Selbstjustiz - Tanguy Viel - E-Book

Selbstjustiz E-Book

Tanguy Viel

0,0

Beschreibung

Ein Mann ertrinkt auf hoher See – war es Unfall oder Mord? Der Verdächtige vertraut dem Richter ganz ungeschützt seine Lebensbeichte an. Ein fein ziselierter Roman über Schicksal und Moral. Martial Kermeur ist des Mordes angeklagt. An einem einzigen Tag, Auge in Auge mit dem Richter, erzählt er die Geschichte seines Lebens in einer kleinen bretonischen Stadt am Meer, von der gescheiterten Ehe mit France und von seinem Sohn Erwan, den er allein aufgezogen hat. Er ist ein einfacher und bescheidener Mann, der das alte Gutshaus verwaltet, bis es einer Großbaustelle weichen muss. Seinem Sohn will er ein Vorbild sein und ihm nicht das Gefühl vererben, auf der Seite der Verlierer zu stehen. Und doch scheitert Kermeur an den eigenen Hoffnungen. Er wird von dem Immobilienspekulanten Antoine Lazenec schmählich betrogen, dem es über Jahre hinweg gelungen ist, buchstäblich die ganze Stadt mit einer gläsernen Chimäre hinters Licht zu führen und so Gemeinde wie Kleinanleger finanziell zugrunde zu richten. Minimalistisch und elegant ist dieses neue Sprachkunstwerk, dieser Roman über einen Mann, der ehrenwert leben will und zum Mörder wird.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 181

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel

Die französische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Article 353 du code pénal bei Les Éditions de Minuit in Paris.

Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des Institut français und des französischen Außenministeriums, vertreten durch die Kulturabteilung der Französischen Botschaft in Berlin.

E-Book-Ausgabe 2017

© 2017 Les Éditions de Minuit

© 2017 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August unter Verwendung des Gemäldes »Untitled Surface 3« © Kristian Touborg.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803142283

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3290 1

http://www.wagenbach.de/​

Auf keinem Meer der Welt, nicht einmal derart nah an der Küste, findet ein Mann sich gerne vollkommen bekleidet urplötzlich im Wasser wieder – die Überraschung für den Körper angesichts des unvermittelten Wechsels der Elemente, wo derselbe Mann eben noch plaudernd auf einer Bank im Boot saß, seine Angelleinen auf dem Achterdeck vorbereitete, und einen Augenblick später, schau an, eine andere Welt, literweise Salzwasser, starr vor Kälte und dazu noch das Gewicht der Kleidung, das am Schwimmen hindert.

Der Motor tuckerte im Leerlauf, die Wellen tätschelten den Bootsrumpf nur ein wenig, fern die kleinen Felseninseln, die das Meer bald wieder teilweise bedecken würde, dazu die Seeschwalben oder Möwen, die über meinem Kopf kreisten wie in der Nähe eines Fischkutters, aus Gewohnheit neugierig darauf, was man in die Fischerboote hochholt, in diesem Fall einen Hummer und zwei Taschenkrebse, sie befanden sich in der Reuse, die wir an Bord hissten, gemeinsam über die Reling hoben – denn in diesem Moment waren wir noch zu zweit, holten gemeinsam die Reuse ein wie zwei alte Freunde, hätte man glauben mögen, sahen schon die Taschenkrebse gegen das Drahtgitter zappeln, als wir die schwere Reuse da hinstellten, ganz hinten im Cockpit. Er selbst holte den Hummer heraus und warf ihn in den Eimer, schwungvoll genug, dass ihn die Zangen nicht erwischten, die jetzt an den Plastikrändern schabten, er, stolz wie Artaban, dass er einen Hummer gefangen hatte, er sagte zu mir: Kermeur, das ist mein erster Hummer, den schenke ich Ihnen.

Ich könnte heute nicht mehr sagen, ob es an diesem Satz lag oder an einem anderen, ich weiß nur, kurz darauf sah ich zu, wie er mit seinen schweren Armen auf das Meer einschlug, der Schaum, den er herumschaufelte, ließ mich gleichgültig. Vielleicht hielt er es noch für einen schlechten Scherz. Vielleicht dachte er noch, er könne zu einem Felsen gelangen, vielleicht zu einem, der bei Ebbe auftauchte. Sogar die Seeschwalben mit ihrem Lachen schienen das zu denken – sie saßen auf den scharfen Graten einiger ferner Felsen, die den Horizont zerrissen, als fänden sie normal, was da vorging, ich meine, ein Typ, ins kalte Wasser gefallen, der mühsam versuchte, in Kleidern zu schwimmen, der keuchend immer wieder meinen Namen rief, damit ich ihm zu Hilfe kam: Kermeur, Scheiße, kommen Sie, Kermeur, was soll der Scheiß. Und er benutzte noch Wörter wie »verdammt noch mal«, »sind Sie wahnsinnig«, »das können Sie nicht tun«, offenbar dachte er, damit könne er mich umstimmen. Aber nein, das kam natürlich nicht in Frage. Und ich spürte schon, sogar die Möwen, weiß und kalt wie Krankenschwestern, die niemals zwinkern, sogar die Möwen teilten diese Ansicht.

Wenn man wirklich wissen wollte, was in jenem Moment passiert war, müsste man vielleicht, so habe ich später gedacht, eine Möwe fragen. Dann ging ich in die Führerkabine und schob den Gashebel vor, allein jetzt am Steuer eines 30-Fuß-Merry-Fisher, als lenkte ich mein eigenes Boot vom Ledersitz hinter der salzig beschlagenen Scheibe aus, zu meinen Füßen die in ihr Schicksal ergebenen Taschenkrebse. Von außen sah das sicher aus, als wäre ich ein alter Fischer bei seiner täglichen Ausfahrt, von Natur aus schweigsam, mit gemessenen Bewegungen, hinter mir die lärmende Kielwelle, die seine Schreie übertönte. Also schob ich den Hebel noch etwas weiter vor, 400 PS ließen uns davonschießen, das Boot und mich, sodass ich die fünf Meilen bis zum Hafen nach knapp einer Viertelstunde zurückgelegt hatte. Fünf Meilen, klare Sache, das schafft man nicht schwimmend, schon gar nicht, wenn das Wasser so kalt ist wie an unserer Küste im Juni, und außerdem, fünf Seemeilen, das sind doch rund neun Kilometer.

Ich legte an derselben Stelle an, wo wir das Boot eine Stunde zuvor bestiegen hatten, Ponton A, Liegeplatz 93. Da niemand im Hafen war oder so gut wie, tat ich, als ob nichts wäre, vertäute das Boot, als wäre es meins, stieg über die metallene Gangway auf den Kai, und dann ging ich über den Parkplatz zu meinem Wagen. Ganz sicher hat irgendjemand hinter einem Fenster oder einem Vorhang, ganz sicher hat jemand mich beobachtet. Ich weiß noch, ich dachte in meinem Wagen, dass alles in diesem Moment mit schwarzer Tinte in ein Auge eingeschrieben wurde.

Als ein paar Stunden später die Polizei bei mir klingelte, nein, da war ich nicht überrascht. Ich hätte nicht sagen können, ob es Streifenbeamte waren oder schon die Kripo, ich weiß nur, sie waren zu viert, zwei Uniformierte vor der Tür, zwei kaum diskretere im Mannschaftswagen unten in der Einfahrt. Wahrscheinlich bin ich in tiefster Seele schuldbewusst genug, dass es mich nicht überrascht, wenn das Gesetz wie ein Bussard über mich kommt und mir schon seine Klauen in die Schultern bohrt. Und im Nachhinein denke ich, selbst wenn ich sie von ferne hätte kommen sehen, selbst wenn ich ihren Weg die Straße heran mit dem Fernglas verfolgt und begriffen hätte, dass sie kamen, um mich zu holen, ich hätte nichts anderes getan. Selbst wenn sie mich seit dem Morgengrauen verfolgt hätten, hätte ich mich ebenso verhalten, hätte Antoine Lazenec ins Wasser geworfen, das Boot wieder an seinem Platz vertäut, wäre dem Kanal zum Jachthafen gefolgt, hätte die grünen und roten Bojen beachtet wie Eisenbahnsignale, und immer diese Möwe hinten auf dem Boot, die vielleicht darauf wartete, dass ich sie bezahlte, um zu verschwinden. Diese Möwe, sie schien mit ihrem lidlosen runden Auge darauf zu bestehen, dass sie ein Teil der Geschichte wurde, wie ein unbestechlicher Zeuge, der vor sämtlichen Gerichten der Welt aufzutreten bereit war. Ich wollte ihr sogar sagen, dass ich freiwillig dorthin gehen würde, vor Gericht, dass ich nicht beabsichtigte, mich dem Gesetz zu entziehen. Ich wollte zu ihr sagen: Ich bin auch eine Möwe, auch ich sause über dem Wasser dahin, ich spüre genau, dass ich nicht mehr wirklich aus Fleisch und Blut bin, sondern über dem Meer und dem Boden dahinfliege, über dem Hafen, und ich bin eine Möwe, jawohl, ich bin eine Möwe im Dunst des Hafens, und ich sehe die Stadt sich abzeichnen, sie scheint in einer Sprache geschrieben zu sein, die ich nicht verstehe, einem Alphabet aus wiederaufgebauten Häusern und offenen Fenstern, nur an den Rändern kann ich die Bruchstücke erkennen, die übrig geblieben sind. Ja, ich bin eine Möwe, und auch ich warte auf die Morgendämmerung, darauf, dass die Leute ihren Müll auf die Straße stellen, denn die Leute hier haben begriffen, dass man seinen Müll nicht nachtsüber draußen stehenlassen kann, dass man seinen Müll nicht in eine Plastiktüte tun und einfach vor die Tür stellen kann, nein, den Müll muss man die ganze Nacht drinnen behalten, nahe dem Bett, wenn man sicher sein will, dass keine Möwe ihn plündert. Man muss mit dem Geruch seines Mülls leben, dem Geruch aller hergestellten und vertrauten und weggeworfenen Dinge, die neben einem verfaulen bis zum Morgen – das ist der Preis für die Möwen in unserer Gegend.

Und alles, die Polizei, die Verhaftung, alles lief in größter Ruhe. Sie sagten die Sprüche auf, die man bei solchen Gelegenheiten verwendet. Ich nahm meinen Mantel vom Haken neben der Tür und folgte ihnen ohne ein Wort. Ich glaube, es war in diesem Moment, dass es ein wenig zu regnen begann, so ein Nieselregen ohne Wind, der unhörbar den Boden berührt und dadurch, wie er die Atmosphäre durchdringt, sogar die Luft in eine Art seltsame Sanftheit hüllt, als würde er sie zum Schweigen bringen. Und während ich also den Polizisten meine Handgelenke hinhielt, als ob auch das eine alte Gewohnheit wäre, da warf ich einen letzten Blick um mich herum, auf die geschundene Erde, das Meer schräg unten. Ich dachte, von nun an würde ich genug Zeit haben, um es zu betrachten, das Meer, vom Fenster meiner Zelle aus. Dann schoben die beiden Polizisten mich hinten in den Mannschaftswagen, auf die Plastikbank, die an das Wellblech genietet war. Ja, ich erinnere mich, in dem unbequemen Lieferwagen, der bei der Fahrt über die Brücke bei jedem Schlagloch hüpfte, denn die Fahrbahn war vom Gewicht der Anhänger mit den zehn Tonnen wiegenden Booten zermürbt, beim Blick aus dem Rückfenster, das den Sprühregen empfing, da wirkte es, als versuchte der Himmel, durch die Vergitterung zu dringen, um auch sich selbst in Sicherheit zu bringen, es war, als hätte man einen Tüllvorhang, der unserer Geschichte ähnelte, über die Stadt gelegt, ja, das ähnelt unserer Geschichte, sagte ich zum Richter, das ist weder Nebel noch Wind, sondern ganz einfach ein unzerreißbarer Vorhang, der uns von den Dingen trennt.

I

Sie sind also allein zurückgekommen, sagte der Richter.

Ja, wir waren zu zweit, und dann, ja, dann bin ich allein zurückgekommen.

Also wissen Sie, warum Sie hier sind.

Ja.

Die Leiche wurde heute früh gefunden.

Ich weiß.

Am besten, sagte der Richter, gehen wir alles von vorn durch, und er ließ nicht erkennen, ob das eher eine Drohung sein sollte oder eine letzte Chance, die er mir bot – mir auf dem Holzstuhl ihm gegenüber, etwas niedriger als der Eichen- oder Ahorntisch, der ihn ein wenig zu erhöhen schien, hier auf den fünfzehn Quadratmetern, auf denen wir uns im Gerichtsgebäude mit den so verwitterten Mauern aufhielten, am Ende eines dunklen Flurs.

Noch fuhr mir die Seeluft durch die Gedanken, es war, als wären die Fenster weit geöffnet, und meine Ideen – nein, es waren keine Ideen, Bilder vielleicht, die aber jetzt stärker wirbelten als der Wind in einem Schleiertuch, als wäre ich ein von den Launen der Luft getriebener Kormoran und würde über dem Meer nach dem kleinsten Schatten, dem kleinsten Aufblitzen suchen, das mir erlaubte, hinabzutauchen und etwas herauszuholen, egal was, Hauptsache, es half mir, irgendwo anzufangen – etwas, das unter Wasser schimmerte wie die Schuppen eines Fisches.

Kann mir nicht wer die Handschellen abnehmen, sagte ich. Ich kann nicht reden, wenn ich die Hände nicht frei hab.

Der Richter seufzte etwas betont, so ein Seufzen im Sinne von »ich sollte das nicht tun, aber bitte«, und er gab dem Polizisten hinter mir einen Wink, von wegen na gut, er solle mir die Handschellen abnehmen. Für einen Richter fehlte ihm die Herablassung oder Härte oder das ganze Gehabe, das ich erwartet hatte, also ich meine, ein grauer Bart oder der Bauchansatz eines Vierzigjährigen, nein, dieser Richter hier war allerhöchstens dreißig, und er wirkte ganz, als wollte er mir gern zuhören. Ich dachte, er könnte mein Sohn sein und dass es in gewisser Hinsicht besser wäre, er wäre es tatsächlich, wenn man an Erwans Lage in dem Moment dachte – ja, Erwan, so heißt mein Sohn –, an die Zelle von drei mal drei Metern, von der aus er wahrscheinlich über die Stadt blickte, denn es gibt auch das in dieser Geschichte, Erwans Dummheiten.

Ich rieb mir ein wenig die Handgelenke, damit sie weniger wehtaten, und mied dabei den Blick des Beamten, denn der sollte nicht denken, ich wäre unverschämt oder stolz, denn nein, stolz war ich auf überhaupt nichts. Und während die Tür sacht zuklappte, breitete der Richter die Arme aus wie ein Evangelist und forderte mich zum Reden auf. Im Raum hing der Geruch von frischer Farbe, von so einer neutralen, eher grauen Farbe, mit der man gern Büroräume auskleidet, um vergessen zu machen, wie alt sie sind. Es war irgendwie eine seltsame Mischung, als ob sämtliche Ungerechtigkeiten der ganzen Stadt sich hier befänden, seit Jahrhunderten, und jetzt unter diesem neuen Anstrich in der Falle säßen, gefangen für lange. Und ich sage nicht, dass ich in dem Moment entspannt gewesen wäre, aber zum ersten Mal seit Monaten fühlte ich mich sozusagen am rechten Ort. Und übrigens, vielleicht wegen meiner festen Stimme oder weil ich mich in seinem Büro so wohlzufühlen schien, lehnte sich der Richter in seinem Sessel zurück und atmete genüsslicher, als wollte er mir sagen, aber jetzt, ja jetzt verlasse er sich auf mich wie auf seine Strafprozessordnung, und er wiederholte nur: Von Anfang an, Monsieur Kermeur, von Anfang an.

Und er sah aus, als hätte er alle Zeit der Welt, als würde er denken, wenn das jetzt zwei Wochen lang dauert, dann nimmt er sich die, einfach um irgendeinen ihm verborgenen Mechanismus dieser Geschichte zu begreifen, und ich sagte:

Eine vulgäre Betrugsgeschichte, Herr Richter, mehr nicht.

Und zum ersten Mal spürte ich die ganze Angelegenheit in einer einzigen Bewegung, als hätte ich sie, indem ich das sagte, vom Mond aus fotografiert und würde einen Planeten sehen, in seine großen blauen Flächen eingefasst.

Eine vulgäre Betrugsgeschichte, sagte ich noch einmal und senkte den Blick auf die Fläche des Schreibtischs, legte eine Hand flach darauf, halb war sie von den Dutzenden Aktenordnern auf der ledernen Schreibunterlage verdeckt, und auf vielen davon stand ja schon »Lazenec-Affäre«.

Diese Sorte Mensch, sagte ich zum Richter, so einen hätte man, wären wir in einem Dorf in den Bergen oder sagen wir eher im Wilden Westen vor hundert Jahren, den hätte man sicher kommen sehen, vielleicht zu Fuß beim Betreten der Stadt oder zu Pferde, wie er am Anfang der Hauptstraße stehen bleibt, vom Postamt oder dem Saloon aus hätte man den jedenfalls gesehen, und dann hätte man auch bald gewusst, mit was für einer Sorte man es da zu tun hatte. Und Sie, sagte ich zum Richter, vor hundert Jahren, da wären Sie vielleicht eher Sheriff gewesen, in der Tasche nicht Ihr auswendig gelerntes Strafgesetzbuch, sondern ein Revolver oder so was in der Art, weil damals Recht und Gewalt noch nicht vollkommen getrennt waren, falls man sagen kann, dass sie das mittlerweile sind, und falls man sagen kann, dass das tatsächlich so gut ist, weil mittlerweile Gewalt und auch Brutalität sehr gut gelernt haben, wie man sich verkleidet.

Wir aber haben ihn nicht kommen sehen. Wir haben ihn eher wachsen sehen, wie einen Pilz am Fuße eines Baums, der erst mal eine ordentliche Größe erreicht haben muss, bevor man etwas sehen kann. Und ich behaupte nicht, dass vor ihm hier völlige Friedhofsruhe geherrscht hätte, aber man kann doch sagen, dass in dieser Gegend, also ich behaupte nicht, auf der ganzen Welt, aber doch in dieser Gegend hier, über die schon zwanzig Jahre lang nichts mehr im Fernsehen gekommen ist, dass hier die Dinge schon eine geraume Weile ihren geregelten Gang gegangen sind, wo in den Zeitungen und am Kneipentresen natürlich genug Stoff da war, dass man etwas zu reden hatte, aber doch nicht so, dass man das Gefühl hatte, ein Gerücht würde sich jedes Einzelnen bemächtigen, ein Gerücht würde anschwellen und, das ist das Schlimmste, zerfließen, bis irgendwann keiner mehr als irgendein anderer das Recht hätte, es weiterzutragen. Eher hat da eine Art Hintergrundgeräusch geherrscht, das sanft heranwehte mit Molekülen, die irgendwann über einen jeden von uns herabregneten, ohne dass einer sich schuldiger oder betroffener gefühlt hätte als die anderen, oder befugter, es weiterzuerzählen, aber auch ohne dass einer sich versagt hätte, seinen Senf dazuzugeben, seine Anekdote oder irgendwann auch sein Urteil, wenn denn jeder Satz diesen Mann wirksamer begraben kann, was wir uns alle seit Langem wünschten.

Nein. Nicht alle. Sonst, sagte ich zum Richter, hätte er nicht so sein Wesen treiben können, ohne dass man je erfuhr, wer ihn tatsächlich unterstützte. Und mir kommt die Aufgabe, die ganze Geschichte zu erzählen, auch nur mit ein wenig mehr Berechtigung zu, weil unter meinen Fenstern vielleicht mehr Scherben gelandet sind als unter denen meiner Mitbürger, wie Glassplitter, die ein lokaler Wind aufgeweht und meistens bei mir wieder abgeladen hätte, wie man gewissen Leuten einen Säugling vor die Tür legt.

Aber wenn man bedenkt, wie lange sich die Gerichte schon für den Fall dieses Mannes hätten interessieren müssen, sagte ich zum Richter, dann bin ich nichts als eine Knospe ganz am Ende eines schon sehr langen Zweiges, eine Knospe, kaum sichtbar in einer Dämmerung, die so neblig ist wie die Londoner Straßen an einem Novembermorgen, wenn ich dran denke, dass England uns hier in Sachen Nebel nicht viel vormachen kann. Vielleicht kann darum auch einer wie er hier so aufkreuzen, mit einem derart grundsoliden Gesichtsausdruck, mit irgendwie rechtwinkligen Sätzen, der derart stabil auf dem feuchten Boden steht und etwas an sich hat wie eine ausgestreckte Hand, die uns mit all ihrer Energie und Veränderungsgedanken, mit ihren Plänen aus dem Wasser ziehen will.

Denn das hatte er, Pläne. Da sehen Sie schon, von was für einer Sorte der war, sagte ich zum Richter, einer mit Plänen.

Und ich kann Ihnen sagen, hier bei uns hat man dieses Wort in den letzten Jahren nicht gerade häufig gehört, vielleicht angesichts der herrschenden Zustände, der fünftausend Einwohner, die unserer Halbinsel ein wenig überdrüssig waren, ich weiß ja nicht, ob hier schlimmer als sonst wo, aber man konnte das schon lange spüren, die auf der Uferstraße lastenden Launen des Himmels, dort auf den Küstenpfaden, in den Gassen der Altstadt und bis hinein in die Sitzungen des Gemeinderats konnte man es spüren, eine Ermüdung.

Da braucht dann vielleicht nur ein Typ mit genug Energie aufzukreuzen, mit einem Scheckbuch, das deutlich dicker ist als das der meisten anderen, und schon denken alle, das ist der Gesandte wer weiß welchen Gottes, der zieht uns aus dem Sumpf. Jedenfalls scheint das so gelaufen zu sein an dem Tag, als er auf der Halbinsel auftauchte mit dieser an sich so schlichten Idee, das Schloss zu kaufen mitsamt dem Park drum herum, es ist ein wenig so, als hätte er den Scheck an jenem Tag nicht allein ausgestellt, sondern wir alle mit ihm.

Mir ist nie ganz klar gewesen, warum wir es das Schloss nannten, eigentlich war es keines, eher ein großes Haus aus Mauersteinen und sehr alten Ziegeln, die gern mal vom Dach rutschten, wenn der Wind ein bisschen zickig war, aber es war eben groß genug, dass alle hier dieses Wort benutzten, Schloss, denn in einem Städtchen wie unserem braucht irgendwie jedes Ding seinen Spitznamen, damit es zu uns dazugehören kann, also wurde dieses seit Langem nicht mehr bewohnte Haus auch seit Langem schon Schloss genannt, wie es da stand, hoch über dem Hafenbecken aufragend, als mache es gegen die Stadt auf der anderen Seite des Hafens Front.

Sie verstehen, sagte ich zum Richter, mit »wir« meinten wir nicht die Stadt. Nein, »wir«, das war die Halbinsel gegenüber.

Und vor allem nannten wir es darum das Schloss, weil es dort vorn auf der Spitze der Stadt die Stirn zu bieten schien. Und ich glaube, wir nannten es auch darum so, weil es der Gemeinde gehörte. Übrigens war das zugleich der Grund dafür, dass jemand den Park pflegen musste, dass jemand einmal pro Monat die zwei Hektar Rasen mähte, als wäre es in gewisser Weise ein echtes Schloss und bräuchte daher einen echten Verwalter. Und in gewisser Weise war dieser Verwalter ich, jedenfalls seit der seinerzeitige Bürgermeister mir das angeboten hatte – um Ihnen aus der Patsche zu helfen, hatte er gesagt, wegen der Menge an Problemen, die in jenen Jahren auf mich einprasselten, also schlug er mir vielleicht aus Freundschaft oder auch aus Mitleid vor, mich um das Schloss zu kümmern und auch dort zu wohnen, in dem leeren Gärtnerhaus am Eingang des Parks.

Im Gegenzug brauchen Sie nur den Park zu pflegen, sagte Le Goff – ja, der Bürgermeister hieß Le Goff, und genau das schlug er mir vor, für das Wohnrecht brauchte ich nur zu mähen und dann noch die Hecken zu trimmen, und wenn dann alles zum Verkauf angeboten wird (ja, denn das war damals schon geplant, angesichts der Finanzen der Gemeinde, es war geplant, das Schloss eines Tages zu verkaufen), wenn wir es zum Verkauf anbieten, sagte er, dann betreuen Sie die Besichtigungstermine. Ich erinnere mich, wie er eines Abends zu mir kam und so wie nebenbei zu mir sagte, den Blick auf den Boden geheftet, nachdem wir zwei, drei Sätze zum Nieselregen gesagt hatten, der an jenem Abend die Luft befeuchtete, da sagte er, beinahe murmelnd, als würde es ihn mehr betreffen als mich, er sagte: Es ist so weit, wir verkaufen.

Und ich fragte gleich: Wie gesehen? Wollen Sie verkaufen wie gesehen?

Ja, wie gesehen, wir verkaufen, und vorher rühren wir nichts an, wir lassen alles, wie es ist, sogar die Spinnweben und die Gespenster, die im Haus spuken, wer das kauft, der bekommt alles.

Also sagte ich: Und ich, muss ich dann hier raus?

Mein lieber alter Kermeur, sagte er, für Sie ändert sich nichts, Sie müssen sich dann nur mit dem neuen Inhaber einigen, denn die zwei Hektar, die gehören dann ihm.

Und dann fügte er noch hinzu: Und wenn es eines Tages mit Ihren Finanzen besser aussieht, dann …

Ich wusste genau, was er damit meinte, und er wusste, dass ich es wusste, um meine Finanzen würde es bald besser stehen, sehr bald und viel besser, sobald ich die Ablösung von der Marinebasis bekommen würde, das würde wie eine Art Neustart für mich sein, für mich und ein paar Tausend andere, schließlich hatten sie innerhalb von ein paar Jahren das Personal auf ein Fünftel verkleinert.