Semper occultus - Bin ich schuldig? - Alexandra Krebs - E-Book

Semper occultus - Bin ich schuldig? E-Book

Alexandra Krebs

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Beschreibung

Der Hamburger Hafengeburtstag – für Martin Phillips von der Polizeiwache Hamburg-Bergedorf schon immer ein Tag des Abnormalen. Seine Kollegen machen sich über seine düsteren Prophezeiungen regelmäßig lustig, und doch … In diesem Jahr kommt der junge Finn Baumann auf die Wache und erklärt, seine Mutter ermordet zu haben. Mit einer Gitarrensaite will er sie stranguliert haben – aber es findet sich keine Leiche. Und die Wohnung von Mutter und Sohn ist offensichtlich seit vielen Wochen von keinem Menschen mehr betreten worden. Doch wieder ein Tag des Abnormalen? Jedenfalls einer, der Martin Phillips in der Folgezeit viel Kopfzerbrechen und einige Überraschungen bescheren wird.

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Semper occultus - Bin ich schuldig?

Ein Hamburg-Krimi

Roman

Alexandra Krebs

Fehnland-Verlag

Erstausgabe im Oktober 2017

Alle Rechte beim Verlag

Copyright © 2017

Fehnland-Verlag

D-26817 Rhauderfehn

Dr.-Leewog-Str. 27

www.fehnland-verlag.de

Cover: Scandals under Cover, unter Verwendung eines Bildes von Storyblocks.com

Lektorat: Roland Blümel und Michael Kracht

Satz und Layout: Michael Kracht

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

Nachwort

1. Kapitel

Mar­tin

Das kann nur wie­der ein selt­sa­mes Wo­chen­en­de wer­den. Für an­de­re Poli­zis­ten ist es das an Hal­lo­ween. Doch bei mir ist es im­mer das Wo­chen­en­de rund um den fünf­ten Mai. Heu­te ist der sechs­te Mai und das heißt, der Irr­sinn geht wie­der los: Ha­fen­ge­burts­tag.

Al­le ver­ste­hen, dass am Hal­lo­ween ir­re Din­ge pas­sie­ren, so­gar hier in der schö­nen Han­se­stadt Ham­burg. Aber für mich pas­sie­ren im­mer wie­der un­vor­stell­ba­re Din­ge rund um den Ha­fen­ge­burts­tag.

So wie im letz­ten Jahr, als ein Pär­chen, auf unse­re Wa­che in Ber­ge­dorf kam, eigent­lich ein Stadt­teil, der fast zwan­zig Ki­lo­me­ter vom Mit­tel­punkt des Ge­sche­hens ent­fernt liegt. Die Frau hat sich laut­stark bei uns be­schwert, dass ihr Freund kei­nen Sex mit ihr ha­ben woll­te.

Wir ver­such­ten, ihr zu er­klä­ren, dass man da­zu nie­man­den zwin­gen kann. Es hat fast drei Stun­den ge­dau­ert, bis wir dann auch noch fest­ge­stellt ha­ben, dass der ver­meint­li­che Freund gar nicht ihrer war, son­dern ein Tou­rist aus Schott­land, der lei­der kein Wort Deutsch ver­stand. Sie war zu be­trun­ken, um noch mit­zu­be­kom­men, wer neben ihr stand. Die Frau be­kam dann eine Frei­nacht in der Aus­nüch­te­rungs­zel­le. Ob sie ihren Freund wie­der­ge­fun­den hat, ha­be ich lei­der nie er­fah­ren.

Vor vier Jah­ren mein­te ein jun­ger Mann, uns eine Bi­bel­stun­de ge­ben zu müs­sen. Er ließ sich da­von nicht ab­hal­ten. Glück­li­cher­wei­se hat­ten wir an dem Tag einen Prak­ti­kan­ten und konn­ten die­sen da­zu ab­kom­man­die­ren. Er hat sich eine Stun­de Bi­bel­ver­se und die Aus­le­gung da­zu an­ge­hört.

Aber das Bes­te, was mir bis jetzt pas­siert ist, fand gleich im ers­ten Jahr statt. Ein ca. acht­zig­jäh­ri­ger Mann kam auf die Wa­che, da­mals noch in Win­ter­hu­de, ein be­schau­li­cher Stadt­teil, in dem die so­zia­len Struk­tu­ren noch so sind, dass man sa­gen kann, es le­ben dort haupt­säch­lich hö­her­ge­bil­de­te Men­schen. Er schrie uns an, wir soll­ten doch die­sem klei­nen Rotz­löf­fel von Nef­fen er­klä­ren, dass nicht je­dem Mi­ni­rock hin­ter­her­ge­starrt wer­den soll­te. Es wür­de sich doch in sei­nem Al­ter nicht schi­cken.

Der Nef­fe war et­was grö­ßer als ich mit mei­nen 1,95 m. Der Groß­vater war et­wa so groß wie mei­ne jet­zi­ge Kol­le­gin, die ge­ra­de mal 1,65 m misst. Bis heu­te muss ich im­mer wie­der la­chen, wenn ich an die­sen Tag zu­rück­den­ke.

Ich bin mir si­cher, dass heu­te wie­der et­was Be­son­de­res pas­siert, auch wenn es auf der Wa­che nach einem ganz nor­ma­len Tag sein aus­sieht. Der Vor­raum, in dem die Bür­ger ihre An­zei­gen oder Fra­gen stel­len kön­nen, liegt ver­waist da. Ty­pisch für einen Sonn­tag­mor­gen. Ich at­me durch und ge­he in den Ein­satz­raum. Hier ste­hen ei­ni­ge der Kol­le­gen und unter­hal­ten sich.

»Moin Mar­tin, na meinst du, dass dei­ne Pro­phe­zeiung sich be­wahr­hei­tet, dass Ha­fen­ge­burts­tag der Tag des Ab­nor­ma­len sein wird? Ich mei­ne, es ist doch schon Sonn­tag.«

Maik, ein Kol­le­ge, mit dem ich die Aus­bil­dung ab­sol­viert ha­be, der aber im Gegen­satz zu mir nicht zur Kri­po ge­wech­selt ist, schaut mich be­lus­tigt an. Wir ha­ben zu­fäl­li­ger­wei­se fast im­mer ge­mein­sam an den Ha­fen­ge­burts­tags­ter­mi­nen Dienst. Er amü­siert sich über sei­nen Spruch.

»Noch ist nicht al­ler Ta­ge Abend, Maik, erst wenn es vor­bei ist und nicht wirk­lich et­was Selt­sa­mes pas­siert, dann wer­de ich glau­ben, dass es die­ses Jahr mal an­ders war.«

Tors­ten und Mi­ri­am kom­men ge­ra­de in die­sem Mo­ment in den Raum und schei­nen mei­ne letz­ten Wor­te ge­hört zu ha­ben, denn Tors­ten kann sich einen Witz auf mei­ne Kos­ten nicht ver­knei­fen.

»Wenn du dich die­ses Wo­chen­en­de ver­lie­ben soll­test, dann wer­de ich auch glau­ben, dass im­mer an die­sem Ter­min et­was Selt­sa­mes pas­siert.«

Ich ha­be ein­deu­tig den Ruf des Sin­gles weg. Na­tür­lich ha­be ich im­mer wie­der mal Af­fä­ren, doch nie eine, die län­ger als zwei oder drei Wo­chen an­hält. Ich lie­be das freie Le­ben und möch­te das nicht für eine Frau auf­ge­ben.

Ge­ra­de als ich ant­wor­ten will, geht die Tür auf und Pau­la be­tritt den Raum. Ob­wohl sie mit Ab­stand die kleins­te im Raum ist, strahlt sie eine na­tür­li­che Au­to­ri­tät aus. Auch wenn sie viel Spaß ab­kann, traut sich kaum einer, einen Witz auf ihre Kos­ten zu ma­chen. Ihre lan­gen, brau­nen Haa­re hat sie im­mer zu einem stren­gen Dutt ge­kämmt. Die blau­en Au­gen ste­hen in einem wun­der­schö­nen Kon­trast zu ihrer Haut­far­be, die sehr dun­kel ist und zu den Haa­ren. Wenn wir ge­mein­sam an einem Tat­ort arbei­ten, zie­hen wir al­le Bli­cke auf uns. Ich mit mei­nen rot­blon­den Haa­ren und Som­mer­spros­sen, wie einer, der im­mer wie ein zu groß ge­ra­te­ner Jun­ge aus­sieht. Und das, ob­wohl ich Kraft­sport be­trei­be und, wenn Pau­la recht ha­ben soll­te, Ar­me wie ein Baum ha­be und sie, klein aber streng drein­bli­ckend.

Ver­mut­lich wä­re Pau­la die ein­zi­ge Frau, die mei­nem Sin­gle-Le­ben ein En­de hät­te set­zen kön­nen, aber sie ist seit vier Jah­ren mit einem tol­len Mann ver­hei­ra­tet, mit dem ich mitt­ler­wei­le be­freun­det bin. Mei­ne größ­te Sor­ge gilt eigent­lich eher der Ge­fahr, dass sie viel­leicht schwan­ger wer­den könn­te und ich einen neu­en Part­ner be­kom­me.

»Mar­tin, wir sol­len zu Kars­ten. Er hat einen neu­en Fall.«

Trium­phie­rend, dass ich doch recht ha­be, schaue ich in die Run­de. Ich bin mir ab­so­lut si­cher, dass nun das pas­siert, was ich pro­phe­zeit ha­be.

2. Kapitel

Finn

Die­ser Ma­gen­druck und die Übel­keit, ich kann ih­nen kaum noch stand­hal­ten. Ich spü­re, dass Ma­gen­in­halt mei­nen Hals hoch­steigt. Mein Blick wan­dert un­ru­hig in dem Raum umher, aber es gibt nir­gend­wo einen Ei­mer oder eine Toi­let­te, in den hin­ein ich er­bre­chen könn­te. Al­so schlu­cke ich es hin­unter. Kein Wun­der, dass es hier drin­nen wie in einem Ti­ger­kä­fig riecht, denn ich bin be­stimmt nicht der ers­te, dem hier schlecht wird oder der aufs Klo muss. Noch wäh­rend ich su­che, wo ich mei­ne Not­durft er­le­di­gen kann, schießt mir ein an­de­rer Ge­dan­ke durch den Kopf, der mich ab­lenkt. Was pas­siert mit mir? Die­ser Raum, in den mich der Poli­zist ge­bracht hat, ist kalt. Eisig kalt, kahl und un­per­sön­lich. Auch wenn man ge­nau se­hen kann, dass ich nicht der Ers­te bin, der hier drin ist, er­kennt man kei­ne Be­son­der­hei­ten und auch kei­ne Ge­schich­te. Der Raum wirkt so un­mensch­lich. Die Ant­ark­tis hat mehr Le­ben. Auch ein Grund, war­um ich die­ses Frös­teln ver­spü­re. Lang­sam zieht die­ses Pri­ckeln vom Hals runter bis in die Po­fal­te. Aber der Haupt­grund, dass ich fröst­le, ist, dass ich es nor­ma­ler­wei­se lie­be, aus dem Fens­ter zu se­hen. Von unse­rem Hoch­haus in die Fer­ne, weit rü­ber bis zur Auto­bahn. Doch fast im­mer bleibt mein Blick an dem Kin­der­bau­ern­hof hän­gen. Wie sich die Kin­der freu­en kön­nen, Schwei­ne, En­ten und Zie­gen zu be­ob­ach­ten. Das stol­ze Ge­sicht der Kin­der, wenn sie sich trau­en, eines der Tie­re zu strei­cheln. El­tern, die ihren Kin­dern Eis aus­ge­ben, mit ih­nen an der Hand spa­zie­ren ge­hen oder sie so­gar auf dem Arm neh­men.

Hier ist nicht ein­mal ein Fens­ter und da­mit ha­be ich kei­ne Chan­ce auf den Blick in die Na­tur. Das Ein­zi­ge, was ich an­schau­en kann, sind die tri­sten, grau­en Wän­de, auf denen Stri­che ge­zo­gen oder ir­gend­wel­che Sprü­che ge­schrie­ben wur­den. Ich dach­te im­mer, das sei ein Kli­schee aus dem Fern­se­hen. Doch es ist Rea­li­tät. Aber nun ver­brin­ge ich mein Le­ben hin­ter Git­tern. Und wie­so? Nur, weil ich frei sein woll­te. Frei von mei­ner Mut­ter, die mich im­mer nur unter­drück­te. Frei von einer Frau, de­ren Skla­ve ich war. Wie­so ha­be ich mich über­haupt ge­mel­det? Hät­te ich nicht ein­fach ab­hau­en kön­nen? Wie­so konn­te ich nicht mehr mit dem Ge­dan­ken le­ben, al­les zu ver­heim­li­chen? Ta­ge­lang bin ich her­um­ge­geis­tert. Je­den Win­kel der Stadt ken­ne ich nun. Der Mi­chel, der hat mir den Rest ge­ge­ben. Wäh­rend ich still in der Kir­che saß und dar­über nach­dach­te, was ich ma­chen kann, wo­hin ich ab­hau­en soll, sprach eine lei­se Stim­me zu mir.

»Stell dich, denn du hast kei­nen Hal­te­punkt mehr, kei­ne Hil­fe. Flucht ist auch kein Le­ben.« Es zer­frisst mich, dass ich mei­ne Mut­ter um­ge­bracht ha­be. Nie­mals hät­te ich ge­glaubt, dass ich da­zu je­mals in der La­ge sein wür­de. Ich hö­re im­mer noch ihr Rö­cheln. Das lei­se, stil­le Rö­cheln, ein kur­zes Zu­cken und dann sack­te sie zu­sam­men. Nur noch das war­me Blut, das über mei­ne Hand lief, zeug­te da­von, dass sie viel­leicht doch ein Mensch ge­we­sen sein könn­te. An­sons­ten war sie in mei­nen Au­gen nur ein Mons­ter.

Wäh­rend al­le mei­ne Freun­de und Klas­sen­ka­me­ra­den in der Schu­le wa­ren, muss­te ich oft bei ihr sein. Das woll­te sie so. Bier oder Korn aus dem Schrank ho­len, die Fla­schen öff­nen. All das konn­te ich schon, da wa­ren an­de­re nicht ein­mal in der La­ge, sich die Schu­he zu­zu­bin­den. Ich konn­te schon den Kran­ken­wa­gen ru­fen, da wuss­ten an­de­re nicht ein­mal, in wel­cher Stra­ße sie wohn­ten. Denn so oft ist sie zu­sam­men­ge­bro­chen. Wie ger­ne hät­te ich mit mei­nen Freun­den auf der Stra­ße ge­spielt? Doch sie ver­bat es mir.

»Spie­len, Finn, ist nur was für Men­schen, die schwach sind. Wir sind stark, wir ste­hen für ein­an­der ein. Aber nicht für an­de­re.«

Das wa­ren im­mer wie­der die Wor­te mei­ner Mut­ter. Aber wa­ren wir wirk­lich stark? Mei­ne Mut­ter, ja, sie be­stimmt. Doch ich? Sie konn­te mich gut unter­drü­cken. Ich ha­be im­mer das ge­macht, was sie woll­te. Aber ich, ich war nie stark. Mei­ne Klas­sen­ka­me­ra­den, wenn ich mal von der Poli­zei zur Schu­le ge­bracht wur­de, weil ich zu oft ge­fehlt hat­te oder mei­ne Mut­ter mich nicht ent­schul­digt hat­te, ha­ben das schnell er­kannt und im­mer wie­der We­ge ge­fun­den, mich zu schi­ka­nie­ren. Das »Net­tes­te« an ihrem Ter­ror war, mir mei­ne Schu­he zu klau­en. Dann muss­te ich bar­fuß nach Hau­se und was dort pas­sier­te, das kann sich nie­mand aus­ma­len. Ich konn­te meh­re­re Ta­ge nicht sit­zen. Denn mei­ne Mut­ter, die sonst nicht ihre Ge­trän­ke sel­ber ho­len konn­te oder zu schwach war, den Haus­halt zu er­le­di­gen, war auf ein­mal sehr gut in der La­ge, auf­zu­ste­hen und mir den Hin­tern so zu ver­soh­len, dass es ta­ge­lang weh­tat.

Aber wie ger­ne wür­de ich das Le­ben nun wei­ter­füh­ren, die Zeit zu­rück­dre­hen und al­les ver­ges­sen ma­chen. Nur wird das nicht pas­sie­ren kön­nen.

3. Kapitel

Mar­tin

»Moin ihr bei­den, setzt euch.«

Mit einer Hand zeigt Kars­ten, unser Dienst­stel­len­lei­ter, auf die bei­den ab­ge­wetz­ten Stüh­le an sei­nem Schreib­tisch. Er sel­ber setzt sich auf einen Le­der­chef­ses­sel, in dem er bei­na­he ver­sinkt. An den Sei­ten des Stuh­les er­kennt man, wie ka­putt der schon ist. Sein gel­bes In­nen­le­ben schaut her­aus. Oft den­ke ich, dass die Stüh­le ge­nau­so alt sind, wie die Wa­che Ber­ge­dorf. Das ist na­tür­lich Un­sinn, aber Kars­ten ach­tet nicht so sehr auf das Drum­her­um. Ihm ist sei­ne Arbeit wich­ti­ger als ein net­tes Am­bien­te.

»Ich ha­be einen Fall für euch, der soll­te leicht zu lö­sen sein.«

Was Kars­ten als leicht be­zeich­net, ist für an­de­re ein nor­ma­ler bis eher schwie­ri­ger Fall.

»Vor einer knap­pen hal­ben Stun­de ist Finn Bau­mann auf die Wa­che ge­kom­men und hat den Mord an sei­ner Mut­ter ge­stan­den.«

Nicht un­ge­wöhn­lich, unter an­de­ren Um­stän­den wür­de ich ihm zu­stim­men, aber doch nicht am Ha­fen­ge­burts­tag.

Kars­ten, der mei­ne zu­sam­men­ge­knif­fe­nen Lip­pen be­merkt, lä­chelt.

»Mar­tin, nicht im­mer stimmt es, was du ver­mu­test. Es kann auch ein nor­ma­les Wo­chen­en­de wer­den. Wir sind doch nicht die Da­vid­wa­che.«

Schnau­bend ant­wor­te ich.

»Wir sind aber al­le Ham­burg!«. Kars­ten muss laut la­chen. So­fort zei­gen sich sei­ne klei­nen Lach­fal­ten, die ihn noch sym­pa­thi­scher wir­ken las­sen.

»Nun hört auf, hier rum­zu­al­bern, und lasst uns wei­ter über den Fall re­den, sonst könnt ihr bei­de einen Arbeits­tag auf der Ree­per­bahn ab­sol­vie­ren. Die Kol­le­gen der Da­vid­wa­che wer­den sich freu­en.« Mit ihrer erns­ten Stim­me und einem doch leicht wit­zi­gen Unter­ton holt uns Pau­la ge­dank­lich wie­der zu­rück zu dem an­ge­spro­che­nen Fall.

»Noch mehr Leu­te?« Kars­tens Blick wan­dert so­fort zum Dienst­plan. An sol­chen Tag wer­den von al­len Wa­chen Kol­le­gen in den Ha­fen hin­be­or­dert. Die Ree­per­bahn und der Ha­fen sind an den Ta­gen im Aus­nah­me­zu­stand und nach den Ter­ror­an­grif­fen in Deutsch­land und der Welt oh­ne­hin.

Nun muss Pau­la doch la­chen. Kars­ten und Pau­la arbei­ten seit drei Jah­ren ge­mein­sam auf der Wa­che und er hat ihren Hu­mor im­mer noch nicht ver­stan­den. Ich muss ja zu­ge­ben, dass der auch sehr tro­cken ist.

»Was weißt du denn sonst noch so über den Fall?« Er­war­tungs­voll schaue ich Kars­ten an, der im­mer noch leicht ge­nervt auf sei­nen Plan blickt, ehe er sich mit einem Kopf­schüt­teln wie­der an uns wen­det.

»Noch nicht wirk­lich viel. Er ist nur hier rein, hat den Mord ge­stan­den und schien laut Ro­bert ziem­lich ver­wirrt. Ein Dro­gen­schnell­test wird ge­ra­de durch­ge­führt. Doch ich möch­te die Kol­le­gen, die Strei­fe ge­hen oder fah­ren, ger­ne ent­las­ten und bit­te euch, al­les Wei­te­re zu über­neh­men.«

Was ist dar­an an­ders als sonst? Das ist das Ha­fen­ge­burts­tags­phä­no­men, da bin ich mir si­cher.

»Hör auf, dar­über nach­zu­den­ken. Das hat al­les nichts mit dei­nem Phä­no­men zu tun.« Pau­la, die mei­ne Ge­dan­ken an­schei­nend ge­lesen hat, stupst mich in die Sei­te und dreht sich um.

Ich ni­cke Kars­ten noch freund­lich zu und fol­ge ihr auf di­rek­tem Weg runter zur Zel­le, wo wir Finn Bau­mann ver­mu­ten.

Kurz da­vor dreht sich Pau­la noch ein­mal um und schaut mich mit einem spöt­ti­schen Lä­cheln an.

»Mar­tin, sagst du noch ein ein­zi­ges Mal et­was in die­se Rich­tung des Ha­fen­ge­burts­tags­phä­no­mens, dann wer­de ich dich zwei Ta­ge mit mei­ner Schwie­ger­mut­ter ein­sper­ren.«

Das ist wirk­lich eine schwe­re An­dro­hung, denn ihre Schwie­ger­mut­ter ist schlim­mer als die Pest. Nichts, aber wirk­lich rein gar nichts, kann Pau­la ihr Recht ma­chen. Sie wagt es so­gar, hin­ter Pau­la her zu put­zen. Die­se nimmt es äu­ßer­lich zwar ge­las­sen hin, aber in­ner­lich kocht sie.

»Ja, Pau­la ich wer­de mich zu­rück­hal­ten, aber…«. Doch wei­ter kom­me ich nicht, denn sie sagt nur ein Wort.

»Ire­ne.« Es reicht, um mich zum Schwei­gen zu brin­gen.

»Geht doch«, lacht sie und schließt die Zel­le auf.

Ich hat­te mir vor­her kei­ne Ge­dan­ken ge­macht, wie der Tä­ter aus­se­hen könn­te. Das ha­be ich mir vor vie­len Jah­ren schon ab­ge­wöhnt und ich dach­te auch, dass mich nichts mehr ver­wun­dern könn­te.

Doch kaum se­hen wir den Ver­däch­ti­gen auf der Prit­sche sit­zen, bin ich er­staunt. Wenn ich das Al­ter schät­zen soll­te, hät­te ich 12, viel­leicht 14 Jah­re ge­sagt. Nur der Klei­dungs­stil passt nicht wirk­lich da­zu. Eine schwar­ze Stoff­ho­se und dar­über ein wei­ßes Hemd. Brau­ne Le­der­schu­he und dar­unter wei­ße So­cken, wie sie auch gern in Kran­ken­häu­sern von Ärz­ten ge­tra­gen wer­den.

Doch in die­sem alt­ba­cke­nen Klei­dungs­stil steckt ein klei­ner Jun­ge. Un­ge­pfleg­te Haa­re, die ei­ni­ge Ta­ge we­der ge­wa­schen noch ge­kämmt wur­den. Pi­cke­li­ges Ge­sicht, blass und mit eis­blau­en Au­gen. Wenn ich ihn so an­se­he, schießt mir durch den Kopf, dass nur noch eine lau­fen­de Na­se fehlt, die er sich in den Hemds­är­mel ab­wischt.

»Finn Bau­mann?« Im­mer noch den­ke ich, dass wir uns im Raum ge­irrt ha­ben, doch der jun­ge Mann steht so­fort auf. Da wir kei­ne Ak­te ha­ben, ist mir das Al­ter nicht be­kannt. Pro­fes­sio­nell, wie Pau­la und ich sind, las­sen wir uns nichts an­mer­ken.

»Ja, das bin ich.« So­gar sei­ne Stim­me passt zu ihm. Hoch und piep­sig.

4. Kapitel

Mar­tin

Ich be­ob­ach­te Finn Bau­mann, wie er sich lang­sam und ver­schüch­tert auf den Stuhl mir gegen­über hin­setzt. Sei­ne Au­gen wan­dern un­ru­hig im Raum umher. Au­gen­schein­lich ver­sucht er zu ver­mei­den, Pau­la oder mich di­rekt an­zu­se­hen. Sei­ne Lip­pen sind fest zu­sam­men­ge­presst. In mir wächst die Ver­mu­tung, dass er kein Wort sa­gen möch­te. Doch wenn je­mand hier­her­kommt, um einen Mord zu ge­ste­hen, ge­he ich da­von aus, dass er von sich aus an­fängt zu re­den. Aber es macht den An­schein, als wür­de er am liebs­ten gleich wie­der los­ren­nen, weg von uns, weit weg. Sein lin­kes Bein zuckt un­auf­hör­lich, wird da­bei im­mer schnel­ler. Hof­fent­lich hält das der Stuhl aus. Mi­nu­ten­lang zieht sich das Schwei­gen hin. Le­dig­lich sein Blick wan­dert hin und her.

»Herr Bau­mann, möch­ten Sie uns sa­gen, wes­halb Sie hier sind?« Ich unter­bre­che die Stil­le im Raum. So­fort schießt sein Kopf hoch und er schaut mich an, als wä­re ihm jetzt erst klar ge­wor­den, dass er nicht al­lein im Raum ist.

Lei­se und mit ton­lo­ser Stim­me, die kaum zu der Stil­le in der Zel­le passt, be­ginnt er zu re­den.

»Ich ha­be mei­ne Mut­ter ge­tö­tet.« Trotz die­ser Nach­richt ver­än­dert sich we­der die Kör­per­hal­tung noch der Blick von Finn Bau­mann. Sein Blick ist im­mer noch wirr und sein Fuß zuckt im­mer noch.

Pau­la unter­bricht ihn so­fort. Mit sanf­ter, aber be­stim­men­der Stim­me fragt sie:

»Herr Bau­mann, möch­ten Sie einen An­walt ha­ben?«

Das Wort ›An­walt‹ scheint et­was in Finn Bau­mann aus­zu­lö­sen. Sei­ne Au­gen ver­en­gen sich. Er schaut Pau­la an und schüt­telt ruck­artig den Kopf. Ver­wirrt be­ob­ach­te ich das Schau­spiel. Ich ha­be den Ein­druck, als wür­de das Wort ›An­walt‹ mehr Pa­nik in Finn Bau­mann aus­lö­sen, als der Mord an sei­ner Mut­ter.

»Herr Bau­mann, soll­ten Sie wirk­lich ihre Mut­ter ge­tö­tet ha­ben, dann brau­chen Sie einen An­walt. Der ist nur da­für da, dass Sie Hil­fe be­kom­men.« Auch ich ver­su­che, ihn noch mal in die Rich­tung zu drän­gen, denn ich bin mir si­cher, dass er die Trag­wei­te sei­ner Tat nicht ver­ste­hen kann. Auch wenn er viel­leicht schon 24 Jah­re alt ist.

Das Kopf­schüt­teln wird im­mer hef­ti­ger.

»Nein, ich will kei­nen An­walt ha­ben.« Ich bin er­staunt, was für eine fes­te Stim­me Finn Bau­mann auf ein­mal ha­ben kann. So­fort wirkt er äl­ter und rei­fer auf mich.

Pau­la hebt nur noch re­si­gniert die Schul­tern. Wenn Finn Bau­mann sich nicht hel­fen las­sen will, dann kön­nen sie oder ich auch nichts da­gegen tun. Es ist sein gu­tes Recht, auf einen An­walt zu ver­zich­ten. Soll­te es vor Ge­richt ge­hen, dann wird ihm ein Pflicht­ver­tei­di­ger zur Sei­te ge­stellt wer­den.

»Ok, Herr Bau­mann, dann er­zäh­len Sie doch von An­fang an.« Pau­las Stim­me ist auf­for­dernd, aber den­noch freund­lich. Ich wä­re viel un­ge­dul­di­ger. Aber auch ich weiß, wann es bes­ser ist, dass Pau­la spricht und nicht ich.

Ob­wohl er sich wie­der in Schwei­gen hüllt, kann man se­hen, dass er nach­denkt. Sei­ne Au­gen fi­xie­ren mei­nen Stift auf dem Schreib­tisch und das Zit­tern in den Bei­nen läßt et­was nach.

»Mei­nen Sie den Mord oder wie­so ich sie um­ge­bracht ha­be?«

Die­ses Mal schal­te ich mich ein.

»Bei­des.« Ich ant­wor­te ihm kurz und knapp, da­mit es ein we­nig schnel­ler geht.

Es ist im­mer wie­der ein Irr­glau­be, dass Men­schen den­ken, den Poli­zis­ten sei im­mer nur der Mord wich­tig. Aber wir schrei­ben einen Be­richt an die Staats­an­walt­schaft und dar­in möch­ten wir gern auch die Hin­ter­grün­de er­läu­tern. Denn es soll ein Urteil ge­fällt wer­den, das Hand und Fuß hat.

»Ich ha­be ges­tern mei­ne Mut­ter ge­tö­tet. Mit einer Gi­tar­ren­sai­te.«

»Er­läu­tern Sie das doch bit­te ge­nau­er«, über­nimmt Pau­la mit einem bö­sen Blick auf mich wie­der das Ge­spräch. Sie mag es gar nicht, wenn ich so kurz an­ge­bun­den und ge­nervt bin.

So­fort be­ginnt Finn Bau­mann wie­der mit den Fü­ßen zu wa­ckeln.

»Was wol­len Sie ge­nau­er wis­sen? Reicht es nicht, wenn ich sa­ge, dass ich mei­ne Mut­ter ge­tö­tet ha­be?«

Er hat einen leicht ag­gres­si­ven Unter­ton. Aber die Stim­me selbst ist wie­der lei­ser als vor­her.

»Herr Bau­mann, be­gin­nen Sie von An­fang an. Wie ist es da­zu ge­kom­men, dass Sie ihre Mut­ter ge­tö­tet ha­ben?« Pau­la ani­miert ihn mit ihrer sanf­ten Stim­me zum Wei­ter­re­den.

»Ich woll­te mei­ne Gi­tar­re ho­len. Ich lie­be mei­ne Gi­tar­re, müs­sen Sie wis­sen. Ich spie­le sehr ger­ne auf ihr und dann ent­steht eine woh­li­ge Ru­he in mei­nem Kör­per. Ich rei­se in eine an­de­re Welt. Eine fried­li­che und sanf­te Welt. Mei­ne Sa­chen la­gen ver­streut in mei­nem Raum und ich muss­te sie zu­sam­men­sam­meln. Da lag sie dann, die schö­ne D-Sei­te. Sie ist mit Ab­stand mei­ne liebs­te Sai­te.«

Ich bin er­staunt, wie lie­be­voll er über die­se Sai­te re­det. Na­tür­lich bin ich kein Mu­si­ker und ha­be des­we­gen auch kei­ne Bin­dung da­zu, aber ich ha­be auch noch nie je­man­den so zärt­lich über eine Gi­tar­ren­sai­te re­den ge­hört. Doch Finn Bau­mann unter­bricht sein Re­den nicht.

»Sie fühl­te sich so rich­tig an. Stark und un­nach­gie­big. Sie lag so per­fekt in der Hand.«

Wäh­rend er über die Gi­tar­ren­sai­te wie über eine Frau spricht, be­ginnt sei­ne Stim­me, fes­ter und klang­vol­ler zu wer­den. Ich ha­be den Ein­druck, als wür­de rich­tig Le­ben in ihn kom­men.

»Die Sai­te war weich und doch kalt. Ich bin dann ins Wohn­zim­mer. Mei­ne Mut­ter saß wie im­mer im Wohn­zim­mer. All die Jah­re saß sie im­mer nur dort in ihrem Ses­sel mit die­sem schreck­li­chen Blüm­chen­mus­ter. Von hin­ten ha­be ich ihr sanft über den Hals ge­strei­chelt. Es pass­te per­fekt, die­se wun­der­ba­re Ny­lon­sai­te und ihre Haut­fal­te. Bei­de hat­ten ge­nau die glei­che Tie­fe.«

Ich ha­be schon vie­le Ge­ständ­nis­se ge­hört, doch die­ses ist schon von be­son­de­rer Art. Er, der wirk­lich aus­sieht, als wür­de er ge­ra­de vom Spiel­platz kom­men, be­schreibt hier mit einer Lie­be den Vor­gang, dass so­gar ich einen leich­ten Schau­er auf mei­nem Rü­cken spü­re. Ich be­gin­ne, mei­ne Mus­keln an­zu­span­nen. Das Hemd, das ich heu­te an­ha­be, wird mir zu eng. Ein- und aus­at­mend ver­su­che ich, mich zu ent­span­nen und mir nicht an­mer­ken zu las­sen, was ich über die Ge­schich­te den­ke.

»Ich ha­be die­se wun­der­ba­re Sai­te in die da­für per­fek­te Fal­te ge­legt. Sie lag ge­nau hier.«

Mit einer Hand fährt er eine nicht vor­han­de­ne Li­nie über sei­nem aus­ge­präg­ten Adams­ap­fel nach. »Lang­sam ha­be ich die Sai­te nach links und dann nach rechts ge­zo­gen. Es gab ein lei­ses, quiet­schen­des Ge­räusch. Eine wun­der­schö­ne Me­lo­die. Es ist so scha­de, dass ich sie nicht schon vor­her hö­ren durf­te.«

Wäh­rend Finn Bau­mann das er­zählt, be­kommt er einen be­seel­ten Ge­sichts­aus­druck. Und ich muss mich schüt­teln, um das Bild vor mei­nem in­ne­ren Au­ge weg­zu­be­kom­men. Ich emp­fin­de es so, als wür­de er ge­ra­de den Mord noch mal durch­le­ben und sich da­bei sehr gut zu füh­len. Pau­la schaut ihn mit gro­ßen Au­gen an. Ich ver­mu­te, auch sie re­vi­diert ge­ra­de ihre Mei­nung über den Mann.

»Dann woll­te ich tes­ten, wie es sich an­fühlt, wenn ich die Sai­ten am En­de pa­cke und über­kreu­ze. Am An­fang war es sehr lang­wei­lig, aber dann ha­be ich mei­ne Hän­de im­mer wei­ter aus­ein­an­der­ge­zo­gen. Lang­sam riss die Haut ein und es tat so gut. Sie war noch nie so ru­hig wie in die­sem Mo­ment. Eine wun­der­ba­re Stil­le leg­te sich über unse­re Woh­nung.«

Stil­le scheint et­was zu sein, was ihm wich­tig ist.

»Im­mer wei­ter zog ich mit der Sai­te. Auf ein­mal knack­te es. Könn­te es viel­leicht der Kehl­kopf ge­we­sen sein?«

Er lä­chelt leicht ver­träumt. Das ers­te Mal, seit er an­ge­fan­gen hat, dar­über zu re­den, ha­be ich das Ge­fühl, dass er wahr­nimmt, nicht al­lein im Raum zu sein. Nach ei­ni­gen Se­kun­den der Stil­le, in denen ihm kei­ner von uns ant­wor­tet, re­det er wei­ter.

»Sie fing an, wie wild mit den Ar­men zu ru­dern. Es wur­de sehr schwer, den Zug mit der Gi­tar­ren­sai­te auf­recht zu er­hal­ten. Aber ich ha­be es ge­schafft. Nach we­ni­gen Mi­nu­ten war ihr Kampf gegen mei­ne glat­te und durch ihren Kör­per warm ge­wor­de­ne Sai­te be­en­det. Ein Rö­cheln ent­glitt ihrer Keh­le und sie hör­te auf zu at­men. Nie wie­der wird sie be­feh­len kön­nen, nie wie­der wird sie mich be­herr­schen und in unse­rer Woh­nung wird im­mer Ru­he herr­schen.«

Mit die­sen Wor­ten sinkt er wie­der in sich zu­sam­men und nur ein klei­ner, ro­ter Fleck auf sei­ner Wan­ge zeugt da­von, dass er ge­ra­de eben noch in einer an­de­ren Ge­fühls­welt war.

»Zei­gen Sie mir bit­te doch ein­mal ihre Hän­de.«

Pau­las Stim­me ist kalt und un­nach­gie­big. To­tal un­ty­pisch für sie, als ob sie eben nicht mit im Raum ge­we­sen wä­re und nicht ge­hört hät­te, was ge­sagt wur­de. Nor­ma­ler­wei­se ist sie im­mer je­mand, der nach einem Ge­ständ­nis zu­nächst ru­hig und zu­rück­hal­tend bleibt. Heu­te ist sie da­gegen sehr of­fen­siv. Soll mir noch mal je­mand sa­gen, dass es nicht das Ha­fen­ge­burts­tags­phä­no­men ist. Finn Bau­mann schaut ver­wirrt hoch, aber oh­ne Wi­der­re­de zeigt er sei­ne ma­kel­lo­sen Hän­de, die nicht die kleins­te Ver­let­zung auf­wei­sen. Er hat nir­gends Horn­haut und sei­ne Fin­ger­nä­gel sind akku­rat ge­schnit­ten. Kein Schmutz. Nichts.

»Ok, ich se­he kei­ne Ver­let­zun­gen an ihrer Hand. Ha­ben Sie Hand­schu­he oder Ähn­li­ches ge­tra­gen?«

Der Ver­däch­ti­ge schaut sie ver­wirrt an.

»Ich glau­be nicht.«

So­fort beu­ge ich mich vor und hor­che ge­nau­er hin. Er muss doch wis­sen, ob er et­was ge­tra­gen hat oder nicht.

»Wie­so wis­sen Sie das nicht mehr?«, hakt Pau­la so­fort nach. Es ist nichts Wei­ches mehr in ihrer Stim­me. Sie be­nimmt sich ge­ra­de so, wie ich mich üb­li­cher­wei­se gegen­über Ver­däch­ti­gen be­neh­me.

So­fort be­ginnt der Ver­däch­ti­ge, mit den Fü­ßen zu zu­cken, und die Au­gen wer­den wie­der un­ru­hig. Es ist nichts üb­rig ge­blie­ben von sei­ner Si­cher­heit, die eben noch da war.

»Herr Bau­mann, wann ha­ben Sie ihre Mut­ter ge­tö­tet?« Ich ver­su­che es noch ein­mal mit freund­li­cher, aber be­stimm­ter Stim­me. Manch­mal ist es so, dass die Ver­däch­ti­gen auf einen von uns gut re­agie­ren, aber den an­de­ren kaum wahr­neh­men.

»Ver­mut­lich heu­te, viel­leicht aber auch ges­tern. Ich bin mir nicht mehr so si­cher.« Sei­ne Stim­me ist so lei­se, dass ich Pro­ble­me ha­be, ihn zu ver­ste­hen.

»Sie müs­sen doch wis­sen, wann Sie ihre Mut­ter ge­tö­tet ha­ben.« Pau­la schrei­tet so­fort wie­der ein.

Ner­vös be­ginnt er, sich am Kopf zu krat­zen, und das Zu­cken des Bei­nes wird im­mer hef­ti­ger. Der Tisch, an dem wir sit­zen, scheint sich rhyth­misch da­zu zu be­we­gen. Unter an­de­ren Um­stän­den hät­te ich ihn auf­ge­for­dert, es zu unter­las­sen. Aber es ist ein­deu­tig, dass er es nicht kon­trol­lie­ren kann.

»Herr Bau­mann, wir kom­men so nicht wei­ter. Wir wer­den erst ein­mal in die Woh­nung ihrer Mut­ter fah­ren und uns den Tat­ort ge­nau­er an­sehen. Da­nach ent­schei­den wir, wie es mit Ih­nen wei­ter­geht.«

5. Kapitel

Finn

Wie­so wer­de ich so viel ge­fragt? Es muss doch je­dem klar sein, dass ich mei­ne Mut­ter ge­tö­tet ha­be. Wie­so glau­ben sie mir nicht? Vor mei­nem geis­ti­gen Au­ge läuft die Sze­ne wie­der und wie­der ab. Das lei­se Rö­cheln, das Zu­cken und dann das Blut. Es ist so viel Blut über mei­ne Hän­de runter auf den wei­ßen Flo­ka­ti Tep­pich ge­flos­sen. Die Zot­teln des Tep­pichs ha­ben sich von weiß­grau in ein sat­tes Rot ver­wan­delt. Ein klei­ner See vol­ler Blut vor den Fü­ßen mei­ner Mut­ter. Und da­nach die Stil­le und Ru­he, nie war es so ru­hig bei uns in der Woh­nung. Ent­we­der mei­ne Mut­ter hat ge­brüllt oder Fern­se­her, Ra­dio oder ihre selt­sa­men Hör­bü­cher lie­fen.

So­bald sie da sind, wer­den sie es fin­den und dann wird man mir glau­ben. Man wird mir kei­ne Fra­gen mehr stel­len und dann wird es in einen an­de­ren Raum ge­hen. Viel­leicht in einen bes­se­ren?

Die­ser Ge­ruch in die­ser Zel­le ist un­erträg­lich. Er ver­mischt Urin, Schweiß und an­de­re Ge­rü­che, die ich nicht ein­sor­tie­ren kann.

Wie vie­le sa­ßen hier schon drin? Wa­ren es al­les Mör­der? Ha­ben sie auch da­mit um ihre Be­freiung von einer Unter­drü­ckung ge­kämpft? Durch den Tod mei­ner Mut­ter bin ich in­ner­lich end­lich frei und das ist das, was ich im­mer woll­te. Frei sein von ihr.

Selt­sam, ir­gend­wie kommt mir der Raum so ver­traut vor. Pas­siert das wirk­lich so schnell? Ich bin doch erst heu­te Mor­gen hier­her­ge­kom­men. Oder war es heu­te Nacht? Aber wenn man hier, ge­nau hier neben der Tür, einen schwe­ren, mas­si­ven Ma­ha­go­ni­schrank hin­stel­len wür­de, dort an­stel­le der Prit­sche ein Dop­pel­bett aus Ma­ha­go­ni und hier ge­nau gegen­über von dem Bett an der freien Wand einen Schreib­tisch mit einem Stif­te­kö­cher, dann wä­re es so, wie ich es ken­ne.

Aber das ist doch Quatsch, wie kom­me ich auf die Idee, dass mir so ein Raum ver­traut sein könn­te? Ich mei­ne, mein Zim­mer, in dem ich die letz­ten acht­zehn Jah­re ver­bracht ha­be, hat­te ein klei­nes Ju­gend­bett, einen Klei­der­schrank und einen an­ge­ranz­ten Schreib­tisch und al­les aus Ei­che. Ei­che, fand mei­ne Mut­ter, sei ge­nau das, was ich dar­stel­len soll­te. Stark wie eine Ei­che, je­dem Wind und je­dem Sturm stand­hal­tend. Im­mer wie­der ver­glich sie mich mit einer deut­schen Ei­che. Aber ich fühl­te mich sel­ber eher wie eine Pap­pel, im­mer am Zit­tern, wenn ein Wind­hauch an mir vor­bei­husch­te. Wie ger­ne wä­re ich stark und kräf­tig.

»Du bist stark, wenn du mit dir im Rei­nen bist.« Selt­sam, wie­der so et­was Ver­trau­tes. Wo­her ha­be ich die­sen Satz bloß? Viel­leicht von mei­ner ehe­ma­li­gen Leh­re­rin? Sie hat­te im­mer mal wie­der sol­che Sinn­sprü­che auf La­ger.

Frau Lan­gen­hagen, mei­ne ehe­ma­li­ge Leh­re­rin für Ge­sell­schafts­kun­de und Re­li­gion, die im­mer wie­der hin­ter mir stand, mir in al­len Le­bens­la­gen ge­hol­fen hat­te, wie ger­ne hät­te ich sie bei mir. Ich muss sie an­ru­fen, so­bald ich hier raus kann, oder darf man einen An­ruf tä­ti­gen? Ich glau­be, ich ha­be so et­was schon mal im Fern­se­hen ge­se­hen.

Ich muss doch in mei­nen Ja­cken­ta­schen mei­ne Geld­bör­se ha­ben. Sie muss hier sein. Wo ist sie bloß? Aber ich kann die gan­ze Ja­cke auf den Kopf stel­len. Kein Porte­mon­naie und da­mit auch kei­nen Zet­tel mit ihrer Num­mer. Nichts ist mehr da. Wer hat ihn? Ach ja, nun fällt es mir wie­der ein. Als ich auf die Wa­che ge­kom­men bin, muss­te ich al­les ab­ge­ben. Es macht mich ner­vös. Wür­de mich je­mand hö­ren, wenn ich ru­fe? Es lässt mir kei­ne Ru­he. Ich klop­fe an die Tür, lau­ter und dol­ler. Mir tun schon nach kur­zer Zeit die Hän­de weh, aber es ist mir egal, ich will, dass die mich da draußen hö­ren kön­nen.

End­lich lei­se und von der di­cken Wand ge­dämpft hö­re ich:

»War­ten Sie eine Se­kun­de. Ich bin so­fort da.« Ich wur­de ge­hört und bin er­leich­tert.

Ein Rat­schen und dann steht ein äl­te­rer, aber sehr freund­lich bli­cken­der Poli­zist vor mir.

»Müs­sen Sie mal, Herr Bau­mann?« Sei­ne mil­de, bei­na­he brumm­bäri­ge Stim­me be­ru­higt mich ein we­nig. Aber wie kann er denn glau­ben, dass ich aufs Klo muss? Ich brau­che das Wich­tigs­te in mei­nem Le­ben. Die Num­mer von Frau Lan­gen­hagen.

Hek­tisch schüt­te­le ich mei­nen Kopf.

»Nein, aber ich hat­te heu­te Mor­gen eine Geld­bör­se da­bei, wo ist die?« Ver­wirrt schaut mich der Poli­zist an.

»Ich war lei­der heu­te Mor­gen nicht da, als Sie ge­kom­men sind, aber ich ver­mu­te, sie liegt im Tre­sor. Dort liegt sie si­cher. So­bald Sie ent­las­sen wer­den, be­kom­men Sie sie wie­der.«

Sein Lä­cheln soll mich in Si­cher­heit wie­gen, aber eher das Gegen­teil ist der Fall. Ich möch­te sie jetzt ha­ben. Ich will nicht, dass je­mand Frem­des sie in sei­nen Hän­den hält.

»Bit­te, es ist drin­gend. Ich brau­che die Geld­bör­se. Kön­nen Sie sie mir brin­gen?« Ich le­ge mei­ne gan­ze Kraft in die­se Fra­ge und es scheint an­zu­kom­men. Ein Ni­cken und er schließt die Tür hin­ter sich.

Auf­ge­regt lau­fe ich auf und ab in die­sem klei­nen Raum. So al­so fühlt sich ein Ti­ger, der in sei­nem Kä­fig ge­fan­gen ist.

Die Mi­nu­ten zie­hen sich end­los da­hin. Kurz be­vor ich wie­der an der Tür klop­fen will, hö­re ich, wie der Schlüs­sel im Schloss um­ge­dreht und die Tür auf­ge­sto­ßen wird.