Sei froh, dass du nicht Joghurt heißt - Nils Heinrich - E-Book

Sei froh, dass du nicht Joghurt heißt E-Book

Nils Heinrich

4,5

Beschreibung

Ein heimlicher Rabenvater packt aus. Eine Frau, ein Mann. Und plötzlich ein Kind. Na und? Haben andere auch schon hingekriegt. Aber die haben sich nie getraut zuzugeben, wie doof das eigentlich sein kann. Der Kabarettist Nils Heinrich nennt das Kind beim Namen. Böse Geschichten und amüsante Stoßseufzer eines leidgeprüften Vaters. Ja, es gibt diese Momente, sagt Nils Heinrich, in denen man sich insgeheim wünscht, ein Rabenvater zu sein: diese langen Momente zwischen den wenigen schönen, in denen man versucht, den Elterngeldantrag zu verstehen. Oder in denen man verschreckt Nachrichten guckt und sich fragt, wer in eine solche Welt Kinder setzt. Und einem einfällt: "Ach, ich!" Und in denen einem schlagartig bewusst wird, dass das bisherige Leben definitiv vorbei ist. Und erst in circa fünfunddreißig Jahren weitergeht - wenn das Kind endgültig aus dem Haus ist.

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Nils Heinrich

SEI FROH, DASS DU NICHTJOGHURT HEISST

VOM KOMISCHEN KAUZ ZUM RABENVATER

EINE FRAU, EIN MANN. UND PLÖTZLICH EIN KIND. NA UND? HABEN ANDERE AUCH SCHON HINGEKRIEGT. ABER DIE HABEN SICH NIE GETRAUT ZUZUGEBEN, WIE DOOF DAS EIGENTLICH SEIN KANN.

NILS HEINRICH NENNT DAS KIND BEIM NAMEN: BÖSE GESCHICHTEN UND AMÜSANTE STOSSSEUFZER EINES LEIDGEPRÜFTEN VATERS.

»Heinrich badet nicht im zuckersüßen Dutzi-dutzi, sondern serviert die ungeschminkte Wahrheit über das Leben mit so einem Weltveränderer. Das haben schon viele vor ihm erlebt, nur so schön erzählt wie Nils Heinrich hat’s halt noch keiner.« (Thomas Becker, Süddeutsche Zeitung)

»Die angeknackste Psyche junger Eltern, Zukunftsängste, Projektionen, Mütter und Väter – alles nicht neu, doch in Heinrichs Interpretation taufrisch.«

(Rudolf Ogermann, Münchner Merkur)

NILS HEINRICH (Jahrgang 1971) heißt mit bürgerlichem Namen Nils Heinrich. Er arbeitete schon als Hochzeits-DJ, Filmtourführer und Radiojournalist. Ausgebildet wurde Nils Heinrich noch in der DDR – zum Konditor.

In Berlin gründete er 2003 die Lesebühne »Brauseboys« mit, seit 2005 ist er Solokabarettist und regelmäßiger Gast in allen namhaften Kabarettsendungen im Fernsehen. Auf WDR 2 hat er eine wöchentliche Radiokolumne. Aktuell ist er mit seinem Kabarettprogramm »Mach doch’n Foto davon!« auf Tournee.

Sein erstes Buch erschien 2005 bei Satyr, seitdem zahlreiche CD- und Buchveröffentlichungen.

Nils Heinrich lebt mit seiner Familie in Berlin.

E-Book-Ausgabe Juni 2016

© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2016www.satyr-verlag.de

Cover: Sarah BosettiAutorenfoto Innenklappe: Stephan Maria Rother

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

eISBN: 978-3-944035-72-7

INHALT

Unsere große wilde Feier

Darmverschluss

Vorbereitungen

Komm raus!

Du hast jetzt eine Mutter

Das Kind hört nicht

Bitte kommen Sie auf unser Fest

Kuchen und Wespen

Elterngeldantrag

Dein neues Kind

Das Kind hasst Babypuppen

Infantilistan

Wie alt isser denn?

Keine Brille, bitte

Im Kriechgang

Nachhaltig

Der Pullermann

Keine Schuhe, bitte!

Was essen

Doppelt hält besser

Das Kind erzählt Quatsch

Tanzen!

Der Code

Das Kind will nicht schlafen

Legoland

Das Kind lügt

Das Kind will zum Fasching

Das Kind ist weg

Kinderturnen

Das Kind hat Dinge aufgeschnappt

Das Kind will alle umfahren

Der Papa muss draußen bleiben

Ein Blockwart in den eigenen vier Wänden

Das Kind macht uns nach

Krank

Das Quiz

Er ist wieder da

Einkaufen mit Kind

Dem Kind soll nichts passieren

Frommer Wunsch

Generation Filterkaffee

Dieses Buch ist meiner Frauund meinem Sohn gewidmet.

Der Verfasser(nach Diktat mit unbekanntemZiel verreist)

UNSERE GROSSE WILDE FEIER

Mein guter Freund Heiko und ich feiern zusammen Geburtstag. In seiner Wohnung. Im Rahmen einer großen Party. Wie immer seit circa zehn Jahren. Wir sind beide am selben Tag geboren, liegen aber ein Jahr auseinander. An unsere früheren Partys habe zumindest ich so gut wie keine Erinnerung mehr – und wenn, dann nur an die nüchternen Abschnitte ganz am Anfang. Und an die dreitägigen Kopfschmerzen danach. Beide haben wir das Kap der 40 Jahre umrundet und segeln von dort in unbestimmte Richtung weiter. Heute feiern wir zusammen unseren 83. Geburtstag. Doch das interessiert eigentlich keinen. Prinzipiell sind die Leute einfach nur froh, dass wir überhaupt noch leben und sie jedes Jahr einmal auf unsere Feier einladen. Das Interesse auf so einer Fete gilt erfahrungsgemäß nicht so sehr dem Veranstalter, sondern im vollen Umfang den Freigetränken. Also dem Bier. Und allen Frauen, die ohne Freund da sind. Oder ohne Freundin. Und allen Männern, die ohne Freundin da sind. Und allen Männern, die ohne Freund da sind. Wie auch immer man drauf ist. Von Anfang an gilt: Das Büffet der Flachlegmöglichkeiten ist eröffnet. Ich habe meine Jacke an einer Stelle in dieser riesigen Wohnung deponiert, wo ich sie später, das weiß ich jetzt schon, unter Garantie nicht suchen werde, und will in die Küche gehen, als mich Heikos Freundin im Flur stoppt: »Toll, dass ihr wieder zusammen Geburtstag feiert. Hattest du schon oder hast du noch?«

»Ich habe heute. Seit 41 Jahren am selben Tag wie Heiko.«

» Na, das ist ja ein irrer Zufall. Lass dich drücken.«

Komisch. Letztes Jahr wusste sie noch, dass wir beide am selben Tag auf die Welt kamen. Nur war sie im letzten Jahr noch nicht schwanger. Es ist also kein Gerücht, dass werdende Mütter ihr Gedächtnis verlieren. Alles, was sie mal wussten, ist weg. Einfach so. Schwangerschaftsdemenz gibt es wirklich. Tragisch. Dabei ist sie noch so jung.

»Sag mal«, fragt sie, »sind deine Augenbrauen länger geworden?«

Ich versuche, meine Augenbrauen anzugucken, und drehe meine Augäpfel hoch. Dabei wird mir schwarz vor Augen. Sind es meine langen Augenbrauen, die mir die Sicht verdunkeln? Oder habe ich die Augäpfel so weit verdreht, dass meine Augen gerade krampfhaft versuchen, in mein Gehirn zu gucken? Und wie sie sehen, sehen sie nichts. Offenbar sind große Teile davon schon abgestorben. Dabei bin ich noch total nüchtern. Oder habe ich mir meine Augen soeben ausgerenkt? Kann man sich Augen überhaupt ausrenken? Eine durchaus berechtigte Frage, auf die nur eine Mutter eine Antwort hat. Wäre meine Mutter jetzt hier und wäre ich noch ein kleiner Junge im Alter von vier Jahren, würde Mutter mich sicher ermahnen: »Lass das, du renkst dir sonst die Augen aus!«

Nur dank ihrer Warnungen war mir als Kind bewusst, in welcher Tür ich mir die Finger effektiv einklemme, wie ich mich möglichst schmerzhaft am Küchenherd verbrenne und von welchem Kirschbaum im Garten ich am besten runterfalle.

Heikos Freundin unterbricht meine Gedanken: »Es gibt Friseure, die auf Augenbrauen alter Männer spezialisiert sind. Die frisieren ganz diskret.«

Dann lässt sie mich allein mit ihrem Tipp und verdrückt sich ins Wohnzimmer.

Darauf erst mal ein Mezzo-Mix. Für ein Bier ist es jetzt, um kurz vor 17 Uhr und im Alter von 41, noch zu früh.

»Prost Heiko, alter Sack! Wie viele Kästen Bier hast’n gekauft?«

»Zehn, vierzehn, keine Ahnung. Und vier Kästen Alkoholfrei.«

Der Kühlschrank, die Badewanne, das Kinderzimmer – alles voller Bier.

»Kommen heute überhaupt so viele?«, sinniert Heiko.

»Na, so viele wie letztes Jahr werden das doch sicher. Also mindestens. Oder?«

»Wie viele hast du so eingeladen?«

»Dreißig, glaube ich. Und du?«

»Äh, fünfundzwanzig bis fünfundvierzig etwa. Also alle aus meinem E-Mail-Verteiler, denke ich«, murmelt Heiko.

So weit ist es also schon. Die Schwangerschaftsdemenz seiner Freundin ist auf ihn übergesprungen. Ansteckend ist dieser Gedächtnisrückbau also auch noch. Schrecklich!

Einige Partygäste sind schon da. Also ganz junge Leute. Enorm junge Leute. Die bei unserer ersten, zweiten und dritten Party noch gar nicht geboren waren. Die jetzt aber Jahr für Jahr größer werden. Und lauter. Sie verbuddeln draußen im Sandkasten Plastikspielzeug. Dann graben sie es wieder aus. Dann bolzen sie sich gegenseitig Bälle an den Kopf. Dann weinen sie. Dann hören sie wieder auf zu weinen, sitzen im Gras und bohren mit ihren kleinen Fingern in sich rum. Und stecken sich Sachen in den Mund, die sie aus anderen Öffnungen im eigenen Kopf rausgeholt haben.

Seit etwa zwei Minuten ist die Stimmung am Kochen. Grund dafür ist eine riesige Schüssel Kartoffelchips, die der hinterlistige Heiko scheinbar arglos in Reichweite der Kinder platzierte.

»Hab ich bei Edeka entdeckt: Crunchips Cheeseburger. Die schmecken nach Cheeseburgern!«

»Nach den Cheeseburgern von McDonald’s oder den Cheeseburgern von Burger King?«

»Was weiß ich? Ich bin froh, dass sie nicht nach Burger-King-Scheuerlappen schmecken. Was hast du eigentlich zum Geburtstag geschenkt gekriegt?«

»Eine Steven-Seagal-DVD-Box.«

»Oh. Das tut mir leid.«

Wir beobachten die Kinder. Sie stürzen sich auf die Chips wie ausgehungerte Inselkrebse auf einen abgestürzten Zugvogel mit gebrochenem Flügel.

Mit irrem Blick bellt mich von unten ein offensichtlich verhaltensgestörter Träger eines Topfschnittes an: »Chips sind alle!« Aus dem weit aufgerissenen Mund des Jungen riecht es gegen den Wind nach Trockenpaprika und Natriumglutamat. Sein Gesicht glänzt fettig, seine Haare sind gespickt mit Chipskrümeln. Auch sind seine Pupillen deutlich vergrößert, was aber nicht am politisch korrekten Licht der Energiesparlampen hier in Heikos Hinterhofwohnung liegt. Was will dieses schreckliche Kind von mir?

»Chips! Mehr Chips! Und Schaumküsse!«

Sein überforderter Vater rennt hinter ihm her: »Marvin, wir haben das doch zu Hause geübt! Das geht im ganzen Satz!«

Der Junge: »Die Chips, die Chips, die sind alle. Gibt es mehr? Und hast du auch Schaumküsse für uns? Das ist doch eine Party, da kriegt man doch was als Gast! Also gib mir was!«

Ich bin entzückt: Ein junger Mensch duzt mich. Das hatte ich lange nicht mehr!

»Hättet ihr keine Alnatura-Cracker oder so was hinstellen können?«, knurrt der Vater.

Der Mann folgt uns in die Küche: »Sagt mal, habt ihr alkoholfreies Bier?«

»Ja, hier.« Heiko reicht ihm eine Flasche.

Der Mann guckt weiterhin verkniffen und verlässt mit seinem Jever Fun die Küche.

»Kennst du den?«, frage ich Heiko.

»Und ob ich den kenne. Aus dem Internet kenne ich den. Von LinkedIn. Also: der Typ arbeitet bei einer Werbeagentur, den Namen habe ich vergessen. Einer dieser Läden, wo sie sich diese Branding-Kampagnen ausdenken für diesen überflüssigen, hochpreisigen Dreck namens Fruchttiger und Paula-Pudding und Ferdi-Fuchs-Kinderwurst. Leider muss ich das Zeug meinem Erstgeborenen immer kaufen, weil er mich mit seinem Geheule bei Edeka regelmäßig lächerlich macht. Den Ärger hab ich demnächst doppelt, haste ja an meiner Freundin gesehen. Hab ich den Typen halt mal eingeladen. Nenn mich blauäugig, aber ich hab mir gedacht: Vielleicht kann ich diese Kommunikationsdesignmarionette subtil terrorisieren. Vielleicht kann ich diesen Menschen, und sei es auch nur für einen Abend, brechen. So wie mich mein kurzer Nachfahre bei jedem Einkauf bricht. Mach kaputt, was dich kaputt macht! Verursacherprinzip, haha!«, knurrt Heiko.

Seit Heiko seiner zweiten Vaterschaft entgegensieht, wachsen ihm graue Haare. Ein anderer Bekannter von mir wird gerade zum dritten Mal Vater. Er hat keine grauen Haare. Seine Haare haben gesagt: »Entweder die Kinder oder wir!« Seitdem trägt er eine Glatze. Steht ihm auch besser als Grau. Er ist ja noch nicht mal dreißig.

Heiko guckt auf sein Bier: »Mir hat sich übrigens noch nicht erschlossen, wieso das alkoholfreie Jever ›Fun‹ heißt, obwohl man damit gar keinen Spaß hat. Beck’s ›Blue‹ ergibt da wesentlich mehr Sinn – alkoholfreies Bier macht dich nämlich weder lustig noch aggro, sondern einfach nur niedergeschlagen. Und definitiv nicht blau!«

Es klingelt. Neue Gäste kommen. Sie kommen nicht mit leeren Händen: »Wir wussten nicht, ob ihr alkoholfreies Bier habt. Darum haben wir uns welches mitgebracht. Hier, das von Beck’s, das heißt ›Blue‹, lustig, ein Bier zum Traurigsein. Ein Blues-Bier, haha. Wir würden ja gern richtiges Bier trinken, aber wir dürfen noch nicht wieder loslegen, die Kinder sollen nicht sehen, wie wir hier besoffen rumproleten. Die posten das sofort bei Instagram, da hast du verloren, wenn du beim nächsten Elternabend gegen den Weingummiverkauf in der Schulkantine protestieren willst.«

Sie gehen schnurstracks ins Wohnzimmer. Da sitzen schon die anderen Eltern. Die haben ordentlich zu tun, reden sie doch pausenlos auf ein sehr junges Pärchen ein, das gerade schwanger ist. Ängstlich sitzen die designierten Jungeltern auf dem großen Sofa und rücken immer mehr zusammen, während sie von der näher kommenden Meute mit Tipps versorgt werden. Es geht um Geburt, Stillen, wundgenuckelte Brustwarzen, Kinderwagen und Kindersitze. Willkommen in einer Welt aus Eierstöcken und Zysten.

»Baby Björn ist scheiße! Da sitzt euer Kleiner ziemlich unnatürlich gespreizt mit seinem vollen Gewicht auf dem Hodensack. Das rächt sich später. Ich sag nur: Rollatorspermien. Eh die da angekommen sind, wo sie was befruchten können, ist die Frau schon in der Menopause. Das Fertilitycenter ist da vorprogrammiert!«

»Prinzipiell geht ja nix über Maxi-Cosi!«

»Was ist das?«

»Ein Kindersitz fürs Auto. Mit Kind braucht ihr uuuuunbedingt ein Auto!«

»Wir wohnen in Berlin, wir brauchen kein Auto!«

»Wir wohnen auch in Berlin!«

»Ihr wohnt in Pankow!«

»Na ja, auf jeden Fall könnt ihr euch schön von eurem Sozialleben verabschieden. Und von einer sauberen Wohnung. Und von sauberen Klamotten eh. Und von Zeit für euch. Und vom Durchschlafen. Aber trotzdem isses irgendwie schön.«

Heiko hält sich an seinem Wasser fest. Ich mich an meinem Mezzo-Mix.

»Hast du das ganze Bier wenigstens auf Kommission gekauft?«, frage ich ihn.

Er schüttelt den Kopf. Seine Augen starren ins Leere. So wie meine vorhin.

»Die Hundertvierzig Flaschen kriegen wir heute nie alle! Womöglich spende ich sie der Tafel. Oder wir bringen sie morgen zu den Trinkern am Bahnhof. Die wissen noch, wie man richtig feiert.«

Es klingelt. Ein weiterer gemeinsamer Freund betritt die Wohnung. Auch er hat die 40 längst überholt und sich ein paar dazu passende Probleme zugelegt. Wer Probleme hat, trinkt. Und er gilt als zuverlässiger Biertrinker. Er ist unsere letzte große Hoffnung. Da steht er nun, in der Küche. Und fragt, ob er einen Kaffee haben könnte. Er sei nämlich gerade abstinent, einfach mal so zur Selbstfindung. Nur Wasser und Kaffee, nicht mal alkoholfreies Bier. Wenn man so ernsthaft abstinent sei wie er, könne man nichts trinken, wo »Fun« drauf steht.

»Du machst hier einen auf Privat-Ramadan? Im Ramadan darf man aber mit Einbruch der Dunkelheit das Fasten brechen. Draußen ist es dunkel. Brich mit dem Fasten! Du trinkst jetzt Bier!«

»Nein, kein Bier, bitte!«, sagt er. »Wenn ich nur eins davon habe, muss ich brechen, Finger, Selbstdisziplin, Automatismus, verstehst du?«

Sein Gesicht verformt sich ins extremsportlerhafte.

»Warum gehst du dann zu einer Party, wenn du keinen Spaß haben willst?«, fragt Heiko.

»Weil ich rausfinden will, wie weit ich bereit bin zu gehen.«

Dann zieht er sich zurück, um seinen Followern seine Blutfettwerte zu twittern. – Leute Mitte vierzig. Entweder legen sie sich Kinder zu oder eine Macke.

Eine halbe Stunde später. Geschrei aus dem Wohnzimmer. Marvins Vater schreit verzweifelt, dass Marvin sich endlich losreißen soll, es ist Zeit fürs Bett, und der Heimweg ist weit. Haha – dieser Weg wird kein leichter sein!

Marvin, der Junge mit dem fettglänzenden Gesicht und den Schaumkussresten in den Ohren fummelt im Mund einer kleinen Nele rum. Nele beißt dabei kraftvoll zu. Jetzt kriegt Marvin seine Finger nicht mehr aus ihrem Mund raus, in dem er das allerletzte Gummibärchen vermutet.

Der minutenlange Kampf der beiden findet ein großes Publikum. Lauter Eltern, die träge und übermüdet und ruhiggestellt vom alkoholfreien Bier zugucken.

Heiko kommt aus der Küche. Er grinst diabolisch. Feixend zischt er: »Da wollten gerade welche ganz normales Bier mit Alkohol, endlich! Vielleicht wird’s ja doch alle!«

»Wer wollte eins?«

»Also, der Junge vom Sofa, der bald Vater wird, der Vater von Marvin und Neles Mutter. Sie haben auch gefragt, ob was zu rauchen da ist. Vielleicht sind sie gleich auch reif für Schnaps.«

»Haben wir welchen?«

»Natürlich nicht. Wir haben Jever Fun!«

Und da hab ich mich dann doch sehr geärgert, dass ich in der Einladung ausdrücklich darum bat, mir dieses Jahr keinen Schnaps zu schenken. Drei Flaschen stehen noch ungeöffnet vom letzten Jahr in meiner Küche. Nächstes Jahr bringe ich das Zeug mit zur Party. Die Kinder kommen doch so schnell in die Pubertät. Die trinken das dann. Und die Eltern erst recht. Aus demselben Grund. Und wenn dann wieder keiner was trinkt, verfügen wir immerhin über literweise flüssigen Grillanzünder, der beim Anzünden schön verpufft. Das ist doch auch schön, für die Kinder. Die wollen doch immer unterhalten werden. Ständig. Rund um die Uhr.

Schrecklich.

DARMVERSCHLUSS

Heiko ist längst zum zweiten Mal Vater geworden. Respekt. Schon wenige Monate nach der Geburt des zweiten Kindes ist die nicht mehr ganz so kleine Familie zu einem mehrwöchigen Campingtrip in die USA aufgebrochen. Scheint ja doch nicht ganz so kompliziert zu sein, das Leben mit Kindern.

Doch seltsam: Noch nie hatte mir Heiko während seines Urlaubs eine Mail geschickt. Schon gar nicht aus den USA. Warum auch. Im Urlaub mailt man nicht. Im Urlaub urlaubt man. Erst recht, wenn man ganz weit weg ist, in Amerika. Es sei denn, man hat ein Problem. Und darauf deutete gleich der erste Satz seiner Mail hin.

Er lautete: »Ich hab da ein Problem …«

Die darauf folgenden Zeilen waren vollgestopft mit einem wortreichen Cocktail aus Selbstkasteiung und persönlich gestellter Diagnose seiner psychischen Verfassung. Kurz auf den Punkt gebracht, teilte er mir mit: »Ich kann nun mal nicht Nein sagen.«

Das ist allerdings die sinnloseste Ausrede, die es gibt. Ich vermute, es ist ihm einfach alles zu viel geworden. Mit seiner Familie, also Sohn, Säugling und Mutter im Campingurlaub. Zusammengepfercht auf engstem Raum in einem fremden Land.

Einfach weil er mal ausbrechen wollte, würde der Berliner Lesebühnenkünstler Heiko W. in wenigen Tagen schon etwas vollkommen Absurdes tun. Er würde ein Rockfestival in Cottbus moderieren. Und zwischen den Auftritten diverser Rockbands auf derselben Bühne vor etwa 5000 Besuchern selbst geschriebene Lesebühnentexte vorlesen.

Wie trist muss das Leben eines Familienvaters sein, wenn er so etwas tut, einfach nur um mal rauszukommen?

Eigentlich hätte ich Mitleid haben müssen. Heiko ist nämlich ein bodenständiger, nachdenklicher Westfale, der vorzugsweise Funktionsklamotten trägt und gerne seine Ruhe hat. Alles, was er tut, ist gründlich durchdacht. Er züchtet Echsen, forscht an seltenen Lurchen und schreibt wissenschaftliche Aufsätze über diese Tiere. Musikalisch ist er der Hamburger Schule zugeneigt. Gleichermaßen ist er stolzer Besitzer des musikalischen Gesamtwerkes von Reinhard Mey.

Ich kann mir Heiko sehr gut vorstellen als Teilnehmer einer fundamentalkritischen Diskussion über die Rolle der Grünen hinsichtlich zweifelhafter Friedensmissionen der Bundeswehr und der Einstufung kaputter, korrupter Balkanstaaten als sichere Herkunftsländer. Oder als kenntnisreichen Redner vor dem schuppigen Fachpublikum eines internationalen Reptilienkolloqiums. Oder als Literaturkritiker, der fundiert, wortreich und zerstörungswütig das massenkompatible Gesamtwerk von Frank Schätzing verreißt.

Aber nicht auf einem Rockfestival, in Cottbus und auf einem Rockfestival Texte vorlesend. Drei Dinge, die sich beißen. Aber es sei für eine gute Sache, schrieb Heiko in seiner Mail, das Festival heiße nämlich »Laut gegen Nazis«, und es werde sogar von Radio Fritz live übertragen.

»Laut gegen Nazis« ging in Ordnung, aber der Rest waren nur noch Dinge, die sich gegenseitig ausschlossen.

Während ich mich noch fragte, in welch große Scheiße sich ein Mensch alleine eigentlich reinreiten kann und was Heiko eigentlich von mir will, fing mein Blick beiläufig das Kleingedruckte am Ende der Mail ein. Ich erschrak: »Das ist mir unheimlich. Hättest du Lust, das zusammen mit mir zu machen?«

Ich las mir den zweiten Satz noch mal laut vor, damit sich mir dessen Sinn erschloss: »Hättest du Lust, das zusammen mit mir zu machen?«

Umgehend klickte ich auf »Antworten« und schrieb in Großbuchstaben: »BIST DU BESCHEUERT? KRIEG ENDLICH MAL DEINE PROBLEME IN DEN GRIFF! NACH COTTBUS KANNST DU ALLEINE FAHREN. KEINE ZEHN PFERDE KRIEGEN MICH IN DIE LAUSITZ. DIE GRAUPENSUPPE KANNST DU ALLEINE AUSLÖFFELN, FREUNDCHEN.«

Beim Senden der Mail muss jedoch irgendwas schiefgegangen sein. Der Kollege hatte nämlich eine ganz andere Antwort im Postfach. Eine Antwort, die ich, weil ich psychisch, physisch, privat und beruflich okay und generell gesund bin, unmöglich geschrieben haben kann: »Klar, das machen wir, endlich wird mein ereignisarmer Alltag mal durch einen aufregenden Trip ans Ende der Welt aufgepeppt. Vielleicht fällt ja sogar Stoff für einen Text dabei ab.«

Tja. Das ließ sich wohl nicht mehr rückgängig machen.

Vier Tage später. Ich steige mit einem mulmigen Gefühl in Heikos weißen Familien-Skoda, um mit ihm aufs Rockfestival »Laut gegen Nazis« zu fahren. Zwei blasse, lichtscheue Typen, die sich abends im schützenden Halbdunkel von Berliner Hinterhoflesebühnen A4-Zettel vors Gesicht halten, um ihre chronische Nervosität vor den fünfzehn Woche für Woche gleichen Stammzuschauern zu verbergen, fahren nach Cottbus, um in der Fremde zwischen bedrohlich aussehenden Rockgruppen und vor einer stark alkoholisierten Masse Lesebühnentexte zu lesen.

Hoffentlich gibt es in Cottbus Drogen.

»Sag mal, mein lieber Heiko, warum machen wir das eigentlich? Nein, halt: Warum machst du das eigentlich?«

»Ich muss mal raus. Familie mit zwei Kindern. Ich fühle mich eingeengt. Ich muss einfach mal durchatmen. Du hast keine Kinder. Aber wenn du mal welche haben solltest, kannst du mich verstehen«, jammert er. Meine Güte, ich wusste gar nicht, dass er so leidet. Ich versuche, ihn zu verstehen, als er noch einen Satz hinterherschickt: »Ich will endlich mal wieder was erleben.«

Das ist die bescheuertste Begründung, die ich je für eine Fahrt nach Cottbus gehört habe. Noch dazu von einem Menschen, der gerade aus dem Urlaub in den USA zurückgekehrt ist.

Gut, ich berichtige: aus dem Familienurlaub.

Als wir das Auto direkt neben dem Festivalgelände parken, springt mir umgehend das fehlende Publikum ins Auge. Mysteriös. Wo ist die bei Rockfestivals übliche, mit Vorfreude und Hysterie aufgepumpte Menschenmasse? Hier ist ja gar keiner! Haben wir uns im Tag geirrt, oder was? Ungläubig blicken wir uns um. Doch wir können kucken, wie wir wollen: Außer uns befindet sich keine Menschenseele auf dem riesigen, tristen Parkplatz. Nicht mal wenn wir alle Steine umdrehen, würden wir jemanden finden. Wir sind hier ganz allein. Das kann doch nicht wahr sein! Das Nichtvorhandensein von Publikum am Tag eines Festivals ist ja an sich schon beunruhigend. Wenn aber eine halbe Stunde vor Beginn, und so spät ist es mittlerweile, immer noch kein Mensch da ist, sollte der Veranstalter angesichts so einer Pleite angemessen hysterisch reagieren. Man sollte in Erwägung ziehen, schnell das Land zu verlassen. Oder sich, um den unausweichlichen Rückzahlungsforderungen seiner Financiers zu entgehen, am besten gleich umbringen. Gute Ideen, die man aber erst dann entwickelt, wenn man vom Frustsaufen schon so hinüber ist, dass man »Insolvenzverwalter« nicht mehr aussprechen kann. Aber wir sind ja glücklicherweise nicht die Veranstalter. Wir sollen hier nur etwas machen, das wir gar nicht können: Rockbands ansagen. Und mehrere Tausend betrunkene Provinzjugendliche und hier gestrandete Studenten bei Laune halten, während hinter uns auf der Bühne bärenstarke Rockmusikroadies die Instrumente der einen Band ab- und die der anderen Trümmertruppe aufbauen und verkabeln. Darum nimmt mir das schon auf den allerersten Blick fehlende Publikum schlagartig meine Angst.

»So, wir fragen uns jetzt mal zu Titte durch«, kündigt Heiko an.

»Bitte was?«

»Äh, Titte, zu dem müssen wir. Das ist der Veranstalter.«

Der Veranstalter heißt Titte. Ich will nach Hause.

Vor Mitternacht komme ich hier aber nicht mehr weg.

Verdammt!

In einem zugequalmten Backstageraum finden wir einen Glatzkopf, der sich als Titte vorstellt. Während der Glatzenmann Heiko in den Ablauf des Abends einweiht, versuche ich, durch Abscannen seines Körpers den Grund für seinen Spitznamen zu eruieren. Ich komme aber nicht weit. Heiko baut sich vor mir auf und sagt unmissverständlich, dass wir zur Bühne müssen. Um 20 Uhr ist Beginn. Und 20 Uhr ist jetzt. Da beißt die Maus keinen Faden ab.

Punkt acht. Alle sind da. Die vier Bands, die Techniker, die Aperol-Spritz-Hostessen, die Zapfhahnbediener in den Bierständen, der Veranstalter und wir. Ach ja: Tatsächlich hat es circa zehn Festivalbesucher aufs Gelände verschlagen. Sie verbergen sich gekonnt hinter einem Bierstand. Bloß nicht auffallen! Behände wie ein Wiesel ist Heiko auf die riesige Rockfestivalbühne geklettert. Dort steht er nun hinterm Mikrofon und beginnt seine Moderation. Ich verstecke mich hinter einem Sonnenschirm und lausche von dort seinen Worten. Zu wem spricht der Mann? Zu den Konzertbesuchern? Die haben sich so gut versteckt, dass ich sie von meiner Position gar nicht sehen kann. Von der erhöhten Bühne ist die Aussicht offenbar besser. Heiko glaubt wohl tatsächlich, die Leute zu sehen. Oder er spricht durch den Bierstand, hinter dem sich die kleine Gruppe Mut antrinkt. Es wäre nett, doch jetzt bitte vor zur Bühne zu kommen, sagt er höflich, das würde nicht nur er goutieren. Auch die gleich auftretende Band namens Bockwurstpelle würde das sicher zu schätzen wissen. Diese Band ist sehr erfolgreich, und sie hat es endlich nach Cottbus geschafft. Denn ihr großer Wunsch war es seit Langem, endlich einmal hier aufzutreten. Das geneigte Publikum möge also reichlich Applaus spenden für die Band, auf die ganz Cottbus seit Jahren warte. So weit Heiko. Er scheint seinen Auftritt sichtlich zu genießen.

Freundlich wie der Inhaber eines Küchenstudios gibt da ein gestandener Conferencier auf einer Rockbühne gewählte Worte von sich, und man hat den Eindruck, dass nach seinen Spitzenansagen eigentlich nur noch Schlagerkönigin Helene Fischer auftreten kann, um die restlos begeisterten Massen mit der Performance ihres Megahits »Atemlos durch die Nacht« zu bändigen.

Bockwurstpelle, eine Berliner Punkband, die weder Heiko noch ich kennen, müht sich redlich und macht auch leidlich gut ins Ohr gehende Musik rund um den Themenkomplex »Bockwurst« und »Grillwurst«. Ihre Lieder heißen »Warmer Pimmel«, »Häng mich in Senf«, »Wir sind die Glutbürger« und »Müsli aus Fleisch«. Und das gefällt sogar den mittlerweile zwanzig anwesenden Festivalbesuchern. Die Mutigeren von ihnen nähern sich zaghaft der Bühne, die anderen halten noch einen Sicherheitsabstand ein.

Der Sänger gibt alles. Denn zum Glück sieht er nicht, wie wenig vor der Bühne los ist, weil ihm die träge sinkende Sommerabendsonne kräftig in die Augen strahlt. Erst wenn er die letzte Zeile seines Gigs gesungen hat, wird sie vollständig verschwunden sein.

Das ist wenig später der Fall. Mittlerweile sind dreißig Rockfans da, denen Heiko nun eine Geschichte vorliest. Andere sind größeres Publikum gewöhnt, aber Heiko tritt zweimal die Woche auf zwei Berliner Lesebühnen vor einer jeweils kleinbusgroßen Zuschauermenge auf, er kann mit solchen Herausforderungen routiniert umgehen. Vor einigen Jahren war das Publikum auf den Lesebühnen noch zahlreicher. Eine wilde Mischung aus lebenslustigen Studenten und amüsierwilligem Volk war das, zu Beginn der Nullerjahre. Doch seit das süße Studentenleben entromantisiert, zweckoptimiert, also: zusammengebachelort wurde und die Ausstudierten Eltern sind, kommen nicht mehr so viele Zuschauer. Aber irgendwie geht es immer weiter. Und nun hält sich Heiko, genauso wie in seinem Lesebühnenkeller, gekonnt einen DIN-A4-Zettel mitten vors Gesicht. Die auf ihm ruhenden Blicke können ihn kein bisschen irritieren. Er nimmt sie ja nicht wahr. Am Ende des Textes erntet er freundlichen Applaus. Dann startet die nächste Band. Wie von Zauberhand war deren Anlage während Heikos Literaturdarbietung aufgebaut worden.

Dann hat auch diese Band ausgespielt, und er geht wieder auf die Bühne. Aus den dreißig gesitteten Leuten von eben sind plötzlich fünfhundert laute Rockfans geworden. Eine alte Rockerfaustregel sagt: Ab fünfhundert Leuten kommen auch die Arschlöcher. Allerdings soll es in unserem Fall nicht bei fünfhundert bleiben. Die Zuschauer vermehren sich rasant. Draußen vor den Toren des Rockfestivals haben sie sich warmgetrunken. Ordentlich vorgeglüht haben die Geizhälse. Nur um hier drin möglichst wenig Geld lassen zu müssen. Heiko liest jetzt nicht mehr, er schreit. Vor allem weil er über die »Aufhören! Aufhören!«-Rufe seine eigenen Worte noch verstehen will. Ein Missionar predigt den Ungläubigen von der Bühne herunter seine Sicht der Dinge. Jesus hat auch mal so angefangen. Aber Jesus hatte kein Mikro. Heiko hat eins. Während Heiko nun also schreit, ein Teil der mittlerweile gut tausend Rockfans vor der Bühne »Aufhören« brüllt, was Heiko aber nicht hört, weil er lauter ist, und was er nicht sieht, weil er stur auf seinen Zettel guckt, kommt vom Techniker plötzlich die Durchsage, dass er bitte nicht so ins Mikro brüllen soll. Wohlgemerkt: Auf einem Rockfestival namens »Laut gegen Nazis«, wo Rockgruppen infernalischen Lärm erzeugen, wird einem Lesebühnenheini, der die Umbaupausen gegen den offenkundigen Willen des Publikums mit seiner selbst geschriebenen Prosa ausschmückt, weil er einmal zu wenig »Nein« gesagt hat, vorgeschrieben, dass er nicht so laut sein soll. Krank, Punk!

Dann soll ich was lesen. Ich ahne, dass das keine gute Idee ist. Denn im Gegensatz zu Heiko habe ich so gut wie keine Texte im Repertoire, die über jeden Zweifel erhaben die Obrigkeit oder die Dummheit der Leute anprangern. Ich setze bei meinen Texten auf billige Lacher. Also habe ich jetzt ein Problem. Vielleicht was rappen? Soll ich bei »Laut gegen Nazis« meine Blödelnummer »Oma Inge« rappen, die noch weiß, wie man eine Flak abfeuert? Ich bin mir nicht sicher.

Ich versuche es mal mit guter alter Demagogie. Schnappe mir also ein Mikro und sage irgendwas mit »SPD« und »Sarrazin« drin. Zustimmendes Gekreische aus Richtung Menschenmasse. Okay, dann gebe ich dem Affen mal Zucker:

»Gebt mir ein D!«

»D!«

»Gebt mir ein A!«

»A!«

»Gebt mir ein R!«

»R!«

»Gebt mir ein M!«

»M!«

»Gebt mir ein ›Verschluss‹!«

»Verschluss!«

»Was heißt das?«

»Darmverschluss!«

Schätzungsweise dreitausend Leute brüllen »Darmverschluss«.

Wie weiter?

»Woran leiden Nazis?«

» Darmverschluss!«

Ha, gut!

»Warum haben Nazis Scheiße im Kopf?«

»Darmverschluss!«

Für einen kurzen Augenblick habe ich die Masse in der Tasche. Dann fange ich aber leichtsinnigerweise doch noch an, kurz was zu rappen. Auch ich kriege ein lautes »Aufhören! Aufhören!« vor den Latz geknallt. Bevor es zu arg wird, rette ich mich aber schlau in die Ansage, dass ich jetzt leider aufhören muss, denn gleich kommen die Headliner, gleich kommen Royal Republik aus Schweden, und die müssen pünktlich anfangen, denn die faschistische Cottbuser Stadtverwaltung besteht darauf, dass das Rockfestival pünktlich um Mitternacht zu Ende ist. Damit habe ich den Hass klug über Bande abgelenkt. Schnell flüchte ich mich an den Bühnenrand.

Nach dem letzten Akkord der Schwedenrocker ist dann tatsächlich abrupt Feierabend. Deutsche Pünktlichkeit, selbst beim Aufhören. Heiko und ich stellen erleichtert fest, dass wir noch am Leben sind. Dann lassen wir den Abend sacken. Wie wir erfahren, wurde der Rockevent doch nicht auf Radio Fritz übertragen, sondern nur vom Sender präsentiert. Egal! Wir haben überlebt!!! Zwei Punk-Texteschreiber setzen sich in den Familien-Skoda und fahren zurück aus der bedrohlichen Ostprovinz in den goldenen, fortschrittlichen Westen. Zurück nach Berlin! Nach dem, was wir heute geleistet haben, sind wir definitiv bereit für noch ganz andere Bespaßungseinsätze wie zum Beispiel Castorblockade oder Anti-AfD-Demo. Ich bin wahnsinnig gespannt, welche Anfrage Heiko als Nächstes nicht ablehnen kann.

Bevor mich der Kollege in der Nähe meiner Wohnung rauslässt, frage ich ihn dann doch noch mal sicherheitshalber, warum wir uns das heute eigentlich angetan haben.

»Warum haben wir uns das heute eigentlich angetan?«

»Wie gesagt, es ist ganz gut, wenn ich mal rauskomme. Luftveränderung. Das passiert viel zu selten. Ist halt alles ganz anders, wenn man Vater ist. Ich bin’s ja sogar zweimal. Du hast keine Ahnung, was das heißt. Aber vielleicht wirst du das ja eines Tages nachvollziehen können. Ich bin auf jeden Fall sehr, sehr froh, dass ich heute mal rausdurfte aus dem ganzen Familienscheiß. Mach’s gut.«

Ich winke ihm hinterher. Meine Güte. Dass er so verzweifelt ist, dass er so leidet, war mir überhaupt nicht klar. Was für ein bedauernswerter Mensch so ein Familienvater doch ist.

Ein Vibrieren in meiner Innentasche reißt mich aus meinen Gedanken. Mein Handy bettelt um Aufmerksamkeit. Unbedingt jetzt sofort will es mir eine SMS zeigen. Gut, dann lasse ich die SMS mal vor mir aufleuchten. Sie ist von meiner Frau: »Komm schnell nach Hause, wir müssen feiern. Ich bin schwanger!«

Ach du Scheiße!

VORBEREITUNGEN

»Warum darf ich nicht mehr an meinen Schrank ran?«, frage ich meine Frau.

Seit mehreren Minuten rüttle ich am Türgriff. Komplett sinnlos, wird mir immer klarer. Ich rüttle trotzdem weiter. Man soll nie vorzeitig aufgeben. Doch der Schlafzimmerschrank lässt sich durch mein Rütteln genauso wenig öffnen wie eine Konservendose durch gutes Zureden. Was ist hier los? Warum hat sie das Ding abgeschlossen? Dieser Schrank war doch noch nie abgeschlossen! Der Schlüssel steckte nur zur Zierde im Schlüsselloch der Schranktür. Es war nie vorgesehen, ihn wirklich mal zu benutzen! Wir sind doch verheiratet, wir haben die Geheimnisse aus unserem Leben verbannt! Keiner von uns hat ein Privatleben mehr. Also was soll das hier? Die Schranktür ist abgeschlossen, der Schlüssel ist weg.

Versteckt hat sie ihn. Irritiert und schwer verwundert starre ich meine bessere Hälfte an. Sie steht im Flur und starrt mich an. Mit diesem schwer auszuhaltenden, zum Weglaufen einladenden »Wir müssen reden«-Blick.

»Ich habe beschlossen«, beginnt sie ihre exklusiv an mich gerichtete Proklamation, »dass dieser Schrank ab sofort ausschließlich Dinge beherbergen soll, die ich für meine Schwangerschaft und die erste Zeit in meinem neuen Leben als Mutter dringend brauche.«

»Und was für Dinge sind das?«

»Als ob du dich dafür interessieren würdest.«

»Also, ich werde doch auch ein Kind haben! Ich bin dann Vater, hat mir Google gesagt. Wir sind doch zusammen Eltern. Nicht nur du. Auch ich. Du ein Eltern, ich ein Eltern!«

»Jaja, das sagt sich so leicht. Vor der Geburt reißt ihr Kerle euer Maul immer meilenweit auf. Aber nach der Geburt seid ihr plötzlich komplett überfordert, konzentrationsschwach, Scheißebaumagneten und Kritikteflon. Und irgendwann seid ihr weg.«

»Hä? ›Immer‹? ›Ihr Kerle‹? Welchen Kerl kennst du noch außer mir? Und was für Erfahrungen hast du bitte schön mit dem gemacht? Woher weißt du das alles? Bisher bin ich davon ausgegangen, dass du noch gar keine Geburt zustande gebracht hast. So wie ich. Und was soll eigentlich immer dieses ›immer‹? Immer sagst du ›immer‹! Also: Woher nimmst du dein Wissen?«

»Das hab ich gelesen.«

»Wo?«

»Öh, hab ich vergessen.«

»Aha.«