Selbst ist die Fee - Liane Mars - E-Book
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Selbst ist die Fee E-Book

Liane Mars

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Beschreibung

Regel Nr. 1 für Feen: Küsse niemals einen Prinzen! Es war einmal eine Märchenfee, die ihrem Schützling Cinderella zum großen Glück mit dem Prinzen verhelfen sollte, um ihre Feenabschlussprüfung zu bestehen. Dummerweise ist diese Cinderella eine ziemlich harte Nuss: Sie ist tollpatschig, weinerlich und komplett unwillig, sich um den Prinzen zu bemühen. Und der Prinz? Eigensinnig, sturköpfig – und zu allem Überfluss auch noch an der guten Fee interessiert statt an Cinderella. Ist die Rettung dieses Märchens für eine einzelne Fee noch zu stemmen? Zumal ihre eigenen Gefühle für den Prinzen ihr zunehmend im Wege stehen? Liane Mars verzaubert ihre Leser:innen: romantische Märchen-Fantasy mit Wohlfühl-Faktor.

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

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Covergestaltung: Giessel Design

Coverabbildung: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Der Schützling ohne Cinderella-Qualifikation

Der Fremde ohne Prinzenstatus

Die störrische Märchengestalt mit Muffensausen

Der Fachausschuss für Cinderellas

Der Ballauftritt mit Nervenproblemen

Der Tanz ohne protokolliertes Ende

Das Kleingedruckte plus Nebenwirkung

Die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters

Der Feenrat ohne Gnade

Ein Abend als potenzielle Prinzessin

Die zweite Aufgabe mit Schöpfproblemen

Das Kennenlernen mit Schwiegermama

Die romantische Kutschfahrt

Die kitschigste Schlittschuhfahrt mit Glitzerflitzer

Die dritte Aufgabe, mit Drama gewürzt

Im Kerker ist es dunkel

Der Gefängnisausbruch ohne Ausbrecher

Die Talfahrt ins Unglück

Der Antrag ohne Verstand

Die Geschichte der Königin

Die Kleiderwahl mit Versöhnung

Die Fee auf Rettungsmission

Die Kehrtwende ohne Vorwarnung

Die Hochzeit mit Überraschungsgast

Der dritte Ball

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Der Schützling ohne Cinderella-Qualifikation

»Du musst mit Weinen aufhören, meine Liebe«, sagte ich möglichst sanft zu meinem Schützling, der heulend in der Küche vor einem müffelnden Lappen saß. Ich selbst flatterte händeringend vor der jungen Frau herum und verfluchte mein Los. Als Fee war es das oberste Gesetz, stets geduldig zu sein. Ich bemühte mich wirklich, diese Maßgabe zu befolgen, doch allmählich lagen meine Nerven blank.

»Ich habe mich ganz schrecklich fies verbrannt«, jammerte Cinderella.

»Wo?«

»Da!«

»Ich sehe nichts. Meinst du diese leichte Rötung?«

»Ja, genau. Das tut schrecklich weh.«

»Heult sie wieder rum?« Das war Anna, die älteste der Stiefschwestern meines Schützlings. Sie kam gerade zur Tür herein und rümpfte bei unserem Anblick die Nase. Das Bild, das sich ihr bot, war vermutlich wirklich äußerst schräg.

Eine Fee, nur etwa halb so groß wie eine Menschenfrau, surrte in einem mit Brandflecken übersäten, ehemals sonnengelben Tuffkleid vor einer heulenden jungen Frau herum. Die Fee war ich und die heulende Frau im rußverschmierten Kittelkleid mein Schützling. Cinderella.

Vermutlich standen mir vor Verzweiflung meine blonden Löckchen zu Berge. Selbst meine schillernden Feenflügel waren angesengt und rochen streng nach Rauch. Kein Wunder. Mein Schützling hatte den Kuchen im Ofen explodieren lassen. Wie auch immer Cinderella das geschafft hatte.

»Sie heult nicht. Sie ist ganz tapfer«, antwortete ich Anna mit einiger Verspätung und versuchte dadurch, die Ehre von uns beiden zu verteidigen. Vergebens. Cinderella, die von uns nur Cindy genannt wurde, überführte mich mit dem nächsten Satz umgehend als Lügnerin.

»Ich sterbe«, rief sie dramatisch. Genau dieser Hang zur maßlosen Übertreibung ließ mich augenblicklich aufhorchen. Cindy verweigerte grundsätzlich jede Arbeit, die auch nur im Entferntesten mit dem Märchen Cinderella zu tun haben könnte. Sobald sie vermutete, dass ich sie für ihre Aufgabe als Prinzgemahlin vorbereiten wollte, verwandelte sie sich plötzlich in ein jammerndes Bündel Verzweiflung. Das bedeutete, dass sie fürs Putzen, Kaminkehren oder Taubenfüttern von einer Sekunde auf die nächste zwei linke Hände hatte. Die schlimmsten linken Hände, die man sich vorstellen konnte.

»Soll ich deine Hand abhacken? Dann ist die böse Verbrennung weg und du hast echten Grund zum Heulen.« Wie gewohnt war Anna genauso pragmatisch wie ungeduldig. Sie hatte wenig Verständnis für die theatralischen Darbietungen ihrer Stiefschwester. Vor allem, weil Anna ähnlich wie die anderen um ihre Rolle in dieser Geschichte wusste.

Anna war die angeblich böse Stiefschwester, die der ach so guten Cinderella das Leben schwer machen sollte. So sah es zumindest das Märchen vor, bloß lief das alles hier nicht nach Plan. Langsam fragte ich mich, ob ich mich wirklich in einer Cinderella-Geschichte befand. Das zumindest behauptete Cindys Märchenblut, das sie angeblich in sich trug.

Jedes Jahr wurden etwa ein Dutzend Mädchen mit diesem Merkmal geboren. Für uns Feen leuchteten sie kaum sichtbar vor sich hin. Nur wer genau hinsah, konnte den Schimmer bemerken. Identifizierten wir Feen solch ein Kind, prüften wir es auf magische Weise, um herauszufinden, welche Märchengestalt wir vor uns sitzen hatten. Das tat nicht weh. Nur ein kleiner Zauberspruch, der den Prüfling deutlicher zum Glitzern brachte. Die Farbe gab Aufschluss darüber, mit welchem Märchenwesen wir es zu tun hatten.

War es eine Cinderella? Ein Dornröschen? Oder eine Rapunzel? Selten war es auch mal ein Goldmädchen oder eine Gänsemagd. Sobald sich unser Verdacht bestätigte, bekam das Mädchen je nach Märchentyp ein bis drei Märchenfeen zugeteilt. Bei einem Dornröschen fuhren wir die volle Bandbreite auf, um über die Jahrhunderte des Schlafes gut gerüstet zu sein. Drei Feen waren Minimum. Eine Rapunzel musste ein spezielles Klettertraining absolvieren, saß aber ansonsten meistens nur in ihrem Turm herum. Daher reichte eine Fee. Im Fall einer Cinderella gingen wir unterschiedlich vor. Mal wurden diese Mädchen nur von zwei Feen trainiert, manchmal auch von dreien.

Ursprünglich hatte der Feenrat drei Feen für Cindy ausgesucht, doch meine beiden Mitstreiterinnen hatten vor fünf Jahren das Handtuch geworfen. Auch für sie ging es um die Gesellenprüfung. Sie hatten es vorgezogen, sich einen einfacheren Schützling mit mehr Aussicht auf Erfolg zu suchen. Vielleicht war das klug gewesen, nur ich hatte es nicht übers Herz gebracht. Was wäre ich für eine Fee, wenn ich schon beim ersten Problem die Feenflügel strich? Ganz vielleicht war mir auch mein Ehrgeiz zum Verhängnis geworden. Versagen war nicht mein Stil. Also hielt ich die Stellung und sorgte dafür, dass Cindy wegen ihres Hangs zum Chaos nicht aus dem Haus gejagt wurde.

Denn das war schließlich unser Job. Wir mussten unsere Schützlinge bestmöglich auf den großen Moment vorbereiten: auf den Ball/den Kuss/die Kletterpartie mit dem Prinzen. Ich hatte mich während meiner Ausbildung zur Märchenfee auf die Cinderellas spezialisiert und in diesem Fach meine theoretische Prüfung abgelegt. Jetzt stand nur noch die praktische an.

Mir war natürlich klar, dass es nicht jede Cinderella bis zum gläsernen Schuh schaffte. So mancher Fee war das Schicksal dazwischengekommen. Der Fuß der Cinderella passte nicht in den Stöckelschuh oder sie hatte sich vorher in den Müllerssohn verliebt und wollte den Prinzen gar nicht mehr haben. Da war man als Märchenfee machtlos. Am häufigsten scheiterten die Cinderellas an der bösen Stiefmutter. Durch das ständige Gegängel und die schlechte Behandlung verloren diese Mädchen häufig ihr fröhliches, liebreizendes Gemüt und veränderten sich zu garstigen, traurigen oder missgünstigen Wesen, um die ein Prinz von Welt einen großen Bogen machte. Kurz gesagt: Häufig verlief die Geschichte nicht so, wie sie sollte.

Von fünfzehn potenziellen Cinderellas schafften es nur etwa drei zum Ball und nur eine bis ins Herz des Prinzen. Und manche scheiterten schon, bevor sie je den Prinzen zu Gesicht bekamen. Diese hier war genau so ein Exemplar. Sie weigerte sich sogar zu putzen.

»Gib her«, sagte Anna genervt, nahm Cinderella den Lappen aus der Hand und schrubbte auf allen vieren wie eine Wahnsinnige. »Wenn Mama den Dreck sieht, rastet sie völlig aus und ich muss mir den ganzen Tag ihr Gejammer anhören.«

Ich wusste genau, was Anna anspornte. Als klar war, dass Cindy eine Märchengestalt sein musste und sogar Feen zugeteilt bekam, war die gesamte Familie schockiert gewesen. Annas Mama Lucilla hatte sich mit allen Kräften dagegen gewehrt, die böse Stiefmutter der Geschichte zu werden. Lucilla und fies? Mitnichten! Sie wollte ihre Stieftochter unbedingt genauso lieben wie ihre eigenen. Doch leider raubte ihr das weinerliche, tollpatschige und arbeitsscheue Mädchen ähnlich wie mir und Anna die Geduld.

Mittlerweile war Cindy bei Lucilla ein absolutes Reizthema. Sie musste nur zusehen, wie das Mädchen ein Glas von einem Raum in den nächsten trug, schon war es um ihre gute Laune geschehen. Ich bemühte mich dabei stets, auf Cindys Seite zu bleiben, leider war das schwierig. Dieses Mädchen schaffte es, das Glas auf dem Weg viermal fallen zu lassen. Viermal! Am Ende war es Lucilla, die die Scherben aufsammelte. Je häufiger das passierte, desto mehr verwandelte sich Lucilla in die böse Stiefmutter, die sie nicht sein wollte.

Dabei war ich mir sicher, dass Cindy nur halb so tollpatschig war, wie sie uns weismachen wollte. Warum sie sich so verhielt, war mir schleierhaft. Außerdem fehlten mir die Beweise, um sie deswegen zur Rede zu stellen. In der Zwischenzeit trieb sie uns alle in den Wahnsinn.

Anna hatte sich fest vorgenommen, die langsame Verwandlung ihrer Mutter in eine griesgrämige Hexe zu verhindern. Sie wollte ihre fröhliche, gutherzige Mama behalten und kämpfte dafür. Ich bewunderte sie insgeheim für ihre Verbissenheit und hatte sie schon häufiger heimlich auf das Märchenblut getestet. Leider Fehlanzeige. Die liebreizende Anna war nicht mein Schützling. Cindy war es.

»Mama kommt«, informierte uns Emma. Die jüngere der beiden Stiefschwestern saß am Fenster, schleckte Kuchenteig aus der Schüssel und hielt für uns Wache. Sie war rundlich für ihre Größe und passte vom Äußeren perfekt in das Schema des Märchens. Das sah schließlich eine verfressene Stiefschwester vor. Emma naschte durchaus gern und war im Gegensatz zu ihrer sonst üblichen Rolle im Märchen eine Seele von Mensch. Sie war hübsch mit ihren rosigen Wangen, den dunkelbraunen langen Haaren und der ausdrucksstarken Mimik. Vor allem war sie extrem gutmütig und freundlich.

Kaum hatte Emma uns gewarnt, brachen Anna und ich in Hektik aus. So schnell es ging, wischten wir den überall verspritzten Teig von den Küchenfliesen, banden Cindy eine saubere Schürze um und warfen den verbrannten Kuchen in den Müll. Eigentlich durften Märchenfeen nicht aktiv mithelfen, nur war mir das schon lange egal. Ich wollte meine gestellte Aufgabe so gut es ging erfüllen. Kostete es, was es wollte.

Die Haustür klapperte und eine vergnügt pfeifende Lucilla zog sich im Flur ihren Pelzmantel aus. »Anna«, rief sie durch die angelehnte Küchentür. »Ich habe gute Neuigkeiten.«

»Wie schön«, flötete ihre Tochter mit zitternder Stimme. Mittlerweile sah sie ähnlich konfus aus wie ich. Einige braune Haarsträhnen hatten sich aus ihrem strengen Dutt gelöst und hingen ihr wirr ins Gesicht. Ich winkte aufgeregt und bedeutete Anna, ihre Mutter auf dem Flur abzufangen. Leider zu spät. Die Küchentür ging auf, und Lucilla kam herein. Sie erfasste die Szene mit einem einzigen Blick.

»Cindy hat gebacken.«

Es roch unangenehm im Raum nach verbranntem Kuchen, in Flammen aufgegangenen Äpfeln und verschmurgelten Kastanien. Dass Cinderellas blonde Haare an den Spitzen versengt waren und ihr Gesicht dicke Rußflecken aufwies, überführte sie ganz klar als Täterin.

»Wir haben geübt«, warf ich kleinlaut ein.

»Aha.«

»Und sie wird besser.«

»Aha.«

»Und … wir gehen dann mal.« Ich schnappte mir hastig Cindys Arm, die weiterhin ihre Hand anstarrte. Bevor wir jedoch aus dem Raum huschen konnten, versperrte mir Lucilla den Weg. Nervös flatterte ich vor ihrem Kopf herum.

Eigentlich bestanden wir Feen nur aus Sternenstaub und guten Wünschen. Um mit unseren Schützlingen sprechen zu können und damit unsere Aufgabe zu erfüllen, nahmen wir menschliche Formen an. Dabei konnten wir unsere Größe und unser Aussehen je nach Bedarf recht frei anpassen, solange wir uns an bestimmte Vorgaben hielten. Zum Beispiel mussten wir uns kleiner als Menschen gestalten. Etwa halb so groß war üblich. Wir sollten außerdem unsere Kleidung der üblichen Mode anpassen und dabei nicht protzen. Der einzige echte Hingucker, den wir uns gestatten durften, waren unsere Feenflügel, die hinten am Rücken aus den Kleidern herausguckten, sodass wir fliegend durch die Gegend huschen konnten.

Ich hatte meine Form vor fünf Jahren festgelegt, als ich in den Haushalt der Familie Sonnenschein gekommen war: blonde Korkenzieherlöckchen, die bis zu den Schultern reichten. Grüne Augen, weil ich Gras so liebte. Und ein sonnengelbes Tuffkleid ohne Ärmelchen, dafür mit bauschigem weißem Unterrock und schlichten grünen Schühchen. Meine kecke Schleife im Haar war eigentlich nicht erlaubt, da sie zu auffällig war, aber sie passte so schön zu den Schuhen.

Feen hatten grundsätzlich lieblich auszusehen. Normalerweise folgte ich dieser Anweisung auch brav, doch gerade war ich einfach nur schweißgebadet. Vor allem, weil ich an Lucillas Blick erkannte, dass es Ärger gab. Noch mehr als ohnehin.

»Ich habe Einladungskarten bekommen. Für alle drei Mädchen«, sagte Lucilla bedeutungsschwanger und richtete sich zu ihrer beeindruckenden Größe auf. Sie überragte ihre Töchter um gut eineinhalb Köpfe, war gertenschlank und grundsätzlich in schlichte Gewänder gekleidet. Ihre Haare trug sie ähnlich wie Anna zu einem strengen Dutt, wodurch ihre ausdrucksstarken Augen noch besser zur Geltung kamen. In das Braun ihrer Iriden mischte sich ein feuriger Rotton, der je nach Verärgerung mal mehr, mal weniger deutlich hervortrat.

Momentan war er ganz klar zu erkennen. Lucilla war gestresst. Wegen … wegen der Einladungskarten.

Nein, dachte ich panisch. Das ist noch viel zu früh! »Ich dachte, wir hätten noch drei Monate Zeit«, krächzte ich schwach.

»Offenbar nicht.« Lucilla wedelte mit den drei Briefen in der Luft herum. Sie waren schneeweiß, dufteten nach Rosen und waren mit goldenen Buchstaben verziert. Ich hatte sie während meiner Vorlesungen und meiner praktischen Einführungsseminare bereits gesehen und noch nie so sehr gefürchtet. »Was mache ich denn jetzt mit dem Brief an Cindy? Laut dem Märchen soll ich ihren verbrennen. Jetzt mal ehrlich: Können wir uns nicht das ganze Drama um die Kleidersuche sparen? Wenn Cindy so oder so zum Ball geht, kann ich dir den Brief auch direkt überreichen.«

Lucilla hielt mir den Umschlag hin, woraufhin ich hastig ein Stück zurücksurrte. Das Schlagen meiner Flügel war für lange Zeit das einzige Geräusch in der gesamten Küche. Ich starrte den Brief an, als könnte er mich fressen.

Was sollte ich denn jetzt machen? An den Feenrat konnte ich mich nicht mehr wenden. Meine drei Beratungstermine hatte ich allesamt bereits in Anspruch genommen. Noch eine Rückfrage und ich würde durch die verflixte Prüfung rasseln. Mein Dilemma musste ich allein auf die Reihe bekommen. Warum nur hatte ich meinen Schützling behalten, obwohl er denkbar ungeeignet für meine Abschlussprüfung war?

»Wir müssen ihn verbrennen«, brachte ich schließlich hervor. »Sonst gerät noch mehr durcheinander als ohnehin schon.«

Je größer die Abweichung von der Ursprungsgeschichte, desto gefährlicher wurde es. Das hatten mir meine Lehrerinnen beständig eingetrichtert. Aufgrund einer extremen Unstimmigkeit war zum Beispiel die böse Fee aus dem Märchen Dornröschen entstanden. Eine Cinderella hatte sich in einen für Rapunzel vorgesehenen Prinzen verliebt und ihn für sich erobert. Das hatte gleich zwei Welten ins Chaos gestürzt. Eine von Cinderellas Märchenfeen hatte sich so schrecklich gegrämt, dass sie wahnsinnig geworden war. Sie hatte die nächste Cinderella verflucht. Schwups. Geboren war ein neues Märchen – Dornröschen. Etwas Derartiges galt es zu verhindern, daher mussten wir uns so gut es ging an die Vorgaben halten. Kleinere Diskrepanzen waren normal. Je geringer sie waren, desto besser.

In dieser Cinderella-Geschichte waren die Unterschiede zur Ursprungsversion bereits enorm. Eine Stiefmutter, die nett war. Eine Stiefschwester, die Cinderellas Job übernahm, und eine Cinderella, die … lassen wir das.

Lucilla verdrehte die Augen, stapfte zum weiterhin rauchenden Herd und steckte mit Todesverachtung den Brief in Brand. Wir sahen andächtig dabei zu, wie das Papier von den Flammen verzehrt wurde. Na ja. Fast alle. Cindy tat mal wieder so, als ginge sie all das überhaupt nichts an. Sobald es um das Märchen Cinderella ging, wurde sie ganz plötzlich taub, hatte andere Dinge zu tun oder pfiff in sich gekehrt vor sich hin. So wie jetzt.

»Und was kommt als Nächstes?«, fragte mich Anna.

»Jetzt verarmt ihr, wollt unbedingt die schönsten Kleider tragen und der Prinz taucht in eurem Garten auf.«

»Er kommt wirklich hierher?«

»Das ist recht unterschiedlich. Mal reitet er an eurer Mauer vorbei und lobt euren Apfelbaum. Manchmal rettet er Aschenputtel aus einer schrecklichen Gefahr und ab und zu fragt er auch einfach nach dem Weg. Was das angeht, ist die Erzählung recht variabel.«

»Dass wir verarmen steht fest?«

»Ja. Ihr seid es eigentlich schon, bloß hat euch das die böse Stief… Verzeihung, Lucilla! Bitte schau nicht so finster. Ich bin es nicht gewohnt, dass es eine gute Stiefmutter gibt. Das kam in keinem einzigen Anschauungsunterricht vor. Also … na ja … Lucilla hat es euch bislang verschwiegen. Ihr seid arm wie die Kirchenmäuse.«

Wir sahen alle Annas und Emmas Mutter an, die genervt mit den Augen rollte. »Wir können aktuell keine großen Sprünge machen. Ich habe eigentlich alles verkauft, was sich zu Geld machen ließ. Nur meinen alten Pelzmantel wollte keiner haben. Für Ballkleider wird es knapp. Zumindest für drei. Aber dafür haben wir unsere Märchenfee, nicht wahr?«

»Jaaaaa … mal sehen, was sich in diesem Fall machen lässt. Ich bin noch unsicher, ob es eine Version mit einem zu schüttelnden Baum oder die mit der sehr aktiven Fee ist. Das zeigt sich meist erst im Laufe der Geschichte. Das Bäumchen steht jedenfalls schon auf dem Grab von Cindys Mama, nur hat sie es nicht gepflanzt.«

»Das war ich«, gab Anna zu. Sie hatte das Grab im Garten der Familie von Anfang an gepflegt, obwohl sie Cindys Mutter nie kennengelernt hatte. Anna war einfach eine gute Seele. Leider pfuschte sie mir dadurch gehörig ins Handwerk.

»Jedenfalls musst du dich, liebe Lucilla, nicht um Cindys Kleid kümmern. Deine Sorge sollte einzig und allein deinen Töchtern gelten. So ist die Geschichte angelegt.« Ich atmete tief durch und sah meinen Schützling an. »Cindy, wir sollten gehen. Dein Taubentraining ist jetzt wichtiger denn je.« Entschlossen schob ich sie aus dem Raum, was fliegend gar nicht so einfach war. Sie stemmte sich gegen mich, doch ich blieb hartnäckig.

»Am wichtigsten ist eigentlich, dass ihr diesen stinkenden Kessel im Schuppen endlich entsorgt. Was ist das überhaupt für ein Zeug, das ihr da abgestellt habt?«, rief uns Anna hinterher.

Ich ignorierte den Einwand geflissentlich und gab ihr lediglich im Stillen recht. Der blubbernde, teerartige Inhalt besagten Kessels war das Ergebnis von Cindys Versuch, einen Linseneintopf ganz allein zu kochen. Ich wusste bis heute nicht, was sie dort hineingetan haben konnte. Jedenfalls musste das Gemisch magisch reagiert haben und blubberte seither vor sich hin. So etwas kam selten vor, aber es geschah. Auch unmagische Menschen konnten auf diese Weise versehentlich einen Zaubertrank brauen.

Das Zeug wegzuschütten war mir nicht gelungen. Es ließ sich auch nicht wegputzen oder abschöpfen. In meiner Not hatte ich den Kessel schließlich im Schuppen abgestellt, wo er ungestört köcheln und die Fensterscheiben schwarz und die Decke grünlich färben konnte.

Kessel oder Tauben? Beides bereitete mir graue Haare. Die Tauben waren allerdings dringender. Also lotste ich Cindy unbarmherzig Richtung Buchenhain. An dieser Stelle hatte ihr Vater einst seine Gattin beerdigt und Lucilla wenige Jahre später auch ihn. Anna hatte dafür gesorgt, dass beide Gräber hübsch aussahen: Sie hatte sie mit bunten Blumen bepflanzt, dank einer wunderschön blühenden Fliederhecke vor Blicken geschützt und mit einem Haselnussstrauch gesegnet. Ebenjener Strauch war mein Ziel, denn darin gurrten und trällerten die Vögel, darunter eine ganze Schar Tauben.

Die Tiere reckten erfreut ihre Hälse, als sie mich sahen, und duckten sich, als sie Cindy erkannten. Den Tauben schwante, was ihnen blühte.

»Wehe, ihr verdrückt euch«, rief ich schon von Weitem. Die übrigen Vögel machten, dass sie fortkamen. Nur die Täubchen ergaben sich in ihr Schicksal. Sie blieben sitzen und warfen mir böse Blicke zu.

Anders, als es im Märchen angedeutet wurde, mussten die Tauben das Erbsensortieren erst lernen. Vor allem war es wichtig, dass sie die jeweilige Cinderella mochten und ihr gern halfen. Was das anging, hatte ich so meine Probleme.

Seitdem Cindy versehentlich eine Taube durch einen gigantischen, wenig damenhaften Riesennieser so erschreckt hatte, dass sie tot vom Ast gefallen war, sah die übrige Vogelschar das zierliche Mädchen mit ganz anderen Augen. Sie hielten sie für eine Mörderin. Punkt. Und genau wie Drachen vergaßen Tauben leider nie etwas.

»Hier.« Ich drückte Cinderella einen Laib Brot in die Hand und ermunterte sie mit einem Handwedeln, die einzelnen Stückchen an die Tauben zu verfüttern. Cindy handelte daraufhin gewohnt pragmatisch. Je schneller eine Aufgabe erledigt war, desto besser. Kurzerhand warf sie den ganzen Laib in den Busch, woraufhin die Tauben empört aufflatterten, oder zumindest fast alle. Eine wurde tödlich getroffen.

Fassungslos starrten wir auf das erschlagene Federvieh. Mein Hirn war in dieser Sekunde vollkommen leer gepustet. »Zwei zu null für dich gegen die Tauben«, brachte ich schließlich wenig hilfreich hervor.

»Es … es tut mir so leid«, flüsterte Cindy und fing prompt an zu weinen. So heftig, dass ihr Gesicht innerhalb von Sekunden rot anlief. Weiße und dunkelrote Punkte erschienen überall auf ihrer Haut, gefolgt von einem schrecklichen, herzzerreißenden Schluchzen. Diesmal nahm ich ihr die Trauer tatsächlich ab, was nicht immer der Fall war. Manchmal war ich mir sicher, dass sie schauspielerte. Heute sah das jedoch anders aus. Sie war wirklich schockiert über den Tod der unschuldigen Taube. Ich tätschelte ihr wie paralysiert die Schulter, unfähig, etwas Feenmäßiges zu tun oder zu sagen.

Die Tauben hatten sich indes auf die höchste Buche geflüchtet und gurrten uns von oben vorwurfsvoll an. Ich konnte es ihnen nicht verdenken.

»Verzeihung? Ist hier jemand in Not? Muss hier jemand gerettet werden?«, erklang es da von hinter der Fliederhecke.

Ich erfasste innerhalb von Sekunden, was sich hier anbahnte. Diese Stimme klang so lieblich, so wunderschön und gleichzeitig so verflixt männlich, wie es nur einem Prinzen gebührte. Nein! Oh, bitte, bitte nein! Wie hatte ich nur so dumm sein können, Cindy ausgerechnet nach draußen zu lotsen? Die Briefe waren verschickt! Die Einladung zum Ball war erfolgt. Der Prinz unterwegs.

Ausgerechnet ebenjener Mann stand vermutlich hinter der Hecke und war im Begriff, zum ersten Mal einen Blick auf seine Zukünftige zu werfen. Leider lief der gerade grünlich glibbernder Schnodder aus der Nase, den sie mit einem Gänsehaut verursachenden Rotzgeräusch hochzog. Mir war sofort klar: Ich musste dringend etwas tun. Wenn der Prinz Cindy so sah, konnten wir einpacken! Dann war es das mit unserem romantischen Balltanz und dem gläsernen Schuh. Und meine Feenkarriere würde beendet sein, bevor sie überhaupt angefangen hatte.

Der Fremde ohne Prinzenstatus

Mir standen buchstäblich die Haare zu Berge. Ja, wirklich! Ich spürte, wie sich meine blonden Engelslöckchen sträubten. Jedes einzelne für sich. Ich tat drei Dinge – im Märchen tun wir immer drei Dinge, allerdings meist logische und sinnvolle, anders als jetzt – aus Reflex. Erstens schlug ich Cindy spontan nieder. Zweitens verwandelte ich mich in Menschengröße und drittens ließ ich mein glitzerndes, üppiges Feenkleid zu einem grauen Fetzen aus Leinen werden.

In der gleichen Sekunde steckte der vermeintliche Prinz seine neugierige Nase in unseren Garten und sah sich suchend um. Hilfe! Er hatte sogar sein Schwert gezogen! Dabei bemerkte ich durchaus, dass er nicht nur riesig war, sondern auch gut gebaut. Kurze braune Haare, ein kantiges Kinn, breite Schultern und lange Beine. Herrje. Dieser Mann war die triviale Verkörperung eines wahren Prinzen.

»Komm nicht näher«, sagte ich schnell und benutzte dabei versehentlich die viel zu vertrauliche Anrede, eines Prinzen vollkommen unwürdig. Momentan war aber auch nicht klar, ob er wirklich der Prinz war. Ein winziges Fünkchen Hoffnung hatte ich noch, dass alles ein dummer Zufall war. Vielleicht war er ein gut aussehender Schweinehirt auf der Durchreise? Wobei Schweinehirten mit Schwertern schon eher ungewöhnlich waren.

Abrupt blieb der Mann stehen und musterte mich überrascht. Seine dunkelbraunen Augen wurden riesig, als er Cindy lang gestreckt im Gras liegen sah. Sie war mit dem Gesicht voran auf die Erde geplumpst, die Arme weit ausgebreitet.

»Was ist passiert?«, rief der Fremde und wollte zu ihr hasten, doch ich vertrat ihm den Weg und hob die Arme wie zum Kampf, die Fäuste geballt, das Kinn gereckt.

»Keinen Schritt weiter«, drohte ich.

»Ich will euch nichts tun, sondern helfen. Was ist mit deiner Gefährtin geschehen?«

»Ich habe sie versehentlich niedergeschlagen.« Feen logen nie und verbogen lediglich gern die Wahrheit bis zur Unendlichkeit. »Versehentlich« traf bei meiner Tat nicht ganz zu. Spontan war wohl das bessere Wort, nur wollte ich nicht kleinlich sein.

»Warum tust du denn so etwas?«

»Wir haben geübt. Da ist es einfach so passiert. Ein Unglück.« Das traf jedenfalls zu.

»Was habt ihr denn geübt? Kampfkunst?«

»So etwas in der Richtung.« Meine Magie protestierte gegen diesen Satz und warnte mich eindringlich, nicht noch mehr zu lügen. Hey! Das war nicht gelogen. Wirklich jede Übungsstunde mit Cinderella glich einem Kampf!

»Willst du dich nicht um sie kümmern?«

»Selbstredend, jedoch erst, nachdem du gegangen bist. Es wäre ihr gewiss nicht recht, wenn du sie so sehen würdest.«

»Also ehrlich. Ist das nicht egal?«, schalt er mich sanft. Erst jetzt bemerkte ich, dass er für einen Schweinehirten verteufelt gut angezogen war. Allein sein Waffengurt musste so viel kosten, wie ein Schweinehirt im ganzen Leben nicht verdienen konnte. Meine Hoffnung starb einen erbärmlichen Tod. Zeit, Klarheit zu schaffen.

»Bist du ein Prinz?«, platzte ich heraus.

»Wie kommst du denn darauf?«

»Du bist sehr schick gekleidet, sauber gewaschen und hast gute Manieren. Außerdem willst du einer Frau in Not helfen. Da liegt der Schluss nahe, dass …«

»… ich ein Prinz bin?« Der Mann klang amüsiert. »Was kennst du denn für grobschlächtige Männer, wenn du aus meinem Erscheinungsbild ableitest, ich könne adelig sein?«

»Ich hab so meine Erfahrungen gesammelt …«, gab ich vage von mir und ließ dabei unerwähnt, dass mein Wissen hauptsächlich aus Märchenbüchern, Abhandlungen über edle Gesellen oder Stammbaumrecherche von blaublütigen Nachkommen gespeist wurde. Meine Erfahrungen waren also eher theoretischer Natur.

Ich musterte den Mann vor mir noch mal eingehender. Der dunkle Mantel mit der bestickten weißen Borte musste sündhaft teuer gewesen sein, genau wie das weiße Seidenhemd und das perfekt an seine Statur angepasste Wams. Statt einfacher Beinlinge trug er eine neumodische dunkle Hose aus einem mir unbekannten Stoff, die wiederum in hohen Lederstiefeln endete. Wenn er kein Prinz war, dann zumindest ein Adelsmann.

»Warum liegt denn da eine tote Taube neben deiner Ohnmächtigen? Kannst du das erklären?«, riss mich der Fremde aus meiner Betrachtung.

O nein! Die Taube hatte ich ganz vergessen. Das arme Ding. Schnell, schnell! Eine Halbwahrheit her. So langsam geriet ich in Bedrängnis. »Das war ein ganz schlimmer Unfall.«

»Inwiefern? Woran ist die Taube denn verstorben?«

»Sie wurde erschlagen.«

»Brutal! Wer war das?«

Ich deutete schweigend auf meinen Schützling am Boden. Zeit, mit der Wahrheit herauszurücken. »Sie hat die Taube versehentlich mit einem Kanten Brot getroffen. Ich habe sie danach niedergeschlagen. Aus Reflex.« Das war jetzt endlich mal wahr, selbst wenn ich die Zwischeninformationen ausließ. Das Warum und Weshalb war momentan nebensächlich.

Cindy stöhnte in dieser Sekunde und rekelte sich. Sie fasste zur gigantischen Beule an ihrem Kopf, während ihr Gesicht noch im Gras steckte. Ich trat hastig zwischen sie und unseren unwillkommenen Gast.

»Also? Bist du der Prinz von Burginsland?«

Zu meiner unendlichen Erleichterung schüttelte der Mann vor mir den Kopf. »Nein, der bin ich nicht. Und da wir das jetzt geklärt haben: Darf ich euch endlich helfen?«

Erst jetzt bemerkte ich, wie angespannt ich gewesen war. Nur langsam lockerte ich meine verkrampften Finger, massierte meine verhärteten Schultermuskeln und nickte. »Gern«, sagte ich erleichtert. Wenn er nicht der Prinz war, konnte uns nichts passieren.

Im Märchen Cinderella war der wahre Prinz meist namenlos. Unsere Lehrer hatten uns den Tipp gegeben, dass er in der modernen Zeit entweder Michael, Andreas oder Hans hieß. Da wir derzeit im Königreich Burginsland lebten, war es diesmal ein Andreas. Das war gut, denn die Andreasse unter den Prinzen waren meist freundliche, entspannte Männer. Behauptete zumindest meine Ahnen-Sachkundelehrerin.

Der Fremde trat neben mich und half mir, die jammernde Cindy aufzurichten. Ich hatte sie ordentlich am Kopf erwischt, und die Beule war recht ansehnlich. Durch ihren Sturz hatte sie sich noch zusätzlich das Auge blau geschlagen. Ups.

»Setz dich hier hin«, sagte der Fremde fürsorglich und dirigierte die schwankende und recht orientierungslose Cindy auf einen liegenden Baumstamm. Von hier aus sollte sie eigentlich mit den Tauben trainieren, doch die waren weiterhin garstig und verstimmt. Ihr Gurren klang eindeutig drohend.

Ich ließ mich neben Cindy nieder und hielt ihre Hand, während der Fremde ihren Kopf untersuchte. Zum Glück blutete es nicht.

»Bin ich schon wieder über meine Schnürsenkel gestürzt?«, fragte Cindy mit brüchiger Stimme.

Mein schlechtes Gewissen nagte an mir. Welche Märchenfee schlug schon ihren Schützling nieder? Wenn das meine Prüfer erfuhren! Da würde ich direkt eine Sechs in Behandlung von Schutzbefohlenen kassieren. »Alles für den guten Zweck«, murmelte ich.

Der Fremde warf mir einen fragenden Blick zu und hielt gleichzeitig drei Finger vor Cindys Nase. »Wie viele Finger siehst du?«

Cindy blinzelte wie eine Eule. »Vier?«

Ich seufzte. Da war es wieder. Cindy stellte sich dümmer an, als sie in Wirklichkeit war.

»Der Schlag muss heftig gewesen sein«, schlussfolgerte der Fremde hingegen. Okay. Das war natürlich auch eine Option. Eine, die mir Angst machte. Was, wenn ich zu kräftig zugeschlagen und Cindy bleibende Schäden davongetragen hatte? O nein. Wie schrecklich. Prompt fing ich mir einen sehr wütenden Blick von meinem Gegenüber ein.

»Hey! Das war alles ein Versehen«, rechtfertigte ich mich. »Ich wollte sie nicht so hart treffen.«

»Hast du aber, und jetzt ist ihr Gehirn Matsch. Gutes Mädchen, wie heißt deine Begleiterin? Weißt du das noch?«

Cindy wandte sich mir zu und starrte mich verwundert an. Sie versuchte verzweifelt, meine verzauberte Gestalt zuzuordnen. Ich hingegen bemühte mich zu erkennen, ob sie mich wegen des Schlages wirklich nicht erkannte oder nur so tat. »Ich habe keine Ahnung«, sagte sie schließlich langsam.

»Klarer Fall von Gedächtnisverlust«, schlussfolgerte der Fremde. »Sie sollte sich ausruhen. Am besten in einem dunklen Raum. Hast du Kopfweh?«

»Mein Schädel zerspringt.«

Ich tätschelte ihr beruhigend die Schulter und war einerseits erleichtert. Es wäre fatal gewesen, wenn Cindy mich als Märchenfee entlarvt hätte. Feen durften sich nicht in Menschen verwandeln. Das war verboten. Andererseits machte ich mir Sorgen. Was, wenn …

»Jetzt erkenne ich dich«, rief Cindy in der Sekunde. »Du bist meine Mä…«

»Märri«, unterbrach ich sie hastig. »Richtig. Ich bin Märri mit einem ä statt a.« Autsch. Meine Magie kniff mich so heftig wie noch nie. Das gab garantiert eine Eintragung und einen Vermerk in mein Ausbildungsprotokoll. Bei meiner Rückkehr ins Feenreich würde ich ganz sicher zum Rapport gerufen.

Der Fremde sah mich erstaunt an. »Wie eine Märri mit ä siehst du nicht gerade aus.«

»Wie sieht denn eine Märri aus?«

»Na ja … keine Ahnung. Gibt es den Namen mit ä überhaupt?«

»Wie reizend. Für meinen Namen kann ich nichts.« Aua! Das Piken wurde heftiger.

Cindy rieb sich den Kopf. »Ich dachte, dass du wie meine Märchenfee aussiehst«, murmelte sie.

Ich erstarrte und hielt die Luft an. Zum Glück war unser Fremder wirklich mies im Schlussfolgern. Er lachte dreckig. »Da wäre sie eine recht fiese Märchenfee. Sie hat dich gnadenlos niedergeschlagen. Nicht gerade feenhaft.«

Er lachte weiter, woraufhin ich vor Wut mit den Zähnen knirschte. Dieser Mann ging mir jetzt schon auf die Nerven. Zum Glück war er nicht unser Prinz, und wir mussten uns nicht langfristig mit seiner ungehobelten Art auseinandersetzen.

»Du kannst jetzt gehen«, sagte ich verschnupft.

»Ich denke, ich bleibe noch eine Weile. Ihr zwei seid ein so seltsames Gespann. Das will ich mir noch ein bisschen angucken.«

Zu meiner Empörung setzte sich der Fremde auf den Baumstamm neben mich und streckte sich genüsslich. Ich starrte seine beeindruckenden Muskeln an, die bei dieser Aktion hübsch zutage traten. War klar, dass unser unwillkommener Gast auch noch attraktiv war.

Ja, auch wir Feen hatten Gefühle. Wir unterdrückten sie nur beständig. Ab und zu bemerkte ich allerdings, dass ich eine Frau war.

In der Sekunde kotzte Cindy uns vor die Füße. Ich sprang mit einem Schreckensschrei auf, während der Fremde gelassen blieb und ihr den Rücken rieb. »Das ist der Schlag gewesen, meine Liebe. Gleich geht es dir besser.«

Ich kam mir sofort wie die schlechteste Fee der Welt vor. War ich vermutlich auch. Statt mich um meinen Schützling zu kümmern, starrte ich angeekelt meine besudelten Schuhe an. Bäh.

Cindy begann natürlich prompt zu jammern und zu weinen. Der Fremde blieb ruhig und tätschelte ihren Rücken. Ich hingegen musste tief durchatmen, um nicht gänzlich aus meiner Haut zu fahren. Wie sollte ich aus Cindy jemals eine alltagstaugliche Prinzessin machen?

Ich vergaß den Gedanken sofort, als ich Anna wie eine Furie aus dem Haus kommen sah. »Alarm«, rief sie so laut sie konnte. »Prinz im Anmarsch! Cindy, sofort ins Haus! Versteck dich!«

Cindy fuhr zusammen und sprang wild schwankend auf. »Ein Prinz?«, rief sie panisch. »Wo?«

»Da vorn.« Anna deutete hektisch in Richtung Feld. Worauf sie zeigte, konnten wir von hier jedoch nicht sehen, da die Fliederbüsche im Weg waren.

»Falscher Alarm«, winkte ich ab und deutete auf unseren Gast. »Beruhigt euch wieder.«

Anna war mittlerweile näher gekommen und dann wie angewurzelt stehen geblieben. Ihre Augen wurden riesig, als sie Cindys derangierte Gestalt erblickte, mich in meiner Menschengestalt erkannte und den Fremden bemerkte. Sie wurde leichenblass. »Der Prinz«, flüsterte sie manisch.

»Kein Prinz«, wiederholte ich. »Der da sieht nur königlich aus, ist es aber nicht. Einzig ein Mann, der auf sein Äußeres achtet.«

Wie aufs Stichwort kam ein anderer Mann um die Hecke herum. »Eure Hoheit? Wir müssten dringend weiter, sonst kommen wir zu spät zu unserer Audienz.«

Audi-WAS? Und was noch viel schlimmer war: Eure Hoheit? Ich starrte den neu hinzugekommenen Fremden entsetzt an, der verdächtig nach einem Pagen aussah. Danach den vermeintlichen Nicht-Schweinehirten-Schrägstrich-angeblich-kein-Prinz, der wie zuvor vollkommen entspannt auf dem Baumstamm saß und uns von oben bis unten lässig musterte.

»Hey«, rief ich empört. »Du hast gesagt, du bist kein Prinz.«

»Ich bin zumindest nicht der Prinz von Burginsland, also beruhigt euch.« Der Mann stand auf und verbeugte sich kurz vor Anna, die etwa fünf Meter von uns entfernt stehen geblieben war und ihr Gegenüber mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. »Mylady. Danke, dass ich mich in Eurem Garten ein wenig ausruhen durfte. Ihr habt wirklich interessante Dienerinnen, nur solltet Ihr sie voreinander schützen. Diese hier …«, er deutete unverschämterweise auf mich, »… erscheint mir ein wenig grobschlächtig. Sie trachtet der anderen nach dem Leben.« Er zwinkerte mir zu und machte ernsthaft Anstalten, hinter dem Pagen aus unserem Garten zu verschwinden.

»Ich bin grobschlächtig?«, brüllte ich ihm wutentbrannt hinterher. »Wer ist so dreist, seine wahre Identität zu verschleiern? Sag mir gefälligst, wer du bist!«

Er blieb abrupt stehen und drehte sich zu mir um. »Ich bin ein anständiger Mann, der den Feierlichkeiten der Königsfamilie von Burginsland beiwohnen wird. Wir sehen uns auf dem Ball, liebe Märri.« Er betonte den Namen so, dass klar war: Er glaubte nicht eine Sekunde, dass ich wirklich so hieß.

Ich spürte, wie ich rot anlief. Von meinen verzauberten Fußspitzen bis zur letzten Schuppe auf meiner Kopfhaut. Beim Glitzerstab des Feenrates, war das peinlich. Ehe mir eine passende Antwort einfallen konnte, war der Fremde bereits verschwunden. Ein Pferd schnaubte, Sättel knarrten. Hastig sprang ich zum Tor zwischen dem Flieder und spähte hinüber. Und da sah ich es.

Eine Armee aus prunkvoll gewandeten Rittern saß auf strahlend weißen Pferden, die schnaubend ihre vergoldeten Geschirre klirren ließen. Der Fremde schwang sich gerade in einen mit zahlreichen Ornamenten verzierten Sattel. Hinter ihm warteten gleich drei Standartenträger plus Trompeter, der justamente in sein Instrument blies und eine Hymne spielte, die mir die Gänsehaut meines Lebens bescherte.

Burginsland. Das war die Hymne unserer Heimat. Nur … er hatte definitiv behauptet, er sei kein Prinz. Wer war er dann?

Und … falls er … wenn er … sollte er ein Prinz sein und Cindy auf diese schmachvolle Weise kennengelernt haben, also … falls … dann …

Ich spürte, wie mir schwindelig wurde und sich alles in meinem Inneren zusammenzog. Ich bekam keine Luft mehr und die Welt wurde schwarz und trüb, begann zu schwanken und zu zittern. Mir klappten die Beine weg, und ich stürzte zu Boden.

Die störrische Märchengestalt mit Muffensausen

»Na prima«, hörte ich Anna seufzen. »Jetzt muss ich mich auch noch um eine Märchenfee mit Panikattacken kümmern. Als wäre ich mit Cindy nicht schon genug bestraft!«

Ich spürte, wie mich das Mädchen auf den Rücken drehte und die Beine hochlagerte. Etwas Kühles berührte meine Stirn. Kalte Wickel? Dann platschte ein Schwall Wasser in mein Gesicht, und ich fuhr hoch.

Cindy und Anna beugten sich beide über mich. Während Cindy erleichtert ob meines wachen Zustandes wirkte, sah Anna höchst empört aus.

»Wach auf, Märchenfee! Es gibt viel für dich zu tun«, sagte sie.

»Anna! Wie kommst du denn auf Märchenfee? Das ist Märri«, widersprach Cindy, doch ich meinte am Glitzern ihrer Augen zu erkennen, dass sie ganz genau wusste, wer ich war.

»Wenn das Märri ist, bin ich Cinderella«, antwortete Anna, die Cindys schauspielerischen Glanzleistungen wie üblich glaubte. Anna hielt ihre Stiefschwester für den dümmsten Menschen auf Erden. Ganz im Gegensatz zu mir.

Ich seufzte und verwandelte mich wieder in meine natürliche Gestalt. Netterweise war mein sonnengelbes Feenkleid wieder sauber, genau wie meine Schuhe. Ein Vorteil einer Komplettverwandlung. Cindy kommentierte meine plötzliche Veränderung mit einem Quietschen und Anna mit einem Augenverdreher.

»Märchenfee. Da bist du ja. Stell dir vor. Ich glaube, da stand womöglich der Prinz von … von …«, hob Cindy an.

»Sprich es nicht aus, sonst wird es nachher wahr«, sagte Anna rasch. »Ob Prinz oder nicht – wir haben ein ernstes Tanzproblem. Der Ball steht an. Schon morgen. Cindy muss ebenfalls hingehen. Wenn sie sich nicht vollkommen blamieren will, muss sie noch viel lernen. Üb mit ihr, Märchenfee. Ich gehe derweil ins Dorf und kaufe uns billigen Stoff und Leinen. Wir können schließlich nicht in unseren alten Straßenkleidern ins Schloss.«

Ich zauberte mich hastig trocken und nickte. »Du hast recht.« Prüfend musterte ich Cindy, die schlimmer denn je aussah. Die Beule wölbte ihre blond gelockten Haare in die Höhe und das blaue Auge schillerte in allen Regenbogenfarben. »Cindy? Du musst dich zusammenreißen.«

»Du musst dich zusammenreißen«, korrigierte Anna eisig. »Cindy ist ruhig und entspannt. Du machst hier einen auf hysterische Fee. Soll ich für Cindy jetzt Stoff mitbesorgen oder nicht?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das wäre gegen jede Regel. Wir kommen auch so klar.«

Annas Gesichtsausdruck machte deutlich, dass sie das bezweifelte. Dennoch verschwand sie und ließ mich mit meinem Schützling allein. Ich wandte mich Cindy zu und wartete, bis ich ihre Aufmerksamkeit hatte. »Morgen Abend entscheidet sich, wie es mit unser beider Leben weitergeht. Also bitte: Versuch wenigstens, ein klein wenig prinzessinnenhaft zu wirken.«

»Ich geh nicht zu dem Ball.«

»Natürlich gehst du!«

»Nein. Auf keinen Fall. Ich mach mich da nicht zum Affen!«

Das waren ganz neue Töne. Ich sah sie fassungslos an, doch Cindy begegnete meinem Blick vollkommen gleichmütig.

»Ihr sagt alle, dass ich mich dort blamieren werde. Wahrscheinlich habt ihr recht. Also gehe ich gar nicht erst hin. So einfach ist das.«

Mir klappte die Kinnlade nach unten. »Dein ganzes Dasein ist auf diesen einen Moment ausgerichtet.«

»Dein ganzes Dasein ist auf diesen Moment ausgerichtet. All die Jahre über musste ich mir anhören, wie wichtig es ist, dass ich auf diesen doofen Ball gehe. All die Jahre hast du gejammert, dass ich nie im Leben das Zeug dafür habe. Ich bin das Gejammer leid, und daher gehe ich nicht hin.«

Wer war bitte die Jammernde in dieser Geschichte? Mir fehlten die Worte. Und doch, ganz klammheimlich musste ich zugeben, dass sie nicht ganz unrecht hatte. Ich hatte in den letzten Wochen wirklich viel gejammert. Je näher der Ball kam, desto reizbarer war ich geworden. Es hing wirklich viel an diesem Moment.

Für sie und für mich.

»Du gehst auf diesen Ball«, sagte ich streng. »Und wenn ich dich persönlich an deinen verfilzten blonden Haarsträhnen dorthin zerren muss!«

 

Nachdem Cindy und ich noch gut eine Stunde lang zornentbrannt diskutiert hatten, gingen wir mit schlechter Laune auseinander. Mein Schützling sah gar nicht ein, zum Ball zu gehen. Ich sah nicht ein, ihre Wünsche zu akzeptieren. Letztlich zog sich Cindy in ihre kleine Kammer zurück.

Ich hingegen wartete ungeduldig, bis Anna zurückgekehrt war. Sie hatte für ihre wenigen Pennys löchrigen, verwaschenen Stoff bekommen, der schon beim Zuschneiden zerbröselte. Eine Weile sah ich ihr mitleidig bei ihren Anstrengungen zu und half schließlich mit. Es war streng verboten, für jemand anderen zu zaubern als für den eigenen Schützling. Auf magische Weise konnte ich ihr nicht helfen, aber zum Glück war ich auch so im Nähen bewandert.

Aus einem löchrigen Stoff ließ sich nur leider lediglich ein löchriges Kleid nähen.

»Ich werde beim Feenrat um eine Ausnahmegenehmigung bitten«, sagte ich schließlich, als das gesamte Kleid der Länge nach mit einem Ritsch zerriss und die sonst so tapfere Anna mit den Tränen kämpfte.

»Vielleicht könnten wir die Vorhänge benutzen?«, schlug Lucilla vor und deutete auf den fadenscheinigen Stoff rechts und links vom Fenster. Ich musterte ihn eingehend und entschied mich dagegen. Erst dann bemerkte ich, dass das Wohnzimmer erstaunlich leer war.

Die teure Vase auf dem Sims war verschwunden, genau wie der Ledersessel und sämtliche gepolsterten Stühle um den ausladenden Esstisch. Stattdessen standen dort schlichte Holzstühle, von denen ich schon vom Ansehen Rückenschmerzen bekam.

Das sonst so üppig gestapelte Holz neben dem Kamin war nur noch ein kleines Häuflein, und sogar die Gemälde darüber waren fort. Jetzt hing dort lediglich eine riesige Streitaxt, über deren Erinnerungswert Emma und ich schon häufiger diskutiert hatten. Lucilla wollte uns nur leider die bestimmt spannende Geschichte der Streitaxt nicht verraten.

Sie hatte im Gegensatz zum Rest der Wohnzimmerausstattung Lucillas Verkaufswut überstanden. »Du hast wirklich alles zu Geld gemacht, was sich zu Geld machen ließ, nicht wahr?«, sagte ich beinahe tonlos.

»Ich fürchte schon.« Lucillas Gesicht hellte sich plötzlich auf, als ihr etwas einfiel. »Wir könnten mein Hochzeitskleid umnähen.«

»Mama! Dieses Kleid ist alles, was dir von deinem Liebsten geblieben ist. Wir können es unmöglich verwenden«, widersprach Anna.

»Es hängt nur im Schrank und verstaubt. Da wäre es schöner, wenn es euch nützen würde. Warte. Ich hole es.«

Ich beäugte indessen mein wunderschönes Feenkleid, das mindestens fünf überflüssige Lagen besaß.

»Denk nicht mal dran«, ging Anna dazwischen, bevor ich etwas Törichtes tun konnte. »Du hast auch so schon genug Ärger am Hals.«

»Hab ich das?«

»Ich sage nur: Kinnhaken und Verwandlung. Zwei garantiert verbotene Dinge für eine Fee.«

Meine Laune hob sich sofort. »Stimmt. Zwei verbotene Dinge! Da fehlt noch die dritte Verfehlung. In der Märchenwelt sind es stets drei Sachen.« Beherzt schnippelte ich mit der Schere quer durch mein Kleid, zuppelte Tüll und Stoff auseinander und legte die Fetzen auf den Boden. Mein Feenkleid sah jetzt natürlich schlimm aus, doch das machte nichts. Bei der nächsten Verwandlung würde es hoffentlich wieder heil sein. Trotzdem starrte mich Anna sprachlos an.

»Du darfst uns nicht helfen. Das ist gegen jedes Märchengesetz. Du bist als Märchenfee eine unglaubliche Fehlbesetzung.«

»Und du als böse Stiefschwester.«

»Hast du denn schon einen Plan, wie du Cindys Kutsche hervorzaubern willst? Die Kürbisernte ist dieses Jahr schrecklich mickrig ausgefallen.«

»Ach, ein kleiner Kürbis reicht schon für eine ansehnliche Kutsche.«

»Und die Mäuse? Unser Kater hat sie alle gefressen, seitdem wir kein Geld mehr für sein Futter haben.«

»Mir fällt da bestimmt was ein. Zur Not nehme ich ein paar Tauben und verwandele sie in weiße Pferde. Ein einziges reicht bereits. Die Kutsche wird eben klein ausfallen müssen.«

»Ich habe auch keine Bohnen, Wicken, Linsen oder Erbsen zum Sortieren«, sagte Lucilla, die mit ihrem Kleid über dem Arm ins Wohnzimmer zurückkehrte. Ihr folgte Emma, die beim Anblick der goldfunkelnden Fetzen am Boden vor Freude quiekte.

»Nähst du diesen zauberhaften Stoff in unsere Ballkleider?«, rief sie aufgeregt.

Anna und ihre Mutter wechselten besorgte Blicke, während ich bereits nickte. »Ja, genau das haben wir vor. Ihr dürft zwar nicht den Prinzen erobern, weil der für die Cinderellas vorgesehen ist, aber ein Edelmann sollte machbar sein.«

Wir trennten Lucillas weiß glänzendes Brautkleid auf, um zwei Teile zu erhalten. Eins für Anna. Eins für Emma. Dabei fiel mir wieder Lucillas Anmerkung ein. »Keine Bohnen, Erbsen, Linsen oder Wicken?«, fragte ich besorgt. »Du musst Cindy auf jeden Fall eine Aufgabe zuteilen, damit sie nicht auf den Ball gehen kann. So sieht es das Märchen vor.«

»Das Märchen sieht bestimmt auch nicht vor, dass die Märchenfee die Kleider für die Stiefschwestern näht«, warf Lucilla ein.

Sofort ließ ich den Stoff fallen. »Stimmt. Ach, ich weiß auch nicht.« Verzweifelt vergrub ich das Gesicht in meinen Händen. Dann wurde mir klar, was ich da tat. »Jammere ich in letzter Zeit zu viel?«, fragte ich besorgt.

»Natürlich nicht«, sagte Anna eindeutig ironisch.

»Niemals«, sagte Lucilla voller Sarkasmus.

»Auf jeden Fall«, sagte Emma aufrichtig.

Na toll. »Cindy will nicht auf den Ball gehen. Sie sagt, ich hätte sie zu sehr gedrängt. Sie will endlich eine selbstbestimmte Frau sein. Ohne Zwänge und Vorherbestimmungen.«

»Tja, das hast du jetzt von deinem Geschwafel.« Anna klang amüsiert.

»Welches Geschwafel?«

»Du predigst seit Jahren, dass Cindy selbstständiger sein soll. Jetzt ist sie es, und prompt gefällt dir das auch nicht. Ist doch toll, dass sie eine eigene Meinung entwickelt hat.«

»Muss das nur ausgerechnet jetzt sein? Kann sie nicht unabhängig werden, wenn sie Prinzessin ist?«

»Märchenfee, sieh der Tatsache ins Auge: Cindy wird niemals Prinzessin.«