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- Erste Romanbiografie über Astrid Lindgren. - Einfühlsam erzählt und mit großer Sachkenntnis geschrieben. - Mit ausführlichem Nachwort und Anhang zu Leben und Werk der schwedischen Schriftstellerin. - Dank Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen ein wunderschönes Geschenk. Zeitlebens setzt sie sich für Toleranz und Gerechtigkeit ein, stets macht sie sich stark für die Rechte der Kinder, ihre Geschichten begeistern seit Generationen Groß und Klein: Astrid Lindgren (1907-2002) zählt zu den bekanntesten KinderbuchautorInnen der Welt. So große Erfolge Astrid Lindgren als Schriftstellerin feiert, so sehr ist ihr Leben auch von bitteren Erfahrungen geprägt: Nach einer glücklichen Kindheit wird Astrid mit 18 Jahren ungewollt schwanger, verlässt ihr Heimatdorf und zieht nach Stockholm, wo die junge Frau etliche Jahre in existenzieller Not zubringt. Zufällig wendet sich Lindgren dem Schreiben zu, als sie für ihre Tochter die Geschichte von Pippi Langstrumpf erfindet. Pippi, selbstbewusst, stark, voller Ideen, erobert sofort die Herzen ihrer jungen LeserInnen – wie später Michel aus Lönneberga, Ronja Räubertochter oder die Brüder Löwenherz. Mit ihren Büchern, in denen Astrid Lindgren viel Persönliches verarbeitet, gibt sie Kindern Kraft und Trost. Immer wirkt sie auch meinungsbildend, wenn sie eine gewaltfreie Erziehung fordert, Rassismus verurteilt, den Tierschutz hochhält. In ihrer Romanbiografie zeichnet Maria Regina Kaiser klug wie feinfühlig das facettenreiche Lebensbild dieser beeindruckenden Schwedin nach, deren Gedanken heute bedeutsamer denn je sind..
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Seitenzahl: 337
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Maria Regina Kaiser
Astrid
Lindgren
Helle Nächte,
dunkler Wald …
Romanbiografie
Im Märchenland
In Kristins Küche
Helle Nacht, dunkler Wald
Und dann kam Madicken
Studienassessor Tengström
Ebbe Ängquist verzweifelt
Die schlimmste aller Sünden
Weiße Schwester, Starker Arm
Und eines Tages Journalistin?
Ein richtiger Zeitungsmensch
Auf Schusters Rappen
Im Land der Großen
„Sehr, sehr ärgerlich“
Nur keinen Hering, bitte!
Ein Verlobungskind
Unterwegs nach Ninive
Die Anwältin
Ochsenköpfe
Sterben?
Steno bei Herrn Asmussen
Hunger
Auf der Dachrinne, fünfter Stock
Das Kinderheim
Entlassen
Der Mann aus Malmö
Eingangsschild zum neuen Paradies
Mormor und Morfar
„Er spricht ja Dänisch wie Carl!“
Von Selma an Astrid
Der Drecksjob
Klettertouren mit Pippi
Karin und Pippi
Im Park
Pfingsten, das Fest der Entzückung
Balkongespräch
Der Anruf
Immer diese Bügelfalten
Der Frühling, als der Frieden kam
Pippi-Fieber in Schweden
Plötzlich Wagenlenkerin
Ärmlich gekleidet, mit sanftem Blick
Ein Tag im Juni
Die zerstörte Stadt und ihre Tränen
Ein kleiner, grüner Apfel
Ilon aus Estland und das hässliche Entlein
„Louisechen meinchen“
Der Hecht
Heimlich, sodass es niemand erfährt
Schlaf, Krusse, schlaf
Immer dabei: die Melancholie
Die Einsamkeit ist eine Göttin
„So ungerecht, mein Chef“
Abschied von Louise
Hasse und der Sinn des Lebens
Viel Trubel auf der Buchmesse
Das Mädchen, das Pippi war
Walzer mit Hasse
Eine Brüdergeschichte mit weißer Taube
Das Glück, zu zweit zu sein
Zwei alte Mädchen im Wald
Arme, geplagte Kinder
Auf dem Bootssteg
Der große, große Chef kommt
Epilog
Das weiße Pferd der Fantasie
Nachwort der Autorin
Das hehre Bild der Kinderbuchautorin
Das Kindheitsidyll auf Näs bei Vimmerby
Die Volontärin der Vimmerby Tidning
Mutter und Kontoristin
Die Leidenschaft für Bücher
Das starke Mädchen stemmt alles
Der starke Junge Emil alias Michel
Zeitzeugin und Chronistin
Schwermut und ein Trostbuch
Redakteurin, Programmmacherin, Verlegerin
Die Bestsellerautorin
Schlüsselfiguren in Astrids Leben
Ein Rebell als Vorbild
Die unsichtbare Nabelschnur: Selma und Astrid
Die Opinionleaderin
Dieses Leben, ein Roman
Der Nobelpreis?
Erwachsenwerden in Taka-Tuka-Land
Anhang
Zeittafel
Glossar
Astrids Menschen
Astrids Orte
Astrids Werke
Deutsche Ausgaben von Astrids Werken (Auswahl)
Briefwechsel und Selbstzeugnisse
Literaturauswahl
Quellennachweis und Belege
Bildnachweis
Dank
Abbildungen
Cover
in memoriam
Petra Maria Kaiser
„Im Grunde genommen glich sie einem Tornado.“
vivi edström nach der ersten begegnung
mit astrid lindgren
Teil 1
Im Märchenland
In Kristins Küche
Näs, 1912
In der Küche roch es nach feuchtem Putzlumpen und heißem Schweineschmalz in der Pfanne und nach den Eierkuchen. Astrid hielt sich am liebsten mit Edit zusammen in dieser Küche auf. Edit war Astrids große Freundin. Sie war drei Jahre älter als sie und konnte schon lesen. Zusammen mit ihrer Familie lebte Edit in einem armseligen Häuschen. Wenn die Mädchen lange genug draußen herumgerannt waren, gingen sie meist zu Edit, in die Küche, und spielten dort mit ihren Stoffpuppen weiter.
Die Küche war ganz klein und einfach eingerichtet, mit einem einzigen Stuhl, der Bank an der Wand und dem Tisch. Da war der eiserne Herd und da die Tür zur Stube. Auf einem Hocker stand der Holzzuber mit dem Spülwasser. Edits Mutter war Kristin, die Frau des Kuhknechts. Eben räumte Kristin die Teller ab und steckte sie in die Seifenbrühe. Zu dritt hatten sie gerade Eierkuchen mit Blaubeermarmelade verzehrt: Edit, ihre fünfjährige Freundin Astrid und Edits Mama Kristin.
Edit lächelte verschmitzt über ihr marmeladeverschmiertes Gesicht. Plötzlich hielt sie ein Buch in den Händen, schlug es auf und las Astrid daraus vor. Das Buch konnte sie nur aus der Schule mitgebracht haben. Häuslerkinder hatten keine eigenen Bücher. Auch Bauernkinder hatten keine, weder Astrid noch ihre Geschwister besaßen derartige Kostbarkeiten. Astrid öffnete den Mund und konnte ihn nicht wieder schließen, während sie zuhörte.
Bam-Bam hieß der böse Riese. Und der kleine Junge war ein Prinz. Weder Astrid noch Edit hatten vorher Genaueres über das Leben eines Prinzen gewusst. Prinz Florestan war der Sohn eines mächtigen Königs. Und der König hatte seinen Sohn sehr lieb. Prinz Florestan ritt oft auf einem weißen Pferd über die Wiesen vor dem Schloss. Auch er hatte gerade Eierkuchen mit Blaubeermarmelade gegessen. In der Schlossküche wurden jetzt Teller durch die Spülbrühe gezogen. Kristin, die oberste Küchenmagd, scheuerte anschließend die Pfanne sauber und hängte sie an den goldenen Haken in der Bretterwand. Und in der Schlossbibliothek las Prinzessin Edit mit ihrer sanften Stimme aus einem kostbaren Buch vor. Draußen vor dem Fenster spielte ein Hirtenjunge eine Melodie auf seiner Holzflöte, während die Ziegen um ihn meckerten. Wie gut sie es doch hier im Schloss hatten, Prinz Florestan und Prinzessin Edit bei ihrem Vater, dem König! Das weiße Pferd wieherte.
„Lass uns doch ein wenig reiten“, schlug Florestan vor.
Astrid lauschte der sanften Stimme und lehnte sich zurück in ihren weichen Sessel, der mit rotem Samt bezogen war, im Mund noch den Geschmack von Eierkuchen und Marmelade.
„Ich habe auch ein Pferd“, sagte sie nach einer Weile.
„Du lügst“, widersprach Edit.
„Doch. Da draußen steht es. Siehst du es nicht, mein weißes Pferd?“
Edit schüttelte den Kopf.
„Du musst genau hinsehen, dann siehst du es auch“, sagte Astrid.
„Ja, jetzt sehe ich es auch“, versicherte Edit.
„Und jetzt ist es wieder weg.“
Edit nickte. Jetzt war das weiße Pferd wieder weg. Und auch der rote Samtsessel war verschwunden.
Helle Nacht, dunkler Wald
Hult, August 1916
An diesem Sommertag ging es zum Kirschenfest zu den Verwandten. Der Vater, Samuel August Ericsson, hatte die Pferde angespannt. Mutter Hanna hob die Kinder eins nach dem anderen in den Wagen hoch. Der Älteste, Gunnar, trug seinen Matrosenanzug, Astrid und Stina hatten die weißen Sonntagskleider mit dem Matrosenkragen an. Bei den Großeltern auf dem Hof Hult bei dem Ort Pelarne sollte heute gefeiert werden. Sie waren alle früh aufgestanden. Edit winkte traurig hinterher, weil sie nicht mitkommen durfte.
Die Pferde Maj und Maud zogen den Kremser. Neben dem Vater auf dem Kutschersitz thronten Astrid und Gunnar. Die kleinen Mädchen Stina und die vor Kurzem geborene Ingegerd saßen neben der Mutter auf den sonnendurchwärmten Ledersitzen. Die Räder knirschten im Sandboden. Es duftete nach Pferden und Harz und Fichtenwald. Alles war still und friedlich im Sonnenschein.
Plötzlich war ein furchtbares Geräusch zu hören. Die Pferde wieherten auf, der Vater sprang ab und hielt sie eng an den Zügeln, während ein schwarzes Automobil an ihnen vorbeipreschte, schnell und unaufhaltbar. Es roch nach Gas und Stadt. Bleich und zitternd klammerten Gunnar und Astrid sich aneinander fest. Endlich war das Bil verschwunden.
„Das passiert jetzt immer öfter“, sagte der Vater und lachte. „Bald gibt es auf der Welt nur noch Automobile und nirgendwo mehr ein Pferd.“
Astrid würgte es im Magen.
„Das können wir bei Großmutters Festschmaus allen erzählen“, schlug Gunnar eifrig vor.
Die Fahrt nach Hult dauerte ein paar Stunden. Als sie gegen elf eintrafen, stand die Großmutter auf der Vortreppe und umarmte sie einen nach dem anderen.
„Alle meine Kinder, alle meine Kindeskinder“, rief sie immer wieder und wischte sich die Augen vor Rührung. Dann packte sie Stina fest am Arm: „Auf gar keinen Fall dürft ihr zum See hinunter! Im letzten Jahr ist dort wieder ein Kind ertrunken. Astrid und Gunnar, wenn ihr draußen spielt, dürft ihr nicht zum See laufen. Das Wasser ist gleich am Ufer sehr tief.“
Im Obstgarten hinter dem Haus war der Tisch festlich gedeckt. Die Cousinen und Cousins waren alle schon da, ebenso die Onkel und Tanten. Nach der Begrüßung gab es erst einmal Kaffee mit Kuchen und reichlich Rosinenbrot. Während die Erwachsenen ihre Gespräche begannen, verdrückten die Kinder hastig ein paar Stücke von dem leckeren Rosinenbrot.
„Was macht eigentlich Jonssons Lina?“
„Hast du mal etwas von Pelle Pettersson gehört?“
„Der ist doch nach Amerika ausgewandert, nach Chicago. Aber zweimal im Jahr schreibt er einen Brief nach Hause.“
Die Erwachsenen redeten aufgeregt durcheinander.
Astrid und Gunnar hielt es nicht länger. Janne und Kalle und Kajsa waren bereits draußen, sie hatten einen neuen Ball dabei. Und schon rannten sie alle das kleine Stück an den See hinunter. Stina kam hinterhergestolpert. Immer wollten sie sie nicht mitnehmen, das sei so gemein, jammerte sie.
Die großen Kinder zogen blitzschnell Schuhe und Strümpfe aus und wateten in den See hinein. Stina rutschte aus und fiel vom etwas erhöhten Ufer ins Wasser. Sie schrie gellend, als Gunnar sie wieder an Land zog, und war klatschnass.
„Die Kleider trocknen ganz schnell wieder, wenn wir sie an den Baum hängen“, meinte Astrid und war schon dabei, Stina das Kleid auszuziehen. Eine Stunde später war es so gut wie getrocknet, als einer der Onkel herbeigestürzt kam. Die Kinder mussten wieder an die Essenstafel im Garten kommen, wo gerade die zahllosen Vorspeisen aufgetragen wurden: eingelegter Hering mit Dillsoße, zu dem die Männer Schnaps tranken, Knäckebrot mit gelbem Käse und Heringssalat.
Die Frauen, angeführt von Mutter Hanna, sangen nach dem ersten Gang mehrstimmig Sommerlieder, und die Kinder sprangen auf, um wieder zusammen zu spielen. Astrid kletterte auf den alten Birnbaum und von da auf das Dach des Stalls, wo sie über den First balancierte. Das traute sich keines der anderen Kinder. Sie war noch immer oben, als der Onkel aufs Neue auftauchte.
„Kinder, jetzt kommt der Braten“, rief er und fuchtelte mit den Armen.
Die Cousins und Cousinen schrien laut auf, denn Astrid zeigte gerade ihre ganze Kunst: Sie balancierte auf einem Bein und verteilte Luftküsse in alle Richtungen.
„Runter mit dir!“, brüllte der Onkel.
Natürlich dachten die Kinder nicht ans Essen, sie waren längst satt und kamen erst wieder zum Nachtisch an die Tafel, als es Erdbeeren mit Schlagsahne, Kirschgrütze und Käsekuchen mit Kompott und Sahne gab. Die Erwachsenen hingegen vergnügten sich weiter mit Essen und Gesang. Die Männer schmetterten Trinklieder, und die Frauen stimmten zwischendurch Kirchenlieder an, die sie mehrstimmig sangen. Mutter Hanna mit ihrer schönen Stimme war im Kirchenchor. Sie liebte Gedichte und Musik, auch wenn der Alltag ihr dafür nur wenig Zeit ließ.
„Ich bin in den See gefallen“, erzählte Stina der Großmutter und kletterte auf ihren Schoß. „Gunnar hat verboten, dass ich es dir erzähle.“ Zur Bekräftigung ihrer Geschichte weinte sie laut auf.
„Du bist ja ganz nass, du armes Kind! Herrje, du kriegst noch eine Lungenentzündung.“
Gunnar und Astrid wurden ausgeschimpft, die Mutter war ärgerlich, und Stina bekam neue Kleidung angezogen.
Schon wurde das Geschirr abgeräumt, und Kaffeetassen und Gebäckteller wurden herbeigebracht, wobei Astrid und Gunnar helfen mussten. Alle tranken jetzt heißen Kaffee, die Männer hoben ein letztes Mal die Schnapsgläschen.
Astrid hielt es nicht länger bei Tisch. Blitzschnell kletterte sie auf den höchsten Kirschbaum. Sie kannte ihn ja gut. Das Holz der Kirschbäume ist biegsam und bricht nicht. Astrid setzte die Füße in die Vertiefungen an den Verzweigungen. Ab und zu griff sie nach einer Kirsche, die noch am Baum hing, ließ sie sich schmecken und spuckte den Kern aus.
Der Baum war so hoch wie der Kirchturm, und, ganz oben angekommen, genoss Astrid die Aussicht über die Wälder, die Hecken und Viehweiden mit ihren Flechtzäunen, die Felder und Bauernhöfe. Hier oben schwankte die Baumspitze etwas im Wind, ein Gefühl, als sei sie auf See, stellte sie sich vor.
Vor dem Aufbruch sangen die Frauen mehrstimmig einen Choral.
O, hur saligt, att få vandra ...
Oh, wie selig ist’s, zu wandern
heimwärts an des Vaters Hand ...
Die Großmutter weinte wieder vor Rührung, als sie Enkel und Kinder verabschiedete.
Für die Heimfahrt legten sich Gunnar und Astrid im Kremserwagen unter eine Wolldecke, die Mutter nahm mit den beiden Kleinen gegenüber Platz, der Vater lenkte Maj und Maud, und dann ging es schweigend zurück durch den dunklen Wald unter dem hellen Sommernachtshimmel.
Astrid blinzelte müde. Das viele Essen, die wilden Spiele mit den Cousinen und Cousins – ihre Beine fühlten sich ganz müde an nach all dem Gerenne und Geklettere. Die Augen fielen ihr zu. Manchmal wachte sie für ein paar Augenblicke auf und schaute hoch zum immer noch hellen Himmel, während der dunkle Wald vorüberzog. Es roch nach Heu, die Hufe der Pferde klapperten, und die Räder knirschten. Diesmal begegnete ihnen kein Automobil, wie Astrid eigentlich befürchtet hatte.
Heimgekehrt, zogen sie die Schuhe vor der Tür aus und stellten sie auf der Treppe ab. Dann schlichen Eltern und Kinder leise, um die Mägde, die in der aufgeklappten Küchenbank schliefen, nicht zu wecken, in die Schlafstube. Astrid und Stina durften beim Vater im großen Bett schlafen, die Mutter legte sich auf der Eckbank mit Ingegerd nieder, Gunnar musste diese Nacht ins Kinderbett. Sie wechselten ihre Schlafplätze immer ab. Am begehrtesten waren die beiden Plätze im Vaterbett.
Und dann kam Madicken
Vimmerby, um 1916/17
Mit dem neuen Mädchen in der Klasse wurde alles anders. Sie war unglaublich schön mit ihrem langen dunkelblonden Haar, das sie offen trug, und in ihrem hellen Matrosenkleid. Astrid musste immer wieder zu ihr hinsehen. Sie selbst und Stina hatten auch Matrosenkleider, die sie aber nur sonntags in der Kirche und in der Sonntagsschule anziehen durften.
Anne-Marie Ingeström hieß das fremde Mädchen. Madicken. Alle in der Klasse wussten, dass sie im großen hellgelben Haus wohnte, das der neue Bankdirektor in Vimmerby mit seiner Familie bezogen hatte. Anne-Marie nahm ihren Platz in der Bank vor Astrid ein. Es kam Astrid vor, dass sie ein klein wenig nach Zigarrenrauch duftete. Wie vornehm das war!
Die Lehrerin stellte eine Frage.
„Du bist gemeint. Ja, du, Astrid.“
„Ich weiß es nicht“, stammelte Astrid. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass die Lehrerin sie etwas gefragt hatte.
„Fünf und sieben. Wie viele Äpfel sind das?“
„Fünfundsiebzig.“
Anne-Marie drehte sich um und lachte laut. Wahrscheinlich lachte sie, weil Astrid nach Stall und Kühen roch.
„Fünfundsiebzig“, wiederholte Astrid.
Jetzt lachten alle Kinder lauthals.
Die Lehrerin verstand die Welt nicht mehr. „Du bist die Rechenbeste, Astrid. Ganz langsam. Noch einmal. Auf dem Tisch liegen fünf Äpfel. Im Korb sind sieben andere Äpfel. Wie viele Äpfel sind es zusammen?“
An diesem Tag konnte die Rechenbeste der Klasse die Aufgabe einfach nicht lösen. Hilflos schüttelte sie den Kopf. „Vielleicht fünfzig? Oder zwanzig?“
Es war zu schwer.
„Ich krieg dich!“, zischte Astrid der Neuen ins Gesicht, die sie immer noch anstarrte. „Warte nur.“
Sie hatten ein Stück Heimweg gemeinsam.
„Hier darfst du nicht weitergehen“, schrie Astrid, als das Mädchen mit den langen Haaren im Matrosenkleid daherkam.
Diesmal wartete Astrid nicht auf Gunnar, sondern stürzte sich wie eine Tigerin auf die Neue. Aber Anne-Marie hatte nicht die mindeste Angst. Sie schien geradezu auf den Kampf mit Astrid gewartet zu haben. Und stark war sie, das merkte Astrid sofort, während sie miteinander rangen. Und es machte ihr Spaß zu kämpfen. Der Kampf dauerte ziemlich lange. Ein paarmal war es Astrid gelungen, Anne-Marie ins Gebüsch zu drängen, wo sich ihre Haare und das Kleid in den Ästen verfingen. Aber sie befreite sich jedes Mal, und zum Schluss lag Astrid am Boden.
„Sieger!“, rief Anne-Marie triumphierend.
Gunnar und die anderen Schulkinder, die zugeschaut hatten, klatschten Beifall. Astrid erhob sich und reichte Anne-Marie anerkennend die Hand. Sie keuchten beide nach der Anstrengung. Anne-Marie strahlte vor Freude über ihren Sieg.
„Du bist eine tapfere Kriegerin“, sagte sie.
„Auch du bist eine große Kämpferin“, meinte Astrid.
Schweigend standen sie sich gegenüber.
„Weiße Schwester“, sagte Anne-Marie, „das war gut.“
„Dann werden wir Seite an Seite kämpfen“, schlug Astrid vor. „Dein Name sei Starker Arm.“
Studienassessor Tengström
Vimmerby, 1917–1920
Die Kinder der wohlhabenden Eltern in Vimmerby gingen nach der Volksschule auf die Sam Realskola. Die Realschule befand sich in einem roten Backsteinbau mit hallenden Treppenhäusern. An der Fassade waren die eingemeißelten Worte „Gottesfurcht“, „Ordnung“ und „Fleiß“ zu lesen. Dort lernte man Englisch, Deutsch und sogar Französisch.
Madicken ging bereits dorthin, und sie flehte Astrid an, auch zu kommen. Das sei doch abgemachte Sache, sagte Madicken. „Wo wir doch Blutsschwestern sind.“
Astrid hatte Bedenken. Die Realschule kostete viel Geld. „Und außerdem gehören wir zum ungehobelten Bauernvolk.“ Das sagte Samuel August Ericsson jedenfalls immer, wenn Astrid in die Villa des Bankdirektors hinüberging, um mit Madicken zu spielen. Sie solle sich bei den feinen Leuten gut umsehen. Da könne sie sich etwas abgucken.
„Aber dein Vater ist gar nicht so arm, sagt mein Papa“, meinte Madicken zu Astrid. „Er muss es doch wissen, weil er der Bankdirektor ist.“
Erst nachdem Herr Ingeström länger mit Astrids Eltern gesprochen hatte, war die Sache tatsächlich abgemacht. Mutter Hanna lächelte versonnen.
„Du kannst da freiwillig sogar Französisch lernen“, sagte sie.
„Ist Französisch schwer?“, wollte Astrid wissen.
Die Mutter nickte. „Deswegen musst du jetzt damit anfangen.“
Astrid strahlte. Ihr Vater war bereit, den hohen Geldbetrag zweimal im Jahr zu bezahlen, nicht nur für Astrid, sondern auch für Gunnar, der sich allein wegen des besseren Fußballplatzes überreden ließ, Astrid auf die Realschule zu folgen. Und so kam Gunnar dann zu Madicken in die Klasse und Astrid, da sie ein Jahr jünger war, in die Klasse darunter. Auf jeden Fall waren die Mädchen jetzt wieder zusammen und sahen sich in den Pausen und auf dem gemeinsamen Schulweg.
Die neue Schule hatte einen großen Raum mit dunklen Bücherregalen. Die Bücher konnte man an einem Tag in der Woche ausleihen, wenn man Lust hatte. Und Astrid hatte Lust. All diese wunderbaren Geschichten von Anne in Avonlea, von Hetty, dem irischen Wildfang, weiter Onkel Toms Hütte, Die Schatzinsel, Der letzte Mohikaner, Tom Sawyer und Huckleberry Finn!
Interessanterweise war Lesehunger ein Hunger, der nicht zu stillen war, bemerkte Astrid schnell. Denn je mehr man las, desto hungriger wurde man. Nach jedem Buch, das sie beendet hatte, blieb Astrid traurig zurück. Wie entsetzlich, dass jetzt alles zu Ende war! Aber nein, es ging ja weiter. Da standen noch so viele ungelesene kleine rote Bände im Regal und warteten auf sie.
Einmal im Jahr wurden für die Schule neue Bücher angeschafft. Manchmal fünf, manchmal drei, und auf die war Astrid ganz besonders versessen. Außerdem kam Gunnar häufig mit gekauften Indianerheften nach Hause. Er lieh Astrid auch Bücher, die er für sein gespartes Geld erstanden hatte: Der König der Haudegen und Der Mann mit den eisernen Fäusten.
Studienassessor Gustav Tengström gehörte zu den Freidenkern und war Mitglied in der Sozialliberalen Partei. Als solcher gehörte er dem Gemeindeparlament von Vimmerby an.
Er ginge nur unregelmäßig zur Kirche, sagte Mutter Hanna, als sie alle beim Abendessen in der Küche um den Tisch saßen und Blutklößchen und Kartoffelpuffer verzehrten. „Das gefällt mir nicht“, schloss sie.
„Mach dir keine Sorgen, Mama“, rief Gunnar über den Tisch. „Er hat mit uns in Englisch das Kirchenlied O, hur saligt, att få vandra durchgenommen.“
„Im Englischunterricht?“ Vater Samuel August legte die Gabel nieder.
„Es ist nämlich kein gutes Lied“, berichtete Gunnar weiter. „Es ist eine missratene Übersetzung.“
„Nein!“, rief da Mutter Hanna. „Wie kann dieser Mann vor den Kindern so reden!“
„Auf Englisch ist es viel schöner: Shall we gather at the river. Herr Tengström hat gesagt, die englische Fassung gibt den Geist des Psalms viel besser wieder. Sie ist Literatur. O, hur saligt ist dagegen schlecht übersetzt.“
Am Tisch war es jetzt völlig still. Auch der Großknecht Pelle und die Magd Lisa hatten aufgehört zu essen. Die Blutklößchen dampften in der Schüssel vor sich hin, ohne dass noch einer zugriff.
Mutter Hanna schüttelte den Kopf, während Gunnar blitzschnell den englischen Text ins Schwedische übersetzte. Als er fertig war, sagte sie: „Herr Tengström sollte unseren schönsten Choral aus dem Englischunterricht für die Kinder heraushalten.“
Pelle und der Vater nickten zustimmend.
„Am Glänzen des Flusses, dem Spiegel von unseres Heilands Gesicht“, wiederholte Gunnar und führte noch einmal seine Englischkenntnisse vor: „At the shining of the river, mirror of our Saviours face“.
„Aber“, fuhr die Mutter fort, „eigentlich hat Herr Tengström recht.“
„Das gefällt mir“, rief Stina, die noch auf die Volksschule ging.
Gunnar fuhr fort: „Er hat auch noch gesagt: ‚Merkt euch, Kinder, wenn ein Text stark und gut ist, so wie ein Psalm zum Beispiel, dann blitzt selbst in der schwächsten Übersetzung noch etwas davon hervor. Ein Übersetzer kann den Originaltext nie ganz totschlagen.‘“
„Seid froh, dass ihr Englisch auf der Schule lernt“, sagte Mutter Hanna und wandte sich wieder ihrem Essensteller zu.
„Was seid ihr nur für Kinder“, seufzte Vater Samuel August auf und zwinkerte dabei Stina zu. „Alle lieben sie die Wörter. Von mir habt ihr das nicht.“
„Die Wörter und das Singen sind doch das Schönste am Tag“, stellte Lisa fest. „Man kann schließlich nicht immer nur arbeiten.“
„Es gibt nichts Besseres als Lektüre“, verkündete Studienassessor Tengström im Schwedischunterricht. Inzwischen war Astrid dreizehn Jahre alt und konnte schon etwas Deutsch und Englisch sprechen.
„Ja, ja!“, schrie Astrid und sprang auf, als habe er auf diese Bestätigung gewartet. Alle schauten zu ihr hin, was nur in sie gefahren war. Astrid übertrieb es manchmal, fanden die anderen Kinder. Es war schlechtes Benehmen, einfach so, mitten im Unterricht, aufzuspringen und loszuschreien.
Aber Tengström nickte wohlgefällig. „Setz dich, Astrid.“
Astrid ließ sich wieder auf ihrem Stuhl nieder. Das stundenlange Sitzen fiel ihr schwerer als den Mitschülern. Je länger der Unterricht dauerte, desto mehr kribbelte es sie in allen ihren Gliedern. Sie kibbelte mit den Füßen, kritzelte auf einem Blatt Papier herum und begann, auf dem Stuhl hin und her zu wippen.
Ihr Lieblingsfach war Turnen. Sie kletterte nicht nur die Gerüste an den Wänden hoch, sondern hangelte sich auch an den unter der Decke in schwindelnder Höhe verlaufenden Heizungsrohren entlang. Außer ihr traute sich das kein anderes Schulkind.
„Du wirst einmal im Zirkus auftreten“, versicherte der Turnlehrer vielfach. „Irgendwann lesen wir in der Zeitung von dir.“ Es sei schade, dass sie kein Junge sei, fügte er hinzu. Sie sei wie geschaffen für den Seemannsberuf.
Tengström las immer öfter aus den Hausaufgaben Astrids vor. Manchmal einzelne Passagen, dann den ganzen Aufsatz. „Hört genau hin, so soll ein guter Aufsatz sein“, sagte er häufig.
Astrid rutschte dann verlegen auf ihrem Stuhl hin und her. Einerseits war es ein gutes Gefühl, gelobt zu werden. Andererseits machten die Klassenkameraden dumme Witze über sie.
„Dauernd müssen wir blöde Aufsätze als Hausaufgabe schreiben“, murrte Berta in der Mittagspause, als die Kinder ihre mitgebrachten Pfannkuchen und hartgekochten Eier verzehrten. „Nur wegen dir.“
„Aufsätze machen doch Spaß“, meinte Astrid. Sie hatte ein Butterbrot und ihre Lieblingswurst dabei.
„Dir vielleicht. Aber wir müssen uns quälen.“ Berta hasste die Aufsatzschreiberei. „Wenn mein Papa mir nicht helfen würde, würde ich nie damit fertig.“ Bertas Papa war Herr Blomberg, der Zeitungschef der Vimmerby Tidning. „Und dass Astrid eine Streberin ist, sieht man ja schon daran, dass Tengström sie mehr lobt als mich. Dabei schreibt Papa jeden Abend meine Schwedisch-Hausaufgaben.“
Astrid starrte ihre Wurst an. Irgendwie schmeckte sie nicht mehr.
„Niemand schreibt so gut wie mein Vater“, sagte Berta jetzt. „Er schreibt sogar Bücher.“
Die Kinder verstummten. Keins von ihnen wagte nachzufragen, was für Bücher das wohl seien.
„Aber“, meinte Märtha in die Stille hinein, „dann schreibt Astrid doch noch viel besser als dein Vater. Tengström weiß ja nicht, dass deine Hausaufgabe von einem richtigen Redakteur ist.“
Einer von den Jungen lachte frech: „Probier es doch mal wieder selbst mit den Schwedisch-Aufgaben, Berta. Mein Papa ist Bauer. Für ihn muss ich die Briefe an die Behörde schreiben, wenn er Kimminalsteuern zahlt.“
„Das heißt Kommunalsteuern“, verbesserte Berta.
„Gibst du mir von deiner Wurst ab?“, fragte Märtha. Diese Frage stellte sie jeden Tag, und natürlich gab Astrid ihr eine Hälfte.
„Und dann noch so ein blödes Thema“, seufzte Berta.
Tengström hatte ihnen heute aufgetragen, den Bericht eines zurückgekehrten schwedischen Amerika-Auswanderers zu verfassen. Sie hatten eine Woche Zeit für diese Arbeit. Astrid freute sich schon darauf und hoffte, dass sie nicht zu viel Zeit im Stall verbringen und auf dem Feld helfen musste.
„Du ruinierst noch diesen armen Stuhl“, sagte Tengström vorwurfsvoll. Und dann, wahrscheinlich um sie von der Schaukelei abzubringen: „Lies deine Hausaufgabe vor, Astrid.“
Thema war gewesen, ein Erlebnis nach der Schule zu beschreiben. Es machte Astrid viel Spaß, Aufsätze zu verfassen. Fast jedes Mal durfte sie ihre Schwedisch-Hausaufgabe inzwischen vor der Klasse vorlesen.
Froh darüber, aufstehen zu dürfen, nahm Astrid ihr Heft in die Hand und las: „Es war ein schöner Augustmorgen ...“
Astrid beschrieb, wie zwei kleine Mädchen die Beerdigung einer toten Ratte vorbereiteten. Die beiden wickelten das Tier in ein weißes, frisch gebügeltes Taschentuch und legten die Ratte behutsam in ein Erdloch, damit sie zu Gott kommen konnte.
„Dann lächelte die Sonne, und die Astern beugten sich flüsternd einander zu. Vielleicht war es aber auch nur der Wind, der ihre Köpfe zusammenbrachte.“
Hier unterbrach der Lehrer Astrids Lesung.
„Astrid, diese beiden Sätze bitte noch einmal. Alle genau hinhören.“
Astrid wiederholte die beiden Sätze und las dann ungestört bis zum Ende weiter.
Tengström, der sonst immer schnell die Beurteilung der Hausaufgabe aussprach, saß da, als hätte er Kopfschmerzen. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Mann, das sahen alle im Schulraum. Er hatte die Augen geschlossen.
„Er ist tot“, flüsterte Märtha, die neben Astrid saß.
Ebbe Ängquist verzweifelt
Vimmerby, 1920
Der Musiksaal der Volksschule von Vimmerby roch nach Langeweile und Bohnerwachs. Nur Astrid und der rothaarige Ebbe Ängquist befanden sich noch im Schulgebäude. Astrids Finger irrten über die dreistufige Tastatur der Orgel, die hier neben der Schultafel ihren Platz hatte.
„Nein!“, schrie Ebbe Ängquist auf. „So nicht!“
Astrids Füße suchten nach dem richtigen Pedal. Einmal pro Woche musste sie nach der Schule hierherkommen. Mutter Hanna wollte es so. Extra für Astrid war auf Näs eine kleinere Hausorgel gekauft und in die gute Stube gestellt worden.
„Dann kannst du später einmal jeden Sonntag im Gottesdienst die Orgel spielen“, hatte Mutter Hanna zu ihrer Tochter gesagt. „So kannst du dir immer ein kleines Zusatzgeld für den Haushalt verdienen.“ Und demnächst wolle sie hören, wie Astrid O, hur saligt, att få vandra spiele. „Dann könnten wir alle zu deiner Begleitung abends singen.“
„Es gibt doch nichts Schöneres als die Musik“, begeisterte sich Ebbe Ängquist oft. Er hatte spärliche rote Haare und eine kreischende Stimme. Der Volksschullehrer mit der großen Liebe zur Musik leitete den Kirchenchor – daher kannte ihn die Mutter.
„Wo bist du nur mit deinen Gedanken, Astrid?“, fragte Ängquist jetzt, während Astrid die Töne des Chorals suchte und immer wieder danebengriff. Dann war da noch das Pedal für die untere Stimme. Das, was Astrid an Tönen hervorbrachte, war gewiss nicht die Freude Gottes im Himmel, sofern er ihr zuhörte.
Astrid nahm die Hände von der Tastatur und seufzte tief.
„Welche Musik gefällt dir denn am besten?“, fragte Ängquist.
„Jazz“, antwortete Astrid. „Das, was die Kapelle im Stadthotel zum Tanzen spielt.“
Wenn sie an Samstagabenden an dem großen Gebäude vorbeifuhr, hörte sie diese Musik, die in den ganzen Körper überging. Im Sommer tanzten die Gäste auf der Veranda dazu, und manchmal hielt Astrid an, um zuzusehen.
„Jazz“, schnaufte Ebbe Ängquist auf, als habe er das Wort zum ersten Mal gehört. „Amerikanischer Jazz. Das ist doch ganz fremd für uns in Schweden. Ältere Leute werden krank davon, heißt es.“
„Er ist so lebendig“, sagte Astrid.
„Nie wird solche Musik in der Kirche gespielt werden!“
„Man könnte es wenigstens versuchen.“ Astrid wippte auf dem Stuhl hin und her. „Man könnte auch O, hur saligt, att få vandra etwas schneller spielen.“
„Es ist ein Choral“, sagte Ängquist.
„Studienassessor Tengström hat im Englischunterricht mit uns den englischen Text dazu durchgenommen: Shall we gather at the river?“
„So, so. Herr Tengström lässt euch also amerikanische Jazzlieder lernen.“
„Nein. Es ist kein Jazzlied. Es ist der Choral auf Englisch. Der Prediger Robert Lowry hat ihn komponiert.“
Eine lange Pause entstand. Unleugbar war Robert Lowry ein Amerikaner, der das Lied für seine Gemeinde geschrieben und komponiert hatte. Astrid fand den englischen Text schöner als den schwedischen, sah aber an Ebbe Ängquists Gesichtsausdruck, dass er das Thema nicht fortsetzen wollte. Sie hatte nicht genug geübt, und das verdross ihn.
„Es gibt Frauen, die hauptamtlich Organistin sind.“ Lehrer Ängquist schritt auf und ab. „Beerdigungen und Trauungen finden zu allen Zeiten statt, in Krieg und Frieden. Und immer benötigt man dabei eine Orgelbegleitung.“ Ein sicheres Brot sei die Musik, fügte er hinzu. Und man müsse beizeiten an die Zukunft denken.
Ja, das mochte so sein. Aber ganz bestimmt würde man nicht bei Fräulein Astrid Ericsson um eine Orgeleinlage anfragen. Kopfschüttelnd blieb Ängquist bei ihr stehen.
„Du hältst die Finger falsch, Astrid. Du gibst zu viel Druck auf die Tasten. Das hier ist Mozart. Den musst du zart und leicht spielen. Wie Sommerwind muss es klingen.“
„Bei einer Beerdigung?“
„Mozart ist für Hochzeiten und Kindstaufen.“
Eben noch hatte Studienassessor Tengström erklärt, in ihr wachse eine Schriftstellerin wie Selma Lagerlöf heran, jetzt wollte Ebbe Ängquist im Auftrag ihrer Mutter erreichen, dass Astrid es zur Organistin von Vimmerby brachte. Und Madicken nahm sie manchmal in den Arm und sagte: „Eines Tages gehen wir zwei zusammen an die Universität und studieren Englisch. Das wird so schön.“
Astrid zog die Hände von der Tastatur. In ihr stieg etwas Seltsames auf, etwas Schwarzes, etwas Trauriges. Es war wie Angst. War es, weil sie jetzt anfing, erwachsen zu werden? War es, weil sie jetzt ihre Monatsblutung bekam, so wie die größeren Mädchen?
„Du bist dreizehn Jahre alt, Astrid“, sagte Ängquist. „Da kann man schon einmal über die Zukunft nachdenken. Darüber, was man einmal werden will.“
Märtha wollte Krankenschwester werden, Madicken wollte studieren. Aber Astrid wusste einfach nicht, was aus ihr werden sollte. Und das war so traurig.
„Ich will nicht groß sein und erwachsen werden.“
„Es geht ja langsam“, versicherte Ebbe Ängquist, „ein Schritt nach dem anderen. So wie beim Orgelspielen. Erst kommen die leichten Stücke und dann immer schwerere.“
Astrid hatte Angst vor den schweren Stücken, vor den Seiten, die ganz schwarz waren von auf- und abtanzenden Noten im Bass- und im Violinschlüssel. Sie fand Kirchenmusik zu schwer.
„Ich will nicht mehr Orgel spielen“, sagte sie leise.
„Man darf nicht zu schnell aufgeben“, meinte Ebbe Ängquist. „Und deine Mutter wünscht sich doch so sehr, dass du eines Tages in der Kirche spielst.“
Dann sagte der Lehrer noch, wer Orgel spielen könne, beherrsche auch die Kunst des Klavierspielens. Mit Klavierstunden könne eine Frau ebenfalls gutes Geld nebenher verdienen, wenn sie erst einmal eine Familie habe.
Astrid war überzeugt davon, dass sie niemals eine Familie haben konnte. Kein Mann würde sie heiraten wollen. Sie war nicht so hübsch wie ihre Schwester Stina oder ihre Freundinnen Märtha und Madicken, fand sie. Und wahrscheinlich meinte ihre Mutter Hanna das ja auch und wollte deshalb, dass Astrid den Rest ihres Lebens als Kirchenmusikerin fristete. Bei diesem Gedanken kamen ihr die Tränen. Tagtäglich müsste sie dann Choräle spielen und bei Beerdigungen Trauermusik. Was für ein Dasein! Jeden Morgen müsste sie in schwarze Kleidung mitsamt den kratzenden Wollstrümpfen und in spiegelblank geputzte schwarze Schuhe schlüpfen und pünktlich in der Kirche von Vimmerby erscheinen, die dann ihr Arbeitsplatz wäre. Mit allen lustigen Spielen war es schon jetzt für immer vorbei. Die Zukunft der erwachsenen Astrid, das wären die Ansprachen des Pfarrers, das Seufzen der Trauergäste in den Reihen vor ihr und getragenes Orgelspiel.
„Wenn ich doch nur tot wäre!“, schluchzte sie auf.
„Warum?“ Ebbe Ängquist schüttelte den Kopf. „Wenn du jeden Tag übst, kommst du jede Woche ein Stück weiter. Und zum Schluss bist du Organistin.“
„Nein!“, schrie Astrid und stürzte hinaus.
Nein. Nie würde es ihr gelingen, Mozart wie Sommerwind klingen zu lassen.
Die schlimmste aller Sünden
Näs, 1921
Zwei Tage waren ins Land gegangen, einer anstrengender als der andere. Auf Näs mussten sie das Heu auf den Wiesen zusammenrechen, auf den Wagen laden, damit es vor dem Regen in die Scheune kam.
Studienassessor Tengström war mit dem Fahrrad zu ihnen hinaus nach Näs auf die Wiesen gekommen, wo sie vor den angesagten Gewittern das Heu zusammengebunden hatten. Er war noch ganz aufgewühlt von seinem Gespräch mit Reinhold Blomberg, dem Chefredakteur der Vimmerby Tidning. Zu diesem Mann hatte er nämlich Astrids Aufsatz gebracht, der ihn auf der Stelle gelesen hatte. Herrn Blomberg hatte Astrids Aufsatz so gut gefallen, dass er in den nächsten Tagen in der Zeitung erscheinen sollte. Fünftausendmal werde er dann gedruckt vorliegen, und in allen Haushalten der Umgebung könnte man ihn lesen, hatte der Studienassessor mit leuchtenden Augen erklärt.
Zuerst hatte sich Astrid ja gefreut. Aber als sie jetzt, beim Abendessen, Mutter Hannas finstere Blicke bemerkte, wurde ihr ganz seltsam ums Herz.
„Nein. Es ist nicht gut. Und ich freue mich überhaupt nicht“, brach es aus Hanna hervor.
„Warum nicht?“, fragte Vater Samuel August. „Liebchen, ich verstehe dich nicht.“
Gunnar rief über den Abendessenstisch zu Astrid hinüber: „Unsere Selma Lagerlöf!“ Und lachte, lachte, lachte. Sein Lachen steckte alle an, Stina und die kleine Ingegerd auf ihrem Kinderstuhl und Vater Samuel August. Nur die Mutter und Astrid lachten nicht.
„Was ist die schlimmste aller Sünden?“, wandte sich Hanna an Astrid.
„Hoffahrt“, sagte Astrid, wie sie es in der Sonntagsschule gelernt hatte.
„Sehr richtig. Und ich will keinesfalls, dass meine Tochter eitel und hochmütig dahergeht wie gestern und heute. Das werde ich auch Assessor Tengström sagen, wenn er wiederkommt.“
„Großer Gott“, rief Samuel August, „von Hoffahrt und Hochmut habe ich gar nichts bemerkt bei Astrid. Sie hat beim Heurechen geholfen wie die anderen auch, obwohl Herr Tengström da war. Sie ist ein gutes Mädchen.“
„Sie will aufhören mit dem Orgelspiel, hat sie mir gesagt.“ Und an ihre Tochter gewandt, meinte Hanna: „Du hast nun einmal angefangen, Astrid, da musst du jetzt auch weitermachen und üben, bis du in der Kirche spielen kannst.“
„Sie ist trotzdem ein gutes Mädchen“, wiederholte der Vater und lächelte seine Frau an.
„Aber damit das so bleibt, sollten wir verbieten, dass Astrids Schulaufsatz in der Zeitung abgedruckt wird“, schlug die Mutter vor. „Sie soll sich nicht hervortun vor der ganzen Stadt, dreizehn Jahre jung, wie sie ist.“
„Nun hat sie aber den schönsten Aufsatz geschrieben.“ Zum ersten Mal seit Jahren widersprach Samuel August seiner energischen Ehefrau. „Und wir haben Herrn Tengström und Herrn Blomberg von der Vimmerby Tidning schon zugesagt. Es ist doch eine Ehre für Hof Näs, dass Astrid Ericssons Schulaufsatz in der Zeitung abgedruckt wird.“
„Herr Tengström hat Astrid viel zu viel gelobt. Großes Lob verdirbt den Charakter eines jungen Menschen. Dabei bleibe ich.“
„Wie Selma Lagerlöf schreibt sie, hat er gesagt“, schrie Gunnar wieder und konnte sich vor Lachen nicht beruhigen. „In der Pause haben es die aus der Unterklasse erzählt. Dreimal musste Astrid die Sätze mit den Astern vorlesen. Und zum Schluss hat Tengström mit zittriger Stimme gemurmelt: ‚In Vimmerby wächst die zweite Selma Lagerlöf heran.‘“
„Vielleicht hat er ja recht“, überlegte Stina. „Er ist schließlich der Schwedischlehrer.“
„Ich will nicht hoffährtig werden“, stammelte Astrid. „Ich verspreche euch allen, dass ich nie, nie ein Buch schreiben werde.“
Hinterher beim Geschirrabspülen musste sie weinen. Als sie die Treppe hochging zu ihrem Zimmer, trat Vater Samuel August plötzlich auf sie zu.
„Da gibt’s doch nichts zu weinen, Mädchen“, tröstete er und gab Astrid einen freundschaftlichen Knuff. „Du gefällst mir ganz gut, sogar, wenn du ein bisschen hoffährtig bist.“
Weiße Schwester, Starker Arm
Vimmerby, Anfang 1920er-Jahre
Madicken war schon wieder verliebt.
„Ich muss es ihm sagen“, flüsterte sie, obwohl sie draußen standen und niemand ihnen zuhörte. „Er“ lächele ihr zu, wenn er ihr auf der Straße begegne.
„Nimm Verstand an“, sagte Astrid. „Er ist verheiratet und hat fünf Kinder.“
„Aber er liebt mich. Ich bin mir ganz sicher“, betonte Madicken.
„Du hast dich in ihn verknallt. Das ist eine ganz andere Sache“, stellte Astrid richtig.
„Es ist Liebe. Ganz große, starke Liebe. Du verstehst das nicht, weil du ein Jahr jünger bist als ich.“
Vielleicht hatte Madicken in dieser Hinsicht ja recht. Astrid war noch nicht verliebt gewesen. Sie fand die Jungen in der Schule nicht interessant. Sie interessierten sich ja auch nicht für Bücher, sondern prügelten sich lieber. Oder sie sprachen von Fußball, ließen aber keine Mädchen mitspielen. Astrid sehnte sich danach, auch zu einer der beiden Fußballmannschaften zu gehören. Das ginge aber nicht, sagte Gunnar dann, Mädchen dürften nun einmal nicht in einer Jungenmannschaft dabei sein.
Astrid wollte Madicken verstehen und ihr helfen. Aber wenn ihre Freundin verliebt war, was sich in den letzten Monaten mehrfach abgespielt hatte, hörte sie Astrid einfach nicht mehr zu.
„Er lächelt dir zu, weil er allen seinen Kunden zulächelt und sie begrüßt. Wenn er nicht nett ist, dann bestellen die Leute den anderen Schornsteinfeger. Das ist wie mit dem Bäcker in der Storgatan: Er muss freundlich sein, sonst holen die Leute ihr Rosinenbrot bei der Bäckerei am Marktplatz.“
„Findest du nicht, dass er unglaublich gut aussieht?“, wollte Madicken wissen.
„Irgendwie muss er ja schließlich aussehen. Er sieht eher mittelgut aus“, meinte Astrid.
„Er ist der schönste Mann von ganz Vimmerby!“, rief Madicken.
Dann schwiegen sie beide eine Weile.
Mit dem Spielen war es endgültig vorbei. Wie es gekommen war, konnten sich Madicken und Astrid nicht erklären. Von einem Tag auf den anderen ging es nicht mehr. Sie standen nebeneinander hinter dem langen Kuhstall und hatten keine Lust mehr, um die Wette zu rennen. Stattdessen erzählte Madicken endlos von den Männern, in die sie sich gerade verliebt hatte. Seit drei Wochen hatte es ihr Pedder Svensson angetan, der Kaminfeger des Ortes, ein freundlicher, hilfsbereiter Mann, glücklich verheiratet und Vater von fünf Kindern.
„Was hast du da?“, fragte Astrid jetzt, obwohl sie es schon wusste.
„Lass uns die Pfeife des Friedens und der Schwesternschaft miteinander rauchen“, schlug Madicken feierlich vor und entnahm einer Packung eine Zigarette, die sie vorsichtig mit dem Streichholz entzündete. Dann nahm sie den ersten Zug und reichte die brennende Zigarette Astrid hinüber. Langsam, Zug für Zug, immer eine nach der anderen, rauchten die Freundinnen gemeinsam ihre erste Zigarette. Oder doch die erste gemeinsame Zigarette.
„So wollen wir es halten, wann immer wir uns nach längerer Zeit begegnen“, sagte Astrid, als sie fertig waren. Es war ein neues, raues Gefühl im Mund. „Ich will nicht in der Kirche Orgel spielen.“
„Würde ich auch nicht wollen“, stimmte Madicken zu.
„Ich glaube, meine Mutter möchte, dass ich Organistin werde.“
„Das wäre doch ein interessanter Beruf. Bei allen Ereignissen wärst du dabei. Schau mal, wenn Pedder und ich eines Tages heiraten, würdest du die Orgel dazu spielen.“
Astrid schwieg.
„Eins versichere ich dir“, fuhr Madicken fort. „An diesem Tag werde ich überhaupt nicht weinen. Nicht so wie die Bräute, die sich die ganze Hochzeitsfeier damit verderben, dass sie dauernd weinen. Wenn Pedder und ich zum Altar treten, werde ich von der Kirchentür bis zum Altar hin nur lächeln.“
„Dafür heulen dann seine fünf Kinder umso lauter. Und seine geschiedene Frau.“
„Astrid, du solltest Romane schreiben. Pedders Kinderschar gehört an meinem großen Tag nicht in die Kirche.“
„Madicken“, sagte Astrid, „nimm mal Verstand an. Nicht betrügen, nicht lügen, das haben wir uns geschworen, als wir Blutsschwestern geworden sind. Wie soll die Welt besser werden, wenn wir andere Menschen zum Weinen bringen?“
„Du meinst, ich soll auf Pedder verzichten? Obwohl er mich liebt und ich ihn?“
„Es wäre besser, glaub mir. Es gibt Dinge, die darf man nicht tun, selbst wenn sie möglich sind.“
„Warum sagst du so schreckliche Sachen zu mir, Astrid?“
„Ich bin deine Blutsschwester. Niemand auf Erden kennt dich so gut wie ich. Versprich mir, dass du nichts mit Pedder anfängst.“
Und eines Tages Journalistin?
Vimmerby, 1924
Der 15. Januar des Jahres 1924 war frostig kalt, und zugleich war es ein besonderes Datum, dieser erste Tag, an dem Astrid als Volontärin in der Redaktion der Vimmerby Tidning beginnen sollte.
„Jetzt wirst du ein richtiger Zeitungsmensch“, sagte Gunnar mit brüchiger Stimme, als er seine Schwester zur Haustür begleitete.
„Irgendetwas muss ich ja wohl werden“, erwiderte Astrid und zog die Mütze über den Kopf. Gunnar sollte den Hof übernehmen, das war abgemachte Sache. Er war der einzige Sohn, es musste so sein. Vater Samuel August hatte es so bestimmt. Dabei malte und zeichnete Gunnar so gerne und las am liebsten Bücher. Astrid beneidete ihn darum, dass sein Leben so klar vorgezeichnet vor ihm lag. Er durfte für immer zu Hause bleiben und an der Seite des Vaters den Hof bewirtschaften. Es gab kein größeres Glück.
„Dann hast du den ganzen Tag mit Wörtern zu tun“, schwärmte Gunnar. „Und eines Tages bist du eine richtige Journalistin.“
Darüber hatten sie manchmal miteinander gesprochen. Dass Astrid vielleicht Journalistin werden könnte. Dazu brauchte man kein Abitur. Eine Studentenmütze wie Madicken würde Astrid nicht tragen, aber mit dem Baskenmützchen auf dem Haar konnte sie Zeitungsfrau werden. Sie lächelte Gunnar an.