Septemberwut - Rolf Düfelmeyer - E-Book

Septemberwut E-Book

Rolf Düfelmeyer

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Beschreibung

Brandstiftung in einer Herforder Realschule und eine verkohlte, demonstrativ zur Schau gestellte Leiche auf dem Stuhl des Schulleiters – Frank Sommer, der neue Leiter des 11. Kommissariats in Bielefeld, wird gleich am Tage seines Dienstantritts mit einem Fall konfrontiert, der ihn und sein Team an die Belastungsgrenze führt. Denn allein der offenbar psychisch gestörte Täter scheint alles zu bestimmen. Tage später – ein grausiger Leichenfund im Schweinegehege des Tierparks Olderdissen. Die Mordkommission ermittelt auf Hochtouren. Sie muss den Täter beizeiten stoppen, dessen Bühne mittlerweile ganz Ostwestfalen ist. Ihm auf die Spur zu kommen, ist schwer, da er immer einen Schritt voraus ist, überdies extrem gefährlich und mit seinen Taten noch nicht am Ziel. Die zum Fall hinzugezogene Kriminalpsychologin Hanna Hülsmeier wird nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, bis sich die Lage zuspitzt: Die Ermittlungsgruppe selbst gerät, ohne es zu ahnen, in eine gefährliche Nähe zum Täter …

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Veröffentlichungsjahr: 2012

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Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Stätten von Ostwestfalen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

© 2012 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Carsten Riethmüller

Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

Printed in Germany

ISBN 978-3-8271-9561-6

E-Book-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

E-Book ISBN 978-3-8271-9824-2

 

 

Für Irmela

 

 

Über den Autor

Rolf Düfelmeyer, geboren 1953 in Herford, lange Jahre als evangelischer Pfarrer und Religionslehrer in Werther und Lübbecke tätig, legt mit „Septemberwut“ seinen ersten Krimi vor. Er lebt mit seiner Frau, einer gebürtigen Bielefelderin, in Werther bei Bielefeld. Zusammen haben sie zwei erwachsene Söhne und freuen sich über eine Enkeltochter.

Prolog

„Wohin? Wohin willst du gehen? Nach Bielefeld? Nee! Sag, dass das nicht stimmt! – Du willst mich auf den Arm nehmen.“

Völlig fassungslos stand Sommers Kollege in ihrem gemeinsamen Büro bei der Kölner Kriminalpolizei vor ihm.

„Was um Himmels willen treibt dich auf das schmale Brett? Bielefeld? Das ist ja quasi Westfälisch- Sibirien. Tief im Osten sozusagen. Da ist doch irgendwie gar nichts los. Sicherste Großstadt Deutschlands. Sorry: Aber für unsereins gibt es da wohl eher nichts zu tun! Oder, stopp – ich verstehe, du willst einfach nur ’ne ruhige Kugel schieben? Andererseits, kann ich mir bei dir auch nicht richtig vorstellen. Ruhige Kugel, mit 48, das passt nicht zu dir.“

„Lass gut sein“, entgegnete Sommer. „Typisch linksrheinisch! Für euch Ober-Kölner beginnt Sibirien schon auf der rechten Rheinseite. Deutz – das Tor zum Fernen Osten. Und wenn ihr auf der A 1 beim Anstieg zum Bergischen Land im Rückspiegel zum letzten Mal Richtung Rhein blickt, dann fühlt ihr euch wie Livingston in Afrika nach der Überquerung des Sambesi. – Jetzt aber im Ernst: In Bielefeld ist im Kriminalkommissariat 11 eine wichtige Stelle als Leiter der Mordkommission ausgeschrieben. Da habe ich mich beworben, und ich hab’ die Stelle gekriegt.“

„Mordkommission? Bielefeld? Ich sag’s ja – ruhige Kugel!“

„Jetzt hör aber auf. Tu nicht so. Bielefeld ist schließlich für ganz OWL zuständig.“

„OWL???“

„Ja. OWL – Ostwestfalen-Lippe! Über zwei Millionen Menschen leben im Regierungsbezirk Detmold! Das sind mehr Menschen als in ganz Mecklenburg-Vorpommern! Gut – der Kölner Regierungsbezirk ist größer. Aber auch in OWL gibt es immer was zu tun. Ungeklärte Todesfälle, Sexualdelikte, Brandstiftung – hast du mitbekommen, dass …“

„Schon gut, schon gut“, unterbrach ihn sein Kollege. „Ich find’s halt blöd, wenn wir nicht mehr zusammen arbeiten. Wir sind doch ein gutes Team. Wer weiß, wer dann kommt? Vielleicht gar ein echter Ur-Kölner. Das hätte mir noch gefehlt. In diesem Zimmer kann es nur einen Ur-Kölner geben, und das bin ich. – Was sagt deine Familie eigentlich dazu? Deine Frau und deine beiden Söhne? Wie alt sind die jetzt nochmal?“

„21 und 19. Der Zeitpunkt könnte kaum besser sein. Daniel, der ältere, studiert BWL hier an der Uni. Der wird nicht mitkommen. Wir haben schon eine kleine Studentenbude für ihn gefunden. Und Fabian hat gerade erst Abitur gemacht. Der braucht noch Zeit und hat sich nach einem freiwilligen sozialen Jahr erkundigt.“

„Warum das denn?“

„Na ja, bevor er rumgammelt und vielleicht auf dumme Gedanken kommt. Eine Zeitlang weder Schule noch Studium … Überall werden jetzt nach Ende der Wehrpflicht händeringend Leute gesucht.“

„Und deine bessere Hälfte, Angelika?“

„Lief am Ende reibungslos. Als Gesamtschullehrerin hatte sie einen Versetzungsantrag gestellt. Der wurde genehmigt und sie kann zum neuen Schuljahr in Bielefeld anfangen. Aber das Wichtigste: Alle kennen sich aus in Ostwestfalen. Ich bin dort geboren, genauso wie Angelika. Ihre Eltern wohnen übrigens noch in Bielefeld, und sie möchte mehr in ihrer Nähe sein. Schließlich werden sie nicht jünger. Und für die Jungs war vor allem mein Elternhaus wie eine zweite Heimat. Als letztes Jahr meine Mutter gestorben ist, haben wir das Haus verkauft. Geschwister habe ich keine. Zuerst hatten wir überlegt, uns hier in Köln ein Häuschen zu kaufen. Aber als ich dann erfuhr, dass in Bielefeld eine attraktive Stelle zu besetzen war, war die Entscheidung sehr schnell klar: Wir ziehen zurück nach Ostwestfalen. Ich weiß, als Kölner kannst du dir das nicht recht vorstellen. Aber es ist unsere Heimat! Im Übrigen: Landschaftlich und klimatisch reizvoller als Köln, wenn auch hier und da provinzieller.“

„Hier und da – doch so viel!“, beendete Sommers Kollege mit enttäuschtem Gesicht das Gespräch.

Donnerstag, 1. September

Schon seit Tagen hatte ich das Haus beobachtet. Das war sehr leicht in der Gegend. Die großen und kleinen Einfamilienhäuser lagen mehr oder weniger mitten im Wald. Es gab Unmengen von Möglichkeiten, sich verborgen zu halten. Zu den verschiedensten Zeiten hatte ich Posten bezogen. Niemand konnte mich ausmachen. Ich war gut getarnt. Das immerhin hatte ich in meinen 12 Jahren bei der Bundeswehr gelernt. Ansonsten konnten die mir beim Bund gestohlen bleiben.

Es war auch nicht schwer gewesen herauszufinden, wo der Idiot heute wohnte. Zuerst hatte ich befürchtet, er könne in eine andere Gegend gezogen sein. Aber Heinz Klapproth stand ganz ordentlich im Telefonbuch, hatte hinter seinen Namen sogar angeberisch „Major a.D.“ schreiben lassen. Sah ihm irgendwie ähnlich. Nach seiner Pensionierung war er mit seiner Frau einfach genau da geblieben, wo er auch schon vorher gewohnt hatte, gar nicht weit von der Kaserne in Augustdorf entfernt, in Bielefeld-Senne. Er war mein letzter Vorgesetzter bei der Bundeswehr gewesen. Jahrelang hatte er mir auch die letzten Aufstiegschancen verwehrt. Irgendwann wurde mir klar: Dieser Vorgesetzte war der größte Idiot von allen.

Jetzt verließ Heinz Klapproth das Haus. Pünktlich wie jeden Abend machte er mit seinem Dackel an der Leine einen Abendspaziergang. Ein echtes Gewohnheitstier, dieser Major a.D. Klapproth.

Ich brauchte meinem ehemaligen Vorgesetzten nur lose zu folgen. Ich brauchte ihn nicht ständig im Auge zu behalten. Welchen Weg er nehmen würde, war vollkommen klar. Ich war gründlich vorgegangen beim Auskundschaften. An einer dunklen und besonders waldigen Stelle würde ich auf ihn warten. Auf direktem Weg schlich ich dorthin. Unauffällig, geräuschlos, wie ein Indianer; eins mit der Natur.

Als ich die Stelle erreicht hatte, die ich ausgewählt hatte, brauchte ich nur noch zu warten. Tief geduckt saß ich im Gebüsch. Tarnanzug aus dem Internet, Tarnfarbe im Gesicht, in der Hand ein Brecheisen.

Ich ließ meine Gedanken zurückschweifen. Der Idiot hatte behauptet, ich sei nicht in der Lage, mich in die Befehlsstrukturen einzufügen. Für Afghanistan ungeeignet. Schwachsinn! Ich wollte mich auszeichnen, zeigen, was in mir steckte. Aber er hatte es verhindert. Es war meine letzte Chance beim Bund gewesen, wirklich Großes zu vollbringen. Meine Frau und die Kinder wären stolz auf mich gewesen. Ich hatte die Auszeichnungen schon vor mir gesehen, die ich wegen großer Tapferkeit bekommen würde. Aber dieser Idiot hatte meine Meldung nach Afghanistan nicht befürwortet. Hatte mein Gesuch einfach abgelehnt. Deshalb wurde nichts daraus. Und er ist schuld. Mir kam die kalte Wut.

Ich hätte damals schon kurzen Prozess mit ihm machen sollen. Aber da fehlte mir noch der Mut. Jetzt hatte ich ihn. Jetzt kommt der Tag der Abrechnung. Dieser Gedanke beherrschte mich im Gebüsch. Regungslos blieb ich hocken. Angestrengt horchte ich in die Richtung, aus der der Idiot mit seinem Dackel kommen musste. Nichts! Noch nichts!

Nach der Bundeswehr, nach 12 Jahren, war es schwer gewesen, eine vernünftige Arbeit zu finden. Auch daran war der Idiot schuld. Dabei verstehe ich etwas von Menschenführung. Das hatte ich beim Bund gelernt. Damit kann man doch etwas anfangen, auch wenn ich keinen zivilen Beruf erlernt habe. Am Ende Hilfsarbeiter auf dem Bau, bei der Westfalen-Bau GmbH.

Ein paar Jahre war alles gut gewesen. Es gab es viele Gelegenheiten für mich, sich hervorzutun. Aber dann wurde ich zum Chef bestellt. Ich hätte meinen Vorgesetzten, den Polier Dieter Rabe, missachtet und eigenmächtig gehandelt. Deshalb sei dem Unternehmen finanzieller Schaden entstanden. Wie kann ein Mensch nur soviel Unsinn reden? Der Polier war ein riesen Arschloch. Wie ein dummer Junge war ich zum Chef zitiert worden. Der war auch ein Arschloch! Und dann hat mich der Polier regelrecht vom Hof gejagt.

Seitdem war ich arbeitslos, Hartz IV, und meine Frau, die dusselige Kuh, ist natürlich abgehauen. Klar, nun wo die Kohle nicht mehr stimmte. Aber das Schlimmste: Sie hat auch die Kinder mitgenommen. Dabei lieben die ihren Vater. Ich könnte ihnen so viel auf dem Weg mitgeben, mit meiner Lebenserfahrung und meinen Kenntnissen. Aber meine Frau hatte nur hämisch gegrinst. „Was du deinen Kindern wohl mitgeben willst“, hatte sie geantwortet. „Du elender Versager!“ Versager! Versager! Versager!

Tief hatte sich das Wort in mein Gehirn eingegraben. Spuren hatte es hinterlassen. Mit dem Wort ging ich abends ins Bett. Mit dem Wort stand ich nächsten Morgen auf. Doch dann verwandelte es sich. Aus „Versager“ wurde „Rache“! Immer mehr drängte sich das Wort Rache in den Vordergrund. Immer mehr verdrängte es das Wort Versager in den Hintergrund. Da hatte ich gewusst: Jetzt ist Schluss! Der Versager musste endgültig Vergangenheit sein. Niemals wieder sollte irgendjemand mich so nennen. Jetzt würde ich das Heft in die Hand nehmen. Und mit Major Klapproth, dem Idioten, würde ich beginnen.

Voller Anspannung verging die Zeit im Gebüsch wie im Fluge. Nach 10 Minuten näherte sich Klapproth mit seinem Dackel genau meinem Versteck. Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert. Dieser Satz aus einer alten Fernsehserie fiel mir ein. Das Eisen der Brechstange in meinen Händen fühlte sich kühl und gut an. Es gab mir Kraft. Jetzt war der Ex-Major auf meiner Höhe. Natürlich bemerkte er wieder nichts. Mit zwei schnellen Sprüngen war ich hinter ihm. Ein schneller Schlag mit der Brechstange und er sackte zusammen. Der zweite Schlag galt dem Dackel, der laut aufjaulte. Zwei weitere Schläge und die Töle war ruhig. Jetzt begann der Idiot sich wieder zu rühren. Ich sprang ihn von hinten an, riss seine Arme zurück und band sie mit Kabelbinder zusammen. Er fing an zu schreien. Das konnte ich nicht zulassen.

„Verdammt, bleib ruhig! Halt die Klappe!“, zischte ich.

Auf seinem Rücken sitzend holte ich Paketklebeband aus meiner Jackentasche und verklebte ihm damit den Mund. Mit riesigen, angsterfüllten Augen sah der mich an, und dann erkannte er mich.

„Ja, ich bin’s, Feldwebel Hensel. Sie erinnern sich, Major Klapproth?“

Klapproth versuchte irgendetwas zu sagen, was aber wegen des Paketklebebandes misslang. Nur ein Stöhnen war zu hören. Er gab eine jämmerliche Figur ab, genauso jämmerlich, wie er immer schon gewesen war.

„Hör auf zu wimmern, du Idiot“, fuhr ich ihn an. „Heute ist er gekommen, der Tag der Abrechnung. Aber bild’ dir bloß nichts ein. Du bist nicht der Einzige, nur der Erste. Hast du gut geschlafen, als du mir mein Leben kaputt gemacht hast? Hat dir das was ausgemacht? Nein! – Warum auch? Du hast ja nur deine Pflicht getan; hast die Beurteilung diktiert und den Rest haben deine Leute erledigt, Vennjakob z.B., dein ewiger Schatten. Und dann bist du zu deiner Frau gegangen und hast dir ein feines Abendessen schmecken lassen. Was gab es denn? Schweinebraten und dazu ein schönes Pils? Wie es mir danach ging, war dir völlig egal. Ich konnte ja verrecken. Hauptsache, du konntest deinen Wanst pflegen. Aber jetzt ist Schluss. Jetzt zahle ich es euch heim, euch allen.“

Noch fester als zuvor umschloss ich mit meinen Händen das Stemmeisen. Noch härter als zuvor schlug ich zu. Einmal, zweimal, dreimal. Ich hörte auf zu zählen. Irgendwann ließ meine Kraft nach und ich ließ von Klapproth ab. Seine Augen sahen starr und trüb zu den Spitzen der Kiefern ringsum. Sein Hinterkopf war tief zertrümmert. Alles war rot.

Ich stand auf. Keuchend rang ich nach Luft. Für diesen Moment fühlte ich eine tiefe Beruhigung, ja Genugtuung. Allerdings: Das war erst der Anfang. Ich hatte noch eine weite Strecke vor mir. Aber eins nach dem anderen. Jetzt musste ich erst einmal die Leiche wegräumen.

Den Ort meiner Rache hatte ich in jeder Hinsicht gut gewählt. Keine 50 Meter weiter gab es einen kleinen Wanderparkplatz. Tagsüber und an Wochenenden war er gut besucht. Jetzt aber im Dunkeln, am späten Abend, war er vollkommen leer. Auch Jogger brauchte ich um diese Tageszeit nicht mehr zu fürchten. In den Tagen zuvor, als ich Klapproths Runden mit dem Hund ausspionierte, hatte ich nie auch nur den Hauch eines anderen Menschen entdeckt. ‚Ganz schön mutig, Herr Major, so einsam deine Runden zu drehen’, dachte ich. ‚Aber nein, nicht mutig, idiotisch. Genauso idiotisch, wie es eines Idioten wie Klapproth würdig ist.’ Bei diesem Gedanken hatte ich eine Eingebung. Ich stand auf, nahm Haltung an und salutierte vor meinem toten Ex-Vorgesetzten. Fast hätte ich dabei laut aufgelacht.

Die Leiche musste weggeschafft werden. Ich hatte mit ihr schließlich noch etwas vor. Zuerst warf ich den Hund weit hinein in ein Dornengestrüpp. Dann bückte ich mich, griff die Leiche des Majors bei den Füßen und zerrte sie Richtung Wanderparkplatz. Dort hatte ich mein Auto abgestellt. Alt war das Auto und schon ziemlich ramponiert, aber es hatte einen Kofferraum, der groß genug für die Leiche war. Am Wagen angekommen, holte ich mehrere besonders stabile Müllsäcke aus dem Auto und verstaute den leblosen Körper darin. Dann hievte ich ihn in den Kofferraum und schloss den Deckel. Nun war es Zeit, sich um mich selbst zu kümmern. Ich zog meine blutverschmierte Tarnkleidung aus, reinigte Hände und Gesicht und zog schließlich die frischen Sachen an, die ich ebenfalls zu Hause ins Auto gelegt hatte. Auf der Fahrt nach Herford durfte ich auf keinen Fall irgendwie auffallen. Dann setzte ich mich hinter das Lenkrad, startete den Motor und fuhr los, ohne Licht und ohne den Motor unnötig aufheulen zu lassen.

Niemand hatte mich gesehen, als ich nach wenigen Minuten die B 68 erreichte, um Richtung Sennestadt zur Autobahn zu fahren. Eine Ampel kurz vor der Autobahn schaltete auf rot. ‚Die Blut- und Schleifspuren, hätte ich die nicht ordentlicher beseitigen müssen?’, dachte ich. Sie waren gut zu sehen gewesen, aber ich hatte mir Mühe bei ihrer Beseitigung gegeben. Die Bullen sollten schließlich nicht alles zu schnell entdecken, wenn die Frau des Idioten Alarm schlägt, weil er nicht nach Hause gekommen ist. „Scheiß’ was drauf!“, rief ich. „Ihr Scheiß-Bullen, ihr kriegt mich sowieso nicht. Ich gehe viel zu sorgfältig vor für euch!“ Dann wurde die Ampel grün und ich fuhr weiter.

Kurze Zeit später hatte ich die Anschlussstelle Bielefeld-Sennestadt der A 2 erreicht. Richtung Hannover fuhr ich auf. Der alte Opel musste erkennbar schnaufen, als ich den Bielefelder Berg hinauffuhr. Aber mehr als 100 wollte ich ohnehin nicht fahren. Gleich hinter der Bergkuppe war Deutschlands einträglichste Radarfalle installiert. Dort bloß nicht geblitzt werden. Die Stadt Bielefeld musste extra mehr als ein Dutzend neue Mitarbeiter einstellen, um die Anzeigenflut zu bewältigen. Das hatte ich in der Zeitung gelesen. Aber es war ein einträgliches Geschäft für die Stadt. Millionen wurden so in den maroden Haushalt gespült.

Der Verkehr auf der A 2 war auch um diese Tageszeit noch dicht. Besonders die Lkw fuhren in langen Kolonnen auf dem rechten der drei Fahrstreifen. Viele osteuropäische Lastwagen waren darunter. Im Volksmund hieß die A 2 deshalb auch „Warschauer Allee“.

Nach 20 Minuten verließ ich die Autobahn wieder an der Anschlussstelle Herford-Bad Salzuflen. Auf der seit einigen Jahren vierspurig ausgebauten Ringstraße, der B 239, fuhr ich bis zur Enger Straße. Dort wandte ich mich Richtung Innenstadt, um kurz vor dem Bahnhof über die Bünder Straße mein Ziel in der Uhlandstraße zu erreichen. Vor der Realschule hielt ich an.

20 Jahre war es nun schon her, dass ich diese Schule als Schüler zum letzten Mal betreten hatte. Danach hatten die mich hier nie wieder gesehen. Auch zu Klassentreffen war ich nie gegangen. Mit diesen Arschgeigen wollte ich nichts mehr zu tun haben. Aber nun war ich zurück, und meine Abrechnung würde weitergehen. Aber noch hielt ich nur kurz vor dem Schulgebäude an. Mit einem Blick auf die Uhr sah ich, dass es noch deutlich vor Mitternacht war. Viel zu früh. Ich fuhr weiter, so unauffällig es ging. Erst am Morgen gegen drei wollte ich wieder kommen.

Es war stockdunkel, als ich gegen drei Uhr zurück war. Nachdem ich mit dem Major abgerechnet hatte, würde ich jetzt ein Zeichen für die Öffentlichkeit setzen. Ein Fanal würde es sein, ein flammendes, ein loderndes. Endlich würde ich auf mich aufmerksam machen, und niemand würde dies Zeichen mehr übersehen können.

Es war nicht leicht, den leblosen Körper und den schweren Benzinkanister unbemerkt hinter das Gebäude zu zerren. Aber es gelang mir. Niemand hatte etwas bemerkt, da war ich mir ganz sicher. Wenn ich mich ausschließlich auf mich selbst zu verlassen brauche, gelingt mir immer, was ich will.

Über die Größe des Benzinkanisters hatte ich eine Weile nachgedacht. Zunächst wollte ich einen kleineren, handlicheren Kanister nehmen. Aber nur fünf Liter Benzin erschienen mir unangemessen wenig, um meiner Wut Ausdruck zu geben. So fiel die Entscheidung auf 20 Liter. An der Tankstelle hatte das niemanden interessiert. Ich war gar nicht aufgefallen. Ich fiel nie auf. Nur nicht auffallen. Wer auffällt, bekommt Ärger. Ich hatte gelernt nicht aufzufallen. In aller Seelenruhe konnte ich deshalb den großen Kanister mit Benzin füllen. Dann hatte ich ihn in den Wagen gehoben. Er war tatsächlich recht schwer. Aber die Vorfreude auf das bevorstehende Ereignis verlieh mir ungeahnte Kraft.

Diese Kraft verspürte ich auch jetzt wieder. Ich hatte alles sehr genau geplant. Es sollte nichts schiefgehen. Ich wusste, wo ich am besten in das Gebäude einsteigen konnte.Ich wusste auch, wo das Feuer am meisten Nahrung bekommen würde. Es sollte brennen wie ein Scheiterhaufen. Ein Scheiterhaufen für einen Teufel, ein Scheiterhaufen für den Idioten.

Das Fenster des Schulbüros lag auf der Rückseite. Ich nahm den Glasschneider aus der Tasche, den ich mitgebracht hatte—, auch da hatte ich mich gut vorbereitet. Ich habe ihn absichtlich nicht in einem Baumarkt in Herford gekauft, sondern bin nach Bielefeld gefahren. Sie sollten mir nicht zu schnell auf die Schliche kommen. So einfach machte ich es ihnen nicht. In diesem Spiel war ich es, der das Tempo vorgab. Ich mache stets den ersten Zug.

Die Geschichte vom Hasen und dem Igel ging mir wieder einmal durch den Kopf. In der Geschichte, die ich nun mit Feuer zu schreiben begann, wollte ich der Igel sein. Ich würde es sein, der triumphierend rufen würde: „Ick bin all doar!“ Lange genug war ich der dämliche Hase gewesen, der am Ende vom Igel und seinem blöden Weib genarrt wurde. Jetzt würde es anders herumgehen. Jetzt würde ich die anderen narren. Die sollen sich ruhig abhetzen, um mir zu folgen. Am Ende werde ich immer einen Schritt voraus sein. Dann werde ich rufen, ach was, ich werde schreien: „Ick bin all doar!“ Ich werde immer schon da sein, und sie werden es sein, die dumm aus der Wäsche gucken. Und je dümmer sie gucken, desto größer wird meine Freude sein. Ich werde genauso hämisch grinsen, wie sie immer gegrinst haben.

Dann setzte ich den Glasschneider an. Damals als Schüler fand ich quietschende Geräusche immer furchtbar. Ich musste mir die Ohren zuhalten, auch wenn ich es nicht wollte. Ich konnte kaum etwas dagegen machen, auch wenn ich mich anstrengte. Meine Mitschüler hatten das gewusst und sich über mich lustig gemacht. Hatten mich provoziert. Hatten mich bloßgestellt. An diesem Tag aber war das leichte quietschende Geräusch des Glasschneiders Musik in meinen Ohren, ein Geräusch der Genugtuung.

Alles klappte wie geplant. Durch die kleine entstandene Öffnung in der Scheibe konnte ich den Fenstergriff erreichen. Ich öffnete das Fenster und kletterte hindurch.

Als Erstes versuchte ich die Leiche ebenfalls durch das Fenster zu ziehen. Aber so sehr ich mich auch abmühte, es gelang mir nicht. Der Idiot war zu schwer. ‚Hat er wenigstens geschmeckt, der Schweinebraten’, zischte ich hämisch. Ich musste meinen Plan ändern. Ich musste noch einmal zurück zum Wagen, um das Stemmeisen zu holen. Damit würde ich eine Seitentür aufbrechen. Das war nicht gut, aber unumgänglich. So gelang es mir, den Leichensack nach innen zu schaffen. Nach einer Viertelstunde war es geschafft. Ich war so leise wie möglich gewesen, aber dennoch waren gewisse Geräusche nicht zu vermeiden. Deshalb war der Plan mit dem Glasschneider entstanden. Eine Weile wartete ich, ob sich irgendetwas in den Nachbarhäusern tat. Aber es blieb alles ruhig und ich setzte meinen Weg fort. Innen war es noch dunkler als draußen. Aber ich brauchte kein Licht. Ich wusste genau, wo ich war. Das Schulbüro fand ich ohne Umwege. Ja, ich erinnerte mich ganz genau. Auch innen hatte ich die Schule schon vor Wochen inspiziert. Ich hatte einfach gesagt, ich wolle meinen Sohn anmelden. Im Übrigen hatte sich im Inneren zu meinem Erstaunen viel weniger verändert, als ich gedacht hatte. Nachdem ich mir mit dem Stemmeisen zum Büro Zugang verschafft hatte – ich musste ja nun, anders als im ursprünglichen Plan, vom Flur aus eindringen —, begann ich unverzüglich das Benzin auszugießen. Die Schreibtische, der Tresen – es fühlte sich an wie eine Zeitreise.

Vor dem Tresen hatte ich einmal lange warten müssen. Ich wollte mich beim Schulleiter beschweren über meine Mitschüler, die mich einmal mehr gehänselt hatten. Sogar Ohrfeigen musste ich einstecken, vor allen, vor der ganzen Klasse. Alle hatten zugeschaut und gegrölt. Besonders die Mädchen. Vom Schulleiter hatte ich mir Hilfe erhofft. Bei jeder Gelegenheit hatte er behauptet, für jeden ein offenes Ohr zu haben. Das aber erwies sich als riesen Irrtum.

Jetzt drang ich auch in das Büro des Schulleiters ein. Gut, dass ich so viel Benzin mitgenommen hatte. So konnte ich auch hier genug davon verschütten. Die Leiche des Ex-Majors setzte ich auf den Bürostuhl des Direktors. Dort, genau auf dem Stuhl, hat er, der Direx, gesessen – sagen Schüler von heute immer noch „Direx“? — und mir mit väterlicher Miene erklärt, dass er mir nicht helfen könne. Dieser blöde Beamtenarsch! Es sei wichtig, dass ich selbstbewusster werde. Ich solle – wie hatte er doch noch gesagt? Ich solle sicherer auftreten. Wie denn, wenn mich schon beim Betreten der Klasse alle so dämlich angrinsten? Ich solle mir nicht mehr alles gefallen lassen, auch das hatte er mir noch auf den Weg mitgegeben. Und genau das setzte ich nun in die Tat um. Ich hatte beschlossen, mir nicht mehr alles gefallen zu lassen. Jetzt war Schluss! Endgültig! Es reichte!

Als ich aus dem Auto den Sack mit meiner blutverschmierten Tarnkleidung geholt hatte und durch das Fenster geworfen hatte, fiel mir ein, dass das Auto selbst dort nicht bleiben konnte, wenn die Schule brannte. Ich musste es ein paar Straßen weiter parken. Nach 15 Minuten war ich zurück. Jetzt allerdings schlich ich mich durch die Gärten auf der Rückseite der Schule an. Dort wollte ich mich danach auch verstecken, um die ganze Szenerie beobachten zu können. Schließlich wollte ich selbst auch etwas von dem Fanal haben, das sich hier entzündete.

Dann kam der entscheidende Moment. Endlich! Diesen Augenblick zelebrierte ich noch einmal ausgiebig. Ich nahm ein Paket Streichhölzer aus meiner Hosentasche, öffnete es und zog alle Hölzchen an ihren Köpfen heraus, sodass sie aus der Schachtel ein wenig herausragten. Dann stellte ich die Schachtel in den Fensterrahmen und nahm ein zweites Päckchen heraus. Daran entzündete ich ein einzelnes Streichholz. Ich betrachtete es eine Weile, als es entflammte. ‚Du bist auserwählt’, das war der Gedanke, der mir dabei kam. Ein kleines Streichholz, aber mit einer großen Aufgabe. Ich betrachtete es mit liebevollen Augen. Als es die gebündelten Streichhölzer in der Schachtel mit einem Rauschen und Zischen entflammte, war auch das wieder Musik in meinen Ohren. Dann gab ich dem brennenden Päckchen einen leichten Stoß, es fiel nach innen und setzte das Benzin mit einem wunderbaren Fauchen in Brand. In Sekunden stand der gesamte Raum in Flammen. Jetzt musste ich mich rasch entfernen, denn die Brandmelder würden sicher unverzüglich Alarm schlagen, und in wenigen Minuten würde die Feuerwehr zur Stelle sein und sicher auch die Polizei. Schnell, aber dennoch bemüht nicht aufzufallen, zog ich mich in die rückwärtigen Gärten zurück. Dort versteckte ich mich und wartete ab, was nun passieren würde. Nach einiger Zeit gab es eine Explosion. Die Fenster splitterten heraus. ‚Jetzt ist der Kanister, den ich im Schulbüro gelassen habe, explodiert’, dachte ich. Auch hier war ich klug vorgegangen. Wenn ich den Kanister im Zimmer des Direktors gelassen hätte, wäre von dem Idioten von Major auf dem Direktorenstuhl vielleicht gar nichts mehr übrig geblieben. Das sollte aber nicht passieren. Ich wollte ihnen eine Chance geben, den Kerl zu identifizieren. Sie sollten herausfinden, wer es war und warum er sterben musste.

Dann hörte ich die Sirenen der Feuerwehr. ‚Schade’, dachte ich, ‚sie sind doch etwas schnell, jetzt, wo es so schön brennt.’

Sein erster Arbeitstag in Bielefeld. Frank Sommer stand an diesem Donnerstag vor dem Polizeipräsidium, einem roten Klinkerbau im Bielefelder Westen, und blickte sich um. Etwas weiter die Uni, zurück Richtung Innenstadt Bürgerpark und Oetker-Halle, eine Konzerthalle aus den zwanziger Jahren, und natürlich die Alm, die nun schon einige Jahre offiziell Schüco-Arena hieß. ‚Fußball-technisch gesehen habe ich mich nicht gerade verbessert’, dachte er.

Ein großer Fan des FC war er in Köln zwar nie gewesen. Aber eben erste Liga. Die Großen der Branche waren zu Besuch. Auch der FC hatte seine Durststrecken. Aber ein dermaßen desaströser Niedergang, wie er in Bielefeld in der letzten Zeit zu verzeichnen war, sucht in der bundesdeutschen Fußballgeschichte schon seinesgleichen. Vor drei Jahren noch erste Liga. Dann zweite. Und nun, nach einer absolut elenden Saison, dritte Liga. Und auch da die ersten Spiele schon wieder verloren: Heimatland!

Denk ich an Arminia in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht. Bei Fußball in Bielefeld kam ihm immer Heinrich Heine in den Sinn.

Schluss jetzt mit diesen melancholischen Überlegungen. Vor ihm lag ein neues Arbeitsfeld. Ein neues Gebäude, eine neue Tür. Und diese neue Tür galt es nun zu durchschreiten.

Vorbei an einem merkwürdigen Kreis aus unansehnlichen Betonquadern mit der Aufschrift „A beobachtet B, B beobachtet C usw.“ schritt Sommer auf das gläserne Eingangsportal zu. In der Tür hielt er eine Sekunde inne, um den Zauber des Momentes wirken zu lassen, dann wandte er sich der Kollegin am Empfang zu.

„Guten Morgen. Mein Name ist Sommer. Wir kennen uns noch nicht. Ich bin der neue Leiter der Mordkommission.“

„Ach, Sie sind das“, erwiderte die resolute Dame in der neuen blauen Uniform der nordrhein-westfälischen Polizei. „Ich bin Inge, Inge Dammeier. Schön, Sie kennenzulernen. Kennen Sie sich schon hier aus? Ihr neuer Chef, Kriminaldirektor Wende, erwartet Sie schon. Sie sollen gleich mal zu ihm kommen. Zimmer 210. Zweiter Stock direkt rechts gegenüber vom Fahrstuhl. Sie können einfach so reingehen. Er freut sich auf Sie.“

„Danke“, sagte Sommer und wandte sich zur Treppe.

„Der Fahrstuhl ist dort rechts“, rief Inge Dammeier ihm hinterher.

„Ja, danke“, rief Sommer zurück, „ich hab mir angewöhnt, wenn möglich, immer die Treppe zu nehmen. Je schöner die Treppe, desto größer die Freude auf das Kotelett.“ Dabei strich er sich leicht über seinen im Ansatz schon deutlich erkennbaren Bauch. Inge Dammeier lachte. ‚Nicht unsympathisch’, dachte sie.

Im zweiten Stock war das Zimmer 210 schnell gefunden. ‚Kriminaldirektor Joachim Wende’, dachte Sommer. ‚Hoffentlich wendet er nicht so oft seine Meinung wie der Name annehmen lässt.’ Andererseits, Prinzipienreiter auf dem Sessel eines Vorgesetzten waren nun auch nicht das Wahre. Nach einem kurzen Klopfen ging er sofort hinein.

Hinter der Tür erblickte Sommer einen typischen Büroraum, wie er bei der Polizei für leitende Mitarbeiter vorgesehen war. Nüchtern und zweckmäßig. Allerdings: Blick nach vorn, Richtung Bürgerpark und Oetker-Halle. Schöne Aussicht.

Hinter dem Schreibtisch erhob sich, sofort als er Frank Sommer sah, sein neuer Chef. Hochgewachsen, schlank, ja eigentlich hager.

„Herr Sommer“, sagte er. „Schön, dass Sie da sind.“

Wende und Sommer waren nicht die Einzigen in diesem Raum. Vier weitere Personen blickten ihn erwartungsfroh an.

Bevor er irgendetwas tun oder sagen konnte, fuhr Wende fort.

„Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist der neue Leiter des K11, der erste Kriminalhauptkommissar Frank Sommer.“ Und an Sommer gerichtet fuhr er fort: „Wie geht es Ihnen? Wie fühlt man sich am ersten Tag am neuen Wirkungskreis? Von Köln nach Bielefeld!? Na ja, ganz unbekannt ist Ihnen Ostwestfalen ja nicht. Sie stammen ja von hier und Ihre Frau auch, wie ich höre. Wie lange waren Sie jetzt weg?“ Wende sprach das Wort „weg“ ganz in ostwestfälischer Manier aus, d.h. hinten mit quasi betontem „ch“!

„Jau, stimmt“, sagte Sommer. „Ich bin von hier wech.“ Absichtlich formulierte auch er ostwestfälisch. „Gebürtig bin ich aus Herford, meine Frau aus Bielefeld. Jetzt wohnen wir in Großdornberg, nur einen Katzensprung von hier. Wir hatten Glück und konnten ein schönes Haus kaufen mit Blick auf Wiesen und Felder in der Nähe des Freibades.“

„Na dann iss ja alles klar“, hörte er hinter sich murmeln. Aber er wusste nicht zu sagen, ob das nett oder gering schätzend gemeint war. Sommer entschied sich dafür, dass es nett gemeint sei. Das so zu sehen, entsprach eher seinem Naturell.

„Darf ich Ihnen Ihre wichtigsten Mitarbeiter vorstellen“, sagte der neue Chef. „Mit diesen vier Damen und Herren werden Sie es in Zukunft am meisten zu tun haben. Und die mit Ihnen“, fügte er lachend hinzu. „Peter Schwameyer, Anna Tomczyk, Sonja Rosenfeld und Karsten Linnemann.“

Als Sommer die Runde machte und jedem die Hand gab, hatte er die Gelegenheit, seine neuen Kolleginnen und Kollegen etwas in Augenschein zu nehmen. Der größte im Raum war offenbar auch einer der jüngsten, Karsten Linnemann. Schlank, sportlich, Jeans und Hemd über der Hose. Die beiden Kolleginnen Rosenfeld und Tomczyk waren recht verschieden. Sonja Rosenfeld, die jüngere, vielleicht Mitte dreißig, trug ein leichtes Sommerkleid in modischen Farben, dazu offene Sandalen mit flachem Absatz. Anna Tomczyk, etwas älter als ihre Kollegin, ein modisches T-Shirt und dazu enge Jeans und Schuhe, deren Absätze doch eher eine Spur zu hoch waren. Sie sprach mit einem leichten, aber erkennbaren polnischen Akzent.

„Bin mit meinen Eltern aus Breslau gekommen. Das heißt natürlich schon lange Wrocław, aber ihr Geburtsdeutsche könnt das sowieso nicht richtig aussprechen. Also herzlich willkommen.“

Peter Schwameyer, Hauptkommissar und damit Sommer im Rang am nächsten, sah genauso aus, wie man sich einen Zivilpolizisten wohl gemeinhin vorstellt. Mittelgroß, zur Körperfülle neigend, ohne allerdings fett zu sein, Jeans, braune, leichte Sommerschuhe, kurzärmeliges Polohemd. Sommer selbst sah, das musste er sich eingestehen, ganz ähnlich aus, auch wenn er vielleicht etwas größer war als Schwameyer und dafür sein Bauch etwas deutlicher hervortrat. An seinen Füßen Schuhe von Timberland und über der Jeans ein Sporthemd von Jack Wolfskin. Allerdings war er der einzige Brillenträger im Raum. Schon in der Grundschule war ein leichter Sehfehler aufgefallen und er bekam deshalb seine erste Brille, um, wie seine Mutter betonte, besser von der Tafel abschreiben zu können. Dieser Umstand brachte ihm später bei der Führerscheinprüfung und dann noch einmal bei der Aufnahme in den Polizeidienst eine paar Schwierigkeiten, die aber schließlich überstanden werden konnten. Ein wenig belustigt erinnerte er sich gelegentlich an den Sehtest vor der Führerscheinprüfung. Der Prüfer hatte ihn ausdrücklich aufgefordert, seine Brille für den Sehtest abzunehmen, woraufhin er fast grinsend geantwortet hatte: „Dann kann ich aber nicht viel sehen.“ Der Prüfer bestand aber auf dem Sehtest ohne Brille. Natürlich war das Ergebnis wie erwartet.

„Links 70 % und rechts 80 % Sehkraft. Das ist zu wenig. Damit dürfen Sie nicht Auto fahren. Sie brauchen eine Brille“, bemerkte der Prüfer mit sorgenvoller Miene. Nun hätte Sommer fast laut losgelacht. Aber er konnte sich gerade noch beherrschen und sagte stattdessen trocken: „Stimmt genau und deshalb nenne ich diese Brille mein eigen.“ Mit diesen Worten hatte Sommer sich sein Spekuliereisen wieder auf die Nase geschoben.

„Ja, das muss dann aber in den Führerschein eingetragen werden.“

„Kein Problem, tun Sie, was notwendig ist.“

Im Führerschein stand dann später der amtliche Vermerk: „Geeignete Augengläser sind zu tragen.“

„Auf gute Zusammenarbeit.“ Wende riss Sommer aus seinen Gedanken. „Übrigens, auf den Namen „Peter“ hört der Herr Schwameyer nicht.“

„Stimmt“, sagte dieser. „Hier nennen mich alle nur ‚Pit’.“

„Ja, schön, dass wir uns alle so gut verstehen“, meinte Wende. „Dann können wir uns ja an die Arbeit begeben. Die Kollegen Schwameyer und Tomczyk werden Sie in die laufenden Fälle einweisen. Kommen Sie erst mal richtig an. – Ach ja, fast hätte ich es vergessen. Ihr Dienstausweis, damit auch alle wissen, dass Sie zu uns gehören.“

Mit einer schwungvollen Bewegung übergab er den Ausweis im Scheckkarten-Format.

„Und Ihre Ernennungsurkunde zum Ersten Kriminalhauptkommissar.“

Wende las die Urkunde vor und übergab auch diese mit einer schwungvollen Bewegung.

„Ihre Dienstwaffe erhalten Sie im Kellergeschoss. Ihre Kollegen werden es Ihnen zeigen. Und nächsten Dienstag, also am“ – er schaute auf seinen Tischkalender – „am 6. September ist Schießtraining; immer am ersten Dienstag im Monat; Uhrzeit? – ach sagt Schwameyer Ihnen. Na dann, an die Arbeit“

Mit einer diesmal kleinen aber dennoch deutlichen Handbewegung entließ er die Gruppe, die sich daraufhin unverzüglich in Bewegung setzte. ‚Ein Meister der Handbewegungen’, dachte Sommer und verließ mit den anderen den Raum.

Auf dem Flur verwies Schwameyer nach rechts. „Unsere Abteilung hat ihre Zimmer im Nordflügel“, sagte er. „Zimmer 216, 17 und 18. Sie haben 216, Anna und – äh – Frau Tomczyk und ich 217, Rosenfeld und Linnemann 218. Aber am besten gehen wir in Ihr Büro. Dort gibt es auch eine kleine Konferenzecke für Besprechungen unter uns.“ Schwameyer öffnete die Tür zu 216, ließ aber seinem neuen Chef den Vortritt. Ein weiteres mehr funktionales als schönes Zimmer lag vor ihnen. Auch die Konferenzecke war dem allgemeinen Funktionalismus angepasst und stammte wie alle anderen Möbel sicher auch aus einem der auf Büroeinrichtungen spezialisierten Kataloge. Um einen eher kleinen Tisch waren vier freischwingende Stühle gruppiert, immerhin mit Armlehne und einem dünnen Sitzpolster. Ein fünfter Stuhl, aber ohne Armlehne, stand vor dem Schreibtisch und dahinter ein durchschnittlicher Dreh-Kippstuhl, wie er wohl in tausenden von Büros stand. ‚Das ist also mein neues Reich’, dachte Sommer. ‚Mal sehen, ob man hier eine kleine persönliche Note hineinbringen kann. Aber was soll’s, hier geht’s ums Arbeiten. Umso schöner ist es dann zu Hause.’

So wie sie es offenbar gewohnt waren, setzten sich alle vier auf die Stühle mit Lehne um den kleinen Tisch. Für Sommer blieb entweder der Stuhl ohne Lehne oder sein Schreibtischsessel. Sonja Rosenfeld bemerkte die Situation zuerst.

„Entschuldigung“, sagte sie. „Ihr Vorgänger saß bei solchen Besprechungen immer hinter seinem Schreibtisch.“

„Schon o.k.“, gab Sommer zurück. Ich kann mir den Sessel ja hinter dem Schreibtisch hervorziehen.“

Das erwies sich aufgrund der Enge im Raum allerdings als schwierig, weshalb er sich dann doch auf den Stuhl ohne Lehne setzte.

„Na dann woll’n wir mal“, sagte Sommer. „Aber bevor wir anfangen. Gibt es hier irgendwo Kaffee?“

„Ja, draußen steht ein Automat.“

„Oh, ja. Ist jemand vielleicht so freundlich und holt Kaffee für alle? Natürlich auf meine Rechnung.“

Automatisch und wie eingeübt schauten seine Kollegen auf Karsten Linnemann.

‚Aha’, dachte Sommer, ‚damit wär die Hackordnung ja klar.’

Laut sagte er: „Ach, ich sehe schon. Fünf Becher für zwei Hände. Das wird wohl schwierig. Herr Linnemann, was meinen Sie, ob wir das zusammen hinkriegen?“