Selma Lagerlöf - Die Liebe und der Traum vom Fliegen - Maria Regina Kaiser - E-Book

Selma Lagerlöf - Die Liebe und der Traum vom Fliegen E-Book

Maria Regina Kaiser

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Beschreibung

- Erste Romanbiografie über Selma Lagerlöf. - Feinfühlig erzählt und mit großer Sachkenntnis geschrieben. - Mit ausführlichem Anhang zu Leben und Werk der schwedischen Schriftstellerin. Als erste Frau erhält sie 1909 den Literatur-Nobelpreis, sie macht sich stark für Frauenrechte, ist leidenschaftliche Pazifistin und führt ein für ihre Zeit unkonventionelles Leben: die Schriftstellerin Selma Lagerlöf (1858-1940). Einfühlsam und kenntnisreich bringt uns Maria Regina Kaiser in ihrer neuesten Romanbiografie die starke, mutige Schwedin näher. Früh geht Selma eigene Wege, wenn sie gegen den väterlichen Willen das Gymnasium besucht, sich zur Lehrerin ausbilden lässt und zunächst unterrichtet. Immer wieder ist sie auf Reisen, vom mobilen Aufbruch des jungen 20. Jahrhunderts begeistert. Das Schreiben hat es Selma Lagerlöf besonders angetan. 1906/07 veröffentlicht sie ihr wohl bekanntestes Werk: "Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen". Viele erfolgreiche Romane und Erzählungen folgen. Kritisch nimmt die anerkannte Autorin auch Stellung zu aktuellen Fragen wie dem tradierten Geschlechterverhältnis. Ab 1933 setzt sie sich für die Rettung jüdischer Flüchtlinge ein. Privat pflegt Selma eine faszinierende wie komplizierte Dreiecksbeziehung mit der kapriziösen Schriftstellerin Sophie Elkan und mit der geradlinigen Valborg Olander, ihrer Sekretärin. Position beziehen, Haltung zeigen – allen Üblichkeiten und so manchem Widerstand zum Trotz: Dies lebt uns Selma Lagerlöf eindrucksvoll vor.

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„Mich konnte und wird nie

eine andere Leidenschaft beseelen

als das Schreiben.“

Brief an Sophie Elkan vom 6. Februar 1894

Maria Regina Kaiser

Selma Lagerlöf

Die Liebe und der Traum vom Ŧliegen

Romanbiografie

vorspiel

Der Paradiesvogel

Strömstad, 1863

Der Liebling des Vaters, die kleine Selma Lagerlöf, war im schönsten Sommer nach dem Bad in der Quelle plötzlich krank geworden und konnte sich nicht mehr allein bewegen. Leutnant Lagerlöf war außer sich vor Sorge um die Jüngste, so verzweifelt hatte ihn auf Mårbacka noch niemand erlebt. Kajsa, die alte Kinderfrau, schleppte die Dreijährige auf dem Rücken überallhin, und der Schreiner fertigte ein Wägelchen an, in dem man Selma über den Hof ziehen konnte.

Der alte Doktor aus Sunne hatte alles versucht, doch die verschriebene Medizin brachte keine Besserung. Der Vater fuhr das Kind zum vornehmsten Doktor nach Karlstad, dem Stabsarzt Haak, aber auch der konnte nicht helfen. Was sollte denn aus einem Mädchen werden, das nur noch im Stuhl saß? Wie sollte so jemand jemals heiraten und einem Haushalt vorstehen?

Die Großmutter, die Mutter, die Haushälterin und Kajsa taten sich zusammen, als der Vater einmal auf Reisen war, und ließen die alte Hexe von der Högbergalm nach Mårbacka kommen. Johan und Anna, die älteren Geschwister, starben fast vor Angst beim Anblick der gefährlichen Alten, die zwei Tage dablieb und die kleine Selma besprach.

Letztlich waren alle Heilungsversuche gescheitert. Die Frauen auf Mårbacka sorgten sich nur noch um das kranke Kind, das jeden Tag sein Lieblingsessen vorgesetzt bekam und inzwischen gar nicht mehr von der Alltagskost der Familie aß, sondern gebratenes Hähnchen und neue Kartoffeln oder Erdbeeren und Schlagsahne verlangte. Kuchen und Heringe gab es für Selma, so viel sie davon essen wollte.

xxx

Schließlich unternahm Familie Lagerlöf eine Reise ans Meer, in den kleinen Badeort Strömstad. Das gelähmte Kind sollte kein hilfloser Krüppel bleiben, sondern „ein richtiger Mensch“ werden, sagte der Vater, der in seiner Jugend Leutnant beim Värmland-­Regiment gewesen war.

In Strömstad wartete für einige Wochen ein sorgenfreies Leben auf die Lagerlöfs. Selmas ältere Schwester Anna freundete sich mit den Töchtern des Zuckerbäckers an, und Johan fischte jeden Tag Krabben am Meer. Die übergewichtige, schüchterne Tante Lovisa verlor sichtlich an Gewicht und wurde gesprächig. Mutter Lagerlöf hingegen, die nach der Geburt der jüngsten Tochter Gerda etwas schwächlich nach Strömstad gekommen war, setzte ein paar Pfunde an und bekam rote Wangen. Die Kinderfrau Kajsa erfüllte Selma jeden Wunsch und trug sie überall herum. Leutnant Lagerlöf schloss Freundschaft mit den alten Kapitänen und trank mit ihnen auf ihren Veranden Grog, wenn er nicht gerade mit den Fischern auf Makrelenfang war.

Die Familie bewohnte ein rot gestrichenes Häuschen am oberen Ende der Karlstraße, das ihnen so gut gefiel, dass sie es Klein-Mårbacka nannten. Vor dem kleinen Haus befand sich ein von einem Lattenzaun umgebener Obstgarten. Unter den Apfelbäumen wurde morgens und abends zusammen gegessen. Hinter dem Häuschen war ein kleiner Kartoffelacker, und dahinter, an den Steilfels gelehnt, befand sich die Hütte, die die Besitzerin des Ferienhauses, Kapitänsfrau Bergström, während der Sommersaison bewohnte, während der sie ihr Wohnhaus an Badegäste vermietete.

Nachmittags waren alle Lagerlöfs häufig unterwegs, und meistens tranken Tante Lovisa und die Mutter bei Freunden Kaffee. Dann trug Kajsa ihren Schützling Selma auf dem Arm hinauf zu Frau Bergström, die gerne bei geöffneter Tür vor ihrer Hütte zwischen blühenden Oleanderbüschen saß.

Auf den Wandbrettern ihrer Hütte verwahrte die Kapitänsfrau merkwürdige Dinge, die sie dem kleinen Mädchen und der Kinder­frau zeigte: große Muscheln, in denen es rauschte, wenn man sie ans Ohr hielt, getrocknete Seesterne, Porzellanpuppen mit langen Zöpfen und langen Schnurrbärten aus China und eine riesige Schale, die ein Straußenei war.

Frau Bergströms Mann, der Kapitän, war unterwegs auf einem großen, schönen Schiff mit dem Namen „Jakob“. Jetzt gerade hatte er in Portugal eine Ladung Salz geholt, und ein paar Tage später würde die „Jakob“ nach Hause kommen.

Warum sie so seelenruhig sei, wenn ihr Mann auf dem grauenhaften Meer herumfahre, erkundigte sich Kajsa.

Er habe jemanden, der ihn beschütze, erwiderte Frau Berg­ström lächelnd und wandte sich an Selma. Bald werde ihr Mann hier eintreffen. Dann dürfe sich Selma den Paradiesvogel ansehen.

Selma geriet in Aufregung: „Was ist das, ein Paradiesvogel?“

„Das weißt du genau“, antwortete Kajsa für Frau Bergström. „Die Großmutter hat dir doch vom Paradies erzählt.“

Selma nickte. Jetzt verstand sie, was es mit dem Paradiesvogel auf sich hatte. Er hatte etwas mit dem lieben Gott zu tun und beschützte Kapitän Bergström. Das Paradies war etwas sehr Feierliches, die Großmutter erzählte davon immer mit ernster Stimme.

Jeden Tag blieben Leute bei ihren Eltern stehen, wenn sie das Wägelchen mit Selma hinter sich herzogen, und bedauerten sie, dass sie ein krankes Kind hatten. Vielleicht würde der Vogel ja auch ihr helfen, wenn er demnächst an Land flog, überlegte Selma

Mit klopfendem Herzen schaute sich Selma in der winzigen Hütte von Frau Bergström nach dem Paradiesvogel um. Aber da war er nicht. Auch auf den Oleanderbüschen saß er nicht.

„Wo ist der Paradiesvogel?“, brach es aus Selma heraus.

Der sei auf dem Schiff, versicherte Kajsa. Und Selma werde ihn schon bald sehen, denn dann würden sie alle an Bord der „Jakob“ gehen. Leutnant Lagerlöf hatte sich mit dem Kapitän angefreundet und wollte mit der ganzen Familie das Schiff besichtigen.

xxx

Die „Jakob“ ankerte nicht im Hafen am Kai wie die Dampfer, sondern draußen in der See. Die Lagerlöfs mussten in ein kleines Boot steigen und wurden hinübergerudert. Seltsamerweise wurde die „Jakob“ immer größer, je näher sie herankamen, und schließlich lag das Schiff vor ihnen wie ein Berg.

Tante Lovisa geriet in Aufregung. Wie sollten sie denn da hochkommen, das sei doch ganz unmöglich!

Kajsa und die Mutter stimmten ihr zu. Nun hätten ja alle das Schiff aus der Nähe gesehen, und sie sollten wieder umkehren.

„Nein, nein. Jetzt sind wir einmal da. Es ist die Gelegenheit, ein großes Handelsschiff zu sehen. Das dürfen wir uns nicht entgehen lassen“, erklärte Leutnant Lagerlöf und deutete auf ein Boot, das gerade an ihnen vorbeifuhr. Es war mit dicken braunen Säcken beladen.

„Das sind Salzsäcke“, sagte der Vater, „die haben sie gerade von der ‚Jakob‘ hergetragen. Wenn die Säcke aus dem Schiff heruntergekommen sind, ohne Arme und Beine, schafft ihr es auch.“

„Die Salzsäcke tragen aber keine langen Röcke und Krinolinen“, jammerte Tante Lovisa.

Selma sah die Bordwand hinauf. Dort oben wartete der Paradiesvogel auf sie, ganz sicher. Aber es war unmöglich, zu ihm zu kommen.

Unter der schaukelnden Fallreep-Treppe legte das Boot jetzt an. Ein paar Matrosen der „Jakob“ kletterten herunter, um den Gästen beim Aufstieg behilflich zu sein. Die Erste, die sie ergriffen, war Selma. Ein Matrose reichte sie einem anderen hinauf, der sie in Windeseile mit sicheren Tritten hochtrug und sie auf dem Deck abstellte. Und schon war er wieder weg, um dem Rest der Familie Lagerlöf zu helfen.

Auf zittrigen Beinen stand Selma da und sah sich erschrocken um. Es war nur ein schmaler Rand, auf dem sie sich befand. Vor ihr öffnete sich ein Abgrund. In der Tiefe lag etwas Schneeweißes, das von einigen Männern in Säcke hineingeschaufelt wurde.

Die anderen Lagerlöfs waren nicht zu sehen und nicht zu hören. Selma überlegte, dass sie vielleicht gar nicht mehr kommen würden, weil Tante Lovisa und die Mutter in ihren langen Röcken den Aufstieg nicht wagten. Sie, Selma, aber war hier angekommen, sie musste den Paradiesvogel finden. Er war vermutlich ganz in der Nähe.

Selma schaute hoch in das Takelwerk über ihr. Dort saßen nur ein paar Möwen. Der Vogel des Kapitäns war zweifellos viel größer, etwa so wie ein Truthahn. Sie konnte ihn nirgendwo entdecken.

In der Nähe stand ein dünner, blonder Junge mit braun gebranntem Gesicht und strohblondem Haar, Kapitän Bergströms Kajütenjunge.

„Wo ist der Paradiesvogel?“, fragte Selma.

„Ach der“, sagte der Junge. „Komm, ich zeig ihn dir.“

Er reichte ihr die Hand, damit sie nicht in den Laderaum hinabfiel. Rückwärts ging der Junge nach der Kajütentreppe, und ­Selma tappte hinter ihm her.

Was für eine Kajüte! Möbel und Wände waren aus poliertem Mahagoni-Holz, und dann sah Selma den Paradiesvogel. Es war ein ausgestopfter Vogel, so groß wie ein Truthahn mit langen, glänzenden, herabhängenden Federn.

Selma kletterte auf einen Stuhl und dann auf den Tisch zu dem Paradiesvogel. Zärtlich streichelte sie ihn.

„Er hat keine Füße“, sagte der Schiffsjunge.

Selma nickte still. Wer im Paradies mit großen Schwingen umherflog, benötigte keine Füße.

Überwältigt betrachtete sie den Wundervogel und faltete die Hände. Sie wagte nicht, den Jungen noch etwas zu fragen. Stun­denlang hätte sie hier bleiben können, aber jetzt hörte sie lautes Rufen und die Stimmen ihrer Geschwister und der Tante.

„Selma! Selma!“ Das war die Stimme des Leutnants. Und dann war auch schon die Kajüte voll mit der gesamten Lagerlöf-Familie.

„Wie bist du hierhergekommen?“, fragte Kajsa.

„Ich weiß nicht“, stammelte Selma. „Ich bin gegangen.“

Niemand hatte sie getragen, sie war auf ihren eigenen Füßen gelaufen. Jetzt war sie selbst erstaunt darüber.

„Komm herunter auf den Boden“, rief die Mutter.

„Wir wollen sehen, ob du wirklich gehen kannst“, sagte der Vater.

Selma kroch vom Tisch auf den Stuhl und vom Stuhl auf den Boden, und als sie da stand, konnte sie stehen und gehen. Etwas wackelig und zittrig, aber ohne dass jemand sie halten musste.

Alle lachten und weinten vor Freude.

„Das herrliche Seebad hat sie geheilt“, rief die Mutter. „Die gute Meerluft! So ein Glück, dass wir die Reise nach Strömstad gemacht haben!“

Als sie hinaustraten, drehte sich Selma noch einmal um, um dem Paradiesvogel zuzuwinken.

teil 1: Hinaus in die Welt

Der Ball in Sunne

Värmland, Januar 1872

Selma war inzwischen dreizehn Jahre alt. Sie sprach jetzt nicht mehr wie die Leute hier im Tal am Frykensee, sondern wie eine vornehme kleine Hauptstädterin.

Die Monate, die sie in Stockholm bei Tante Georgina verbracht hatte, um dort Gymnastik-Unterricht zu nehmen, hatten das stille, in sich gekehrte Mädchen verwandelt. Auf den ersten Blick sah man gar nicht mehr, dass Selma hinkte. Wenn sie sich mit jemandem unterhielt, ließ sie einfließen, dass sie in der Oper und im Schauspielhaus gewesen war. Am ersten Mai hatte sie im Tiergarten gestanden und König Karl XV. mit Königin Lovisa gesehen. Das ließ sie jeden Menschen wissen, der mit ihr ins Gespräch kam.

Über vier Jahre lag der Aufenthalt in der Hauptstadt inzwischen zurück, aber Tatsache war, dass Selma eine vornehmere Ausspra­che hatte als alle anderen Bewohner von Mårbacka.

„Sie spricht jetzt Stockholmisch“, stellte der Leutnant fest und war sehr stolz auf seine Tochter.

„Und die Lehrerin, bei der ich Englisch-Stunden hatte, hat gesagt, ich hätte das Zeug dazu, später auch einmal Lehrerin zu werden!“, rief Selma.

„Das glaube ich, dass du später einmal eine richtige Lehrerin wirst“, sagte Gerda.

Niemand war so beeindruckt von Selmas Erzählungen wie das jüngste Lagerlöf-Kind. Immer wieder musste die Schwester ihr berichten, dass die Leute in Stockholm auch zum Mittagessen Butterbrote verzehrten. Die Große, Anna Lagerlöf, war inzwischen so gut wie erwachsen und die Cousine Hilda Wallroth auf Gårdsjö ebenfalls. Diese beiden galten als die nettesten Mädchen im ganzen Frykstal.

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Eines Tages stand Leutnant Lagerlöf mit einem Brief in der Hand vor seinen Töchtern. Es war Januar und tiefster Winter, draußen lag Schnee, und die Wege waren vereist. Er habe eine Einladung erhalten, verkündete der Vater.

Sie seien alle zu einem Ball eingeladen. Im Wohnstock über Nilssons Kaufladen in Sunne solle er stattfinden. Die Herren würden für die Getränke sorgen, die Damen sollten Kaffee, Tee, Gebäck und ein Abendbrot mitbringen. Und während der Leutnant noch aus dem Einladungsbrief vorlas, traf Tante Augusta von Gårdsjö ein, wo ebenfalls ein Einladungsbrief abgegeben worden war. Die Tante setzte sich mit Mutter Lagerlöf und Tante Lovisa auf das Sofa im Esszimmer, wo beraten wurde, was man alles zum Ball mitnehmen würde. Anschließend ging Tante Lovisa sofort in die Küche und begann zu backen. Gerda und Selma kamen ebenfalls mit.

„Es gibt nichts Vergnüglicheres als einen Ball“, erklärte Tante Lovisa, die die Ärmel hochgekrempelt hatte, während sie den Hefeteig in der großen Backschüssel vorbereitete.

Nein, natürlich werde sie nicht mitkommen, das sei etwas für die jungen Leute. Genau solche Picknickbälle, wo jeder etwas zum Essen mitbrachte, habe es auch in ihrer Jugend gegeben. Und sie sei eine gute Tänzerin gewesen.

Selma und Gerda, die ja noch zu jung waren, um teilzunehmen, wollten genau wissen, was für Tänze man damals getanzt hätte.

An Quadrille und Française erinnerte sich Tante Lovisa noch sehr genau. Während der Hefeteig zugedeckt in der Nähe des Ofens ruhte, zeigte sie den beiden, wie die Quadrille ging, und danach wurde Française geübt. Die Gouvernante hatte den Mädchen Wiener Walzer beigebracht, hielt aber nicht viel von den alten Tänzen.

Gerda konnte nicht genug bekommen. Tante Lovisa war der Herr, und Selma und Gerda, die statt eines Blumensträußchens jede einen Kochlöffel hielten, waren die Damen. Ein Sack mit Rosinen fiel vom Tisch, und der Leutnant erschien in der Tür und schüttelte den Kopf.

„Wir üben für den Ball“, sagte Gerda und tanzte weiter.

„Walzer müsst ihr probieren“, schlug der Leutnant vor. „Walzer macht am meisten Spaß.“

Er umfasste Selma. Tante Lovisa, die hervorragend pfeifen konnte, pfiff jetzt einen Wiener Walzer.

„Du bist ja schon so gut wie eine Große“, stellte der Vater fest.

„Mit Elin Laurell und Anna tanzen wir doch jede Woche“, erklärte ihm Selma.

Leutnant Lagerlöf war beruhigt und verschwand wieder aus der Küche, um im Esszimmer in seinem Schaukelstuhl die Zeitung fertig zu lesen.

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Alle im Haus freuten sich in diesen Tagen auf den Ball und die, die nicht mitgehen würden, Selma, Gerda und Tante Lovisa, vielleicht sogar am meisten.

Am Tag vor dem Ball, beim Mittagessen, als alle wieder vom Ball redeten, sagte der Leutnant plötzlich, seiner Meinung nach sei Selma groß genug, um ebenfalls mitzukommen.

Selma fiel der Suppenlöffel aus der Hand. Sie war schon einige Male mit Anna und Elin in Östra Ämtervik bei Tanzgesellschaften dabei gewesen und wusste also, was auf dem Ball in Sunne geschehen würde.

Sie wolle nicht mit, sagte Selma schnell.

„Warum denn nicht?“, fragte der Vater und wandte sich an die Mutter. „Hat sie kein passendes Kleid?“

„Aber ja“, antwortete Mutter Lagerlöf. „Das hellgraue Barrege-­Kleid, das steht ihr sehr gut.“

„Strümpfe und Schuhe?“

„Sie kann Annas graue Tuch-Stiefeletten anziehen. Anna ist herausgewachsen, aber Selma passen sie jetzt.“

„Dann verstehe ich nicht, warum sie nicht mitwill“, wunderte sich der Leutnant.

Selma wurde es heiß und kalt. Sie wusste nicht, wovor sie sich so fürchtete, aber es war unmöglich. Sie wollte nicht auf den Ball. Sie sei doch erst dreizehn, sagte sie.

„Emilia Wallroth geht auch mit, und sie ist genauso alt wie du“, warf Tante Lovisa ein.

Selma brach in Tränen aus.

„Jetzt weinst du. Dabei sollst du doch Spaß haben auf dem Ball“, rief der Vater.

„Ich werde keinen Spaß haben. Mit mir wird niemand tanzen, weil ich hinke.“ Und wenn jemand sie zu einer Française auffordern würde, dann nur so einer, mit dem kein anderes Mädchen tanzen wollte.

„Schluss“, sagte der Leutnant. Sein Blick wurde finster. „Ich will nichts weiter hören, als dass meine Mädchen morgen alle zusammen nach Sunne fahren.“

„Man kann mit dem Ball ja warten, bis sie fünfzehn ist“, wagte sich Tante Lovisa vor.

„Wer weiß, ob es jemals wieder einen Ball in Sunne gibt“, erwiderte der Vater. „Seit Jahren haben sie keinen mehr veranstaltet.“

Selma weinte. Während des ganzen Essens liefen ihr Tränen die Wangen herunter. Nachher, als sie Mittagsruhe hielt, musste sie weiterweinen, dann während der Unterrichtsstunden am Nachmittag bei Elin Laurell und hinterher, als sie die Aufgaben zusammen lernten, und später, als sie noch etwas draußen rodelten und als sie abschließend mit den Handarbeiten im Esszimmer um den runden Tisch vor dem Sofa saßen.

An diesem Tag war Selma mit Vorlesen an der Reihe. Sie hielt den kleinen Band der Frithjofs-Saga von Esaias Tegnér vor ihr Gesicht und las die Klage Ingeborgs, die mit ihrem Falken auf der Hand den Verlust des Geliebten bejammert:

Falkenschwingen nahmFreja dereinst, als sie suchte, von Gramrings durch das Weltall getrieben,Oedur, den lieben.

Liehst du mir auchgern deine Schwingen, was hälfen sie mir,kann doch der Tod mir nur bringenhimmlische Schwingen.

Im Kinderschlafzimmer unter dem Dach dann, als die Mutter zu Gerda und Selma heraufkam und mit ihnen betete, gelang es ­Selma, ihre Tränen zu unterdrücken. Sie konnte das Vaterunser und Der Herr segne uns beten, aber bei Gott im Himmel droben und Es geht ein Engel versagte ihr die Stimme.

„Bitte, Mutter, sag Vater, dass ich zu Hause bleiben darf“, schluchzte sie.

Vater wolle doch nur, dass sie mit den anderen etwas Vergnügen auf dem Ball hätte, meinte die Mutter.

„Aber keiner wird mich zum Tanzen auffordern. Ich werde nur in der Ecke sitzen“, jammerte Selma.

„Natürlich wirst du tanzen“, sagte die Mutter und ging.

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Am Morgen wachte Selma auf und weinte wieder. Sie konnte einfach nicht damit aufhören.

Anna wickelte ihr Haar in Lockenwickel und sorgte sich, ob die Locken bis zum Ende des Abends halten würden. Dann überlegte sie mit Gerda, wer wohl den Ball eröffnen und mit wem Anna den ersten Walzer tanzen würde.

„Hör endlich auf zu heulen, Selma. Heute Abend hast du ja ganz rote Augen“, rief die Schwester.

Den Vormittag über waren Anna und die Mutter mit Elin Laurell beschäftigt, die Kleider zu richten. Sie hefteten Halskrausen ein, plätteten und probierten ihre Schuhe an.

Selma ging ins Esszimmer, wo der Vater im Schaukelstuhl die Värmland-Zeitung las. Selma setzte einen Fuß auf die Schaukelstuhlkufe und legte dem Leutnant die Hand auf die Schulter.

„Vater, kann ich denn nicht zu Hause bleiben? Niemand will doch mit mir tanzen, weil ich hinke.“ Weiter kam sie nicht. Sie schluchzte und bekam kein Wort mehr heraus.

Der Leutnant erhob sich, die Zeitung rutschte zu Boden, er nahm Selmas Hand und führte seine Tochter in die Küche, wo die Haushälterin gerade Töpfe säuberte.

„Mach dem Kind bitte ein richtig gutes Butterbrot mit zwei Lagen Käse darauf“, sagte er und ging wieder.

Selma hätte das Butterbrot am liebsten auf den Boden geworfen, tat es dann aber doch nicht. Sie wollte sich gut benehmen, aber das Weinen war nicht zu unterdrücken.

xxx

Die Tränen liefen weiter, als sie sich alle für den Ball umzogen, und die Tränen liefen auch noch, als sie sich in die Schlitten vor dem Haus setzten und in die Schlittendecken gehüllt wurden. Erst, als sie in Sunne ankamen, saß Selma endlich mit trockenen Augen im Schlitten.

Sie trug das graue, mit blauen Litzen verzierte Barrege-Kleid und dazu Annas graue, mit roten Bändern geschnürte Tuch-­Stiefeletten. Vorne an Selmas Hals steckte eine rosa Bandrosette. Das Haar hatte ihr Tante Lovisa frisiert. Es lag glatt um Selmas Schläfen und war im Nacken zu einem großen Knoten aufgesteckt. Aber so hübsch sie auch angezogen war, Selmas Augen waren vom vielen Weinen rot und verschwollen.

„Ich bin so hässlich“, flüsterte Selma, als sie in den Spiegel sah, der sich an der Wand des kleinen Salons vor dem Ballsaal befand.

Neben ihr standen Anna und Elin mit Hilda und Emilia Wallroth und steckten sich die Haare noch einmal fest. Sie lachten dauernd. Anna puderte sich die Nase, und Elin trug mit einem Pinsel Rouge auf. Anna und Hilda, fand Selma, waren überhaupt die schönsten Mädchen.

Zwei Fräulein aus der Nachbarschaft, die es nicht weit nach Sunne hatten, waren gerade von zwei Dienstmädchen auf einer Querstange durch den Schnee hergetragen worden, damit ihre dünnen weißen Kleider nicht zerknitterten. Tatsächlich sahen die jungen Damen überaus vornehm aus, aber doch nicht so reizend wie Anna und Cousine Hilda, stellte Selma fest.

Die andere Cousine, Emilia, war eigentlich nicht hübsch, aber das spielte keine Rolle, weil sie so liebenswürdig und lustig war. Sogar wenn sie gehinkt hätte, hätte man sie vermutlich zu jedem Tanz aufgefordert. Dabei war sie erst dreizehn, so wie Selma.

Der Saal füllte sich mit Menschen, das Bläser-Quartett von Östra Ämtervik begann mit der Musik. Einer der Gutsbesitzer trat in den Salon und verkündete mit ernster Stimme, zum ersten Mal seit zwanzig Jahren finde nun wieder ein Ball in Sunne statt. Sie wollten das Fest mit einer Polonaise eröffnen.

Die alten Herren betraten nun den Salon, engagierten die älteren Damen und Mütter, die dort saßen, und zogen Arm in Arm mit ihnen in den Ballsaal, während die Musikanten die Polonaise schmetterten. Jetzt strömten auch die jungen Herren herbei, rot im Gesicht vor Aufregung. Sie verbeugten sich vor den Mädchen und führten sie zum Tanz.

Zuletzt war niemand mehr im Salon als Selma und Mamsell Eriksson. Die Mamsell war bestimmt schon fünfzig Jahre alt, hatte lange gelbe Zähne und in Schnecken aufgesteckte Zöpfe.

Ein fremder Herr in Uniform kam zur Tür hinein, Selma hatte ihn noch nie gesehen. Er warf einen kurzen Blick erst auf Selma, dann auf die Mamsell, sonst waren ja schon alle Damen vergeben.

Selmas Herz klopfte schneller. Für welche von ihnen er sich wohl entscheiden würde? Aber er machte rasch kehrt und ging hinüber zum Tisch mit den Speisen und Getränken. Selma war dankbar, dass sie wenigstens nicht allein hier sitzen musste. Ein Gespräch zwischen ihr und der alten Mamsell kam längere Zeit nicht auf. Beide ließen den Unbekannten, der sich Kaffee eingoss und langsam davon trank, während er ihnen den Rücken zukehrte, nicht aus den Augen.

Selma überlegte, ob Fräulein Eriksson auch gezwungen worden war, diesen Ball mitzumachen. Dass sie freiwillig gekommen war, hielt sie für ausgeschlossen. Die Mamsell warf Selma einen betrübten Blick zu.

Der Uniformierte ging nun in den Ballsaal, ohne die beiden weiter zu beachten. Jetzt wurde eine Polka getanzt. Bei der Polka, die Elin ihnen beigebracht hatte, war Selma immer außer Atem geraten, aber sie liebte diesen Tanz trotz seiner Geschwindigkeit. Und offensichtlich ging es ihrer Nachbarin ebenso. Mit ihren mageren Händen klopfte die Mamsell rhythmisch auf ihre Knie. Ihre Füße mit den altmodischen schwarzen Schuhen zuckten dabei im Takt der Musik. Ihr Kinn zitterte.

Oh Gott, am Ende würde sie noch anfangen zu weinen, und sie, Selma, musste sie dann trösten!

„Aline Laurell meint, ich habe eine große Begabung“, hörte sich Selma plötzlich sagen. „Aline ist meine frühere Gouvernante. Sie hat gesagt, ich kann einmal Schriftstellerin werden.“

„Schriftstellerin?“ Die Mamsell machte ein erschrockenes Gesicht.

„Ich wäre etwas Besonderes und sei sehr begabt.“

„Ach“, sagte die Mamsell.

„Ja, aus dir wird mal etwas ganz Großes. Vielleicht wirst du berühmt. Das hat sie gesagt.“

Die Mamsell hörte jetzt interessiert zu.

„Ich glaube auch, dass ich eine Begabung habe.“ Selma musste einfach immer weiterreden.

Schlagartig war es mit der Polka vorbei. Zweifellos suchte sich der Fremde in Uniform jetzt seine Tänzerin aus. Vielleicht Anna oder Hilda, wenn sie nicht schon mit einem anderen Herrn verabredet waren. Oder Elin. Elin Laurell war nicht hübsch, und sie hatte eine Warze im Gesicht, aber sie hatte eine gute Figur, wie Anna immer wieder sagte. Vielleicht entschied er sich ja für Elin.

Ein junger Mann namens Peer, den sie beim Kirchgang schon einmal gesehen hatte, dunkelhaarig und mager, stürmte nun in den Raum. Um ihn schwebte ein herber Duft von Rasierwasser. Ein paar Herzschläge lang hielt Selma es für möglich, dass er sie zum nächsten Tanz auffordern wollte. Aber Peer hatte es nur auf die Getränke abgesehen. Er goss sich einen Krug mit Bier voll und verschwand damit eilig im Saal, wo die Musik erneut einsetzte. Ein Walzer.

Was, wenn Selma hier auf der Stelle starb? Würde jemand ihr zu Hilfe kommen und sie retten? Würde es überhaupt jemandem auffallen, wenn sie jetzt leblos im Sessel zusammensank? Sie durfte auf keinen Fall wieder losweinen. Dann würde Anna sagen, sie hätte ihnen allen den Spaß am Ball verdorben. Und außerdem sah dann jeder, dass sie traurig war, weil niemand sie zum Tanz aufforderte.

Die Mamsell räusperte sich, sagte aber nichts. Sie erhob sich, lief zum Büfett und kehrte mit einer Schale Haferplätzchen zurück, die sie wortlos Selma reichte.

„Ich werde einen Indianerroman schreiben“, stieß Selma hervor, und bei diesen Worten war es vorbei mit dem Weinenwollen.

„Bücherschreiben ist schwer“, sagte Fräulein Eriksson plötzlich, während sich Selma dem Hafergebäck widmete.

Ob sie sich vorstellen könnte, ein Buch von ihr zu lesen, fragte Selma zwischen zwei Plätzchen.

„Ja, mal sehen“, sagte die Mamsell langsam. Es klang wenig überzeugt. Wieder stand sie auf, diesmal, um sich ein Glas Wein einzuschenken. Noch stehend trank sie ein paar Schlucke und kam dann langsam zurück.

„Du siehst deinem Vater ähnlich, mein Kind“, meinte sie und sah Selma interessiert und liebevoll an. Ihre Augen glänzten plötzlich, und ihre Wangen röteten sich.

„Ihr seid die Erste, die das sagt“, widersprach Selma. „Alle meinen, ich sehe aus wie die Wallroths aus Mamas Familie. Und außerdem bin ich überhaupt nicht lustig.“

Jetzt kam Leben in die unscheinbare Person mit den langen gelben Zähnen. Selma sei ganz die Tochter ihres Vaters. Im Wesen sei sie ihm sehr ähnlich.

„Aber nein!“, rief Selma.

Mamsell Eriksson lehnte sich in ihrem Sessel zurück und lächelte versonnen.

„Er kam manchmal auf unserem Hof vorbei. Alle hatten ihn gern, sogar die Hunde sind herbeigerannt, wenn er vom Pferd stieg.“

Selma schwieg.

„Für alle hatte er ein freundliches Wort.“ Die Mamsell nippte an ihrem Weinglas. „Und einmal hat Leutnant Erik Gustav mir eine Rose überreicht.“

Es blieb lange Zeit still zwischen ihnen. Zwei weitere Walzer wurden im Saal getanzt. Walzer und Polka waren die schönsten Tänze, fand Selma.

„Die Liebe ist so schrecklich“, murmelte die Mamsell mehr zu sich selbst.

Selma glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Doch das alte Fräulein setzte ihr Selbstgespräch fort.

„Die Liebe bringt kein Glück.“

xxx

Am nächsten Morgen beim Frühstück war von nichts anderem als dem Ball die Rede.

Die Mutter, Elin Laurell und Anna sprachen aufgeregt durcheinander, als sie dem Leutnant und Tante Lovisa erzählten, wie lustig der Abend gewesen sei. Selma sagte kein Wort. Anna zählte auf, mit wem sie getanzt hatte.

Plötzlich sah der Vater zu Selma hin: „Na, und du?“

„Selma ist gar nicht zum Tanzen gekommen“, sagte die Mutter. „Sie war wohl doch noch zu jung.“

Alle schwiegen. Der Vater senkte den Kopf, als dächte er nach.

„Was meinst du?“, begann er an seine Frau gewandt. „Sollen wir nicht nach Stockholm schreiben und Onkel Afzelius fragen, ob Selma noch einen weiteren Winter bei ihnen zubringen kann, um wieder in die Heilgymnastik zu gehen? Das letzte Mal hat das ja sehr viel geholfen. Mein Gott, ehe ich sterbe, möchte ich Selma doch ganz gesund sehen.“

Selma konnte nichts sagen, so sehr freute sie sich. Stockholm! Die Heilgymnastik! Und sie würde wieder in die Oper und ins Theater gehen können. Einen besseren Vater gab es nicht auf ­dieser Welt!

Die Stadt, in der alles möglich ist

Stockholm, Frühjahr 1873

Mitten im Traum klopfte die Kinderfrau an die Tür. Selma war wie ein Vogel über die verschneite Landschaft geflogen, und sie brauchte ein paar Momente, um richtig wach zu werden.

In aller Frühe, um drei Uhr morgens, brachen Daniel und Selma mit dem Pferdeschlitten nach Kil auf, wo der nächste Bahnhof war. Daniel musste zurück nach Uppsala zu seinen Vorlesungen in Medizin und hatte damit bis Stockholm den gleichen Weg wie Selma, die zu Onkel Orell und Tante Georgina in die Hauptstadt reiste.

Für die lange Fahrt durch die kalte Nacht zum Bahnhof hatte Mutter Lagerlöf ihre Tochter zusätzlich in ihren Pelzmantel eingehüllt.

In Kil kauften sie sich Fahrkarten dritter Klasse, und als der Zug kam, wurden die Geschwister in ein leeres Abteil eingewiesen, in dem es nach Branntwein und Fußschweiß roch. Sie versuchten zu lüften, aber es war so kalt, dass sie das Fenster schnell wieder schlossen.

„Wenn ich einmal reich bin, fahre ich nie mehr dritter Klasse“, sagte Selma.

Daniel zog sein Anatomie-Buch aus der Reisetasche und sah seine Schwester lange an.

„Ich glaube, du wirst dein ganzes Leben lang dritter Klasse fahren“, meinte er.

Dann lehnte er sich in die Ecke und begann zu lesen.

Selma nahm das neue Tagebuch zur Hand, das Elin Laurell ihr zum Abschied geschenkt hatte. Mit weißen Deckeln, blauem Leinenrücken und Goldschnitt rundherum war es fast zu schade, etwas hineinzuschreiben. Aber Elin hatte Selma ermahnt, jeden Tag ihre Erlebnisse aufzuschreiben.

„Wenn du Schriftstellerin werden willst, musst du für alles, was du erlebst, froh und dankbar sein“, hatte Elin gesagt. „Du musst sogar froh sein, wenn dir etwas Schweres und Unangenehmes zustößt. Sonst kannst du später gar nicht beschreiben, was man fühlt, wenn man unglücklich ist.“

Noch gab es ja gar nicht viel, was sie hineinschreiben konnte.

Selma griff nach dem Buch von Fredrika Bremer, Die Töchter des Präsidenten. Erzählung einer Gouvernante, das sie noch nicht angefangen hatte, und begann zu lesen. Schon auf den ersten zwei Seiten musste sie laut lachen.

„Hör dir das an, Daniel. Der Präsident spricht mit der Gouvernante wie Vater mit Elin Laurell.“

Und, meine beste Demoiselle, um Gottes willen keine Wunderwerke aus meinen Töchtern, keine Wunderwerke. Ich will aus ihnen keine glänzenden oder eitlen Frauenzimmer, keine gelehrten, stolzen oder pedantischen Damen. Einfache, verständige Frauen, gute Hausfrauen und Mütter, dazu sollen sie werden. Talente mögen sie haben, aber nur, um sich selbst und andere angenehm unterhalten zu können. Wenn ich Virtuosen hören will, gehe ich ins Konzert und bezahle meinen Taler. Lesen sollen sie vor allem nicht mehr, als was da notwendig ist, um im Gesellschaftsleben leicht und gewandt mitreden zu können. Jede größere Belesenheit, jede Virtuosität, ist der Frau schädlich ...

„Das ist doch sehr komisch. Genau so spricht unser Vater auch immer. Aber du hörst mir ja gar nicht zu!“

„Stör mich nicht“, murmelte Daniel. „Ich muss lernen.“

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Der neue Stockholmer Bahnhof erhob sich jetzt ein paar Schritte weit von Onkel Orells und Tante Georginas Wohnung in der Klara-­Strand-Straße. Es war nur ein kurzer Weg, bis Daniel und Selma an der Haustür mit der Nummer 7 ankamen.

Das Tor ging auf, die Portiersfrau zog den kleinen roten Vorhang von ihrem Guckfenster zurück und warf einen strengen Blick auf die Ankömmlinge, die der Onkel und die Tante am Bahnhof abgeholt hatten.

Als sie die Treppe hinaufgestiegen waren und in den Flur traten, erkannte Selma alles wieder, den Garderobenständer und den Hutriegel und das Brett für die Überschuhe. Selma hängte ihren Mantel und den weißen Muff aus Kaninchenfell genau dahin, wo sie beides schon vor fünf Jahren untergebracht hatte.

Vom Flur aus gelangte man in das Esszimmer, hinter dem der Salon lag, und hinter diesem wiederum war das Schlafzimmer. Von da aus ging es ins Kinderzimmer. Am anderen Ende des Flurs lagen Küche, Speisekammer, Garderobe und das Dienstmädchenzimmer.

Es war alles wie bei ihrem früheren Aufenthalt, nur noch eleganter und schöner, als Selma es in Erinnerung gehabt hatte. Im Salon, im Schlafzimmer und im Arbeitszimmer des Onkels waren die Böden mit Teppichen belegt, an allen Wänden hingen Öl­­gemälde, und nirgends waren die Tapeten zerrissen oder verblasst wie zu Hause in Mårbacka. Die Zimmerdecken waren alle neu geweißt und mit Stuck-Ornamenten verziert. Vor den Fenstern hingen frisch gewaschene Vorhänge aus seidig glänzendem Stoff. In einem polierten Mahagoni-Schrank waren die Bücher aufgereiht. Und in einer runden Glasvitrine befanden sich lustige, schöne Porzellanfiguren.

Ein halbes Jahr lang sollte Selma in dieser vornehmen Wohnung verbringen, so war es ausgemacht. Ein halbes Jahr lang würde sie die aus Flickenstreifen gewebten Läufer und die angestoßenen Porzellanfiguren auf den einfachen Eckbrettern in Mårbacka nicht wiedersehen.

Nachdem sie Tee getrunken und etwas zu sich genommen hatten, sagte Tante Georgina, Daniel und Selma müssten gleich ins Bett nach der langen Reise. Daniel kam in Onkel Orells Zimmer, und Selma legte sich auf das geschweifte Sofa im Kinderzimmer bei ihrer kleinen Cousine Elin und der alten Haushälterin Ulla. In seinem Kinderbett schlief auch der Cousin Allan.

Plötzlich hatte Selma große Sehnsucht nach den bescheidenen, aus Flicken gewebten Teppichen in Mårbacka, nach den abgestoßenen Möbeln zu Hause und den beschädigten Tapeten. Sechs Monate lang würde sie das alles nicht mehr sehen. Wie sollte sie das aushalten?

Selma lag noch lange wach, bis der Turmwächter auf dem Klara-­Kirchturm Mitternacht ausrief.

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Daniel reiste am nächsten Morgen nach Uppsala weiter. Tante Georgina teilte Selma mit, dass sie dreimal die Woche bei einer Frau Oberst Englisch-Stunde haben solle, und zweimal müsse sie bei einem Fräulein Klavierstunde nehmen.

Selma geriet völlig außer sich. Nein, Klavier spielen wolle sie überhaupt nicht.

Tante Georgina sah sie erstaunt an. Und Selma schämte sich sofort. Was war nur mit ihr los? Dauernd fuhr sie aus der Haut.

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Das Wichtigste war die Gymnastik. Um zehn Uhr vormittags begann sie. Jeden Morgen, in Hut und Mantel, Handschuhen und Überschuhen, mit Regenschirm und Muff, verließ Selma das Haus in der Klara-Strand-Straße Nr. 7. Dann ging sie um die Ecke der Klara-Berg-Straße bis zur Klara-Norra-Kirchstraße, dort weiter einen mühsamen, mit Kieselsteinen bestreuten Weg hoch und durch ein großes Tor in den zur Klara-Kirche gehörigen Hof. Auf dem Friedhof waren die Wege wieder eben und geglättet. Dort konnte Selma leicht gehen. Und auf der anderen Seite des Friedhofs war auch schon das große Haus, in dem Professor Sätherberg sein Gymnastisch-Orthopädisches Institut hatte.

Im Flur hinter der Haustür blieb Selma ein paar Augenblicke stehen, um Atem zu holen, und betete zu Gott, er möge den Professor bitte bald etwas finden lassen, was sie heilte, damit sie richtig gehen konnte wie die anderen Menschen.