Wir hatten nix, nur Umlaute - Nils Heinrich - E-Book

Wir hatten nix, nur Umlaute E-Book

Nils Heinrich

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Beschreibung

1990. Alles geht mal vorbei. Man soll aufhören, wenn es am ätzendsten ist. Staatliche Wehrerziehung und evangelischer Posauenchor, real existierender Sozialismus contra Westfernsehen, Harz-Urlaube mit der buckligen Familie und Überfluss an Eierschecke: Wenn man wie Nils Heinrich als pubertierender Jugendlicher in der abgehängten Ost-Provinz aufgewachsen ist, lernt man, mental flexibel zu werden. Mit äußerst spitzer Zunge erzählt er, wie es war, damals, in dem Land, das früher «Drüben» hieß - und was nach der Wende aus ihm und seiner Heimat wurde. «Wenn Comedians oder Komiker Bücher schreiben, ist gemeinhin Vorsicht geboten, weil es sich oft nur um eine Zweitverwertung bereits abgespielten, verschorften Bühnenmaterials handelt. Umso größer ist die Freude, wenn dann einer von ihnen, Nils Heinrich, ein Buch verfertigt, das neu und lesenswert ist. Letzteres unter anderem deshalb, weil der Autor die seltene Kunst beherrscht, auf komische Art und Weise von nicht immer komischen Dingen zu erzählen.» (Jochen Malmsheimer)

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Seitenzahl: 286

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Nils Heinrich

Wir hatten nix, nur Umlaute

Meine Kreisstadtjugend mit Systemwechsel

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

WidmungWas ist da bloß passiert?Der Duft der HeimatKrankKinderarbeitKlassenkämpfe und ExilEin Mörder wird gesuchtZur Kur an die OstseeNicht für die Schule – fürs Leben lernen wir!Sport frei!SicherungskopieUrlaub im HarzErotisches zur NachtWestpioniereRaschel, raschelAlkohol …… und andere RauschmittelDie blasphemische BärbelÖrnyRussisch BrotDie Kampfreserve der ParteiWenig FreizeitArbeiterklasseDer Ernst des LebensMit uns zieht die neue ZeitEnde der HaftAnarchie und EntladungAlles andersSehen und KaufenSauberes EssenJede Menge AutosJede Menge FreizeitDer Mann mit den EiernAbschiedOrtswechselHausmannMeine NachbarnOktoberfestDer DealUnd heute?PSDanksagung
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Für Karl-Heinz Heinrich

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Was ist da bloß passiert?

Herzlichen Glückwunsch. Sie halten ein Buch in den Händen. Ein Buch über die DDR, das Ende der DDR und über das Ende der DDR hinaus. Es ist weder eine DDR-Opfer-Biographie noch ein DDR-Ostalgie-Schmöker. Ich war einer von Millionen. Ich wurde nicht verfolgt. Ich wurde nicht abgehört. Niemand denunzierte mich. Ich war glücklicherweise weder im Heim eingesperrt, noch musste ich im Jugendwerkhof Kassettenrekorder für den Quelle-Versand zusammenlöten. Ich hatte ein durchschnittliches Jugendlichenleben in einer Otto-Normalverbraucher-Familie in stinknormalen Verhältnissen. Ich machte mit, wo es nicht anders ging, und ich duckte mich weg, sobald sich die Möglichkeit bot. Ich konnte nicht überallhin reisen, aber immerhin zu den Zielen, die meiner Familie im Rahmen der finanziellen Verhältnisse möglich waren. Sicher gibt es vieles, was ich über die DDR nicht weiß oder ganz anders sehe als andere. Manchmal lese ich mir die bizarren Diskussionen durch, die in Internetforen oder in YouTube-Kommentaren von verbohrten DDR-Verteidigern mit kompromisslosen Sozialismuskritikern geführt werden. Danach habe ich meistens Kopfschmerzen.

Die DDR war ein kleines Gernegroßland mit subventionierten Kindergärten in grauen Städten, günstigen und knappen Mietwohnungen in kaputten Häusern, luftgetrocknetem Suppengemüse, Schwefel zum Einatmen, genannt «Luft», und kostenloser medizinischer Versorgung.

Viel Zeit ist mittlerweile ins Land gegangen. Junge Menschen von heute höre ich fragen: «DDR? BRD? Was sind das denn für Dateiformate?» Oder: «BRD, klar, kenn ich, das ist die Abkürzung von Blu-ray-Disc. Aber DDR? Sorry, keine Ahnung.»

Und warum sollte das heute überhaupt noch irgendwen interessieren? Komplexe Fragen, einfache Antworten: Ich wuchs im Sozialismus auf, einer sympathischen Schnapsidee, die leider nicht funktioniert hat. Hätte man den Menschen damals ihr Ego wegoperiert oder alle Gehirne mit geheimnisvollen Strahlen behandelt, die Geiz, Gier, Neid und Missgunst unterdrücken, wäre vielleicht was draus geworden. Es wird aber immer Wichtigtuer geben, die darauf brennen, anderen ihren Willen aufzudrücken. Genauso wie es immer Duckmäuser geben wird, die willenlos dem hinterherlaufen, der am lautesten brüllt. Die Geschichte hält da einen Fundus voller Beispiele parat.

Die DDR schrieb man in der BRD, die sich selbst als Deutschland bezeichnete, nur in Gänsefüßchen. Heute heißt die DDR «Kaufland». Ihre chaotische Insolvenz fand vor verdammt vielen Jahren statt. Das Land brach komplett zusammen. Und mit ihm ein Gesellschaftssystem, das sich selbst für überlegen hielt, aber bei genauerer Betrachtung ebenso unperfekt ist wie der gute alte Kapitalismus. Der funktioniert auch nicht. Es sei denn, man legt ihm sehr starke Ketten an, hält ihn im Keller gefangen und knüppelt ihm pausenlos auf seine gierigen Fingerchen. Der Unterschied zwischen beiden Systemen besteht nur darin, vor welchen Läden sich die Menschenschlangen bilden: im Sozialismus vor der Bananenausgabestelle und dem Bettwäscheladen – im Kapitalismus vor dem Apple-Store und der Drogenberatung bzw. vor der Armenspeisung, wenn mal wieder ein Wachstumszyklus rum ist und alles zusammenkracht.

Ich durfte der DDR beim Sterben zuschauen. Live und ein bisschen in Farbe. Denn Farbe war ja Mangelware, das Credo des Ostens war Bescheidenheit. Credo im Westen war ein Deoroller.

Lediglich der verwöhnte Ostteil Berlins, offiziell «Hauptstadt der DDR» genannt, bot gefüllte Kaufhallenregale, eine zufriedene Hauptstadtbevölkerung und breite, repräsentative Boulevards. Für die Einwohner Ost-Berlins hat der Sozialismus aus Sicht eines DDR-Provinzlers nämlich sehr wohl und wunderbar funktioniert. Kein Wunder, dass die große Mehrheit der verhätschelten und immer bestens versorgten Berliner erst in den allerletzten Tagen des heißen Herbstes 1989 massenhaft auf die Straße ging. Die Berliner wollten beim Event namens «Unblutige Revolution», das in Leipzig Fahrt aufgenommen hatte, zum Schluss auch mit dabei sein. Galt es doch, an die Zukunft zu denken und die Kerze an die richtige Stelle zu stellen. Siehe Angela Merkel.

Berlin. Hauptstadt der DDR. Schaufenster des Ostens. Jährlich fanden dort schneidige Militärparaden statt. Schnittige Panzermodelle aus sowjetischer Produktion rollten über die kilometerlange schnurgerade Karl-Marx-Allee. Das DDR-Fernsehen war stets live dabei. Die dunkelgrünen Totmacher wurden vorgeführt, als wären sie brandneue Sommerkollektionen an affektierten Topmodel-Gazellen auf Pariser Fashion-Shows. Auf einen solchen hausgroßen Schützenpanzer mit Dieselmotor musste ein NVA-Soldat nicht mal halb so lange warten wie ein DDR-Zivilist auf einen Trabi, der ja erst achtzehn Jahre nach der Bestellung ausgeliefert wurde. Wer nicht weiß, was ein Trabi ist: Sein richtiger Name ist Trabant, er war einer der zwei viereckigen Pkws, die die volkseigene Automobilindustrie der DDR zusammenfrickelte. Das andere Würfelauto hieß Wartburg. Die Karosse des Wartburgs bestand aus echtem Blech, die des Trabis aus einem Kunststoff namens Phenoplast, einer Mischung aus Epoxidharz, Spucke und Altkleidern – ein Spitzenprodukt der stolzen ostdeutschen Chemieindustrie. Beide Pkws wurden von Zweitaktmotoren angetrieben und mit Gemischbenzin betankt, mit dem man bis heute Mofas und Kettensägen zum Schreien bringt. Beide Pkws stießen beim Fahren hochtoxische Abgase aus und erzeugten ein hysterisches Knattern. Das war nicht der Sound von Eleganz oder Schnelligkeit, das war der Gesang sich zur Wehr setzender Pferdestärken, die man zum Rossschlächter treibt. Jenseits von sechzig km/h klangen die rollenden Möbelstücke so, als würde man mit einem Pürierstab klingelnde Handys zerschreddern. Fahrspaß hört sich anders an.

Immer stärker verblassen die Bilder der Vergangenheit. Die Mauer ist ja fast schon wieder länger weg, als sie überhaupt stand. Wobei das mit der Mauer ja auch wieder so ein privilegiertes Berlin-Ding war. Als hätte die hochnäsige Bevölkerung dieser gepäppelten, im Rest der DDR gleichermaßen verhassten wie beneideten Kackstadt Berlin noch nicht genug in den dicken Hauptstadthintern geblasen bekommen, stand dort auch eine imposante, handwerklich akkurat hochgezogene, vorzeigbare wunderschöne Mauer. Eine berühmte Sehenswürdigkeit, ein Weltstar aus Beton. Vor dieser Mauer wurden sogar Musikvideos gedreht. Der Clip zum einzigen größeren Hit der englischen Band Marillion, «Kayleigh», zeigt zum Beispiel den Marillion-Sänger Fish, wie er vor der Berliner Mauer auf und ab taumelt, natürlich auf West-Berliner Seite, und eine Perle namens Kayleigh singend um Verzeihung anfleht. Mit seinen fettigen Haaren und der abgerissenen Oberbekleidung sieht Fish kein bisschen aus wie ein berühmter Popstar, sondern eher wie ein depressiver Religionslehrer, den sie gerade aus der Kneipe geworfen haben. Warum ein Engländer, der miserabler frisiert und angezogen ist als ein Ostdeutscher, ausgerechnet vor der Berliner Mauer ein Liebeslied singt, ist mir bis heute unerklärlich. Vielleicht symbolisiert die Mauer seine Trennung von Kayleigh. Oder die ominöse Kayleigh soll ihm bitte endlich vergeben, sonst macht er es wahr und macht in den Osten rüber – und das kam in den Achtzigern nicht mal für hartgesottene Kommunisten aus der BRD in Frage. So fies sie den leibhaftig erlebten Kapitalismus auch fanden, im real existierenden Sozialismus mochte keiner von ihnen leben. Und wenn doch, dann nur, weil die DDR wie im Falle der untergetauchten RAF-Terroristen eine Art offener Vollzug mit lecker Kompott nach dem Mittagessen war, im Gegensatz zur einzigen anderen Alternative: Einzelzelle. Einigen gutgläubigen Träumern, die trotzdem voller Aufbruchstimmung den vermeintlich besseren deutschen Staat austesteten – dem Hamburger Wolf Biermann und einer Handvoll anderer Intellektueller aus Westdeutschland –, wurden ganz fix die Schattenseiten aufgezeigt. Ihr Traumland offenbarte ihnen seine muffig-faltige Fratze: gerontokratisch in Grund und Boden verwaltet von einer greisen Gang, die immer schon «dabei gewesen» war und Klassenkampf gegen die eigene Bevölkerung führte.

Vermutlich hat Kayleigh ihrem Fish angesichts seines Vorhabens umgehend vergeben, die Trennung rückgängig gemacht und ihn so für immer davon abgehalten, weitere Hits zu schreiben.

Der miserabel frisierte Achtziger-Jahre-Classicrockstar war nicht der Einzige, für den die Mauer eine gruslig-funktionale Kulisse abgab. Politiker aus aller Welt gaben sich vor der doppelten Trennwand des Kalten Krieges ein Stelldichein und wurden vor ihr für die internationale Presse abgelichtet. Jaja, die Mauer. Tolles Ding! Uns, den vernachlässigten Deppen in der popligen Provinz-DDR, bot nur ein schnöder Maschendrahtzaun Schutz vor den heimtückischen Attacken des bösen, bösen Westens.

Einige Überlebende mögen nun einwenden, dass immerhin der Zusammenhalt in diesem ominösen «Früher» stärker gewesen sei. Und der Sex ehrlicher. Und der Körpergeruch intensiver. Stimmt. Das ist nun mal der Vorteil, wenn Autos so knapp sind, dass nicht jede Frau eins besitzt, um schnell aus der Dorfdisco zu türmen, bevor ihr ein schnauzbärtiger Schmerbauchträger in Ganzkörper-Schneejeans erfolgreich ein Ohr abkaut. Nach langen Stunden schweigsamer Anteilnahme an seinem Leben kapituliert sie, weil er ihr an der Bar alle nötigen alkoholischen Narkosemittel für die gemeinsame Nacht spendiert hat und irgendwann eh alles egal ist.

Ach, Sozialismus, alter Loser! Du warst eine Schorle aus innerer Verweigerung, Resignation, konspirativer Systemkritik und billigem Bier, das schneller sauer wurde, als man es sich in den Hals schütten konnte. Jeder Tag war eine einzige Flatrateparty voller Zusammenhalt. Mehr Zusammenhalt sogar, als einem lieb war – wie man dann später in seinen Stasi-Akten nachschmökern konnte. Apropos Liebe: Unsere Scheidungsrate war noch höher als der Medaillenspiegel unserer Olympioniken. Und deren Medaillenspiegel wiederum ebenso hoch wie ihr Testosteronspiegel. Je mehr Medaillen beispielsweise eine weibliche Spitzensportlerin gewann, umso gründlicher musste sie sich an immer ungewöhnlicheren Körperstellen rasieren. Glücklicherweise hatten wir in der DDR fürs Rasieren und überhaupt für alles Mögliche viel Zeit. Denn es passierte ja kaum was Aufregendes.

Oder etwa doch?

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Der Duft der Heimat

Bevor ich aus dem Nähkästchen meiner Kindheit plaudere, möchte ich kurz die Stadt beschreiben, in der mein Schicksal seinen Lauf nahm: Sangerhausen.

Steuert man sein Auto auf der neuen Südharzautobahn A 38 zügig gen Osten, stehen irgendwo zwischen Wallhausen und Riestedt, zwischen Pölsfeld und Oberröblingen, wo sich Fuchs und Hase «Gute Nacht» nicht mehr sagen, sondern twittern, die Reste der Berg- und Rosenstadt Sangerhausen. Diese Stadt hatte zu DDR-Zeiten mal so etwas wie eine Bedeutung. Eine Maschinenfabrik («Mafa»), eine Fahrradfabrik («Mifa»), eine Malzfabrik (vermutlich «Malza»), eine Brauerei, eine Feilenfabrik, die überall in der DDR anzutreffende Landwirtschaftliche Produktionsgemeinschaft (LPG), ein Elektroanlagenbau, ein Starkstromanlagenbau und vor allem der hoch oben über Sangerhausen thronende Kupfer-Schacht («Thomas-Müntzer-Schacht») machten die Einwohner zu stolzen Werktätigen. Doch das ist lange her. Die einstmals stolze Kreisstadt ist nahezu komplett in Rente gegangen und genießt ihre Ruhestandserrungenschaften. Die immer älter werdenden Einwohner steuern ihre sauberen Autos über glatte, sanierte Straßen vorbei an farbenfrohen Mehrgenerationenhäusern, hypothekenbelasteten Einfamilienschlösschen sowie dem ein oder anderen neu erschlossenen Gewerbegebiet ohne Gewerbe. Auf einer riesigen Freifläche im Osten der Stadt standen vor wenigen Jahren noch die imposanten Backsteinhallen der Sangerhäuser Mafa – ein richtiges Industriedenkmal war das! Dann wurde alles abgerissen. Heute ist von all den Gebäuden nicht mal mehr ein einziger, winziger Ziegelstein vorhanden. Und die Sangerhäuser Maschinenfabrik nur noch ein Gerücht.

Seit Jahren macht die Konjunktur einen großen Bogen um die Stadt, obwohl die Infrastruktur mit Gleisanschluss und Autobahn vor der Haustür denkbar beste Voraussetzungen für geschäftstüchtige Vertreter der mittelständischen Wirtschaft bietet. Aber warum passiert nichts? Liegt es an der Lokalpolitik? Liegt es an der ganz speziellen Mundart des Mansfelder Landes, dem Mansfelder Wackenschäddeldialekt, der in unvorbereiteten Ohren noch fürchterlicher klingt als Schwäbisch – was potenzielle Investoren abschrecken könnte? Oder ist mal wieder die Gesamtsituation verantwortlich? Niemand vermag es zu sagen. Das Angebot an Ausbildungsplätzen tendiert, abgesehen von Einzelfällen, nicht nur gegen null, sondern gegen null Komma null. Jahr für Jahr verlässt ein weiterer frischgebackener Jahrgang Schulabgänger die Stadt, um endlich in der Ferne sein Glück zu suchen. Die Zahl der Schulabgänger wiederum schrumpft kontinuierlich. Es werden immer weniger Kinder geboren. Irgendwann wird keine Menschenseele mehr da sein. Eine Spirale des Niedergangs, die sich langsam, aber unaufhörlich weiterdreht.

Der einzig nennenswerte innerörtliche industrielle Arbeitgeber ist nach wie vor das Fahrradwerk Mifa – laut Eigenwerbung der «Größte Fahrradhersteller Deutschlands». In puncto Produktivität und Entlohnung begegnet die kleine Firma, die zu DDR-Zeiten das ganze Land mit Fahrrädern ausstattete, der gnadenlosen asiatischen Konkurrenz auf Augenhöhe. Das heißt: In der gut ausgelasteten Sangerhäuser Fahrradmanufaktur, wo Einzelteile aus Billiglohnländern zu Fahrrädern und vor allem E-Bikes Made in Germany zusammengeschraubt werden, gibt es zwar Arbeit, aber kein Geld zu verdienen. Vor allem ein Gesellschafter reißt sich nach und nach immer mehr Anteile an der offenbar hochprofitablen Mifa unter den Nagel: die Maschmeyer Group von Carsten Maschmeyer aus Hannover. Die traurige Realität ist: Nahezu alle Angestellten der rentablen Drahteselschmiede müssen sich ihren kargen Lohn von der Arbeitsagentur aufstocken lassen. Sonst könnten sie auch gleich zu Hause sitzen bleiben – was viele andere Sangerhäuser seit Jahren tun. Diese Leute müssen verwaltet werden, weshalb die Arbeitsagentur Sangerhausen einer der beiden größten städtischen Arbeitgeber ist – neben dem Krankenhaus.

Im finsteren Sozialismuspleistozän kauerte am Ostrand der Stadt eine Tierkörperverwertung. Wie der Name schon sagt, wurden hier Tiere verwertet – Tiere, wie sie toter nicht sein konnten. Meistens tote Rinder aus der örtlichen LPG. Aus den Kadavern holte man das Letzte raus. Was genau, kann ich nur vermuten, da die Tierkörperverwertung schon lange nicht mehr arbeitet. Knochen, Knorpel und Bindegewebe kochte man vermutlich wie Dreckwäsche stundenlang in mannsgroßen Bottichen, wo die tierischen Rohstoffe bei riesiger Hitze Gelatine ausschwitzten. Rinderknochen geben Gelatine ab, wenn man sie vorher mit – Achtung, liebe Faktenhuberpolizei – Kalkmilch behandelt. Was immer Kalkmilch auch sein mag. Neulich hielt ich im Drogeriemarkt eine Tüte politisch korrekter Gummibärchen eines kleinen Herstellers in der Hand. Der Hersteller wollte auf besonders schlau machen. Seine Bärchentüte gaukelte vor, eine besonders unbedenkliche Nascherei zu enthalten, die «Ohne Rindergelatine» auskomme. Offenbar sollten damit begriffsstutzige Vegetarier geködert werden. Die Gelatine, die in der Gummibären-Zutatenliste an zweiter Stelle auftauchte, war zweifelsohne stinknormale Schweinegelatine. Aus Schweinen wird das Zeug ja hauptsächlich gewonnen. Aber unsere kleine DDR war das Land der großen Unmöglichkeiten. Und wenn Schweinemangel herrschte, waren eben Rinderknochen fällig. Wir haben alles aus allem rausgeholt. Nach wie vor ist schöne Gelatine ja ein wichtiges Material für die Lebensmittelindustrie. Ohne den glibberigen Geist der toten Tiere müsste man Joghurt mit dem Strohhalm trinken. Ja, liebe Blähbauchsekretärinnen, die Sie Bakterienjoghurt löffeln, damit Sie nicht pupsen müssen, wenn Sie sich beim Chef einschleimen: Tote Tiere – Sie baden gerade Ihren Löffel darin! Eine Welt ohne Gelatine wäre undenkbar. Auch die leckere grüne Götterspeise verdankt der Gelatine ihre Existenz. Sogar Butter, Margarine und Tortenguss verdanken dem Tiergelee ihre Stabilität. Ebenso kann die unser Leben lebenswerter machende Medizintechnik nicht auf den Einsatz von Gelatine verzichten. Und die erfinderische Pharmaziebranche fertigt aus Gelatine Kapseln für Pillen oder Beschichtungen für allerlei Gefäßimplantate. Gelatine landet also letztlich wieder dort, wo sie einst drin war: in einem Körper. Knochen auskochen ist eine lebensverlängernde Maßnahme, das Leben und der Tod sind ein ewiger Kreislauf – aber ich schweife ab. Blicken wir wieder auf die von uns gegangenen Großvieheinheiten zurück. Auch ihre Außenverkleidung blieb nicht ungenutzt: Dem Kuhfell wurden die Haare abrasiert, bis die Lederhaut glatt genug zum Gerben war. Den toten Augen schälte der klassenbewusste Schinderhannes die Netzhäute ab. Medizinische Betriebe bereiteten die labbrigen Linsen auf. Volkseigene Ärzte pflanzten sie dann augenkranken Ostrentnern ein. Denn die mussten ja richtig gucken können, um beim Verwandtschaftsbesuch im Westen durch Entgegennahme der richtigen Kaffeesorte brenzlige Dauerengpässe der ostdeutschen Bohnenkaffeegrundversorgung abzumildern.

Tierkörperverwertung war eine wesentliche Stütze der ostdeutschen Wirtschaft. Hatten die Kadaververwerter am Ende wirklich alles aus den Viechern herausgeholt, verfeuerten sie die ausgelutschten Reste. Was nicht verbrannt werden konnte, vergruben die Ausbeuter des profitablen Tiertodes in der Erde. Hoffentlich schön tief.

Die totgemolkenen Kühe, die im steten Kampf gegen den Imperialismus im Schulterschluss mit den Kühen der UdSSR ihre letzte Milch gegeben hatten, waren für alle Werktätigen der DDR Vorbild und Mahnung zugleich, für die Stärkung des Sozialismus das Letzte zu geben. Und wenn es nur ein Knorpel war, der von aufeinanderschabenden Bandscheiben breitgedrückt wurde und den Nerven im Rückenmark meldete: «Bandscheibenvorfall!»

Wenn man Tierkadaver auskocht, röstet und abschmirgelt, riecht das natürlich ganz fürchterlich. Tag für Tag quoll aus den dicken Schloten der Abdeckerei, wie diese Einrichtung damals treffender hieß, dicker Endzeitnebel. Mehrfachstufenfilter aus Aktivkohle für das Abgassystem der Abdeckerei existierten nicht. Ich bezweifle sogar, dass die Abdeckerei überhaupt irgendein Abgassystem hatte. Sie hatte einfach nur Abgas!

Die Stinkeschwaden lungerten zäh und träge in der Luft herum. Kam der Wind von Ost, verteilte er den Hauch des Todes gleichmäßig in allen Straßen und ließ schlechte Tage endlich so riechen, wie sie waren: schlecht!

Menschen stellten das Atmen durch die Nase ein. Hunde fanden ihr markiertes Revier nicht wieder. Man ließ den Mund zu, gesprochen wurde nur das Nötigste. Raucher hörten auf zu rauchen, die Zigaretten schmeckten einfach nicht mehr. Außer Karo ohne Filter, die schmeckten wie immer. Den scharfen Gestank des toten, brennenden Fleckviehs werde ich nie wieder vergessen. Ihn verbinde ich ebenso mit Heimat wie die große Sangerhäuser Schachthalde.

Hoch oben über der Stadt thront ein gigantischer Kegel. Er besteht aus purem Schotter. Über andere Städte wacht ja hin und wieder eine imposante Burg – das Wahrzeichen von Sangerhausen ist grauer Steinmüll. Jahrzehntelang wurde der Schotter aus dem Untergrund tief unter der Stadt gebrochen und an der höchsten Stelle nördlich der Stadt aufgeschüttet. Kupfer war der Grund. Genauer: eine höchstens zwanzig Zentimeter dünne, wie ein Pizzateig unterm Mansfelder Land ausgerollte Kupferschieferschicht. Irgendwo im Harz guckt sie aus der Erde, um dann in Richtung Süden immer tiefer gen Erdmittelpunkt abzusinken. Unter Sangerhausen versteckt sich die Kupferkruste in einer Tiefe zwischen dreihundert und vierhundert Metern. Nicht nur in den Sangerhäuser Schacht, auch über weitere Schachtbetriebe in den Nachbarorten fuhren bis zum Ende der DDR die Kumpel, vulgo «Wackenschäddel», in den Berg ein, um der Mansfelder Unterwelt unter widrigsten Bedingungen das wenige kostbare Buntmetall möglichst gründlich abzutrotzen. Unglaublich viel Steinmüll fiel dabei an, sodass jeder einzelne dieser Schächte die gleiche Abraumhalde ausspuckte, wie Sangerhausen eine krönt. Man drang bei der Kupferschieferförderung so tief ins Sediment vor, dass die Kumpel teilweise bei Temperaturen bis zu dreißig oder gar vierzig Grad zu arbeiten hatten. Tief unter der Erde war es wärmer als oben in der Stadt im Hochsommer. Im Kampf für den Sozialismus machten die tapferen Wackenschäddel selbst vor dem äußersten Kreis der Hölle nicht halt. Bergmann zu sein hieß, sich mehrere hundert Meter unter der Erde in absoluter Finsternis, die nur ab und an von einer Glühlampe durchbrochen wurde, den Körper kaputt zu knechten und sich zur Stimmungsaufhellung eine stabile Alkoholsucht aufzubauen. Keine paradiesischen Zustände.

Doch die lokalpolitische Propaganda und einige Lehrer in der Schule hämmerten uns jahrelang ein, dass die fleißigen Kumpel des VEB-Mansfeld-Kombinates «Thomas Müntzer» den Untiefen der Südharzer Scholle das weltweit reinste Kupfer abtrotzten; das Buntmetall aus dem Schacht Sangerhausen sei sogar im Westen sehr begehrt. Denn der Westen verfüge selbst nicht über Kupfer von solch perfekter Reinheit.

Frage im Unterricht: «Warum ist unser Kupfer im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet so begehrt?»

«Weil es billig ist?»

«Falsch. Ganz falsch! Oder sollte das eine Provokation sein? Unser Kupfer ist reiner als Westkupfer!»

«Es hat ja auch die richtige Überzeugung.»

«Das habe ich jetzt nicht gehört.»

Kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch der DDR wurde publik, dass der Kupferbergbau in unserer Gegend schon lange mehr Geld verschlang, als er einbrachte. Mit dem Verkauf von Antiquitäten, Kunst, Waffen und karierter Bettwäsche, die politische Häftlinge in Knastnähereien herstellen mussten, nahm die DDR deutlich mehr Devisen ein. Diese zögerten das Kollabieren des maroden Staatshaushaltes noch einige Jährchen hinaus, konnten es jedoch nicht verhindern.

Mit Einbruch der Wende war dann Schicht im Schacht – zu teuer die Förderung, nicht einträglich genug das Kupfergeschäft. Ich habe mal gelesen, dass die DDR mit Kalibergbau sehr viel mehr verdient hätte als mit dem popligen Kupfer. Aber so weit wurde politisch nicht gedacht. An den Schalthebeln der Wirtschaft saßen unfähige Nieten. Die Spezialisten mit Visionen, Fachwissen und Ideen steckten in machtlosen Positionen fest, in denen sie nichts, aber auch gar nichts entscheiden konnten.

In all den Nachwendejahren sickerte in die hohlgebuddelte Unterwelt des Mansfelder Landes immer mehr Grundwasser ein. Der Sangerhäuser Untergrund ist dank Bergbau so porös wie ein siffiger Abwaschbecken-Schwamm, und nur der Teufel alleine weiß, wann alles mit Getöse in sich zusammenfällt und das wenige restliche Leben oben auf der Erde mit sich in die Tiefe reißt.

Immerhin: Die riesengroße Schotterhalde ist begehbar. Nach dem zwanzigminütigen Hochkraxeln wird der stolze Bezwinger oben auf dem Gipfel zunächst mit einem überwältigenden 360°-Rundum-Ausblick über den wunderschönen Südharz belohnt. Die Gegend rund um Sangerhausen mit ihren sanften Hügeln, den saftig grünen Wiesen und kleinen Wäldchen wirkt tatsächlich so, als hätte ein Riesenbaby ein kleines Stückchen aus dem Teletubbieland ausgestanzt und nördlich von Thüringen runterfallen lassen. Wenn man großes Glück hat, erspäht man auch hin und wieder einen scheuen, leicht übergewichtigen Eingeborenen, der ein bisschen wie ein Teletubbie aussieht.

Der Schachthaldenbezwinger hockt also erschöpft, aber glücklich hoch oben auf seinem Steinberg, genießt den Ausblick und belohnt seine Leistung anschließend mit einer ortsüblichen Fettbemme. Oder einer grauglänzenden Hausschlachteleberwurstbemme, die er mit herzhaften Hapsen verzehrt. Das ist das Frühstück des unbekannten Kupferkumpels, nur hat der damals tief unter der Erde zusätzlich noch eine daumendicke Schwarte Speck vertilgt, einen Energieriegel, der nicht nur Kraft spendet, sondern noch lange von innen nachfettet.

Hoch oben über den Wäldern verströmt der traditionelle Brotaufstrich den strengen Angstgeruch der dafür getöteten Sau. Jetzt noch mit einem kühlen Hasseröder Pilsner («Männer wissen warum») nachspülen – herrlich! In der feuchten Hitze unter Tage stank es nach strengem Essen, doch oben auf dem Schachtberg bekommt niemand mit, wie es aus dem Hals riecht.

Zum Riechen sind ja auch die schönen Sangerhäuser Rosen da, die für das «Rosen» in Berg- und Rosenstadt stehen und deren betörenden Duft man seit der Schließung der Abdeckerei auch wieder riechen kann. Mehrere zehntausend Rosen blühen Jahr für Jahr in der botanischen Dauerausstellung namens Rosarium, die weit über die Grenzen von Sangerhausen hinaus bekannt ist. In der Sommersaison wird das Rosarium von dezent parlierenden Rosenliebhabern aus aller Welt besucht. Farbenmeer und Duftcocktail sind ein einziger Festrausch für die Augen und die Näschen der überwiegend rüstigen Rosenfreunde. Ja, das muss man deutlich sagen, es duftet jetzt gut in Sangerhausen. Jeder Tag ist ein neues Festival für leidenschaftliche Schnüffelnäschen. Im Sommer feiert sich das Rosarium jährlich mit dem «Berg- und Rosenfest», das mehrere Tage dauert. Dieses Highlight veredeln regelmäßig Prominente oder zumindest Semiprominente mit ihren Auftritten. Zum Beispiel Schlagersänger, deren Namen nur den Zuschauern aus dem Einflussbereich des Mitteldeutschen Rundfunks etwas sagen. Diese Stars zum Anfassen singen auf der Freilichtbühne des Rosariums ihre Lieder, die durch die Bank genau so klingen, als hätte man sie schon mal von Andrea Berg gehört, woraufhin die Leute auf Verdacht mitklatschen. Alle fünf Jahre beehren dann mal richtige Stars vom Schlage der Kastelruther Spatzen die Stadt. Allerdings sind selbst deren Auftritte nicht ausverkauft. Zum einen sind die Eintrittskarten unerschwinglich teuer, und zum anderen sind die Hardcorefans der Spatzen nicht mehr so gut zu Fuß. Der Rest, der nur gucken will, ob die Kastelruther Spatzen genauso gedrungen und alt aussehen wie im Musikantenstadl, lungert hartnäckig vorm abgesperrten Konzertareal herum und lauscht. Denn es ist endlich mal was los in Sangerhausen, und da muss man ja mal hingucken. Damit man am nächsten Tag mitreden kann, wenn die anderen erzählen, was sie so gehört haben. Was ja auch wichtig ist für Leute wie mich, die schon lange nicht mehr in Sangerhausen leben, aber trotzdem wissen wollen, was dort gerade passiert. Oder nicht passiert.

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Krank

Zu den eher finsteren Erinnerungen an meine eigentlich recht schöne Kindheit gehört die an eingedickten Holundersaft. War ich stark erkältet, bereitete mir meine Mutter voll guter Absicht das allgemein als heilsam bewährte Hausmittel zu. Aller Widerstandskräfte beraubt, musste ich den heißen, sauren Sirup unter ihrer strengen Aufsicht vom Teller löffeln.

1979. Sangerhausen. Bezirk Halle.

«Mutti, ich will das nicht essen!»

«Halt den Mund, du isst das!»

«Ich kann das nicht essen!»

«Doch, du kannst das!»

«Ich muss brechen, wenn ich das esse!»

«Das werden wir ja sehen.»

Damit sollte sie recht behalten. Ich führte den Löffel zum Mund. Meine Zunge musste gar nicht erst schmecken, was jetzt kommt. Meine Zunge konnte es riechen. Unmittelbar setzte der Würgereiz ein. Quod erat demonstrandum!

Ich hasste eingedickten Holundersaft. Vom Teller aus dampfte mir das offensive Obst seine ungezügelte, aggressive Energie in die Nase. Holunderbeeren sind eigentlich kleine, friedliche Gesellen aus dem Wald. Aber ihre Essenz, ihr purer Wille, kann Bösewichte töten. Vor mir stand der tiefe Teller, bis zum Rand gefüllt mit fanatisierter heißer Masse, die absolut bereit war, einen Vernichtungskrieg gegen feindliche Krankheitserreger vom Zaun zu brechen. Ich musste nur einen Löffel davon runterwürgen. Oder zwei. Oder fünf. Aber ich schaffte es nicht. Das Zeug schoss schneller wieder nach oben, als ich’s runterschlucken konnte.

Meine Eltern hatten es auch sonst nicht leicht mit mir. Ununterbrochen war ihr Junge krank. Das hatten sie sich anders vorgestellt. Man setzt doch kein Kind in die Welt, damit es schlapp und blass im Bett liegt! Da kann es doch keiner von den Nachbarn sehen. Ein krankes Kind will auch keiner sehen. Das steckt ja alle an!

Ein Kind soll was leisten. Es soll krabbeln lernen. Wörter brabbeln. In ganzen Sätzen sprechen. Sich am Sofa hochziehen. Alleine aufstehen, ohne Sofa. Laufen, ohne sich festzuhalten. Und Fahrrad fahren ohne Stützräder, denn Stützräder sind für Pussies! Man will den kleinen Racker beim Menschwerden beobachten, besessen vom starken Wunsch: «Hoffentlich wird es ein vernünftiger Mensch und kein Vollidiot!» Inständig hofft man, dass die eigenen kostbaren Erbinformationen einigermaßen fehlerfrei verknüpft wurden. Das Gedeihen der Lendenfrucht soll die Eltern mit Stolz erfüllen, nicht mit Scham. Zusätzlich gilt es zu verhindern, dass dem Nachwuchs was zustößt. Hoffentlich stürzt kein russischer Weltraumschrott aus dem All auf die Erde, wenn der Kleine gerade draußen im Sandkasten sitzt! Einmal nicht hingeguckt – Beule am Kopf! Und am schlimmsten: Weil im entscheidenden Augenblick wieder mal kein Fotoapparat zur Hand ist, existiert von der Kollision des eigenen Kindes mit einem sowjetischen Spionagesatelliten nicht mal ein schönes Pannenfoto! Das war selbst in der DDR ärgerlich, denn Fotoapparate besaß jeder. Preiswerte Einsteigermodelle erhielt man für wenig Geld im Fachhandel. Auch die Filme und die Entwicklung der Fotos im Fotogeschäft waren bezahlbar – wenn man sich an Schwarzweißfotos hielt. Farbe musste man sich leisten können.

Die auf diesem Planeten am meisten fotografierten Dinge – noch vor Katzenbabys – sind die eigenen Kinder. Eltern müssen ihr Kind schon aus Sicherheitsgründen pausenlos ablichten. Und natürlich aus Sentimentalität. Beispielsweise gehören alle adipösen Abschnitte der Kindheit lückenlos dokumentiert! Die Fotos dieses kleinen dicken Jungen möchte man ja anlässlich seines achtzehnten Geburtstages oder, noch lustiger, vor der versammelten Hochzeitsgesellschaft im möglichst großen Familien- und Freundeskreis auf einer möglichst großen Leinwand vorführen.

Da ist es natürlich mehr als kontraproduktiv, wenn das Balg nicht draußen spielt, wie es sich gehört, sondern laut röchelnd unter der Bettdecke irgendwelche kranken Exzesse mit wildfremden Keimen veranstaltet. So wie ich das tat. Ich war meinen Eltern ein todlangweiliges Kind, in keiner Weise vorzeigbar.

Als letzte vermeintliche Wunderwaffe gegen das ewige Kranksein, vielleicht aber auch als Vergeltungsmaßnahme, wurde also eingedickter Holundersaft in Stellung gebracht.

Aber mir ging es doch wirklich nicht gut! Masern, Röteln, Windpocken, Mumps, Grippe, Verdacht auf Hirnhautentzündung, Akne, Nasenbluten und Pubertät – was auch immer an Krankheiten gerade in der Gegend war, sie kamen alle mal eben auf einen Sprung bei mir vorbei und blieben auf unbestimmte Zeit.

Wären die Pocken, die Pest, Milzbrand und offene Tuberkulose mit blutigem Auswurf in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern populär gewesen – ich hätte sie mir auch zugelegt. Garantiert!

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Kinderarbeit

Nicht nur meine Eltern waren für mich DDR-Kind erziehungsberechtigt. Das System hatte den beiden zur Unterstützung noch jede Menge kompromisslose Anordnungen und ausdrückliche Verbote zur Seite gestellt. Zum Beispiel im Straßenverkehr: «Bei Rot bleib stehen, bei Grün darfst du gehen!» Für mich eine abstrakte Regel. Auf meinem Schulweg befand sich keine einzige Ampel. Ich ging auf Sicht und Gehör über die Straße. Die Motorengeräusche unserer Autos konnte ein Tauber ohne Hörgerät nämlich schon aus drei Kilometern Entfernung hören. Die gleichermaßen schwache wie ohrenbetäubende Motorisierung der sozialistischen Kraftfahrzeuge und deren entsprechende Geschwindigkeit ließen, während der Radau langsam zunahm, hinreichend Zeit zum Überqueren der Straße, sogar rückwärts und auf einem Bein. Wenn man das kreischende Gefährt nicht mehr nur hören, sondern auch noch riechen konnte, war man schon sicher auf der anderen Seite angekommen. Das funktionierte also auch ohne Ampel.

Verbote wie zum Beispiel «Betreten für Unbefugte verboten!» oder «Reichsbahngelände, Lebensgefahr!» sollten unseren Willen brechen, verhießen aber meist Spiel, Spaß, Spannung und Abenteuer. Mit einigen Jungs aus meiner Schulklasse bin ich so häufig unbefugt über den großen städtischen Müllplatz gestromert, dass man uns eigentlich Mitgliedsausweise für das Gelände hätte ausstellen müssen. Ich fand damals sogar heraus, wie Alufolie gewalzt wird: Man legt einfach DDR-Münzgeld, das ja aus Aluminium gepresst war, auf Eisenbahngleise und lässt einen Güterzug drüberrattern. Fertig.

Neben den Verboten machte ich gleichzeitig die Bekanntschaft großer Versprechen. Die man allerdings nicht mir gab, sondern die ich zu geben hatte. Auf Anordnung. Gratis zu meiner Einschulung 1978 bekam ich auch die Mitgliedschaft in der Pionierorganisation «Ernst Thälmann» geschenkt. Gerade war ich noch als tölpelhaftes Kindergartenkind durch die Gegend gestolpert, schon war ich Schüler plus Jungpionier. Das war das Komplettpaket und gehörte zusammen wie Volksmusik und Säuferleber. Oder wie Gottesfürchtigkeit und Genitalverstümmelung, wenn man unschuldig in eine entsprechende Religion hineingeboren wird. Niemand fragt dich, und trotzdem bist du mittendrin, obwohl du nie dabei sein wolltest.

Man händigte mir zwei weiße Pionierhemden aus – ein kurzärmliges für den Sommer und eins mit langen Ärmeln für den Herbst, den Winter und die kalten Abschnitte des Frühlings. Außerdem erhielt ich das blaue Halstuch der Jungpioniere. Und den ersten richtigen echten Ausweis meines Lebens: den Jungpionierausweis! Darin klebte mein Passbild, glaube ich. Da ich noch nicht schreiben konnte, nur krakeln, hatte die Pionierleiterin unserer Schule, der Polytechnischen Oberschule «Ernst Thälmann», den Ausweis für mich unterzeichnet. Einfach so, ohne zu fragen, hatte die Frau meine Seele an die Pionierorganisation verkauft. Ich kam der Urkundenfälscherin erst viele Monate später auf die Schliche, als ich endlich lesen konnte. Aber da war es schon zu spät. Sie hatte für mich den freiwilligen Selbstverpflichtungen zugestimmt, die man «Pioniergebote» nannte und die in folgender Reihenfolge im Pionierausweis abgedruckt waren:

Wir Jungpioniere

lieben unsere Deutsche Demokratische Republik.

Wir Jungpioniere

lieben unsere Eltern.

Wir Jungpioniere

lieben den Frieden.

Wir Jungpioniere

halten Freundschaft mit den Kindern der Sowjetunion und aller Länder.

Wir Jungpioniere

lernen fleißig, sind ordentlich und diszipliniert.

Wir Jungpioniere

achten alle arbeitenden Menschen und helfen überall tüchtig mit.

Wir Jungpioniere

sind gute Freunde und helfen einander.

Wir Jungpioniere

singen und tanzen, spielen und basteln gern.

Wir Jungpioniere

treiben Sport und halten unseren Körper sauber und gesund.

Wir Jungpioniere

tragen mit Stolz unser blaues Halstuch.

Wir bereiten uns darauf vor, gute Thälmann-Pioniere zu werden.

Das war das Gegenprogramm zu den zehn Paragraphen des kirchlichen Grundgesetzes, die man «Gottes Gebote» nannte. Ich wollte also ein guter Mensch werden, der sich regelmäßig wäscht und gern bastelt, wenn er nicht gerade singt, tanzt, spielt oder jemandem bei einer schweren Arbeit unter die Arme greift. Am besten gefiel mir das Gebot mit dem Frieden, denn Weltfrieden fand ich persönlich immer schon gut. Der macht nicht so einen Krach und so viel kaputt wie Krieg. Auch «Freundschaft mit den Kindern aller Länder halten» sagte mir zu – vielleicht war es ja möglich, eines der befreundeten friedliebenden Kinder mal in seinem schönen Land zu besuchen? Ich war ein kleiner lieber Junge, auf den die Gebote gut passten – bis auf das mit dem Sport. Waschen ja, aber Sport musste nicht sein.

Mein Einsatz für den Weltfrieden erschöpfte sich erst mal im Sammeln von Altstoffen. Altpapier, Altglas, Alttextilien und Altmetall wanderten in der DDR nicht so einfach in den Müll – das ganze alte Zeug war nämlich prinzipiell noch zu gebrauchen und wurde von allen Haushalten gesammelt. Mehrmals im Jahr klingelte dann ein engagierter Jungpionier in Zivil – die Pionierkluft trugen wir nur an offiziellen Feiertagen und zu Pioniernachmittagen – an den Haustüren in der Nachbarschaft und holte die staubigen und muffig nach Mangel und Trostlosigkeit riechenden Sekundärrohstoffe mit einem Bollerwagen ab, um sie zur Sekundärrohstofferfassung zu transportieren, wobei jeder Altstoffabholer seinen festen Kundenkreis hatte. Die mühsame Plackerei rentierte sich. Denn je mehr Gewicht die vergilbten Zeitungen, die dicken Einweckgläser oder die von ganzen Familienverbänden fransig getragenen Alttextilien auf die Waage brachten, umso mehr Geld zahlte der Sekundärrohstoff-Erfassungsmann dem Jungpionier aus.

In Sangerhausen waren die Altstoff-Patzers der absolute Platzhirsch auf diesem Gebiet; die drei graugesichtigen Patzer-Söhne betrieben dank ihrer kathedralengroßen Lagerräume den größten SeRo-Stützpunkt der Stadt. Mutter Patzer tauchte nur gelegentlich auf, um ihren Söhnen dicke, strengriechende Wurststullen zu bringen. Den Vater der Patzer Brothers hatte noch niemand zu Gesicht bekommen. Vermutlich hockte der Altstoffpate in einem Hinterzimmer, drehte den Siegelring um seinen dicken Wurstfinger und ließ sich die Sorgen und Nöte seiner Mitmenschen vortragen, um ihnen dann «einen Gefallen zu tun». Ich nehme ja an, dass das Syndikat der Patzers von der DDR-Aufbereitungsindustrie sehr viel mehr Geld für das alte Zeug einstrich, als sie den emsig sammelnden jungen Pionieren dafür auszahlte. Die an Rohstoffen arme DDR kaufte das Geraffel auf und veredelte es in aufwendigen Wiederaufbereitungsprozessen, die wiederum Geld kosteten, zu neuen Rohstoffen. Diese gingen dann für wesentlich weniger Geld, als ihr Aufkauf und die Wiederaufbereitung gekostet hatten, an die volkseigene Industrie. Wirtschaftliches Arbeiten sieht anders aus. Aber dieser Kreislauf rechnete sich immerhin für mich und mein Sparschwein.

Die meiste Kohle machte man auch damals schon mit Altmetall. Profis mit krimineller Energie besorgten sich das Zeug bei Nacht und Nebel an Orten, wo es am nächsten Tag fehlte. Ein Enthusiasmus, der mir zu mühsam erschien. Mein Geschäftssinn war noch nie sehr ausgeprägt. Ich begnügte mich mit dem, was die Haushalte abwarfen, bei denen ich auf meiner Altpapiersammeltour zur kraftvollen Unterstützung der Wirtschaft unseres Landes klingelte. Die damit verdienten Penunzen reichten höchstens mal für den Kauf einer illegalen Flasche Vita Cola