Seelenschatten - Isabel Roderick - E-Book
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Seelenschatten E-Book

Isabel Roderick

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Beschreibung

Die düstere Vergangenheit einer Fremden bedroht deine Zukunft - Ein mysteriöser Familiengeheimnisroman von Isabel Roderick!
Als es die junge Architektin Emily nach einer Trennung in das verschlafene Städtchen Eelbrook zieht, lernt sie dort den attraktiven Aidan kennen und verliebt sich in ihn. Doch nicht nur er ist es, der ihr bisheriges, ruhiges Leben auf den Kopf stellt. Erinnerungen werden wach – Erinnerungen an ein Leben, das nicht das ihre ist. Bald muss sie erfahren, dass sie die Seele einer Toten in sich trägt: Alice, die vor neunzig Jahren ermordet wurde und nun Emilys Seele verdrängen will ...
feelings-Skala (1=wenig, 3=viel): Spannung: 2, Gefühl: 2, Erotik: 1, Fantastik: 3
»Seelenschatten« ist ein eBook von feelings*emotional eBooks. Mehr von uns ausgewählte erotische, romantische, prickelnde, herzbeglückende eBooks findest Du auf unserem Blog: http://feelings-ebooks.de/. Genieße jede Woche eine neue Geschichte - wir freuen uns auf Dich!

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Isabel Roderick

Seelenschatten

Das Flüstern der Toten

Knaur e-books

Über dieses Buch

Die düstere Vergangenheit einer Fremden bedroht deine Zukunft – Ein mysteriöser Familiengeheimnisroman von Isabel Roderick!

Als es die junge Architektin Emily nach einer Trennung in das verschlafene Städtchen Eelbrook zieht, lernt sie dort den attraktiven Aidan kennen und verliebt sich in ihn. Doch nicht nur er ist es, der ihr bisheriges, ruhiges Leben auf den Kopf stellt. Erinnerungen werden wach – Erinnerungen an ein Leben, das nicht das ihre ist. Bald muss sie erfahren, dass sie die Seele einer Toten in sich trägt: Alice, die vor neunzig Jahren ermordet wurde und nun Emilys Seele verdrängen will …

feelings-Skala (1=wenig, 3=viel): Spannung: 2, Gefühl: 1, Erotik: 2, Fantastik: 2

»Seelenschatten« ist ein eBook von feelings*emotional eBooks. Mehr von uns ausgewählte erotische, romantische, prickelnde, herzbeglückende eBooks findest Du auf unserem Blog: feelings-ebooks.de

Inhaltsübersicht

PrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Nachwort und Danksagung
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Prolog

Eelbrook, Ostengland

Oktober 1945

Ein letztes Mal kehrte Mildred nach Eelbrook Manor zurück, um die dort verbliebenen Habseligkeiten abzuholen. Fünf Jahre war es her, seit sie das Haus aufgegeben hatte. Der Anblick der verwahrlosten Gärten erfüllte sie mit Wehmut. Was George wohl dazu gesagt hätte, wäre er noch am Leben gewesen?

Soldatenstiefel hatten achtlos die einst blühenden Beete zertrampelt. In dem kleinen Pavillon, der ihnen in der Kindheit beim Spielen als Bühne gedient hatte, sammelten sich Schmutz und Blätter. An den Säulen rankte sich vertrockneter Efeu empor. Früher hatte der Marmor des Springbrunnens im Licht der Sonne gestrahlt, und das kristallklare Wasser hatte in langen Sommern für Erfrischung gesorgt. Nun war der Brunnen mit Moos und Flechten überwuchert, und im Becken stand trübes Regenwasser, von dem ein fauliger Geruch aufstieg.

Das Innere des Hauses bot ein ähnlich erschütterndes Bild. Auf den beschmutzten Fliesen der Eingangshalle zeichneten sich zahllose Fußspuren ab. Das Holz der Türen und Wandvertäfelungen war an vielen Stellen gesplittert, als hätte man es dort mit schweren Gegenständen gerammt. Vor einem der Fenster im Esszimmer hing verblichen und fleckig ein vergessener Vorhang. Den Räumen haftete ein Geruch nach erkaltetem Zigarettenrauch und Männerschweiß an. Er zeugte vom Eindringen Fremder, die dieses Anwesen wie einen Gebrauchsgegenstand behandelt hatten.

Mildred schniefte leise und tupfte sich die Tränen von den Wangen. Die Vereinnahmung durch die Armee während des Krieges hatte unverkennbare Spuren hinterlassen. Was sich ihr darbot, übertraf selbst ihre schlimmsten Befürchtungen. Das Haus mochte nicht länger ihr gehören, aber seit ihrer Kindheit verband sie unzählige Erinnerungen mit ihm. Eine so grobe Vernachlässigung hatte es nicht verdient.

Seit Georges Tod hatte sich alles verändert. Plötzlich war es an Mildred gewesen, über die Zukunft des maroden Familienunternehmens zu entscheiden. Der Teemarkt wurde zunehmend von der günstigen Konkurrenz beherrscht, neben der Worthingtonʼs Finest wie ein nostalgisches Überbleibsel aus vergangenen Zeiten wirkte. Schweren Herzens hatte Mildred die Firma ihres verstorbenen Mannes an einen Großkonzern verkauft.

Trotzdem hatte das Geld bald nicht mehr ausgereicht, um ein so großes Anwesen wie Eelbrook Manor mitsamt Personal zu unterhalten. Vor fünf Jahren war Mildred deshalb mit ihrer damals vierzehnjährigen Tochter in ein bescheidenes Heim gezogen: einen ehemaligen Bauernhof, der ihren neuen Verhältnissen angemessen war. Nun blieb ihr einzig zu hoffen, dass der neue Eigentümer von Eelbrook Manor dem Haus wieder zu seiner alten Pracht verhelfen würde.

Mühsam stieg sie die Stufen hinauf und zog wie immer ihr linkes Bein nach. Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock verharrte sie und wandte den Kopf zur Seite. Am entfernten Ende des Korridors erblickte sie die Tür zu dem Raum, der einst das Rote Zimmer gewesen war.

Ihre Hand am Treppengeländer verkrampfte sich bei der Erinnerung an das, was sich vor vielen Jahren darin zugetragen hatte. Niemals würde sie den Anblick ihrer toten Schwester vergessen: der champagnerfarbene Stoff ihres Kleides, die geöffneten roten Lippen, die Augen, die ins Nichts starrten. All das Blut in ihrem goldblonden Haar, an der Stelle, wo die Kugel sie getroffen hatte. Seit jener Nacht, in der Alice gestorben war, hatte niemand mehr den Raum betreten.

In diesem Moment schwang langsam und knarrend die Tür des Roten Zimmers auf. Mildred war es, als wehte ihr ein eisiger Lufthauch entgegen. Im Geiste hörte sie Alices helles Lachen. Vor ihrem inneren Auge sah sie ihre Schwester leichtfüßig tanzen, während die bewundernden Blicke aller auf ihr ruhten.

Sie wandte sich schaudernd ab und humpelte weiter, hinauf in den zweiten Stock. Hier befanden sich die ehemaligen Schlafräume der Bediensteten. Mildred schloss die Tür zum Zimmer des Butlers auf. Drinnen fiel fahles Licht durch ein kleines Fenster. In der Ecke, von einer Staubschicht bedeckt, stand die Holztruhe – genau dort, wo Mildred sie zurückgelassen hatte. Das oberste Stockwerk war zum Glück vom Zugriff der Soldaten verschont geblieben.

Keuchend kniete sie vor der Truhe nieder, öffnete sie und holte die alten Fotoalben und Briefe heraus. Unmittelbar nach Georges Tod hatte sie es nicht ertragen, sie in ihrer Nähe zu haben. Nun jedoch wollte sie die Sachen mitnehmen, bevor der neue Eigentümer das Haus renovierte.

Sie schlug eines der Alben auf und betrachtete ihr Hochzeitsfoto, das nun zwanzig Jahre alt war. Wie gut George ausgesehen hatte: groß, blond, von sportlicher Statur. Doch schon damals zeichnete sich jene Traurigkeit in seiner Miene ab, die sein restliches Leben überschatten sollte.

»Mein armer George«, flüsterte sie beim Anblick ihres verstorbenen Mannes. So sehr hatte sie sich gewünscht, dass die Geburt ihrer Tochter zwischen ihnen alles ins Lot bringen würde. Das Gegenteil war eingetreten. George hatte Eve nie in seiner Nähe haben wollen, und bis zu seinem Tod war das Verhältnis zwischen Vater und Tochter distanziert und kühl gewesen.

Zwischen den Gegenständen in der Truhe fand Mildred auch ihre alten Tagebücher wieder. Fassungslos blätterte sie in ihnen, doch sie brachte es nicht übers Herz, die Einträge vollständig zu lesen. »Unerträglich«, murmelte sie und riss nach und nach die Seiten heraus.

Am Boden der Truhe kam ein Schmucketui zum Vorschein. Mildred runzelte die Stirn. Sie konnte sich nicht daran erinnern, es hineingelegt zu haben. Als sie es öffnete, fand sie einen goldenen Ring darin. Er war recht groß. Ob er George gehört hatte? Bei genauerem Hinsehen entdeckte sie im Inneren eine Gravur: Für George. In Liebe, A. 1925.

Es dauerte einen Moment, bis sie den Ring wiedererkannte. Ihre Hand mit dem Schmuckstück zitterte. Sie erhob sich, nahm die herausgerissenen Seiten und machte sich entschlossen auf den Weg nach draußen.

Humpelnd gelangte sie zum Ufer des Baches, der am westlichen Rand des Grundstücks verlief. Sie betrachtete den Ring in ihrer Hand. »Verflucht seist du«, zischte sie und schleuderte ihn ins plätschernde Wasser.

Danach riss sie die Tagebuchseiten in Stücke, warf sie hinterher und sah zufrieden zu, wie die Strömung die Papierfetzen davontrug.

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Kapitel 1

Eelbrook Manor

Oktober 2015

Wie eine schweigsame Präsenz ragte das verlassene Herrenhaus vor Emily auf. Ein Windstoß wirbelte ihr Blätter vor die Füße, und sie fröstelte. Noch nie zuvor hatte sie diesen Ort betreten, doch nun spürte sie es wieder: das seltsame Gefühl der Vertrautheit, als wäre sie vor langer Zeit schon einmal hier gewesen.

Vorsichtig stieg sie die breite Eingangstreppe hinauf. Zwischen Herbstlaub, Kieselsteinen und abgebrochenen Zweigen erblickte sie verschmutzte Stufen, die vor vielen Jahren einmal weiß gewesen sein mochten. Auf halber Höhe blieb sie stehen und sah an der Hausfassade empor.

Dies war die Nordfront. Die teils zerbrochenen, teils verbarrikadierten Fenster glichen leeren Augen, die auf sie herabzustarren schienen. Trotz seiner Wuchtigkeit und des herrschaftlichen Charakters wirkte das Haus überraschend schlicht. Offenbar ein gewolltes Understatement des Architekten. Emily fand, dass es vor allem Kälte und Strenge ausstrahlte.

Am Nachmittag hatte sie in London ihre Habseligkeiten zusammengepackt. Irgendwie war es ihr gelungen, ihr Gepäck in den viel zu kleinen Kofferraum des roten, zehn Jahre alten Minis zu stopfen. Sie fuhr an Feldern vorbei, auf denen sich zahllose Schafe tummelten. Die herbstliche Landschaft rauschte an ihr vorüber, dunkle Wolken türmten sich bedrohlich am Horizont auf. Nach knapp zwei Stunden Fahrt war Emily schließlich erleichtert gewesen, als ihr Navigationsgerät die Zeit bis zur Ankunft mit »5 Minuten« angekündigt hatte.

Und nun stand sie vor dem verlassenen Anwesen und fragte sich zum wiederholten Mal, ob sie den Verstand verloren hatte. Vielleicht würde sie hier eine Antwort auf diese Frage finden, doch sie war nicht sicher, ob die Aussicht sie hoffnungsvoll oder eher ängstlich stimmte.

Sie kehrte zu ihrem Wagen zurück, stieg ein und fuhr in Richtung Ortskern. Unterwegs dachte sie an die letzte Unterhaltung mit ihrem Vater zurück. Lebhaft hatte sie seinen entsetzten Gesichtsausdruck vor Augen, als sie von ihrer Entscheidung erzählt hatte, ihre gut bezahlte Stelle in einem angesehenen Londoner Architekturbüro für eine mittelmäßig bezahlte auf dem Land aufzugeben.

»Wie kommst du ausgerechnet auf Eelbrook?«, hatte er wissen wollen. »Ich musste nachschauen, wo das überhaupt liegt!«

»Nach der Sache mit Marc brauche ich Abstand«, erwiderte Emily. »Die neue Stelle kommt mir wie gerufen.«

»Du hättest dich von Anfang an nicht auf diesen Mann einlassen dürfen«, entgegnete ihr Vater. »Ich wusste gleich, das gibt nur Probleme. Und jetzt tust du das, was du immer tust: weglaufen! Ich kenne dich. Dieses Eelbrook wird nur ein weiterer Zwischenstopp für dich sein. Wie lange soll es noch so weitergehen, Emily? Wann wirst du dein Leben endlich in den Griff bekommen?«

Darauf hatte sie nichts mehr gesagt, denn sie war die immer gleichen Vorwürfe leid. Nach der Schule war sie für ein paar Jahre umhergereist, hatte hier und da gejobbt, ohne ein wirkliches Ziel zu verfolgen. Und da war ihr spezielles Problem, das sie seit ihrer Jugend verfolgte. Bei einer Leidensgeschichte wie der ihren war es nicht weiter verwunderlich, dass es sie nie lange an einem Ort hielt.

Aber das war ewig her. Irgendwann hatte sie das Nomadenleben aufgegeben, sich allen Widrigkeiten zum Trotz durch ein Studium gekämpft und war Architektin geworden – wie ihr Vater. Sie liebte Architektur, trat mit ihrer Berufswahl in seine Fußstapfen und hatte gehofft, er wäre stolz auf sie.

Stattdessen erntete sie von ihm die gleiche Reaktion wie immer: Kopfschütteln, gepaart mit der Erwartung, dass sie scheitern würde. Egal, was sie in ihrem Leben tat, ihrem Vater würde es nie genügen. Inzwischen hatte sie sich damit abgefunden, in seinen Augen missraten zu sein.

Eine zweispurige Straße führte sie vorbei an mannshohen grünen Hecken, hinter denen sich Cottages und Obstgärten verbargen. Emily wusste, dass ihre Entscheidung, hierher zu ziehen, überstürzt gewesen war. Bis vor Kurzem noch hatte Trennungsschmerz ihren Verstand vernebelt, und aus dieser Stimmung heraus hatte sie beschlossen, dass sich etwas ändern musste. Nun, mit ein paar Wochen Abstand, sah sie die Dinge etwas nüchterner, aber es gab kein Zurück mehr. Ihr alter Job war gekündigt, den neuen würde sie morgen früh antreten.

Doch die Trennung von Marc war nicht der einzige Grund für ihren Job- und Ortswechsel, oder zumindest nicht der ausschlaggebende. Im Grunde war sie dem Gefühl gefolgt, das sie beim Anblick des Fotos in der Stellenanzeige ergriffen hatte. Das Bild des Anwesens hatte sie auf eine Weise berührt, die sie sich nicht erklären konnte. Die Empfindung ging weit über bloße Bewunderung für das Gebäude hinaus. Fast war es, als sähe sie nach langer Zeit das Bild eines geliebten Menschen vor sich. Ein Durcheinander aus Gefühlen hatte sie überwältigt, und ihr waren die Tränen gekommen. In diesem Augenblick hatte sie gewusst, dass sie sich auf die Stelle bewerben musste.

Auf der High Street reihte sich ein schiefes Fachwerkhaus ans nächste. Einige waren in heiteren Farben gestrichen und liebevoll restauriert, andere vegetierten in einem bedauernswerten Zustand vor sich hin. Wegen dieser Häuser aus der Tudorzeit war Eelbrook bei Touristen äußerst beliebt. Kaum ein Haus, an dem kein Schild mit »Bed and Breakfast« warb. Doch die Hauptsaison war vorüber. Beim Anblick der leeren Straßen fragte Emily sich, ob überhaupt noch Menschen hier wohnten. Womöglich diente der Ort nur noch als Kulisse, um im Sommer ganze Reisebusse voller zahlungskräftiger Großstädter anzulocken.

An einem Laternenpfahl entdeckte sie ein Plakat: Alternative Festival – Live Music. Gleich darauf kam sie am örtlichen Pub vorbei, in dem reger Betrieb herrschte. Vor der Tür unterhielt sich eine Gruppe von Männern mittleren Alters und rauchte. Erleichtert revidierte sie ihre Einschätzung: Es gab tatsächlich noch Einwohner in Eelbrook.

Emily bog in die Heather Street ein, folgte der verwinkelten Straße und hielt vor einem viktorianischen Reihenhaus aus braunem Backstein. »Sie haben Ihr Ziel erreicht«, verkündete das Navigationsgerät.

Fletcher stand auf dem Briefkasten, hier war sie richtig. Sie klingelte, und wenige Sekunden später öffnete sich die weiß gestrichene Holztür. Emily blickte in große Augen, die von einer schweren, altmodischen Brille umrahmt waren.

»Ja?«, sagte eine alte Dame und zog ihre graue Strickjacke zu. Ihre Füße steckten in schneeweißen Strümpfen, darüber trug sie rosafarbene Pantoffeln.

»Mrs Fletcher? Hallo, ich bin Emily Barton«, stellte sie sich lächelnd vor. »Von Hyde & Spencer Architects. Ich habe bei Ihnen ein Apartment gemietet.«

Die Miene der alten Frau erhellte sich. »Die junge Dame aus London, richtig! Kommen Sie herein.«

Mrs Fletcher führte sie ins Wohnzimmer und bat sie, in einem Sessel Platz zu nehmen. »Kann ich Ihnen einen Tee anbieten, während wir den Papierkram erledigen?«

»Gerne, wenn es keine Umstände macht«, antwortete Emily und ließ sich in die weichen Polster sinken. Während die alte Dame in der Küche den Kessel aufsetzte, ließ Emily ihren Blick durch die Wohnung schweifen. Auf allen Fenstersimsen, in Regalen und auf Kommoden waren Dutzende altmodische Porzellanfigürchen verteilt. An den Wänden hingen mit Blumenmotiven bemalte Teller. Scheinbar gab es keine Fläche, die nicht mit Nippes dekoriert war.

»Einen ganz schön weiten Weg haben Sie hinter sich, was?«, fragte Mrs Fletcher. »Und, wie gefällt Ihnen Eelbrook? Als Londonerin muss es Ihnen hier ziemlich langweilig vorkommen, oder?«

Emily überlegte, wie sie diese Frage diplomatisch beantworten konnte. Natürlich war ein Dorf wie Eelbrook kein Vergleich zu einer pulsierenden Metropole wie ihrer Heimatstadt. »Hier ist alles recht klein und übersichtlich. Mir gefallen die historischen Gebäude.«

»Ach ja, Kitsch für die Touristen«, sagte Mrs Fletcher und servierte den Tee in einer kunstvoll bemalten Porzellankanne mit zwei dazu passenden Tassen. »Eelbrook ist ein verschlafenes Kaff, da muss man sich nichts vormachen. Kein Wunder, dass die jungen Leute alle in die Stadt ziehen.«

Emily nahm die heiße Tasse entgegen, die Mrs Fletcher ihr reichte.

»Und Sie sind also gekommen, weil Ihre Firma den alten Kasten renovieren will? Da, nehmen Sie Milch und Zucker.«

»Wir sind von einem amerikanischen Investor beauftragt worden«, erwiderte Emily und nahm ein Stück Kandis. »Eelbrook Manor soll in ein Golfhotel umgewandelt werden.«

Mrs Fletcher nickte. »Wird ja auch Zeit, wenn Sie mich fragen. Das Haus steht schon jahrzehntelang leer. Ein Golfhotel, das lockt die Leute aus der Stadt an, das schafft Arbeitsplätze. Es muss etwas getan werden, sonst wohnt hier in ein paar Jahren keiner mehr. Die Schule haben sie schon schließen müssen letztes Jahr. Nicht genug Kinder in Eelbrook! Die armen Dinger müssen jeden Morgen mit dem Schulbus bis nach Sudbury fahren. Furchtbar.« Sie winkte ab. »Entschuldigung, manchmal rede ich zu viel. Trinken Sie in Ruhe aus, dann gehen wir hoch, und ich zeige Ihnen alles.«

Wenig später folgte Emily Mrs Fletcher nach draußen. Die alte Dame deutete auf eine außengelegene Metalltreppe, die zur Wohnung im ersten Stock hinaufführte. »Also, das da oben ist ab sofort Ihr Reich. Zur Wohnung gehört der Stellplatz hier vorne an der Einfahrt.«

Während Mrs Fletcher redete, wanderte Emilys Blick zum benachbarten Haus. In der Einfahrt stand ein altes Triumph-Bonneville-Motorrad. Dahinter erblickte sie einen blonden Schopf. Ein junger Mann, etwa in ihrem Alter, kniete dort und kramte in einem Werkzeugkoffer. Plötzlich hob der Fremde den Kopf, und ihre Blicke begegneten sich. Er richtete sich auf, wischte sich die Hände an einem Lappen ab und lächelte ihr zu.

Schüchtern wandte sie den Blick ab und folgte der alten Dame die Treppenstufen hinauf. Oben schloss Mrs Fletcher die Tür auf und ließ Emily eintreten.

Nach der Wohnung im Erdgeschoss war sie überrascht, wie schlicht und modern dieses Apartment dagegen wirkte: nüchterne weiße Wände, eine kleine graue Couch und ein Flachbildfernseher. In einer Ecke jedoch hatten sich drei von Mrs Fletchers bemalten Porzellantellern wie zum Trotz an die ansonsten nackte Wand verirrt.

Emily warf einen Blick auf die Küchenzeile und ins kleine Bad. Alles war so sauber, dass es blitzte. Ja, hier konnte man es aushalten, stellte sie zufrieden fest.

»Brauchen Sie noch irgendwas?«, fragte Mrs Fletcher.

»Danke, ich komme zurecht«, versicherte Emily, die es nicht erwarten konnte, endlich allein zu sein.

Die alte Dame verabschiedete sich und ging. Emily atmete tief durch, und ihr fiel ein, dass sie noch ihren Koffer aus dem Wagen holen musste. Sie ging nach draußen und zerrte das klobige Gepäckstück aus dem Kofferraum.

»Warten Sie, ich helfe Ihnen!«, rief jemand hinter ihr.

Emily schloss die Kofferraumtür und drehte sich um. Vor ihr stand der junge Mann, den sie eben beim Reparieren des Motorrads beobachtet hatte. Er überragte sie um einen halben Kopf und sah sie erwartungsvoll an.

»Soll der nach oben?«, fragte er und deutete auf den Koffer.

Bevor sie antworten konnte, packte er den Griff des Gepäckstücks, hob es mühelos hoch und trug es mit großen Schritten zu ihrer Wohnungstür hinauf. Emily folgte ihm und kam nicht umhin, seinen muskulösen Körperbau zu bewundern.

»Danke«, murmelte sie, als sie oben angekommen war.

Er nickte. »Ich bin Aidan.« Er wies mit dem Kopf in Richtung des Nachbarhauses. »Ich wohne nebenan.«

Sie musterte ihn. Von den ausgetretenen Sneakern über die zerrissene Jeans und das graue T-Shirt bis zu den hellen Bartstoppeln in seinem Gesicht – überall klebte Öl an ihm.

Ihr wurde klar, dass sie ihn anstarrte. Sie räusperte sich und reichte ihm die Hand. »Emily. Ich komme aus London.«

»Freut mich. Hab mir schon gedacht, dass du nicht von hier bist. Ich kenne fast alle Gesichter im Ort.« Er lächelte, und seine blauen Augen strahlten. Noch immer hielt er ihre Hand fest. »Sie ist eiskalt«, bemerkte er.

Sie warf ihm einen verwirrten Blick zu. »Hm?«

»Deine Hand. Wie ein Eiszapfen.«

Emily entzog sie ihm und wusste nichts darauf zu erwidern. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich in Aidans Gegenwart überrumpelt und sprachlos. Er hatte etwas Verwirrendes an sich. War es sein Lächeln? Sein durchdringender, wenn auch freundlicher Blick?

»Ich mache mich ans Auspacken«, erwiderte sie und wich in ihr Apartment zurück. »Hat mich gefreut, dich kennenzulernen.«

Er wirkte überrascht angesichts ihres schnellen Rückzugs. »Willkommen in Eelbrook!«, rief er noch, bevor sie die Tür vor seiner Nase schloss.

Drinnen fragte sie sich, ob er es ihr übelnehmen würde, dass sie ihn so schnell abgewimmelt hatte. Als Städterin konnte sie nicht einschätzen, wie die Gepflogenheiten in einem Dorf wie Eelbrook waren. Aidan wirkte wie ein offener, netter Mensch, doch sie konnte nicht anders, als bei zu viel Herzlichkeit auf Abstand zu gehen. So etwas stellte zu schnell zu viel Nähe her, und Nähe war etwas, das ihr Unbehagen bereitete.

 

In dieser Nacht hatte sie erneut den Traum. Seit ihrer Jugend suchte er sie immer wieder heim, und stets war der Ablauf identisch.

Sie stand in einem Bahnhof, vor dem Waggon eines langen Zuges. Durch eines der Fenster beobachtete sie einen hochgewachsenen Mann mit dunklem Haar. Er stand in seinem Abteil und hatte ihr den Rücken zugewandt. Emily wusste nicht, wer er war, und doch vermittelte er ihr ein vertrautes Gefühl.

Sie sehnte sich danach, sein Gesicht zu sehen. Im Traum kannte sie seinen Namen und rief ihn laut und deutlich, doch nach dem Aufwachen war er in ihrem Gedächtnis wie ausgelöscht. Immer wieder hatte sie versucht, sich an ihn zu erinnern, doch im Wachzustand wusste sie nicht einmal mehr, mit welchem Buchstaben er anfing.

Plötzlich rollte der Zug los. Emily schlug gegen die Fensterscheibe und rief nach dem jungen Mann, so laut sie konnte. Wenn er sich doch umdrehen würde, nur ein einziges Mal! Er ignorierte ihre Rufe, der Zug beschleunigte und war schließlich fort.

Emily erwachte, setzte sich auf und brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, wo sie sich befand. Draußen trommelten Regentropfen an die Scheibe ihres Schlafzimmerfensters. Müde sank sie zurück auf ihr Kopfkissen, zog die Decke bis zum Kinn und schloss die Augen.

So oft sie diesen Traum auch hatte, so sehr sie es sich wünschte, niemals sah sie sein Gesicht.

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Kapitel 2

Am nächsten Morgen stand Emily frühzeitig auf. Ihre Kleidung hatte sie bereits am Vorabend bereitgelegt: eine frisch gebügelte Bluse, Hosen und feste Schnürschuhe, denn heute stand die Ortsbegehung an. Rasch sah sie nach, ob sie wirklich an alles gedacht hatte: Digitalkamera, Lasermessgerät und eine Kopie des Originalplans. Sie warf sich ihre Tasche über die Schulter und machte sich auf den Weg nach Eelbrook Manor.

Vor dem Gebäude parkte sie und stieg aus. Außer ihrem eigenen Atem und dem fernen Krähen eines Hahns war kein Geräusch zu hören. Morgendlicher Nebel lag ringsum über den Hügeln, und die kühle Feuchtigkeit kroch ihr unter die Kleidung.

Gleich darauf erklang hinter ihr das unverkennbare Knirschen von Autoreifen auf Kies, und ein silberner Audi tauchte in der Auffahrt auf. Es war der Wagen von Susan Hyde, Mitbegründerin von Hyde & Spencer Architects – Emilys neue Chefin.

Der Audi parkte neben Emilys altem Mini. Zusammen mit Susan stiegen drei Mitarbeiter aus, denen Emily kürzlich zum ersten Mal die Hand geschüttelt hatte. Ben Carter, der Statiker, war ein hochgewachsener, hagerer Mann Ende vierzig, neben dem Susan trotz ihrer hochhackigen Stiefel wie ein Zwerg wirkte. Die anderen beiden waren Andrew Singh und Lisa Nguyen, die Einzigen im Büro, die noch ungefähr in Emilys Alter waren. Alle zusammen bildeten sie das Team, das für die Neugestaltung von Eelbrook Manor verantwortlich war.

Susan blieb vor dem Gebäude stehen und blickte an der Fassade empor, bevor sie sich an Emily wandte. Flüchtig fuhr sie sich mit knallrot lackierten Fingernägeln durch das streichholzkurze, blondierte Haar. »Meine Güte, sind Sie aber pünktlich«, sagte sie in einem Ton, der halb jovial, halb spöttisch wirkte. »Haben Sie alles dabei?«

»Natürlich, Susan«, erwiderte Emily und zückte zum Beweis ihre Digitalkamera. Ein wenig fühlte sie sich wie eine Schülerin, die der Lehrerin die Hausaufgaben präsentierte.

Hyde & Spencer hatte sich in der Region um Sudbury mit der Restaurierung und Modernisierung historischer Gebäude einen Namen gemacht. Der Zuschlag für das Multimillionenprojekt Eelbrook Manor Golfresort war für das vergleichsweise kleine Architekturbüro überraschend gekommen. Wo es ging, waren Mitarbeiter von anderen Projekten abgezogen und diesem zugeteilt worden. Zusätzlich hatte man eine neue Stelle geschaffen, die rechtzeitig zu Projektbeginn besetzt werden sollte. Zahlreiche Architekten hatten sich beworben, doch außer Emily war keiner imstande gewesen, die Stelle so kurzfristig anzutreten.

Emily wusste, dass sie den Job nie bekommen hätte, wenn es allein nach Susan gegangen wäre. Beim Vorstellungsgespräch hatte sie wiederholt Zweifel geäußert, ob eine junge und unerfahrene Architektin wie Emily die Richtige für die Mitarbeit an einem so anspruchsvollen Projekt war. Roy Spencer, die andere Hälfte von Hyde & Spencer Architects, war jedoch anderer Meinung gewesen und hatte Susan davon überzeugt, Emily eine Chance zu geben.

Ein weiterer Wagen näherte sich dem Anwesen, und ein älterer Herr stieg aus und gesellte sich zu ihnen. Susan reichte ihm die Hand und stellte ihn vor. »Das ist Mr Holcombe vom örtlichen Bauamt. Mit ihm werden wir uns bei allen Fragen absprechen, die den Denkmalschutz betreffen.«

Mr Holcombe nickte zur Begrüßung in die Runde.

»Zunächst werden wir das Aufmaß nehmen und den aktuellen Zustand des Gebäudes dokumentieren«, fuhr Susan fort. »Mr Holcombe wird uns dabei mit fachmännischem Rat zur Seite stehen.« Sie wandte sich an Emily. »Beginnen wir mit der Außenansicht.«

Emily zückte die Kamera und machte Fotos vom Gebäude.

Mr Holcombe räusperte sich. »Das Herrenhaus wurde 1745 nach einem Entwurf des berühmten Architekten Giacomo Leoni erbaut«, erklärte er stolz. »Es ist der Stilrichtung des Palladianismus zuzuordnen.«

»Während dieser Epoche äußerst beliebt in England«, warf Susan ein.

Er nickte und deutete auf den Bereich über dem Haupteingang. »Wie Sie sehen, weist der Mittelbau eine Fassade aus grauem Sandstein auf. Die Ost- und Westflügel sind mit rotem Backstein verkleidet. Ringsum wird das Dach von einer Balustrade umrahmt.«

Angeführt von Mr Holcombe umrundeten sie das Haus und blieben an der Gartenfront stehen.

»Wunderschön«, meinte Susan. »Eine Schande, dass sich dieses Gebäude seit Jahrzehnten in einem so desolaten Zustand befindet.«

Innerlich pflichtete Emily ihr bei. Zu sehen, wie einst prächtige Gebäude nach und nach verfielen, tat ihr in der Seele weh. Was andere Menschen beim Anblick verwaister Hundewelpen empfanden, fühlte Emily, wenn sie ein verfallenes Haus wie Eelbrook Manor sah. Jahrzehntelang war es von Menschen bewohnt und gepflegt worden, bis die Bewohner ihm irgendwann den Rücken gekehrt hatten. Sie betrauerte das Schicksal des verlassenen Hauses, als wäre es ein lebendes, leidensfähiges Wesen.

Susan tippte Emily an und deutete auf die Fenster.

Emily verstand, zoomte heran und machte Fotos.

»Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs befand sich das Haus im Besitz der Familie Worthington«, erzählte Mr Holcombe weiter.

»Die berühmten Teeimporteure?«, fragte Susan.

Der Beamte nickte. »Ganz recht. Lady Worthington sah sich nach dem Tod ihres Mannes außerstande, die Renovierung und Instandhaltung finanziell zu stemmen. Sie verkaufte das Anwesen an einen Unternehmer aus London, der es als Landsitz nutzen wollte. Bald darauf wurde er zahlungsunfähig, und seitdem steht das Haus leer.«

»Und dort hinten befindet sich der Gemüsegarten, richtig?«, fragte Susan, wandte dem Haus den Rücken zu und blickte hinaus auf das Grundstück.

Sie folgten einem Kiesweg und durchschritten einen Torbogen, an dem ein Schild mit der Aufschrift Eelbrook Manor – Organic Walled Garden hing. Vor ihnen erstreckte sich ein weitläufiges Gelände, das von einer ovalen Mauer umschlossen war. Ein Beet reihte sich an das nächste, und Emily staunte über das gepflegte Aussehen der Anlage und die Vielfalt der angebauten Gemüsesorten. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass ein Teil des Grundstücks noch bewirtschaftet wurde. Ein halbes Dutzend Gärtner lief geschäftig umher. Der Kontrast zwischen dem verfallenen Herrenhaus und dem Leben, das hier herrschte, hätte nicht größer sein können. Sie beeilte sich, alles zu fotografieren.

»Dies ist ein ummauerter Gemüsegarten aus der viktorianischen Ära«, erklärte Mr Holcombe. »Die Mauern schützen vor Wind, speichern die Wärme der Sonne und geben sie im Laufe der Nacht an die Pflanzen ab. So erzeugen sie ein mildes Klima, in dem vieles gedeihen kann. Ein solcher Garten ernährte einst den gesamten Haushalt. Die Innenfläche misst etwa sechstausend Quadratmeter.«

Susan nickte anerkennend. »Eine wunderschöne Anlage. Wenn ich mich nicht irre, gibt es außerdem noch einen Obstgarten?«

»Weiter hinten auf dem Grundstück«, antwortete Mr Holcombe. »Darin finden sich zahlreiche seltene Apfelsorten.«

Emily erstarrte, als ihr Sucher plötzlich ein bekanntes Gesicht erfasste. Langsam ließ sie die Kamera sinken. Vor ihr stand Aidan, ihr neuer Nachbar. Verblüfft registrierte sie seinen Overall. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass er hier arbeitete. Er verschränkte die Arme und musterte sie. »Du bist eine von denen?«

Sie warf ihm einen verwirrten Blick zu. Eine von denen? Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Gärtner ihre Arbeit unterbrochen hatten und sie anstarrten.

Eine dunkelhäutige junge Frau, deren Dreadlocks unter einem roten Tuch hervorquollen, löste sich aus dem Grüppchen. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Ich muss um Entschuldigung bitten«, sagte der Beamte und trat vor. »Holcombe vom Bauamt. Das hier ist das Team von Hyde & Spencer Architects.«

Sie zog ihre Arbeitshandschuhe aus und reichte Holcombe die Hand. »Mary Pennyworth. Unsere Leute bewirtschaften den Garten seit vielen Jahren.«

Mr Holcombe nickte. »Soweit ich weiß, läuft Ihr Pachtvertrag zum Ende des Jahres aus.«

Emily wurde bewusst, wie ihr Verhalten auf Aidan und die anderen wirken musste. Sie kam einfach hereinmarschiert und fotografierte alles, ohne vorher zu fragen. Peinlich berührt schaltete sie die Kamera aus und ließ sie in ihrer Handtasche verschwinden.

Mr Holcombe schlug vor, zum Haus zurückzukehren. Am Gartentor verharrte Emily kurz, unsicher, ob sie noch einmal zu Aidan gehen und mit ihm sprechen sollte. Sie fühlte sich, als sei sie ihm eine Erklärung schuldig, doch jetzt blieb keine Zeit für einen Plausch, darum bemühte sie sich, ihre Kollegen einzuholen.

Die Flügeltür am Eingang des Hauses war durch ein rostiges Vorhängeschloss gesichert. Mr Holcombe kramte einen großen Schlüsselbund hervor und öffnete sie. Nacheinander traten sie ein.

Im Inneren war es finster, und Emilys Augen brauchten ein paar Sekunden, um sich an die veränderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Es war kühl und roch leicht modrig. Durch schmale, hochgelegene Fenster fielen blasse Lichtstrahlen, in denen Staubpartikel tanzten.

Langsam konnte sie etwas erkennen und sah sich aufmerksam um. Die zwei Stockwerke hohe Eingangshalle war mit weißem Marmor ausgekleidet. Ihr Blick streifte die Säulen an den Wänden und die opulenten Stuckornamente an der Decke. Rechts und links blickten zwei in die Wand eingefasste Jünglingsstatuen aus einer Galerie auf die Besucher herab.

Mr Holcombe fuhr mit seinen Erklärungen fort. Bis auf jede Menge Staub und Spinnweben, die sich im Laufe der Jahrzehnte angesammelt hatten, war dieser Raum für sein Alter in einem erstaunlich guten Zustand. Die Eingangshalle besaß einen ehrfurchtgebietenden, weihevollen Charakter, als gehörte sie zu einer Kathedrale, und doch empfand Emily die Atmosphäre darin als beklemmend. Der prächtige weiße Marmor, die Statuen – alles strahlte Kälte aus und wirkte tot. Plötzlich wurde Emily klar, woran sie das gesamte Gebäude erinnerte: an eine Grabkammer.

»Vielen Dank, Mr Holcombe«, sagte Susan schließlich und wandte sich an die Mitarbeiter. »Wir werden nun damit beginnen, das Aufmaß zu nehmen. Emily, Sie fangen im Westflügel an.«

Emily wandte sich nach rechts und verließ die Eingangshalle. Sie kam an einer Treppe vorbei, die in den ersten Stock führte, lief weiter geradeaus und betrat einen quadratischen Raum. Ihre Schritte auf dem Steinboden hallten von den Wänden wider. Nun, da sie allein war, spürte sie wieder die unerklärliche Verbundenheit zu dem Gebäude. Das Haus war ihr völlig fremd, und doch empfand sie es als vertraut – als wäre sie vor langer Zeit schon einmal hier gewesen und könnte sich nur nicht mehr bewusst daran erinnern.

Sie verdrängte diese Gedanken und besann sich auf ihre Aufgabe. Aus ihrer Handtasche holte sie die Kopie des alten Grundrisses, um sich zu orientieren. Hier war einst das Esszimmer gewesen. Verblasste Tapeten hingen in Fetzen von den Wänden. Teile des Stucks waren von der Decke gebrochen. Bei dem Anblick schnalzte sie bedauernd mit der Zunge.

Sie ging von Zimmer zu Zimmer, nahm mit dem Lasermessgerät alle Maße, machte Fotos und Notizen und bewunderte prächtige Kamine, kunstvolle Wandvertäfelungen und Deckengemälde. In dem Raum, der unverkennbar die Bibliothek gewesen sein musste, suchte sie in den leeren Regalen vergeblich nach alten Büchern.

Schließlich stieg sie hinauf in den ersten Stock. Ein langer Korridor erstreckte sich nach beiden Seiten und verband den Ost- mit dem Westflügel. Sie hielt inne, als etwas dort ihre Aufmerksamkeit erregte: Auf einem Beistelltisch stand eine Vase mit frischen roten Rosen.

Emily ließ den Plan sinken, näherte sich dem Tisch und roch vorsichtig an den Blumen. Der zartsüße Duft verriet ihr, dass sie echt waren. Ihr fiel die besondere Schönheit der Blüten auf. Die Farbe war auch im trüben Licht von ungewöhnlicher Strahlkraft, und sie wirkten, als leuchteten sie von innen heraus. Ob jemand von den Gärtnern kurz vorher im Haus gewesen war und die Rosen hier platziert hatte?

Ihre Überlegungen wurden jäh unterbrochen, denn plötzlich erklangen links von ihr Schritte. Ein Knarren ertönte, als ob jemand eine Tür öffnete.

Sie sah sich um. Einer ihrer Kollegen musste in der Nähe sein und war vermutlich gerade dabei, den Ostflügel zu vermessen. »Susan?«, fragte sie in den leeren Gang hinein.

Ihr Blick fiel auf die halboffene Zimmertür am Ende des Korridors. Hatte sie schon die ganze Zeit offen gestanden? Emily hätte schwören können, dass sie eben noch geschlossen gewesen war. Vermutlich ein Luftzug, dachte sie. In einem so alten und verfallenen Gebäude war es kein Wunder, dass der Wind durch die zahllosen Ritzen und zerbrochenen Fensterscheiben drang. Das Knarren und Ächzen war charakteristisch für das Holz der Türen und Wandvertäfelungen.

Doch selbst ihre Ausbildung und ihr Fachwissen änderten nichts daran, dass sie für die besondere Atmosphäre alter Gebäude zutiefst empfänglich war. Sie liebte alte Häuser und konnte nicht anders, als die verfallene Pracht ringsum zu bestaunen. Unwillkürlich fragte sie sich, wie viele Lords, Ladys und Bedienstete wohl vor ihr an diesem Fleck gestanden hatten – Menschen, die gelebt und gelitten hatten und zu Staub zerfallen waren, lange vor ihrer Geburt. Das Haus mochte seit Jahrzehnten verlassen sein, doch das Echo vergangener Tage hallte unterschwellig in ihm wider. Man musste nur aufmerksam hinhören.

Sie ging in den Ostflügel, stieß die halboffene Zimmertür vorsichtig auf und blieb auf der Schwelle stehen. Ungläubig ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen. Ein Himmelbett aus dunklem Holz dominierte den Raum. Ölporträts feiner Herrschaften starrten von den Wänden, die mit edler roter Tapete überzogen waren. Orientalische Teppiche zierten den Boden. Auf der anderen Seite des Raums stand ein geschwungener Diwan mit floralem Bezug.

Fassungslos trat Emily ein. Nicht nur, dass die Einrichtung vollständig und der Zustand des Zimmers einwandfrei war, es fand sich auch kein einziges Staubkorn, nicht eine Spinnwebe darin. Sie trat an den Kamin und strich mit der Fingerspitze über das steinerne Sims. Es war so sauber, als wäre es gerade erst abgestaubt worden.

Nachdenklich rieb sie Daumen und Zeigefinger aneinander. Sie fragte sich, wer hinter der Einrichtung dieses Raums steckte. Wer auch immer es war, hatte weder Kosten noch Mühen gescheut. Ob Mr Holcombe oder die Leute vom Hof nebenan irgendetwas darüber wussten? Immerhin musste derjenige einen Schlüssel zum Gebäude besitzen, und zweifellos kam er regelmäßig her, um das Zimmer zu pflegen.

Sie sah sich um, und ihr fiel auf, dass das Rot der Tapete und das Muster des Teppichs zu leuchten schienen. Wie schon bei den Rosen im Korridor ging von allem eine ungewöhnliche Strahlkraft, ein Pulsieren aus. Sie näherte sich einem Bettpfosten und strich über das polierte Holz. Plötzlich gab das Material nach, und ihre Fingerspitzen versanken darin.

Erschrocken wich sie zurück und bemerkte, dass die dunkle Farbe des Holzes vor ihren Augen verschwamm. Die Stelle, die sie berührt hatte, war transparent geworden.

Emily blinzelte und sah erneut hin, weil sie es nicht glauben konnte. Nun erkannte sie, dass sämtliche Gegenstände ringsum durchscheinend waren. Das Bett, die Porträts an der Wand, der Diwan – alles wirkte wie aus Glas.

Sie erschauderte und versuchte, ihre aufsteigende Furcht niederzukämpfen. Eine Ahnung beschlich sie: Was hier geschah, war sicher wieder eine Folge ihres speziellen Problems. Wie oft hatte sie schon unerklärliche Dinge gesehen oder Blackouts gehabt? Früh hatte sie gelernt, ihrer eigenen Wahrnehmung zu misstrauen. Zugegeben, eine so detaillierte Sinnestäuschung wie diese war etwas Neues, aber sie sagte sich, dass es nur Trugbilder waren, gleichgültig, wie real alles anmutete. Sie beschloss, den Raum zu verlassen und nach Susan und den anderen zu suchen.

In diesem Moment verfinsterte sich das Zimmer. Emily trat ans Fenster, und ihr stockte der Atem. Draußen war es Nacht geworden, und der Vollmond stand an einem klaren Sternenhimmel.

Sie kniff die Augen zu. »Es ist nicht real«, flüsterte sie, konnte jedoch nicht anders, als auf ihre Armbanduhr zu blicken. Die Zeiger waren um kurz nach zehn stehengeblieben.

Wieder sah sie hinaus. Der Mond tauchte die Gärten in silbriges Licht, und dort unten, befreit von Laub und Schmutz, plätscherte der Springbrunnen.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass an der Wand zu ihrer Linken ein Spiegel mit einem prächtig verzierten Goldrahmen hing, und darin erblickte sie –

Sie stieß einen Schrei aus und taumelte mehrere Schritte rückwärts. Aus dem Spiegel starrte sie eine fremde Frau an.

Emily wollte weglaufen, doch Angst lähmte sie. Ungläubig musterte sie die Fremde. Sie trug ein champagnerfarbenes Kleid aus seidigem Stoff, das reich mit silbernen und schwarzen Perlen bestickt war. Ihr Haar war goldblond, die Haut wie Porzellan.

Emily spürte eine sanfte Berührung an der Wange. Im gleichen Moment nahm sie hinter sich leise, schwere Atemzüge wahr. Ein Klicken ertönte.

Jemand stand hinter ihr. Sämtliche Muskeln ihres Körpers versteiften sich. Sie fühlte, wie kalte Furcht in ihr aufwallte.

Ein ohrenbetäubender Knall ertönte, und etwas traf sie am Hinterkopf. Ihr wurde schwarz vor Augen. Sämtliche Kraft wich aus ihren Beinen, und sie brach zusammen.

Für ein paar Atemzüge blieb sie reglos am Boden liegen. Was war gerade geschehen? Langsam kehrten ihre Kräfte zurück, sie erhob sich und wandte sich um. Die Tür stand noch immer offen, doch es war niemand zu sehen.

Stöhnend griff sie sich an den Hinterkopf, spürte warme Nässe und betrachtete fassungslos ihre Fingerspitzen, an denen Blut klebte.

Trugbild oder nicht, die Panik ergriff nun vollständig von ihr Besitz. Sie stürmte aus dem Zimmer, den Korridor entlang und in Richtung der Treppe, die nach unten führte.

Nach wenigen Schritten hielt sie verwirrt inne. Der Korridor hatte sich verändert. Spiegel und Ölgemälde zierten die Wände. Nirgends mehr eine Spur von Verfall oder Schmutz.

Sie riss sich von dem Anblick los und lief die Treppe hinunter.

»Susan!«, schrie sie. »Andrew! Lisa! Wo seid ihr?«

Niemand antwortete. Sie durchquerte die Eingangshalle. Die Marmorstatuen der beiden Jünglinge starrten gleichgültig auf sie herab. Sie stieß die Tür auf, und draußen wehte ihr kühle Nachtluft entgegen. Ihr Wagen und die der anderen waren verschwunden. Sie verfehlte die letzte Treppenstufe und stürzte der Länge nach hin.

In diesem Augenblick spürte sie eine Hand an ihrer Schulter. Ein Gefühl durchdringender Wärme ging von der Berührung aus.

»Hab keine Angst, Emily«, hörte sie eine sanfte Stimme dicht an ihrem Ohr. »Folge nicht den Toten. Komm zurück.«

Ringsum wurde es hell. Sie blinzelte und entdeckte ein vertrautes Gesicht über sich.

»Aidan?«

»Ganz ruhig«, antwortete er. »Es ist vorbei.«

Sie konnte sich sein plötzliches Auftauchen nicht erklären, doch bevor sie etwas sagen konnte, wurden ihre Lider schwer. Sie ließ den Kopf zurücksinken. Für ein paar Sekunden fielen ihr die Augen zu.

Als sie sie wieder öffnete, beugten sich zwei Sanitäter über sie. Sie fragte sich, wohin Aidan verschwunden war. War er eben wirklich an ihrer Seite gewesen, oder hatte sie es sich bloß eingebildet? Sie verstand nicht, weshalb, doch seine Nähe und der Klang seiner Stimme hatten sie augenblicklich beruhigt.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte einer der Sanitäter, ein junger Mann mit blonder Stoppelfrisur und Pickeln am Kinn.

Emily realisierte, dass sie auf einer Trage lag. Es war mitten am Tag, sie befand sich in der Auffahrt von Eelbrook Manor, und neben ihr stand ein Krankenwagen. Ein paar Schritte entfernt erblickte sie Susan und ihre Kollegen, die ihr besorgte Blicke zuwarfen.

»Mir ist schwindlig«, antwortete sie. »Ich glaube, ich bin am Kopf verletzt worden.«

Der Sanitäter untersuchte sie. »Ich kann keine Verletzung erkennen.«

»Aber es hat geblutet!«, beharrte Emily und befühlte die Stelle am Hinterkopf. Tatsächlich, keine Spur von Blut.

»Beruhigen Sie sich«, sagte er. »Wir bringen Sie ins Krankenhaus nach Sudbury.«

Bevor Emily protestieren konnte, schoben die Sanitäter sie mitsamt der Liege in den Krankenwagen.

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Kapitel 3

Am späten Nachmittag stieg Emily vor dem Krankenhaus in ein Taxi und teilte dem Fahrer ihr Ziel mit. Als es losfuhr, ließ sie sich erschöpft gegen die Lehne des Rücksitzes sinken und schloss die Augen.

Noch immer hatte sie den Geruch von Desinfektionsmitteln in der Nase. Sie hatte Stunden damit verbracht, in den Krankenhausgängen herumzusitzen und die in einem fahlen Grün gestrichenen Wände anzustarren. Die Schwestern hatten ihr mehrmals Blut abgenommen. Den Fragen der Ärzte war sie ausgewichen, so gut es ging. Keinesfalls wollte sie etwas von der Frau im Spiegel oder den anderen Vorkommnissen im Haus erwähnen. Das Letzte, worauf sie momentan Lust hatte, war ein MRT-Scan ihres Gehirns. Wie viel Zeit hatte sie seit ihrer Jugend damit verbracht, sich von zahllosen Ärzten untersuchen zu lassen? Kein einziger hatte je etwas finden können. Nein, einen erneuten Untersuchungsmarathon wollte sie sich ersparen.

Endlich war ein Arzt erschienen und hatte ihr mitgeteilt, dass all ihre Werte normal seien. Ihr Zusammenbruch in Eelbrook Manor sei wohl auf zu viel Stress zurückzuführen.

»Benötigen Sie eine Krankschreibung?«, fragte er.

Nein, lag es ihr auf der Zunge. Sie konnte unmöglich zu Beginn ihres neuen Jobs krank werden. Doch dann ging ihr durch den Kopf, was sie in Eelbrook Manor erlebt hatte, und sie wusste, sie konnte nicht so tun, als wäre nichts gewesen. Es war bei Weitem nicht ihr erster Anfall, doch dieser übertraf alles bisher Dagewesene. All die Gegenstände im Zimmer, die Geräusche und zahllosen Sinneseindrücke hatten sich ihr unauslöschlich eingebrannt.

»Ja, bitte«, antwortete sie schließlich, bedankte sich, als der Arzt ihr den Zettel reichte, und ging.

Am Telefon klang Susan besorgt – es war noch nicht oft vorgekommen, dass einer ihrer Angestellten bei einer Ortsbegehung zusammengebrochen war und von Sanitätern abgeholt werden musste. Sie zeigte sich wenig begeistert über Emilys Krankschreibung, da es die Arbeit an dem Projekt in Verzug brachte. Schließlich einigten sie sich darauf, dass Emily von zu Hause aus anfangen würde, einen überarbeiteten Grundriss zu erstellen. Die anderen sollten ihr die restlichen Daten zumailen, und Emily hoffte, dass es ihr spätestens in ein paar Tagen gelingen würde, wieder zum Alltag überzugehen.

Vor ihrer Wohnung angekommen bezahlte sie den Taxifahrer mit ihrem letzten Bargeld, beeilte sich, in ihr Apartment zu kommen, und schloss drinnen hinter sich ab. Rasch streifte sie ihre Schuhe ab, warf Schal und Mantel zu Boden und sank auf die Wohnzimmercouch.

Rastlos starrte sie an die gegenüberliegende Wand, umschlang ihre Knie und wippte leicht vor und zurück. Was, wenn es nicht bei diesem einen Anfall blieb? Wenn sie es nicht über sich brachte, das Haus noch einmal zu betreten? Vielleicht konnten die Aufgaben anders verteilt werden, sodass Emily nicht mehr vor Ort anwesend sein musste. In den nächsten Tagen würde sie noch einmal in Ruhe mit Susan darüber sprechen. Allerdings hatte sie keinen blassen Schimmer, wie sie ihrer Chefin diesen Vorschlag unterbreiten sollte, ohne für unzurechnungsfähig gehalten zu werden. Als neue Mitarbeiterin, die noch nicht einmal einen kompletten Arbeitstag absolviert hatte, besaß sie kein Recht darauf, eine Sonderbehandlung einzufordern.

Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Besuch von ihrer geschwätzigen Vermieterin war wirklich das Letzte, was sie im Moment gebrauchen konnte. Sie erhob sich und blickte durch den Spion.

Aidan stand vor der Tür. Sein Kommen freute sie mehr, als sie erwartet hätte. Sie warf einen kurzen Blick in den Spiegel und realisierte, wie fertig sie aussah. Hastig wischte sie die Spuren der verlaufenen Wimperntusche fort und fuhr sich mit den Fingern durch das lange braune Haar. Dann atmete sie tief durch, straffte sich und öffnete die Tür.

»Hallo«, sagte sie leise.

»Ich hab gesehen, dass du wieder zu Hause bist«, erwiderte er. »Wollte mich erkundigen, ob alles in Ordnung ist.«

»Ja, natürlich«, begann sie und holte aus, um eine Floskel abspulen, wie sie es gewohnheitsmäßig tat. Stattdessen hielt sie inne, sah Aidan in die Augen und erinnerte sich an den sanften, aber bestimmten Klang seiner Stimme. Was er vor Eelbrook Manor zu ihr gesagt hatte, wusste sie nicht mehr, aber er war es gewesen, der sie vorhin mit seinen Worten und seiner Berührung in die Realität zurückgeholt hatte. In einer verletzlichen, fast schon intimen Lage war er aufgetaucht und hatte ihr geholfen. Sie hatte das Gefühl, als ob seitdem etwas zwischen ihnen in der Luft lag, etwas, das sie weder greifen noch benennen konnte.

»Nein«, gestand sie. »Nichts ist in Ordnung. Ich war stundenlang im Krankenhaus, aber man hat nichts gefunden.«

»Hm«, machte Aidan, hob die Hand und strich sich die struppigen blonden Strähnen aus der Stirn. Sie hatte den Eindruck, dass ihm etwas durch den Kopf ging und er innerlich mit sich rang, ob er es aussprechen sollte oder nicht. »Also, wenn du was brauchst oder ich dir irgendwie helfen kann – sag Bescheid.«

Enttäuscht sah sie, dass er sich zum Gehen wandte. »Warte!«, sagte sie schnell. »Was hast du vorhin zu mir gesagt?«

Er blieb stehen und warf ihr über die Schulter einen Blick zu. »Was meinst du?«

»Du weißt schon. Vorhin.« Die Erinnerung an das Erlebnis erfüllte sie noch immer mit Furcht und Beschämung.

Er sah sie einen Moment lang an, und wieder hatte sie das Gefühl, dass es in ihm arbeitete. Schließlich zuckte er die Achseln. »Weiß nicht mehr genau.«

Sie spürte, dass er log. Aber so leicht würde sie sich nicht abspeisen lassen. »Komm doch rein«, bat sie ihn.

»Oh nein«, murmelte er. »Ich will nicht stören.«

»Tust du nicht. Ich würde mich freuen, wenn du mir Gesellschaft leistest. Schließlich sind wir jetzt Nachbarn. Ich würde dich gerne besser kennenlernen.«

Zögerlich folgte er ihrer Einladung und ließ drinnen seinen Blick über die Küchenzeile und durch das Wohnzimmer schweifen.

»Setz dich«, bat sie und deutete auf einen Stuhl. »Kann ich dir einen Kaffee anbieten?«

»Gerne«, erwiderte er und ließ sich nieder.

Es war das erste Mal, dass sie ihn nicht in irgendeinem Arbeitsoutfit, sondern in normaler Kleidung sah. Er trug einen dunkelgrauen Strickpulli, Sneaker und Jeans. Sie bemerkte den dezenten Duft, den er verströmte, irgendein gut riechendes Deo oder Aftershave. Sein Haar wirkte feucht. Offenbar war er gerade von der Arbeit gekommen und hatte eben noch geduscht.

Sie servierte den Kaffee, setzte sich ihm gegenüber und wärmte ihre Hände an der heißen Tasse. »Mir war nicht klar, dass es auf Eelbrook Manor einen Biohof gibt, für den du arbeitest.«

Er lächelte. »Und ich wusste nicht, dass du für die Leute von dieser Hotelkette tätig bist, die das Anwesen gekauft haben.«

»Bin ich nicht. Ich arbeite für ein Architekturbüro, das von der Hotelkette beauftragt wurde. Tut mir leid, dass wir vorhin einfach so bei euch reinmarschiert sind.«

Er winkte ab. »Du und deine Kollegen, ihr macht nur euren Job. Die Gemeinde ist an allem schuld. Jahrzehntelang hat sie das Anwesen leerstehen und verkommen lassen. Unsere Leute waren es, die den ummauerten Garten aus eigenen Mitteln restauriert haben. Und nun hat man uns den Pachtvertrag gekündigt und das Grundstück an diesen Investor verkauft. Es ist eine Schande, nach all der Arbeit, die wir in den Hof gesteckt haben. Besonders für Mary tut es mir leid. Der Biohof ist ihr Baby.«

Emily überlegte, wen er meinte, und die dunkelhäutige junge Frau mit den Dreadlocks fiel ihr wieder ein.

»Vor Jahren hat Mary der Gemeinde ein Konzept zur Restaurierung von Eelbrook Manor vorgelegt«, fuhr er fort. »Das Haus sollte in ein Kulturzentrum umgewandelt werden. Ein Teil sollte aus öffentlichen Geldern, der andere durch Spenden finanziert werden.«

»Aber es wurde nicht bewilligt?«

Er schüttelte den Kopf. »Sie wollen die Gegend aufwerten, behaupten sie. So ein Golfresort lockt natürlich Geld an. Ich schätze, wir sind in den Augen der Gemeinde nur ein paar idealistische Öko-Spinner.« Er lächelte. »Na ja. Vielleicht sind wir das wirklich.«

Emily nippte nachdenklich an ihrem Kaffee. »Danke übrigens.«

»Wofür?«

»Dass du vorhin da warst.« Sie dachte an den Moment, als sie aus dem Haus gestürmt und auf dem Vorplatz zusammengebrochen war.

Er sah sie lange an. »Was hast du gesehen?«

Sie senkte den Blick und schwieg.

»Du bist vor etwas weggelaufen. Etwas, das du im Haus gesehen hast.«