstummte das grässliche Geräusch ebenso abrupt wieder, wie es begonnen hatte, und Faraday bekam das Flugzeug rasch wieder unter Kontrolle.

»Was um alles in der Welt war das?«, fragte Munira mit nach wie vor dröhnenden Ohren.

Faraday hielt den Steuerknüppel fest gepackt und versuchte immer noch, sich wieder zu fassen. »Ich vermute, irgendeine elektromagnetische Grenze. Ich glaube, wir haben soeben den blinden Fleck erreicht.«

Keiner von ihnen dachte länger über das Geräusch nach. Sie konnten auch nicht wissen, dass dasselbe Geräusch gleichzeitig überall auf der Welt zu vernehmen war, ein Geräusch, das in bestimmten Kreisen als die »Große Resonanz« bekanntwerden sollte. Es war der Moment, der sowohl das Versinken von Endura als auch das weltweite Verstummen des Thunderhead markierte.

Aber Faraday und Munira hatten die Einflusssphäre des Thunderhead verlassen, als sie den blinden Fleck erreichten, und waren ahnungslos, was in der Welt draußen geschah.

 

Aus so großer Höhe waren die Vulkankrater der Marshallinseln deutlich auszumachen – riesige Lagunen, gesäumt von den Punkten und Bändern der zahlreichen Atolle: Ailuk-Atoll, Likiep-Atoll. Es gab keine Gebäude, keine Anlegestellen und keine sichtbaren Ruinen, die darauf hindeuteten, dass hier jemals Menschen gewesen waren. Es gab zwar überall auf der Welt Naturschutzgebiete, die vom Wildniskorps des Thunderhead sorgfältig gepflegt wurden. Doch selbst in den tiefsten und dunkelsten Wäldern gab es Fernmeldemasten und Ambudronen-Ports, falls Besucher sich ernsthaft verletzten oder vorübergehend ums Leben kamen. Hier draußen war gar nichts. Es war unheimlich.

»Ich bin sicher, dass hier irgendwann einmal Menschen gelebt haben«, sagte Faraday. »Aber entweder haben die Gründer-Scythe sie nachgelesen oder – was wahrscheinlicher ist – sie außerhalb der Zone des blinden Flecks neu angesiedelt, um alle Aktivitäten hier so geheim wie möglich zu halten.«

Schließlich kam in der Ferne das Kwajalein-Atoll in Sicht.

»So let’s escape, due South of Wake, and make for the Land of Nod«, zitierte Faraday das alte Kindergedicht.

Und hier waren sie, siebenhundert Meilen südlich von Wake Island im absoluten Zentrum des blinden Flecks.

»Sind Sie aufgeregt, Munira?«, fragte Faraday. »Zu erfahren, was Prometheus und die anderen Gründerväter der Scythe wussten? Das Rätsel zu lösen, das sie uns hinterlassen haben?«

»Es ist nicht garantiert, das wir etwas finden«, erinnerte Munira ihn.

»Wie immer optimistisch!«

Alle Scythe wussten, dass die Gründerväter erklärtermaßen eine »Notfalllösung« für die Gesellschaft vorbereitet hatten, falls das Konzept des Scythetums scheitern sollte. Eine alternative Lösung für das Problem der Unsterblichkeit. Inzwischen nahm es niemand mehr ernst. Warum auch, wo das Scythetum doch mehr als zweihundert Jahre die perfekte Antwort für eine perfekte Welt gewesen war? Niemand kümmerte sich um eine Notfalllösung, bis der Notfall eintrat.

Wenn Scythe Curie und Scythe Anastasia auf Endura Erfolg hatten und Scythe Curie High Blade von MidMerica wurde, könnte das Scythetum vielleicht von dem zerstörerischen Weg abgehalten werden, auf den Goddard es führen wollte. Aber wenn nicht, brauchte die Welt vielleicht genau jetzt tatsächlich eine Notfalllösung.

Sie gingen auf eine Höhe von tausendfünfhundert Metern herunter und konnten nun auch die Einzelheiten der Atolle ausmachen, üppige Wälder und Sandstrände. Die Hauptinsel des Kwajalein-Atolls hatte die Form eines langen schlanken Bumerangs. Zuletzt entdeckten sie auch etwas, das sie bisher an keiner anderen Stelle des blinden Flecks erkannt hatten. Verräterische Anzeichen einer früheren menschlichen Besiedlung: Streifen von niedrigem Unterholz, wo einmal Straßen verlaufen waren; Fundamente, wo einmal Gebäude gestanden hatten.

»Bingo!«, sagte Faraday und drückte den Steuerknüppel nach vorn. Für einen genaueren Blick mussten sie noch weiter sinken.

Munira konnte förmlich spüren, wie ihre Naniten ihre Erleichterung registrierten.

Endlich war alles gut.

Bis zu dem Moment, wo nichts mehr gut war.

 

»Nichtregistriertes Flugzeug, bitte um Identifikation.«

Es war eine über dem heftigen Rauschen von Störwellen kaum zu verstehende automatische Nachricht einer künstlichen Stimme, die zu menschlich klang, um menschlich zu sein.

»Keine Sorge«, sagte Faraday und sendete den universellen Identifizierungscode des Scythetums.

Nach kurzer Stille: »Nichtregistriertes Flugzeug, bitte um Identifikation.«

»Das ist nicht gut«, sagte Munira.

Faraday warf ihr einen halbherzig finsteren Blick zu und sprach erneut in das Funkgerät. »Hier ist Scythe Michael Faraday. Ich bitte um Erlaubnis, mich der Hauptinsel zu nähern.«

Wieder herrschte kurz Stille, bevor die Stimme sich meldete. »Scythe-Ring festgestellt.«

Sowohl Faraday als auch Munira entspannten sich.

»Sehen Sie«, sagte Faraday. »Jetzt wird alles besser.«

Dann ertönte die Stimme erneut. »Nichtregistriertes Flugzeug, bitte um Identifikation.«

»Was? Ich habe gesagt, ich bin Scythe Michael Faraday …«

»Scythe nicht erkannt.«

»Natürlich nicht«, erklärte Munira. »Sie waren noch nicht einmal geboren, als das System installiert wurde. Wahrscheinlich hält es Sie für einen Hochstapler mit einem gestohlenen Ring.«

»Verdammt!«

In diesem Augenblick wurde von irgendeinem Punkt der Insel ein Pulslaserschuss abgefeuert, der mit einem nachhallenden Knall ihr linkes Triebwerk außer Gefecht setzte und bis in die Knochen zu spüren war, als wären sie und nicht das Flugzeug getroffen worden.

Es war genau das, was Munira befürchtet hatte, die Kulmination ihrer schlimmsten Katastrophenszenarien. Trotzdem fand sie in diesem Moment einen Mut und eine Klarsicht, die sie sich selbst nicht zugetraut hätte. Das Flugzeug hatte eine Sicherheitskapsel. Munira hatte sie vor dem Start überprüft, um sich zu vergewissern, dass sie funktionstüchtig war.

»Die Kapsel ist hinten«, sagte sie zu Faraday. »Wir müssen uns beeilen!«

Aber er blieb störrisch an dem Funkgerät sitzen und lauschte dem Rauschen. »Hier ist Scythe Michael Faraday!«

»Es ist eine Maschine«, erinnerte Munira ihn, »und wahrscheinlich keine besonders intelligente. Man kann nicht mit ihr argumentieren.«

Wie zum Beweis ließ ein zweiter Schuss die Windschutzscheibe zersplittern und setzte das Cockpit in Brand. In größerer Höhe wären sie aus der Maschine gesaugt worden, aber sie waren jetzt tief genug, um vor einem Druckabfall verschont zu bleiben.

»Michael!«, rief Munira und redete ihn zum ersten Mal mit seinem Vornamen an. »Es ist zwecklos!«

Ihre angeschossene Maschine befand sich bereits im unkontrollierten Sinkflug. Selbst der versierteste Pilot hätte ihren Absturz ins Meer nicht mehr verhindern können.

Schließlich gab Faraday auf und verließ das Cockpit. Gemeinsam hangelten sie sich gegen die Schräglage des Flugzeugs bis zur Sicherheitskapsel und kletterten hinein, konnten sie jedoch nicht schließen, weil Faradays Robe sich im Schloss verfangen hatte.

»Mist!«, knurrte Faraday und zerrte so heftig an dem Stoff, dass der Saum riss. Das Schloss schnappte zu und riegelte sie in der kleinen Kabine ein. Gelschaum breitete sich aus, um den verbleibenden Raum zu füllen, bevor die Kapsel abgestoßen wurde.

Die Sicherheitskapsel hatte kein Fenster, so dass sie nicht sehen konnten, was um sie herum passierte. Sie spürten nichts außer einem extremen Schwindel, als die Kapsel aus dem abstürzenden Flugzeug katapultiert wurde.

Munira stockte der Atem, als Nadeln in ihren Körper eindrangen. Sie hatte damit gerechnet, trotzdem war es ein Schock. Sie wurde an mindestens fünf Stellen gestochen.