Sendeschluss - Cornelius Peltz-Förster - E-Book

Sendeschluss E-Book

Cornelius Peltz-Förster

4,8

Beschreibung

Die Abiturprüfungen sind gelaufen und in einer Woche steht die Bekanntgabe der Ergebnisse an. Für den Ich-Erzähler beginnt ein siebentägiger Countdown mit ungewissem Ausgang. Auf der Flucht vor der Frage, wie es mit oder ohne Abi weitergehen soll, stürzt er sich in eine Phase des exzessiven Verdrängens. Langsam wächst in ihm die Erkenntnis, seinem Leben eine andere Richtung geben zu müssen, um nicht in einer Sackgasse zu enden. Auf seiner Reise zu neuen Zielen macht er sonderbare Bekanntschaften, trennt sich von alten Weggefährten und wird unverhofft zur Schlüsselfigur im Leben einer jungen Frau. Gerade, als er seine Welt einigermaßen in Ordnung gebracht hat, droht ein tragisches Ereignis ihn aus der Bahn zu werfen. Schließlich liegen die Abiturergebnisse vor. Doch die wirklich wichtigen Entscheidungen stehen noch aus. Ein Erzähldebüt. Noch nicht von Helene Hegemann intertextualisiert.

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Cornelius Peltz-Förster

Sendeschluss

Eine Erzählung

 

 

 

 

Originalausgabe

© 2010 Archiv der Jugendkulturen Verlag KG, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2010

Herausgeber:

Archiv der Jugendkulturen e. V.

Fidicinstraße 3, D – 10965 Berlin

Tel.: 030 / 694 29 34; Fax: 030 / 691 30 16

E-Mail: [email protected]

Vertrieb für den Buchhandel: Bugrim (www.bugrim.de)

Auslieferung Schweiz: Kaktus (www.kaktus.net)

Privatkunden und Mailorder: www.jugendkulturen.de

Lektorat: Klaus Farin

Umschlaggestaltung und Satz: Conny Agel

Druck: werbeproduktion bucher

ISBN Print: 978-3-940213-61-7ISBN E-Book: 978-3-940213-79-2

 

 

 

 

 

 

 

Weißt du, was Glück ist?

Wenn der Regen fällt und du trotzdem was entdeckst,

was dich am Leben hält.

Ich weiß, was das Leben wert ist, und ich hoffe du auch.

Wenn du’s fühlst, dreh den Sound und die Boxen voll auf.

DIE FIRMA

Der Autor

Cornelius Peltz-Förster, Jahrgang 1975, Soziologe und Berater aus Bremen.

Bisherige Veröffentlichungen u. a.: Hesse trifft Hesse – Eine Reise ins Universum der Persönlichkeit mit Hermann Hesse und Stephan Weidner (Exklusivvertrieb: www.jugendkulturen.de). Handlungsfähig werden – handlungsfähig bleiben. Rechtliche Grundlagen und Handlungsempfehlungen für Eltern rechtsextremer Jugendlicher. Reihe „Kompetente Konzepte für Demokratie und Toleranz“, Band 3. Bildungsvereinigung ARBEIT UND LEBEN, Braunschweig 2010.

Samstag

Sich in seinem Leben zurechtzufinden, ist oft gar nicht so leicht. Manchmal überfällt mich der Drang, die Resettaste zu drücken, um das letzte Kapitel meines Lebens noch mal neu zu starten.

Da ich aber nicht MARTY Mc FLY heiße und mir keine Zeitmaschine zur Verfügung steht, heißt es, sich den Dingen zu stellen, so wie sie sind.

Klingt einfach, ist aber oft genug verdammt nervig und schwer. Wenn es also nicht möglich ist, seine Probleme zu löschen, so bleibt die Option, sie vorübergehend im Alkohol unterzutauchen. So wie gestern.

Nach dem Rausch kommt das böse Erwachen und genau an dem Punkt befinde ich mich jetzt.

Hallo Kopfschmerz, hallo Übelkeit!

Die letzten Wochen waren durch einen exzessiven Lebenswandel geprägt, also gehe ich das Ritual zurück aus dem Vergessen gewohnt routiniert an. Alles schön langsam und in der richtigen Reihenfolge.

Erst mal die Augen öffnen und mit der Zunge den Geschmack im Mund ertasten. Ergebnis: extrem unangenehm. Es scheint, als hätten sich über Nacht fiese kleine Mikroorganismen in meinem gesamten Körper eingenistet, die meinen Mund als Toilette benutzt haben. Diese Phantasie steigert den Kopfschmerz. Das weitere Abchecken meiner körperlichen Konstitution erfordert also absolutes Fingerspitzengefühl.

Ein zu schnelles Aufstehen könnte unangenehme Folgen haben. Einmal falsch in Gang gesetzt, hört der Apparat nicht auf zu arbeiten, bis der Magen sich entleert und der pochende Kopfschmerz sich zu einem Presslufthammergewitter ausgeweitet hat.

Im Normalfall guckt man am Morgen nach dem rituellen Besäufnis aus kleinen verquollenen Augen auf eine richtig fette Party zurück.

Es ist ein guter Deal. Der Alkohol holt sich ein paar überflüssige Gehirnzellen und liefert dafür eine adäquate Gegenleistung. Mitunter helfen auch andere Substanzen, das Erleben nicht alltäglicher Wirklichkeit intensiv auszukosten.

Selbst beim Kotzen ist immer noch Zeit für ein kleines, fröhliches Augenzwinkern: Scheiß drauf, die Übelkeit ist am Abend vergessen und das bisschen Kotze auf dem Teppich schnell entfernt. Die Erinnerungen an einen geilen Abend bringen dich aber sicher bis zum nächsten Wochenende.

In extremen Fällen kommt es auch mal vor, nicht vom Hämmern im eigenen Kopf geweckt zu werden, sondern von unbekannten Schnarchlauten auf der anderen Bettseite.

Abhängig vom Mischungsverhältnis aus Alkohol, Drogen und hormonellem Notstand am Vorabend fällt die Bilanz des Erwachens aus, die fällig wird, wenn man seinem Gegenüber in die Augen sieht.

All das ist heute Morgen anders und riecht eher nach einer harten Nummer, also Kotzen ohne Augenzwinkern.

Unser Jahrgang hatte sich zu einer spontanen Null-Tage-Feier entschlossen und Life war so leichtsinnig, das Haus seiner Eltern als Location zur Verfügung zu stellen.

Unterricht stand nicht mehr auf dem Plan und es galt nur noch, die Zeit bis zur Bekanntgabe der Ergebnisse zu überbrücken.

Jetzt fehlt mir jede Erinnerung daran, warum ich komplett angezogen in meinem Bett und nicht in der Sauna von Lifes Eltern aufgewacht bin. Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist, dass Christian, Simon und ich uns in die nicht eingeschaltete Kieferkiste im Keller des Hauses zurückgezogen hatten, um in Ruhe unseren Rasen zu rauchen.

Bis dahin hatte die Party einen gewohnten Lauf genommen. Viele Leute waren bereit, richtig die Sau ’rauszulassen, schließlich waren die letzten Wochen und Monate von harter Kopfarbeit geprägt. Zumindest für die, die gelernt haben. Nun sollte die Zeit der ultimativen Entspannung folgen.

Es gab eine Handvoll Leute, die bereits wussten, dass sie es nicht gepackt hatten. Sie waren nicht gekommen und zogen an irgendeinem dunklen Ort ihre eigene Sache durch. Auch ich war zu dieser Runde der Verlierer eingeladen, und das vermutlich nicht ganz zu Unrecht. Die schriftlichen Prüfungen, vor allem Mathe, waren eher suboptimal verlaufen. Das wiederum war bei meiner Vorbereitung wenig verwunderlich.

Der Frühling war ab März ungewöhnlich warm und im April waren Temperaturen weit über zwanzig Grad keine Seltenheit. Bei dem Wetter und den verstärkten Party- und Paarungshormonen, hatte ich andere Dinge im Kopf, als mathematische Formeln oder Textinterpretationen. Ich war einfach überzeugt, das Nötigste investiert zu haben, um am Ende erfolgreich abschließen zu können. Die Chance auf ein sehr gutes Ergebnis hatte ich in den letzten Monaten ohnehin schon verspielt.

Letztendlich verliefen die weiteren Prüfungen so, dass ich keine Ahnung hatte, ob ich das Qualifying für die Uni gepackt hatte.

Um die ganze Sache erst mal positiv anzugehen, hatte ich mich für die Party bei Life entschieden. Saufen, ohne Spaß zu haben, konnte ich auch hier, statt in irgendeinem muffigen Keller – randvoll mit Selbstmitleid und dem penetranten Geruch des Versagens. Krakenartig krabble ich aus dem Bett und richte mich langsam und etwas ungelenk auf. Leichter Schwindel breitet sich in meinem Kopf aus. In meinem Magen fühlt es sich so an, als laufe eine zähflüssige Masse von den Magenwänden zum Boden. Mir wird übel, aber es bleibt alles drin.

Mir kommt die Idee, duschen zu gehen, und nach Abstimmung der verbliebenen Gehirnzellen folgt der Rest meines Körpers diesem Vorschlag.

Von meinem Kellerzimmer trete ich den Flur. Die Luft erscheint hier deutlich besser als in den vier Wänden hinter mir. Angezogen mit Jacke, Jeans und Schuhen gucke ich an mir herunter. Die Tatsache, selbst meine Schuhe nicht mehr ausgezogen zu haben, legt die Vermutung nahe, gestern Nacht auf dem nach oben offenen Absturzbarometer im deutlich roten Bereich gearbeitet zu haben.

Ich drehe mich um und gehe in die Waschküche. Erst mal ’raus aus den alten Klamotten, die irgendwie seltsam nach Orangen duften.

Glücklicherweise ist meine Mutter für Proben zwei Wochen nicht zu Hause. Sie ist Schauspielerin am Theater, nicht berühmt, aber zufrieden. Mein Vater ist an der Uni Professor mit den Schwerpunkten Soziale Arbeit, Jugendarbeit, Bildungspolitik. Er hat sich vor drei Jahren von uns getrennt und lebt seitdem mit seiner neuen Freundin und ihrer gemeinsamen Tochter in Nordrhein-Westfalen. Kontakt zu meinem Dad hab ich mittlerweile wenig. Als meine Eltern noch zusammen waren, kam ich eigentlich mit beiden ganz gut zurecht. Mein Vater war mehr zu Hause als meine Mutter und so haben wir viel Zeit miteinander verbracht. Das war eigentlich ganz cool. Abgesehen davon, dass er mir mit seinem missionarischen Sozialgequatsche manchmal richtig auf die Nerven ging. Immer alles kritisch hinterfragen, Verantwortung übernehmen, bla, bla, bla.

Seitdem mein Vater seinen Lebensmittelpunkt neu definierte, ist meine Mutter von der Sorge getrieben, ich könne durch das Fehlen der väterlichen Erziehung auf die schiefe Bahn geraten. Wenn sie mich jetzt so sehen würde, bekämen ihre Ängste sicherlich reichlich Nahrung.

Egal ob drei, sieben, elf oder wie jetzt 20 Jahre alt, es scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, dass Mütter sich penetrant um ihren Nachwuchs sorgen.

Zwischen meinem Zimmer und dem Bad liegen zwei Treppen oder genauer gesagt 28 Stufen. Ich trete also den Anstieg zum Gipfel an.

Geduscht, frisch eingekleidet und nach dreimaligem Zähneputzen stehe ich wieder in meinem Zimmer. Die Fenster sind geöffnet und frühsommerliche Mittagsluft flutet mein muffiges Gewölbe.

An die Aufnahme fester Nahrung ist im Moment noch nicht zu denken. Mit einer Flasche Tomatensaft lasse ich mich in einen der beiden Ledersessel fallen, greife nach dem Telefon und wähle die Nummer von Simon.

Überraschenderweise ist er gleich selbst am Apparat. Nach dem Klang seiner Stimme zu urteilen, ist er noch nicht lange wach und vom Vollbesitz seiner geistigen Kräfte weit entfernt. Nachdem wir uns, trotz einiger Wortfindungsstörungen, gegenseitig versichert haben, schon wieder ganz gut unterwegs zu sein, kommen wir auf den gestrigen Abend zu sprechen. Simons Erinnerungen decken sich weitgehend mit meinen eigenen. Außerdem kann er auch meine Erinnerungslücke füllen.

Wir saßen also in der Sauna und naschten mein letztes Gras. Simon und Christian in T-Shirts, ich in meiner Jacke, weil ich eigentlich schon gehen wollte.

Während wir rauchten, verlangte es mich angeblich nach einem Aufguss. Da dies aber nur bei eingeschalteter Sauna möglich war, entschlossen wir uns zur spontanen Inbetriebnahme. Bereits nach wenigen Minuten wurde es drückend warm und kurz darauf unerträglich heiß. Damit der drohende Kreislaufzusammenbruch nicht umsonst gewesen sein sollte, leerte Simon mit einem Schwung und wenig zeremoniell den gesamten Eimer mit Orangenaroma über dem heißen Saunaofen. Ein nicht geringer Teil der Orangenessenz landete dabei auf meiner Jacke, meiner Hose und meinen Schuhen. Es zischte und innerhalb von Sekunden war die kleine Hütte mit undurchsichtigem und penetrant nach Orangen duftendem Wasserdampf erfüllt.

Hustend und völlig verschwitzt stolperten wir aus der Sauna.

Nach Luft schnappend, mit glühenden Köpfen und debil grinsend saßen wir auf einer Bank vor der Sauna. Alle nickten geistig etwas entrückt mit den Köpfen, und wie auf ein Kommando stammelten alle ein Wort: krass!

Ich sei schließlich als Erster glucksend und kichernd aufgestanden, hätte mir ein Saunahandtuch um den Kopf gewickelt, mahnend den Zeigefinger der rechten Hand erhoben und mich mit dem Hinweis, mit nassen Haaren schnell eine Erkältung bekommen zu können, auf den Heimweg gemacht.

Alles Weitere von der Party ist schnell erzählt, weil es immer die gleichen Themen sind. Wer hat mit wem ’rumgemacht und wer hat wohin gekotzt.

Simon erinnert mich noch daran, dass wir am Abend zu einer Cocktailparty bei unserer Englischlehrerin eingeladen waren. Ich bin dafür zuständig, einen Blumenstrauß zu besorgen. Bitte nicht vergessen.

Es ist kurz nach zwei, bleiben also noch gut fünf Stunden zur Regeneration. Ich entscheide mich für eine weitere Stunde Schlaf und rede mir vor dem Einschlafen noch schnell ein, beim nächsten Aufwachen den Magen im Griff zu haben.

Tatsächlich fühlt sich das zweite Erwachen etwas besser an. Meinen aufkeimenden Appetit auf feste, herzhafte Nahrung werte ich als Zeichen, die Krise weitgehend überwunden zu haben.

Ich schalte den Fernseher ein, wähle ziellos ein Programm und klettere dann die Treppe hoch, um mir in der Küche eine reelle Portion Lasagne vom Vortag aufzuwärmen. Mit dem Teller in der einen und einer Flasche Pfirsichsaft in der anderen Hand kehre ich in mein Zimmer zurück und aktiviere zusätzlich den DVD-Player, um ein weiteres Mal den Klassiker THE BIG LEBOWSKI zu genießen.

Während ich mir langsam die reichhaltige Kost verabreiche und auf den Bildschirm schaue, meldet sich wieder die Frage, die ich am Abend zuvor unter Mithilfe stoffgebundener Helfer so erfolgreich in die Abstellkammer meines Gehirns verbannt hatte: Was liegt an für den Fall, das ABI nicht bestanden zu haben?

Das Wiederholen der letzten Klasse wäre wie im Stau stehen und kommt für mich nicht in Frage.

Aber wie sieht die Alternative aus?

Ich stelle den Teller auf den Tisch, schalte den Fernseher wieder aus, dafür die Stereoanlage ein und lasse mich tief in meinen Sessel sinken.

Fakt ist, es gilt in den nächsten Tagen, spätestens nach Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse, eine Entscheidung zu treffen.

Gehen wir die Sache doch mal anders an und versuchen es mit einer Zwischenbilanz.

Solange keine Ergebnisse vorliegen, die mein Scheitern zur Gewissheit werden lassen, bin ich ja noch voll im Rennen.

Das habe ich denen voraus, die jetzt schon sicher sind, die Latte beim Versuch drüberzuspringen gerissen zu haben. Ja, und dann gibt es da noch die Gruppe von Leuten, die schon vor den Prüfungen die Segel gestrichen haben. Ich denke beispielsweise an Maik Rölker, der bereits in der Elften deutlich an seine Grenze gestoßen war. Maik war zudem jemand, der nicht gut mit Enttäuschungen umgehen konnte und sich gerne mal in Schlägereien verwickeln ließ. Kloppen im Kontext von Fußballspielen war sein Lieblingshobby. Schule war nicht sein Ding, aber in der Dritten Halbzeit war Maik richtig gut.

Kurzum: Letztendlich wollte er sein Hobby zum Beruf machen und eine Ausbildung bei der Polizei beginnen. Ich bin mir nicht sicher, ob das mit seiner Einstellung und ohne Abi ein realistisches Vorhaben ist.

Weiter gibt es die Leute, die predigen, ein ABI aus unserer Stadt sei im Vergleich zu anderen Bundesländern sowieso nicht viel wert.

Okay, mag sein, aber ich für meinen Teil nehme lieber einen erfolgreichen Abschluss hier als gar keinen. Außerdem wäre es dann ja besonders bitter, nicht bestanden zu haben, wenn die Anforderungen sogar vergleichweise gering waren.

Versuche ich es mal anders und überlege, was mir die Schule bisher gebracht hat. Meine Gedanken enden im Nichts und stattdessen fällt mit dieser typische Schulgeruch nach Linoleum und verwarztem Nadelfilz ein. In diesen miefigen Grundton mischen sich dann ab und an noch Noten von Leberwurstbroten oder Frikadellenbrötchen, lecker.

Genau das hatte ich verhindern wollen, schon läuft eine Parade äußerst unangenehmer Bilder und Gerüche vor meinem inneren Auge bzw. meiner Nase vorbei.

Ich sehe die chronisch gelben Zähne von Herrn Dr. Mattner und ich rieche den beißenden Mundgeruch von Frau Schenke-Dittmann.

Da Frau Schenke-Dittmann zudem noch eine sehr feuchte Aussprache hatte, hegte ich den Verdacht, ihre Speicheltröpfchen, die mit den Mikroorganismen des schlechten Geruchs durchsetzt waren, könnten eine ähnliche Wirkung haben wie die Körperflüssigkeit der Kreaturen aus dem Film ALIEN.

Bei der Inspektion von Schultischen konnte ich aber nie speichelbedingte Verätzungen auf der Oberfläche feststellen.

Tja, und dann gab es da noch die gestrandeten Existenzen, die Spaß daran hatten, Schüler vorzuführen und zu erniedrigen. Ihren sadistischen Einfallsreichtum stellten sie häufig besonders dann unter Beweis, wenn sie auf Widerspruch und Ungehorsam eines Schülers stießen. Wenn alles, was wir tun, tatsächlich mal auf uns zurückfällt, dann bin ich wirklich froh, nicht an ihrer Stelle zu sein.

Unvergessen bleibt mir auch die Reaktion des stellvertretenden Schuldirektors auf die Beschwerde von einer Mitschülerin und mir, dass unser Deutschlehrer seine Unterrichtsstunden bei uns chronisch um fünf Minuten überzog. Dadurch wurde entweder die Pausenzeit gekürzt oder wir kamen zu spät zum nachfolgenden Unterricht in einem anderen Raum. Da Diskussion und Protest bei dem Deutschlehrer nicht fruchteten, blieb der Gang zum Direx. Da der Direx nicht in der Schule war, mussten wir uns mit seinem Vertreter begnügen. Der galt leider als wenig konfliktfreudig und wenig engagiert. Wir trafen ihn, als er gerade dabei war, sein Büro aufzuschließen.

Als Folge exzessiver Aufenthalte im Sonnenstudio hatte seine Haut einen rot-braunen Grundton angenommen. Seine Fastglatze machte dann den Bockwurststyle perfekt.

Bevor wir unser Anliegen schildern konnten, winkte er ab und ließ uns wissen:

Meine Lieben, ich habe Pause und werde jetzt erst mal mein Erbsensüppchen essen. Im Sekretariat können Sie sich einen Termin geben lassen.

Ohne weiteren Kommentar verschwand er in seinem Büro und schloss die Tür.

Hm, sozusagen Erbsensüppchen und Bockwurst.

Manche Menschen haben ein so dickes Fell, die können auch ohne Rückrad stehen.

Wie auch immer, unser Deutschkurs, zumindest der überwiegende Teil, regelte die Angelegenheit schließlich in Eigenregie, indem wir einfach am Ende der Stunde unsere Sachen packten und gingen.

Nach wenigen Wochen wurde der Unterricht dann auch von unserem Lehrer pünktlich beendet. Im Gegenzug verschlechterten sich allerdings die Noten der Rebellen, was natürlich in keinster Weise im Zusammenhang mit den Protestaktionen stand.

Ich hatte bereits zu Beginn des zweiten Jahres auf der Oberstufe beschlossen, die Abinummer eher ökonomisch anzugehen, also wenig Aufwand und möglichst großer Ertrag.

Kaum war dieser Entschluss gefasst, stellte sich auch schon die erste Herausforderung. Anfang der zwölften Klasse hatte ich montags nur Sport und Geschichte im Doppelblock. Schulbeginn gegen zehn, Schluss gegen halb zwei. Dafür lohnte sich ja kaum der Weg in die Schule. Sport konnte ich und Geschichte fand ich nur in Etappen interessant. Meine Lösung für dieses Problem war die Einführung meiner Vier-Tage-Woche, die jeweils dienstags begann.

Mittwochs hatte ich dann wieder Sport und Geschichte, diesmal eine Einzelstunde. Nach ungefähr einem Monat machte mich mein Geschichtslehrer darauf aufmerksam, dass auch montags Geschichtsunterricht stattfand. Er würde sich freuen, mich auch in dieser Veranstaltung begrüßen zu dürfen.

Dieser diskrete Hinweis sorgte für breites Grinsen auf den Gesichtern meiner Mitschüler und fiel bei mir auf fruchtbaren Boden, da mich der augenblickliche Themenschwerpunkt sowieso interessierte. Um den Spielraum nicht zu schnell auszureizen, entschloss ich mich, in der nächsten Zeit die Schlagzahl zu erhöhen. Eine Klausur und ein Referat später stand zum Halbjahr bei den Punkten in Geschichte ein zweistelliges Ergebnis und die Sportnote war ohnehin ein Selbstläufer. Also alles in Butter.

Zurück zu der Frage nach dem persönlichen Gewinn. Was ist hängen geblieben in der Schatzkiste des Wissens, welche Kompetenzen und Handwerkszeuge wurden mir vermittelt?

Das scheinen mir mal gute Fragen zu sein, doch die Antworten, die mir dazu einfallen, sorgen schnell für Ernüchterung.

Nach meiner Erfahrung geht es in der Schule hauptsächlich darum, pflegeleicht mitzumachen und die richtigen Antworten und Lösungen zu reproduzieren. Wer sich am besten mit dem Schul- und Auslesesystem arrangiert, gleitet seicht und sicher immer weiter bis zu einem mehr oder weniger gut bezahlten und mehr oder weniger sicheren Job. Funktionieren, konsumieren und nicht zu viel Persönlichkeit entwickeln, so sieht es doch aus – zumindest für mich, im Moment.

Klingt irgendwie verdammt nach buntgefärbter und globalgalaktischer Kritik an allem und nichts. Egal, wenn’s hilft, die Perspektive gerade zu rücken, geht das fürs Erste in Ordnung.

Zur Ehrenrettung kann ich die Impulse unseres Politiklehrers Herrn Rothenbach nicht ignorieren, der zudem das Fach (Medien-) Ethik unterrichtete. Kein Mann der vielen, aber der gewichtigen Worte. Er vermittelte Politik lebendig und nicht als Dosenfraß.

Herr Rothenbach ist ein überzeugter Verfechter der Demokratie. Unsere deutsche Geschichte zeigt, wie menschenverachtend es in autoritären Systemen laufen kann. Nicht selten wurde man einkassiert, weil man von Nachbarn denunziert wurde oder an der falschen Stelle seine Meinung gesagt hat. Oder man verschwand sogar inklusive seiner Familie ganz von der Bildfläche und das Haus wurde irgendwelchen Menschenhassern übergeben. Das ist keine Vision aus einem Horrorfilm, sondern Teil einer Realität, die in diesem Land gerade mal ein Menschenleben zurückliegt. Autoritäre Regime verdienen als Kommentar in der Konsequenz nicht mehr als zwei erhobene Mittelfinger.

Die Art und Weise, wie sich Herr Rothenbach ins Zeug legte, um uns auf die Reise zum kritischen Bürger statt zum unkritischen Konsumenten zu machen, verdient Respekt. Auch wenn er mich dabei manchmal an meinen Vater erinnerte und ich mir nicht sicher bin, was bei mir hängen geblieben ist.

So viel dazu. Was bleibt, sind die während der Schulzeit entstandenen Kontakte und Freundschaften. Für mich war die Schule immer ein angenehm vielfältiger Kontaktpool. Das galt vor allem für die elfte Klasse, als wir aus unterschiedlichen Schulen an die Oberstufe wechselten. Dutzende junge Männer und Frauen, für die neben der Aneignung von Wissen der Austausch von Körperflüssigkeiten auf dem ganz persönlichen Lehrplan stand. Es war ein Riesenspaß, zu sehen, auf welch unterschiedlichen Wegen wir uns auf den Weg machten, dieses Ziel zu erreichen.

Auf beiden Seiten, Jungen wie Mädchen, gab es die Offensiven, die schnell zur Sachen kamen. Es gab die Romantischen, die sich erst ausgiebig beobachteten und umwarben, bis sie schließlich zueinander fanden, und es gab die Leute wie mich, die sich als romantische Pragmatiker verstanden.

Triebbefriedigung als Selbstzweck, bei dem das Gegenüber beliebig austauschbar ist, war nicht mein Ding. Das Auge isst ja bekanntlich mit.

Ebenso wenig wie eine wahllose Befriedigung suchte ich eine Frau für den Rest meines Lebens. Ich ließ die Dinge auf mich zukommen und forcierte an den Stellen, an denen es notwendig war, ohne dafür allerdings unverhältnismäßig zu investieren.

Andere Jungs gingen die Angelegenheit strategischer an. Sie lernten beispielsweise nur deshalb krampfhaft Gitarrespielen, um bei den Mädchen Stiche zu machen.

Bei mir reichte oft genug billiger Sekt.

Unter dem Strich standen nach der Oberstufenzeit einerseits zahlreiche vorübergehende und ausschließlich auf Sex basierende Liebschaften, andererseits gab es tatsächlich Beziehungen, die bis heute andauern.

Neben ein paar gemeinsamen Nächten gab es bei mir nur eine nennenswerte Beziehung, und die ist seit einigen Monaten Geschichte.

Jetzt fällt mir doch noch eine schöne Erinnerung an die Schulzeit ein. Die Freistunden nutzten wir gerne für einen Besuch beim benachbarten Kiosk, um ein oder zwei Biere zu trinken. Freitags war das sozusagen unsere Gleitzeit ins Wochenende. So viel zur Schule.

Ich bin mit meinen Gedanken nicht weiter und doch erst mal am Ende. Fest steht, am kommenden Freitag werden die Prüfungsergebnisse veröffentlicht, dann werden Fakten geschaffen. Ab heute läuft für mich ein siebentägiger Countdown mit ungewissem Ausgang.

Ohne viel Zeit mit Aufräumen zu verschwenden, beschließe ich, meinen Anzug aus der Reinigung zu holen und die Blumen für unsere Englischlehrerin zu besorgen.

Der Restalkohol müsste jetzt erst mal mit dem Teigwerk und Hackfleisch beschäftigt sein und hat keine Chance, mich beim Fahren zu beeinträchtigen.

In Polohemd, Jeans, Turnschuhen und Sonnenbrille steige ich in meinen silberfarbenen Golf II metallic und lege eine CD von DIE FIRMA ins Laufwerk des Autoradios.

Der Wagen duftet immer noch irgendwie neu, obwohl er schon endlos alt ist. Ich finde, das ist häufig so bei Autos von alten Menschen. Ich habe den Wagen von meiner Oma bekommen, kurz bevor sie gestorben ist.

In den letzten Monaten hatte ich kaum an sie gedacht. Jetzt plötzlich drängen die Erinnerungen an die Oberfläche. Ich sehe meine Oma, wie sie mir als Kind etwas vorsingt, weil ich nicht einschlafen kann. Da sind Bilder, wie sie mir Brote bringt, während ich in ihrem Wohnzimmer in einem Sessel in eine Wolldecke gehüllt sitze und fernsehe.

Und dann kommen die Bilder, die mich an ihre Alzheimererkrankung und an ihr bitteres Ende erinnern.

Ich drehe die Musik lauter und wechsle in meinem inneren Fernseher das Programm. Zu viel Erinnerung tut manchmal weh und mir heute nicht gut. Was ist eigentlich mit mir los? Zu viele Fragen, zu wenige Antworten und das konfuse Gefühl, in den nächsten Tagen an einen zentralen Scheideweg in meinem Leben zu gelangen.

Wie ein Schiff ohne Ruder treibe ich mit dem Golf durch die Straßen und erreiche nach mehreren Umwegen die Reinigung. Wortlos lasse ich mir meinen Anzug geben, bezahle, verlasse die Reinigung und hänge den Zwirn in den Wagen. Im Laden gegenüber lasse ich mir einen Blumenstrauß zusammenstellen und fahre zurück nach Hause.

In meinem Kopf herrscht Unruhe und in meinem Magen breitet sich Unbehagen aus. Ich fühle mich seltsam beschissen, laufe im Offbeat, irgendwie völlig neben der Spur.

Ich stelle die Blumen in eine Vase, falle in den Sessel, schalte den Fernseher ein und öffne das erste Beck’s des Tages. Das Fernsehprogramm rauscht an mir vorbei. Gedankenverloren leere ich das Bier und öffne gleich darauf das nächste.

Wie immer zappe ich mich mechanisch durch den Programm-Dschungel und weiß schon kurz nach dem Umschalten nicht mehr, was ich zuvor gesehen habe. Der Alkohol beginnt zu wirken und langsam setzt auch wieder die Entspannung ein. Ich realisiere, mich gerade in eine dieser Dokusoaps eingelockt zu haben, und nach wenigen Sequenzen erschließt sich mir der Inhalt. Ein Familienvater glaubt, seine Frau würde ihn bescheißen und als Nutte arbeiten. Jetzt mimt er den total geschockten Ehemann, der auf eigene Faust ermittelt, um die WAHRHEIT ans Licht zu bringen. Begleitet werden die Szenen von einem Kamerateam und einem hetzenden Kommentar.

Der Typ quatscht tatsächlich erst mal mit Gott, der Welt und dem Fernsehen, anstatt sich seine Alte mal vorzuknöpfen und mit ihr Klartext zu reden. Alles ziemlich erbärmlich und gerade deshalb mitunter sehr unterhaltsam.

Beruhigt, dass andere Leute auch ihre Probleme haben, trinke ich zwei weitere Beck’s und stehe auf, um mich umzuziehen. Meine Stimmung hat sich deutlich verbessert und ich fühle mich wieder richtig getaktet.

Fernseher aus, Anlage an und zum FIRMABOOGIE gleite ich entspannt in meinen dunkelblauen Anzug. Anzüge sind nicht meine Favoriten, aber es war abgemacht, in Abendkleidung zu erscheinen.

Unter meinem Bett finde ich noch eine Tüte Gras und stecke sie mir in die Tasche. Ich weiß, Gras ist für viele schon zu old-school. Koks ist immer häufiger die erste Wahl. Aber mir war das Experimentieren damit zu krass. Schon beim zweiten Mal hatte ich das Gefühl, dass sich da jemand an meinem Verstand zu schaffen macht.

Außerdem waren mir Leute auf Koks immer suspekt. Oder wie es JOHNNY DEPP in FEAR AND LOATHING IN LAS VEGAS auf den Punkt brachte: Du kannst einem Mann den Rücken zukehren, aber niemals einer Droge.

Koks ist zu hart, Gras und ein bisschen Alkohol habe ich im Griff.

Bevor ich das Haus verlasse, kippe ich beide Fenster in meinem Kellerzimmer, um später wieder mühelos einsteigen und in das darunter liegende Bett fallen zu können.

Eine Vorrichtung, die auch einige meiner Freunde kennen. Wenn einer von denen mal nicht mehr nach Hause kann oder will, kommt es vor, dass ich morgens nicht nur mit einem Kater, sondern einem übel riechenden Besucher aufwache.

Mit dem Blumenstrauß in der Hand mache ich mich zu Fuß auf den Weg. Autofahren fällt aus nahe liegenden Gründen aus und auf öffentliche Verkehrsmittel habe ich keine Lust. Bei entspannter Reisegeschwindigkeit müsste ich in knapp 30 Minuten am Ziel sein.

Nach ein paar hundert Metern biege ich in die Grünanlagen ein. Kurz bevor ich den See in der Mitte des Parks erreicht habe, sehe ich auf einer Bank einen kahl rasierten Typen im T-Shirt sitzen. In der rechten Hand hält er eine Bierflasche und mit seiner linken Hand betastet er sein grün und blau angeschwollenes linkes Auge. Vor ihm auf dem Rasen liegt ein ziemlich großer Rottweiler und kaut an einem alten Schuh.

Ich brauche nicht allzu lange, um den Typen zu erkennen.

Thomas und ich waren in derselben Grundschulklasse. Während mein Weg ins Gymnasium führte, ging Thomas zunächst auf die Realschule und stieg zwei Jahre später in die Hauptschule ab.

Von Robert hatte ich gehört, dass Thomas schon seit einigen Jahren Kontakte zu rechten Glatzen hat und in einer stadtbekannten Rechtsrockkappelle am Schlagzeug sitzt.

Ich weiß nicht warum, aber ich steuere auf die Bank zu. Als ich noch etwa fünf Meter entfernt bin, springt der Rottweiler auf, stürmt wild bellend auf mich zu und springt an mir hoch. Vermutlich ist es nur meiner entspannten und leicht lethargischen Verfassung zu verdanken, dass er sich nicht in meinen Anzug verbeißt und mir dabei den Arm abreißt.

Thomas springt auf und brüllt ROCKY, offensichtlich der Name des Hundes, an. Sofort lässt der Koloss von mir ab und setzt sich brav neben sein Herrchen.

Leicht paralysiert, stehe ich mit meinen Blumen in der Hand vor Thomas. Mein Jackett glänzt vom Hundesabber und die rechte Tasche meines Anzugs baumelt halb abgerissen herab.

Mehr als ein Mann, Mann, Mann bringe ich nicht heraus.

Thomas, offensichtlich auch etwas überrascht von dem Anfall seines Hundes, begrüßt mich und bietet mir als Entschuldigung ein Bier an. Ich gucke auf die Uhr. Ein Bier ist noch drin.

Er kramt in seinem Bundeswehrrucksack herum, und das Klimpern lässt weitere Bierreserven vermuten.

ROCKY kaut wieder an seinem Schuh und wir trinken HAAKE-BECK, halbe Liter.

Wir haben uns seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen und ganz offensichtlich sehr unterschiedliche Wege hinter uns. Trotzdem scheint uns beiden die Situation seltsam vertraut. Kontakte, die man als Kind geschlossen hat, überdauern irgendwie alles.

Nachdem wir die Flaschen abgesetzt haben, gucke ich mir Thomas’ Outfit und sein lädiertes Gesicht genauer an. Die Ärmel des T-Shirts sind hochgekrempelt und legen mies gestochene Tätowierungen frei. Auf dem linken Oberarm prangen zwei SS-Runen.

Die Tattoos interessieren mich weniger, bin aber neugierig zu erfahren, woher die Verletzungen stammen.

Als Thomas erzählt, von einem seiner Kameraden mit einem Schlagring zweimal eins ins Gesicht bekommen zu haben, bin ich doch ziemlich überrascht.

Er sieht das Ganze weniger dramatisch und meint nur, so was kommt schon mal vor. Trotzdem könne er sich auf seine Leute verlassen. Das blaue Auge stellt den Zusammenhalt und die Kameradschaft nicht in Frage.

Mir fehlt dafür das Verständnis. Klar gibt es auch unter Freunden mal Streit, aber deshalb haut man sich doch nicht so derbe auf die Fresse.

Thomas wehrt meinen Einwand damit ab, das könne ich nicht verstehen. Seine Kameraden hätten ihm damals sehr geholfen, als er sich als kleines Arschloch gefühlt habe. Sein spritiger Vater hat ihn und seine Mutter offenbar regelmäßig und grundlos verkloppt. Seine damaligen Anarchofreunde hätten immer nur gelabert und ihn auch nie richtig ernst genommen.

Das sei nun völlig anders. In seiner Szene, da wird zusammengehalten, egal was kommt. Da wird gehandelt und nicht geredet.

Langsam redet sich Thomas in Rage und setzt ungefragt zu einer Generalabrechnung an. Ich solle mir doch mal angucken, was um uns herum passiert. Arbeitslosigkeit, Umweltkatastrophen, Überfremdung und korrupte Politiker. Alle anderen würden nur reden, wie toll alles ist, Multikulti und Demokratie und der ganze Scheiß. Aber letztendlich wäre Multikulti nichts anderes als Völkermord an den Einheimischen.

Die Ausländer würden zusammenhalten und hätten das Ziel, uns Deutsche fertig zu machen. Die Politiker würden nur zusehen, wie hier alles den Bach ’runter geht. Es müsse endlich konsequent gehandelt werden. Ausländer sollen genauso verschwinden wie diese ganzen asozialen schwulen Demokraten.

Er und seine Kameraden hätten angefangen zu handeln und dem Scheiß-System den Krieg erklärt.

Thomas greift in seinen Rucksack, holt eine CD heraus und drückt sie mir in die Hand. Dabei sieht er mich aus hasserfüllten Augen an und schließt seinen Monolog damit, es einfach satt zu haben, in der zweiten Reihe zu stehen.

Danach lehnt er sich zurück und starrt geradeaus.

Ich gucke auf die CD. Die Band heißt GENICKSCHUSS und der Titel lautet JETZT SEID IHR DRAN! Das Cover lässt keinen Zweifel daran, wer mit ihr gemeint ist. Es zeigt auf absolut brutale Art, wie mit Juden, Moslems und Schwulen umzugehen ist.

Mir fällt spontan nicht mehr dazu ein, als Thomas anzugucken und zu sagen, den Kram für absolut kranke Scheiße zu halten.

Dann lehne auch ich mich zurück und starre auf den Rasen.

Es muss ein sonderbarer Anblick sein. Da sitzen zwei Typen auf einer Parkbank. Der eine in Nazimontur und mit zerbeultem Gesicht, der andere in einem ramponierten Anzug und einer Rechtsrock-CD in der linken Hand. Beide halten sich an einer Bierflasche fest und gucken leicht belämmert ins Leere.

Komplettiert wird die Szenerie durch einen riesigen Hund, der sich auf dem Rasen vor der Bank ausgebreitet hat, und einen Blumenstrauß, der verloren neben der Bank liegt.

Ich spüre keine Wut und auch keinen Hass auf Thomas, auch wenn ich das, was er eben gesagt hat, für menschenverachtenden Dreck halte.

Ich drehe mich in seine Richtung. Er starrt noch immer wortlos auf den Rasen.