Wir heißen hier alle Ronny, auch die Jungs - Nils Heinrich - E-Book

Wir heißen hier alle Ronny, auch die Jungs E-Book

Nils Heinrich

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Beschreibung

Nils Heinrich war sehr verwundert, als er damals nach Wende und Grenzöffnung in Kassel landete. Das sollte der Westen sein? Mittlerweile hat er sich umsehen können und weiß, dass der wie ein typisches DDR-Essen aussehende Döner keine nordhessische Spezialität ist. Überhaupt hat der Kabarettist uns einiges zu erzählen über die alte ostdeutsche Republik und die schöne neue Republik nach der Wiedervereinigung. Beim Thema Ökologie sind wir beispielsweise wieder ganz vorn mit dabei: Der Meeresspiegel steigt – also bauen wir die Autos höher. Des Weiteren berichtet Nils Heinrich vom kalten Intimitätsentzug der Corona-Ferien. Er hat nicht nur Tagebuch geführt, sondern auch seine geheime Fähigkeit entdeckt: Ei-Hypnose! Auch kennt er jetzt alle Seriennummern der heimischen CD-Sammlung auswendig und kann mit seiner Frau Dialoge aus "Frauentausch" nachspielen. Die Corona-Krise, so erfährt der geneigte Leser, bietet Familien Gelegenheit zu heiteren Spaßbad-Besuchen, Klopapierbasteln oder dazu, der Schwiegermutter das Skypen beizubringen – eine Krise kann so lustig sein!

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Seitenzahl: 204

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Impressum

Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist nicht gestattet,

dieses Werk oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg zu vervielfältigen oder in Datenbanken aufzunehmen.

Eulenspiegel Verlag – eine Marke der

Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten.

ISBN E-Book 978-3-359-50095-7

ISBN Print 978-3-359-03001-0

© 2021 Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Verlag, Karoline Grunske

unter Verwendung von Fotos von Aigars Reinholds /

Alamy Stock Foto

www.eulenspiegel.com

Inhalt

Behaarte Kartoffeln

Kasseler Leberwurst

Wenn’s beim Ostmann zweimal klingelt

Helmut Blumenkohl

Der ewige Ossi

Ein neues Land

Nach wem kommt das Kind?

Ich bin der Lichtnazi

Der Drucker ist kaputt

Das Casting

Heute keine Koffersprengung

Das Bier von mir

Je suis Jammerlappen

Premiumkunde bei der Deutschen Bahn

Reisetagebuch. Aufzeichnungen aus dem ICE

Wieso heißt das eigentlich Spaßbad?

Ich habe ja nichts gegen Kinder, aber …

Der Harz kommt!

Wählt mich nicht

Die Domina in Weiß

Knuspermuskel und Nierenschänder

Plädoyer für Scheißmusik

Wie Musik entsteht

Mein Corona-Ferien-Tagebuch

Der splitternackte Einkaufszettel

Dank

Behaarte Kartoffeln

Wir brauchen keinen Krieg, wir haben einen Generationenkonflikt. Den kann man grob folgendermaßen zusammenfassen: Sture über Fünfzigjährige haben keinen Bock, sich die Welt von woken, neunmalklugen Mittzwanzigern erklären zu lassen, die nicht mal wissen, was eine Chromdioxidkassette ist. Oder eine Margarethe Schreinemakers. Beide, also die Kassette und die Margarethe, feierten Mitte der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts ihre letzten großen Erfolge.

Das, was ich nun schildere, liegt noch einige Monde länger zurück. Ich habe es aufgeschrieben, weil eins meiner Kinder mir neulich sagte, dass ich doch so alt sei und ihm sicher sagen kann, wie groß so ein Dinosaurier ist. Denn schließlich habe ich als Kind ja noch Dinosaurier gesehen. Und was soll ich sagen – das Kind hat recht. Also schildere ich mal, wie das war, damals, mit der Wiedervereinigung.

Über dreißig Jahre ist das jetzt her, dass über Nacht alles anders wurde im Osten. Die Grenze ging auf, man fuhr rüber. Man kam zurück mit hundert D-Mark. Oder mit Dosenbier für hundert D-Mark. Oder mit Westkartoffeln, die man neugierig gekauft hatte. Diese Dinger hatten im Gegensatz zu Ostkartoffeln keine braunen Froststellen und keine Wurmlöcher. Und sie waren behaart. Lustig. Die Kartoffelsorte hieß Kiwi. Und nun wollte man natürlich wissen, was passiert, wenn man die rasiert. Waren das Schamhaare?

Man wusste ja, dass die Westdeutschen total prüde waren. Dass sie nicht ständig nackt rumliefen wie die Ossis. Die Menschen im Osten haben ja alles nackt gemacht: am Hochofen arbeiten, Parteilehrjahr, aufs Auto warten, nach Schuhen anstehen, sogar beim Sex waren die Ostdeutschen nackt. Kann sich heute keiner mehr vorstellen.

Wir haben uns also aus Neugierde im November ’89 verklemmte Kartoffeln gekauft, dann haben wir sie zu Hause rasiert, haben ihnen die Schale abgezogen, haben sie gekocht, und: sie waren danach immer noch grün und sauer. Schöne Scheiße! Schade um das schöne Westgeld!

Was man noch mitbrachte aus dem Westen, war ein schwerer Augenschaden. Denn die Farben der freien Welt waren greller, die Menschen schöner, die Häuser bunter und die Autos haben viel mehr geglänzt als unsere. Außerdem hat nachts bei der Autofahrt nach Hause beim Aufblenden alles reflektiert auf den Weststraßen: die Seitenpoller, die Mittelstreifen und die Katzenaugen der Katzen, die man überfuhr, weil man das schwer beladene Auto nicht mehr richtig steuern konnte. Es war sehr schwer beladen mit Dosenbier, mit behaarten, prüden Kartoffeln und mit viel, viel Begrüßungsgeld, weil sich das jeder Ossi zehnmal geholt hatte. Mit dem Personalausweis, dem FDJ-Ausweis, dem Pionierausweis, dem FDGB-Ausweis, dem DSF-Ausweis, dem GST-Ausweis und sogar mit dem SED-Parteiausweis. Die doofen Westdeutschen stempelten für einen Hunderter alles ab, die kannten ja unsere offiziellen Dokumente nicht.

Mit dem Übertritt über die Grenze im November ’89 schalteten wir um: vom friedliebenden Sozialisten auf markt­radikalen Schnäppchenjäger. Jetzt war die Devise nicht mehr »Mein Arbeitsplatz, mein Kampfplatz für den Frieden«, sondern »Ganz legal die Sparkasse ausrauben und dann Sonderangebote jagen!«.

Eine Nacht im Westen reichte, um uns blind zu machen. Es war so gleißend hell gewesen. Viele Ostdeutsche taumelten zudem mit einem Hörsturz zurück in ihre Heimat. Ihr Gehör hatte einen allergischen Schock erlitten, weil die Bewohner des mittleren Westens zwischen Hamburg und Kassel ganz ungewohnt sprachen: hochdeutsch nämlich. Wer jedoch nach Südwesten, nach Bayern gefahren war, um sich sein Geld zu holen, kehrte sogar mit zerborstenen Trommelfellen zurück. Denn die Menschen dort unten im Bergland sprachen tatsächlich wie Meister Eder und Franz Josef Strauß. Da hatte man jahrelang gedacht, die Bayern würden im Westfernsehen nachsynchronisiert, damit der traurige unterdrückte Ostdeutsche mal was zu lachen hat, wenn er sie sprechen hört. Und jetzt sprachen die Bayern wirklich so, erzählten die, die aus Bayern zurückkamen! Angst machte sich breit.

Und niemand konnte ahnen, dass es weiter westlich noch einen schlimmeren Dialekt gab: schwäbisch. Das erfuhr zunächst auch niemand. Denn die, die es zum Geldabgreifen bis nach Stuttgart runter schafften, kehrten nie zurück. Entweder kippten sie beim ersten Wortwechsel am Geldausgabeschalter in der Sparkasse tot um oder es befiel sie eine Schreckstarre, eine Lähmung. Eine Blitzassimilation. Sie schafften es nicht mehr aus dem Stuttgarter Kessel raus, sondern schlossen Bausparverträge ab, schafften bei Daimler, sprachen plötzlich selber schwäbisch oder gründeten den ersten Ortsverband der AfD – Jahrzehnte, bevor es diese Partei überhaupt gab!

Waren sie einige Zeit später komplett assimiliert, kehrten sie in den Osten zurück, wurden zu Chefs ihrer ehemaligen Freunde, kauften neue Immobilien und wollten ihr Alteigen­tum zurück. Ihre Geschäftspartner vor Ort in der alten Heimat waren Leute, die den Spruch »Eine Hand wäscht die andere« immer noch in allen Sprachen des ehemaligen Ostblocks aufsagen konnten. Diese frischgebackenen regionalen Unternehmer hatten jahrelang als bauernschlaue Parteifunktionäre ihre eigene DDR-Karriere gefestigt. Den Kapitalismus, dessen Theorie sie in Ruhe aus der Ferne, aus dem Schutz des doppelt umzäunten Deutschen Demokratischen Schrebergartens studiert hatten, setzten sie nun endlich in die Tat um, beispielsweise als Bauunternehmer. Oder als Makler. Zusammen mit windigen Geschäftsleuten aus dem Westen lebten sie ihre immer schon vorhandene Chefmentalität völlig enthemmt an den armen Mitbürgern aus, die schon zu Ostzeiten unter ihnen hatten leiden müssen. Selber schuld, wer den Kapitalismus haben wollte, ohne zu wissen, was er damit kriegte.

Kasseler Leberwurst

Jetzt, wo ich gerade in meinen Erinnerungen krame, fördere ich doch tatsächlich noch mehr zutage aus der Zeit, als sich die Welt änderte: 1990, das Jahr der Träume. Jeder Tag war »Another day in paradise«.

Endlich waren wir frei. Die Welt stand uns offen.

Ein Wunder war geschehen: Wir hatten Pässe. Also würden wir uns jetzt erst mal die BRD angucken, den goldenen Westen, und dann den Rest der Welt. Geld spielte keine Rolle, wir hatten uns ja im November ’89 genug Begrüßungsgeld ergaunert. Allein schon der Name: Westdeutschland. Das roch nach Lenor, das schmeckte nach Ferrero Rocher. Das war einfach das bessere Deutschland. Also nichts wie rüber. Endlich würde ein Traum in Erfüllung gehen, Wahnsinn!

Und dann standen wir in Kassel!

Und waren erschrocken. Hatten wir uns verfahren? Waren wir aus Versehen ganz, aber ganz woanders gelandet? Es war nicht auszuschließen, dass die SED/PDS-Schergen kurz vor der Grenze falsche Schilder aufgehängt hatten, um uns in die Irre zu führen. Sie hatten uns schon so oft belogen, sie würden es immer wieder tun. Vermutlich standen wir gerade ausgehungert und orientierungslos in Schmalkalden! Überprüfen ließ sich das nicht auf die Schnelle: Wir hatten kein Navi! Wir waren komplett am Arsch. Und das in Schmalkalden. Na danke!

Egal, erst mal was essen, dann weiterfahren. Große Frage: Was isst man denn hier so in Schmalkalden?

Guck mal da, eine regionale Spezialität: »Döner«.

Noch nie gehört. Aber wann ist man auch schon mal in Mittelthüringen? Immerhin konnten wir das aussprechen: »Dönor«. Ein typisches DDR-Essen. Mangelwirtschaft zum Runterschlucken. In ein altes Brötchen stopfte man Salatreste und runtergefallenes Krustenfleisch. Oder waren das zerschredderte und kurz angebratene Parteiausweise? Die gab’s ja jetzt ohne Ende. Zum Schluss dick Zwiebeln drüber, damit man das alles nicht sah und nicht roch.

»Und dafür wollen die auch noch Geld?«, hörte ich empört meinen Vater schimpfen. »Kommt jar nich in die Tüte, wir haben Bemmen dabei.«

Und schon hatte der praktisch veranlagte Mann eine selbstgeschmierte dicke Klappstulle mit grober Mansfelder Leberwurst in der Hand, von der er mit absoluter Entschlossenheit abbiss. Augenblicklich stand eine dicke Wolke ehrlicher ostdeutscher Leberwurstgeruch in der Luft, wie eine Mauer. Es roch nach Jugendwerkhof, Parteilehrjahr und abgebrannter Stasi-Zentrale.

Sofort stoppte ein Trabi neben uns, der vertraute Duft hatte ihn wohl magisch angezogen. Die Scheibe auf der Beifahrerseite wurde runtergeleiert, und ein Mann sagte: »Ich glaub, wir haben uns verfahren, hier riecht’s wie im Osten, wisst ihr den Weg Richtung Grenze?«

Der Kunde war witzig. Wenn wir den Weg in den Westen wüssten, stünden wir dann hier rum? Nee!

»Habt ihr noch ’ne Bemme übrig? Wer weiß, wie weit die Strecke noch is. Und eh ich hier im Osten irgendeinen Scheiß kaufe …«

»Richtig, meiner!« Mein Vater gab ihm ein Leberwurstbrot. »Macht zwanzig Mark.«

»Hä?«

»Ich üb schon mal für’n Kapitalismus, haha. War’n Witz. Kannste behalten. Guten Appetit. Lass es dir schmecken!«

Der Mann nahm die streng riechende Streichwurstschnitte und leierte das Beifahrerfenster hoch. Im Inneren des Trabis stöhnte jemand laut, aber umsonst, auf. Bevor er vermutlich starb.

Plötzlich kam aus Richtung der Imbissbude hinter uns ein Schrei: »Ey, könnt ihr mit eurem Stinkezeug mal weggehen? Ihr versaut mir meine ganze Ware!«

Der Imbissmann rannte auf uns zu und machte Armbewegungen, die uns verscheuchen sollten.

Wir fragten den Mann, wie wir aus diesem Kaff am schnellsten nach Kassel kämen. Und prompt wurden wir aus­gelacht.

Denn wir befanden uns, das mussten wir einsehen, tatsächlich, wirklich, echt: in Kassel!

Was?! Das konnte unmöglich sein. Das hier war der Westen? Warum wussten wir davon nichts? Dann wären wir doch zu Hause geblieben.

Denn zu Hause ist es immer noch schöner als in Kassel. Hier, im Herzen der Ernüchterung, bekamen wir die ersten Zweifel, ob das richtig war mit der Maueröffnung. Sollte uns das Westfernsehen all die Jahre wichtige Details über Westdeutschland vorenthalten haben? Damit wir ja nicht auf den Gedanken kamen, wie schön die DDR eigentlich ist?

Es gab ziemlich offensichtliche Gründe, wieso der ZDF-Landarzt nicht in Kassel praktizierte. Außerdem war im ZDF gerade die Serie »Zwei Münchner in Hamburg« angelaufen. Mit Uschi Glas und Elmar Wepper. Warum wollten diese beiden Münchner nicht nach Kassel? Warum spielte Kir Royal nicht in Kassel? Schließlich hieß eine der bekanntesten Fernsehserien auch »Schwarzwaldklinik« und nicht etwa »Seuchenhospital Kassel-Wilhelmshöhe«. Nicht mal Schimanski traute sich her. Der machte sein Ding in Duisburg.

Aber Kassel – wir fragten uns, warum es diese Stadt überhaupt gab? Das ergab doch keinen Sinn! Beim kurzen Spaziergang durch dieses Ghetto waren wir der festen Überzeugung, durch eine Kulisse zu laufen. Eine Kulisse für Filme, die in der DDR spielen. Wo man jahrelang nicht drehen durfte und jetzt nicht mehr drehen wollte. Und auch nicht musste. Weil man den Film in Kassel drehen konnte. Als Komparsen brauchte man nicht mal Ostdeutsche, die Hessen reichten völlig.

Hessische Zonenrandgesichter glichen, was Entbehrung und Elend anging, jeder Bitterfelder Hackfresse bis auf die letzte Kummerfalte. Beim Anblick eines hessischen Gesichtes suchte man automatisch nach einer Münze oder einer Möhre, die man dem armen Menschen in die Hand drücken wollte. Dieses Elend hatten die Rodgau Monotones schon Mitte der Achtziger besungen, im Song »Erbarmen, die Hesse komme«.

Es war also höchste Zeit, mit quietschenden Reifen die Flucht anzutreten. Fliehen konnten wir ja, haha! Nichts wie weg hier, und zwar dahin, wo es schön war. Nach Duisburg. Das kannten wir aus dem Fernsehen. Einen Zwischenhalt hatten wir auch eingeplant: Bielefeld.

Wir waren uns sicher, das würde unvergesslich werden!

Wenn’s beim Ostmann zweimal klingelt

Was Anfang der Neunziger im Osten abging, kann sich kein normaler Mensch vorstellen.

Man musste alles neu lernen. Und es gab keinen, der es den Leuten vormachte. Man musste sich wirklich alles selbst beibringen. Es gab keine Handbücher, es gab keine Tutorials. Es gab ja kein YouTube.

Wenn man heute nicht weiß, wie man mit dem Löffel isst, dann googelt man das. Wenn man nicht weiß, wie man Obst schält, dann trinkt man das als Smoothie. Wir leben heute im Zeitalter des allumfassenden Stützrades. Für alles gibt’s ein Forum, eine WhatsApp-Gruppe, eine Hilfeseite im Internet, eine Warnweste und einen Helm. Aber damals, vor dreißig Jahren, wurde eine große Gruppe Menschen kollektiv ins kalte Wasser geworfen, egal, ob die Leute dabei schwimmen lernten oder nicht. Es war auch piepegal, dass das Wasser eine zugefrorene Eisdecke hatte und viele dieser Menschen sich erst mal was brachen. In der Regel ihr Rückgrat.

Uns hat damals auch niemand gesagt, was passiert, wenn die Grenze aufgeht. Erst dachten wir jahrelang, die geht nie auf. Dann dachten wir, die geht nur für uns auf. Und nur in eine Richtung. Und nur die eine Grenze nach Westen.

Was waren wir doch doof. Dass die DDR auch eine Grenze in Richtung Osten hatte, interessierte die meisten von uns gar nicht. Dahinter wohnten doch auch nur die polnischen, die rumänischen, die russischen und all die anderen Klassenbrüder. Verwandte also. Noch ärmer als wir. Was ist der Unterschied zwischen Verwandten und Freunden? Freunde kann man sich aussuchen.

Wovon wir völlig überrascht waren: WIR waren für die der Westen! Und nun kamen sie zu uns: Russlanddeutsche, Sinti und Roma, Rumäniendeutsche und viele andere, denen es im Ostblock viel dreckiger gegangen war als uns Ostdeutschen. Wovon wir aber nichts wussten. Das hatte uns nie jemand erzählt. Warum auch? Der Nachkriegssozialismus war schließlich eine osteuropäische Erfolgsgeschichte, über die in ganz Osteuropa nicht diskutiert werden musste. Und nun, wo uns kollektiv freigekauften Ostdeutschen, die wir uns immer schon für etwas Besseres hielten, für einige Monate die Sonne aus dem Arsch schien, wollten wir verständlicherweise auch nichts vom Elend der anderen wissen.

Was wir ebenfalls nicht wussten, aber sehr schnell mitbekamen: Halunken und Tunichtgute machten sich aus dem satten Westen auf Richtung Osten. Für den Westen waren WIR neue Kunden. Und der Kunde ist König. Und Königen will jeder ans Leder. Kaum hatten wir die D-Mark, tauchten auch schon Schlitzohren auf, die sie uns abnehmen wollten. Denn der Osten brauchte jetzt ganz dringend ihre Hilfe, ihre Produkte und ihre Versicherungen. Sie waren bewaffnet, mit Messersets und Gurkenhobeln.

Permanent klingelten von nun an Vertreter an unserer Tür. Jahrelang hatten wir gar nicht gewusst, wofür wir eine Türklingel brauchten. Es bimmelte nie jemand. Kam ja keiner rein ins Land. Und die Stasi brauchte nie zu klingeln. Die hatte einen Schlüssel.

Jetzt war die Wende gekommen. Ein Wimpernschlag der Weltgeschichte hatte uns von halbverhungerten Stasi-Gefangenen in begehrte Verbraucher verwandelt. Vertreter über Vertreter drückten und drückten. Es hätte sogar geklingelt, wenn wir keinen Klingelknopf gehabt hätten. Mein Vater installierte uns sehr bald einen Nicht-Klingelknopf. Wenn der gedrückt wurde, klingelte es nicht. Total praktisch. Den hätte ein fliegender Händler damals an den Türen verticken sollen. Das wäre ein Hit gewesen!

Jeden Tag kamen sie. Es schien, als hätten sie sich die Wochentage aufgeteilt. Montags kamen die Messersetjungs. Dienstags die Gurkenhobelleute. Mittwochs klingelten die Tupperdosendamen. Am Donnerstag läuteten orientalisch anmutende Teppichhändler und Teppichhändlerinnen. Und Freitag dann logischerweise die Staubsaugervertreter. Samstag und Sonntag hatten wir frei. Aber nicht immer. Hin und wieder stand ein verwirrter Versicherungsvertreter vor der Tür, der im Verkaufsrausch vergessen hatte, welcher Wochentag gerade war. Und an manchen Sonntagen schellten die Zeugen Jehovas an der Tür.

Zuerst fragten wir noch nach: »Wer sind Sie? Zeugen? Sie haben was gesehen? Dann gehen Sie doch zur Polizei!«

Aber sie blieben vor der Pforte stehen, das hatten sie ja drauf. Bis es Montag war. Dann holten sie die Messersets raus und klingelten erneut. Das gab dann natürlich Probleme mit den anderen Messersetvertretern. Grauenhafte Revierkämpfe waren damals an der Tagesordnung. Hat man im Westen gar nicht mitgekriegt, was damals im Osten abging. Und wenn doch, interessierte das keinen.

Zum Glück konnten wir alles, was wir in den Schulfächern Wehrerziehung und Zivilverteidigung gelernt hatten, jetzt anwenden. Druckverband, stabile Seitenlage, Mund-zu-Mund-Beatmung. Wir ließen keinen zurück.

Manchmal gongte uns auch ein Alteigentümer aus unseren süßen Träumen. Wir hatten schon viele Alteigentümer erlebt, die unser Haus zurückhaben wollten. Alteigentümer schossen Anfang der Neunziger wie radioaktive Pilze aus dem Boden. Es gab mehr Alteigentümer als Alteigentum. Den meisten konnten wir sofort beweisen, dass ihnen das Haus noch nie gehört hatte. Wenn jemand vor dir steht, nach Bier riecht und Kleidung aus dem Quellekatalog trägt, die du selber in einem VEB-Kombinat genäht hast, dann weißt du: Der will dich verarschen. Der hatte gehört, dass man die Ossis jetzt ganz schön erschrecken kann: mit dem Wort »Alteigentum«.

Hätten diese Gauner mal besser DDR-Fernsehen geguckt! Dann wäre ihnen klar gewesen, wem sie da gegenüberstehen. Nämlich kampferprobten Sozialisten, ausgebildet an der scharfen Waffe und im Nahkampf. Jeder Jungpionier konnte einen ausgewachsenen Kapitalisten mit bloßen Händen töten. Wir waren ja auch alle hauptamtlich angestellt beim Geheimdienst und in keiner Weise an den überflüssigen Produkten des Kapitalismus interessiert. Doch sie dachten sich einen Trick aus, um uns ihr Zeug zu verkaufen: Sie schrieben groß GÜNSTIG drüber. Und es waren wirklich gute Preise, die man uns machte. Sehr gute Preise. Völlig überhöhte Preise nämlich.

Ein Beispiel: Eine pingelige Stereokompaktanlage bei Woolworth, die, wie ich viel später erfuhr, ein Westdeutscher einen Tag vor der Maueröffnung noch für 19 Mark 95 nachgeworfen bekam, erfuhr durch uns Ossis eine ungeahnte Wertsteigerung. Von der Herstellerfirma der Plastikmäusedisko hatte man noch nie was gehört – sie hieß Unsharp oder Zonie oder Tashibo. Die Kompaktanlage kostete einen Tag nach der Maueröffnung nur 99 Mark 90, was immer noch sehr viel preiswerter war als die ostdeutschen Rumpelrekorder für mehrere tausend Ostmark! Von meinem Begrüßungsgeld blieben mir immerhin zehn Pfennige übrig. Da war mir klar, für wen die Kohle gedacht war: nicht für mich!

Und aus heutiger Sicht kann ich sagen, dass »Begrüßungsgeld« ein leicht verlogener, aber auf jeden Fall sehr viel süßerer Begriff ist als das brutale, aber ehrliche Sachzwang-Label »Abwrackprämie«.

Helmut Blumenkohl

Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass vor mehr als dreißig Jahren über Nacht alles anders wurde im Osten?

Kurz zusammengefasst waren die Ostdeutschen nach der ersten Schnupperfahrt in den Westen stinkreich oder stockbesoffen. Die optischen Eindrücke hatten sie außerdem geblendet und die akustischen taub gemacht. Vor allem irgendwelchen Bedenken gegenüber, dass das mit Grenzöffnung, Westgeld, Sozialismusende, Kapitalismuserweiterung, Kollision der Systeme undsoweiterundsofort vielleicht doch alles ein bisschen schnell und zu überstürzt passiert.

Das nutzte Bundeskanzler Helmut Kohl eiskalt aus. Der Mann versteckte eine große Katze im Sack, um sie den Ossis zu verkaufen. Damit sie ihn wählen. Weil die Westdeutschen nach acht Jahren Kohlkanzlerschaft ziemlich gesättigt waren. Die Wiedervereinigung sollte dem Kohl nun helfen, seine nächste Wahl zu gewinnen. Das war der wahre Grund für die Eile, die der eigentlich gemächliche Riese plötzlich an den Tag legte.

Der Obelix aus Oggersheim machte sich also persönlich auf den Weg. Nur sechs Wochen nach dem Mauerfall fuhr er für eine Kundgebung nach Dresden, wohin sonst. Er wollte den Menschen traumhafte Dinge erzählen. Die renitenten Sachsen unten im Tal der Ahnungslosen bejubeln schließlich jeden, der sie mit blumigen Worten ein wenig aus ihrer sächsischen Tristesse befreit. Nicht umsonst hat Roland Kaiser dort unten die meisten Zuschauer. Die Sachsen gehen für ihre Träume, so seltsam sie auch sein mögen, regelmäßig auf die Straße – wenn die nicht gerade vom Hochwasser überschwemmt ist.

Und was soll man sagen? Kohls Plan ging auf. Wie im Drogenrausch bejubelten die Sachsen den wohlgenährten Mann aus dem wohlhabenden Westen. Sie würden den großen Schattenspender sofort zu ihrem Kaiser krönen. Und sich ihm als Blutopfer darbieten. Selbst wenn er ihnen etwas völlig Verrücktes versprach.

Und das tat er. Er versprach den Ossis die D-Mark. Und dann versprach er blühende Landschaften. Irgendwas musst du einfach versprechen als Politiker. »Blühende Landschaften« klang damals genauso irre, als hätte er versprochen, dass die Menschen ein Telefon eines Tages in die Hosentasche stecken und mit auf die Straße nehmen können.

Historiker fragen sich heute: War Kohl ein Zyniker? Oder kann jemand, der Kohl heißt, nur blumig sprechen? Ich persönlich glaube, er meinte es ernst.

Um dem Kohl gebrochene Wahlversprechen vorzuwerfen, hätte er damals was versprechen müssen, das niemand halten kann: sichere Renten und auch in dreißig Jahren noch Schnee im Winter. Glasfaserkabel oder schnelles Internet konnte er damals nicht versprechen. Das gab es 1990 genauso wenig wie Deutschrap oder Red Bull. Die Leute hätten sich ja auch gewundert: »Was für’n Scheiß? Internet? Was redet der Mann da? Ist der blöd? Was soll’n das sein, Internet? Muss man das rasieren? Kann man das essen? Wir wollen Auto fahren, jeden Tag im Schnitzelparadies essen und einen Telefonanschluss. Ei verbibbsch!«

Also hat Kohl blühende Landschaften versprochen. Kann er doch nix für, wenn die Leute da was reininterpretieren.

Schon mal gehört, dass einem eine blühende Landschaft Arbeit gibt?

Eine Biene würde jetzt sagen: Ja! Aber eine Biene ist auch verrückt. Haben Sie einer Biene schon mal in die Facettenaugen gesehen? Haben Sie da einen klaren Blick erkennen können? Eben! Außerdem hat die einen Stachel und kotzt Honig. Wenn Sie mich fragen: Normal ist das nicht!

Nun ist der Osten also leer. Das konnte man ja nicht ahnen, als man die Betriebe dichtmachte. Das betraf in jeder Stadt im Osten nicht nur eine Firma, die da mal eben schloss. Wie beispielsweise Quelle in Fürth. Als Quelle in Fürth dichtmachte, haben ja nicht automatisch auch alle anderen Firmen der Stadt zugemacht. Im Osten war das anders. Da machte in jeder Stadt jeder Betrieb dicht.

Es soll allerdings Leute geben, die gerne arbeiten gehen. Die vielleicht sogar einen Sinn darin sehen. Und die damit auch noch ihre Familie ernähren. Ihre intakte Familie mit zwei nicht arbeitslosen Eltern, die den Kindern Vorbild sind. Eine Bilderbuchfamilie, in der kein Kind kriminell wird oder Nazi. Sowas soll’s geben. An die hat man damals beim großen Umbruch nicht so richtig gedacht. Und dann hatten die keine Arbeit mehr und sind weggezogen. Sie sagten: »Vielen Dank für die Blumen in den blühenden Landschaften, aber es sind mir zu viele, ich hab ’ne Pollenallergie, ich muss weg hier.«

Woher soll man auch wissen, dass die Leute im Kapitalismus der Arbeit hinterherziehen? Weil das ihr Lebensmittelpunkt ist? Das ist auch manchmal für den Kapitalismus überraschend, dass die Leute ihn so annehmen, wie er ist.

Wenn ihnen aber die Lebenssicherheit wegbricht, macht das ja was mit den Menschen. Sie sind wie Gebäude, denen die tragenden Säulen weggesprengt werden. Plötzlich hast du keine Träume mehr, keine Sicherheit und keine Familienidylle. Keine schönen Momente. Sowas soll’s ja geben. Die Leute wollten ein besseres Leben, sie wollten nicht mehr angelogen werden. Und nun war das Leben der meisten nicht besser. Es war besser angemalt als vorher und duftete schön künstlich, aber es war auch teurer und unerschwinglicher. Und nur die furchtlosen Abenteurer konnten was draus machen. Sie machten auch was draus und zogen von dannen. Zurück blieb der Rest. Menschen, die nur in Ruhe ein Bier zischen und die Gesamtsituation nicht verstehen wollen, aber trotzdem drüber meckern. Zu Hause. Früher vorm Fernseher, jetzt vor YouTube. Und keiner geht mehr raus. Draußen also: leere Straßen, leere Plätze, leerer Osten.

Die Natur holt sich alles zurück. Und der Einzige, der davor gewarnt hatte, war Helmut Kohl.

Von dem Schock, dass die Leute ihn damals trotzdem gewählt haben, sollte er sich nie mehr erholen. Dann noch dieser unsägliche Spendenskandal und Entmachtung ausgerechnet durch eine ehemalige FDJ-Sekretärin, die genauso lange an der Macht bleiben würde wie er einst. Er, der Kanzler der Einheit, der jetzt selbst eine blühende Landschaft ist.

Der ewige Ossi

Heute, nach so vielen Jahren, weiß man nicht mehr viel über die alte Zeit im sozialistischen Osten. Nicht wenige Zeitzeugen sind schon tot. Und die anderen wollen entweder nicht mehr davon reden oder aber halten hartnäckig an einem Mythos fest: dem von der sagenumwobenen und einzigartigen Gemeinschaft der Ostdeutschen.

Tatsächlich ist ja heute alles zersplittert. Das lässt sich nicht bestreiten. Wie viel Wärme dagegen strahlt die gute alte Geschichte aus, dass die Menschen damals im Osten alle zusammenhielten. Keiner hat was alleine gemacht. Nicht ein Einziger wollte mal fünf Minuten Privatsphäre haben. Ja, alle haben zusammen geduscht, zusammen gebadet, zusammen gekocht und zusammen verdaut. Man kennt ja diese Schwarzweißfotos von den trennwandfreien Kollektivdonnerbalken aus den ostdeutschen Kinderkrippen. Wo die kleinen Nachwuchskommunisten darin trainiert wurden, sich schon beim Abstuhlen gegenseitig zu überwachen. Vom Kreißsaal bis zum Sarg waren wir ein Kollektiv. Sagen doch immer alle.