Vom Ende der Welt zurück ins Leben - Rolf Düfelmeyer - E-Book

Vom Ende der Welt zurück ins Leben E-Book

Rolf Düfelmeyer

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Beschreibung

Der Ich-Erzähler Michael erleidet durch den Tod seiner Frau einen schweren Verlust. Er selbst verursacht einen Autounfall, bei dem Alexandra stirbt. Er war abgelenkt, weil sie unter Tränen von einem sexuellen Übergriff durch ihren Chef berichtete. Michael gibt sich die Schuld an ihrem Tod, weil er nicht konzentriert genug fuhr. Diese Selbstvorwürfe sind heftiger, als es die Menschen seiner Umgebung nachvollziehen können. Vorübergehend hilft es ihm, dass er beim Prozess gegen den Vergewaltiger als Nebenkläger auftritt. Aber auch die Verurteilung bringt nicht die erhoffte Genugtuung. Er verfällt endgültig in Depression. Michael begibt sich in Psychotherapie. Dort werden die Kriegstraumata seines Vaters Hermann thematisiert. Dessen Schuldgefühle, so die Vermutung, könnte der Sohn unbewusst zu seinen eigenen gemacht haben. Immer deutlicher wird Michael schließlich, wie sehr sein eigenes Empfinden mit dem des Vaters korreliert. Um ins Leben zurückzukommen, begibt er sich auf Spurensuche in Skandinavien. Diese Reise hatten Alexandra und Michael noch zusammen geplant. Nun kommt der unbedingte Wunsch hinzu, sich dem Leben des Vaters zu stellen, der in Norwegen Soldat war. Der nord-östlichsten Punkt seiner Reise an den Ufern des Jacobselvs in Nordnorwegen direkt an der Grenze zu Russland wird für Michael zum Wendepunkt seines Lebens. Entscheidend sind dabei auch die Menschen, mit denen er sich austauschen kann. Z.B. trifft er auf Leif, einen gleichaltrigen Norweger aus Kirkenes, dessen Vater im bewaffneten Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht stand, und Andreas, dessen Oma ein sog. Deutschenkind war, d.h. das Kind eines deutschen Soldaten und einer norwegischen Mutter. Am Ende wird die Rückkehr in seine Heimatstadt und zu seiner Familie eine Rückkehr ins Leben.

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Coverfoto: © Rolf Düfelmeyer

Lofoten bei Å / Norwegen

Rolf Düfelmeyer

Vom Ende der Welt zurück ins Leben

Roman

Rolf Düfelmeyer, Jahrgang 1953, pensionierter evangelischer Pfarrer und Religionslehrer, hat im Ruhestand die Lust am Schreiben entdeckt. Fünf Krimis, die in Ostwestfalen und auf Langeoog spielen hat er bereits veröffentlicht. Mit dem vorliegenden Buch betritt er ein neues Feld.

Er ist seit 1976 verheiratet mit Irmela Düfelmeyer. Zusammen haben sie zwei erwachsene Söhne, einer verheiratet, und freuen sich über zwei wunderbare Enkeltöchter.

www.rolf.duefelmeyer.de

© 2021 Rolf Düfelmeyer

ISBN Softcover: 978-3-347-37168-2

ISBN Hardcover: 978-3-347-37169-9

ISBN E-Book: 978-3-347-37170-5

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

„Vergeh dich ruhig, vergeh dich an dir selbst und tu dir Gewalt an, meine Seele; doch später wirst du nicht mehr Zeit haben, dich zu achten und zu respektieren. Denn ein Leben, ein einziges, hat jeder. Es ist aber für dich fast abgelaufen, und du hast in ihm keine Rücksicht auf dich selbst genommen, sondern hast getan, als ginge es bei deinem Glück um die anderen Seelen … Diejenigen aber, die die Regungen der Seele nicht aufmerksam verfolgen, sind zwangsläufig unglücklich.“

Marc Aurel: Selbstbetrachtungen II/6 und 8

Philosoph und römischer Kaiser

121 – 180 n. Chr.

Das Ende meiner Welt

Kapitel 1

Es war November. Keine andere Jahreszeit entsprach dem, was auf mich zukam, deutlicher als dieser triste Nebelmonat. Und obwohl der fünfzehnte des Monats weniger grau und dunkel war, als viele Tage vorher, wurde er zum schwärzesten, den ich erleben musste.

Mit Verwunderung reagierte ich schon immer auf Menschen, die dem Spätherbst etwas Besonderes abgewinnen konnten. Ein Freund hatte mir eröffnet, diese Tage des zurückweichenden Lichtes seien für ihn der Inbegriff wohliger Melancholie. Er novembriere geradezu. Damit beschrieb er seine Gemütslage, wenn die Abende länger und die Wohnungen anheimelnder würden. Die Welt käme auf einzigartige Weise zur Ruhe. Nebelschwaden legten sich wie eine weiche Decke über die von einem geschäftigen Jahr müde gewordene Natur.

Für mich, Michael Brückner, waren solche Gedanken so fern wie die Nacht dem Tage. Die Zeit abnehmenden Sonnenlichtes war Leidenszeit. Das Grau des Novembers legte sich als dunkler Schleier auf meine Seele, so wie das Dunkel, das einen umfängt, wenn ein Zug in einen Tunnel einfährt, ohne dass ein Silberstreif am Ende zu erkennen wäre.

Das Leben hatte mich gelehrt, dass der November-Tunnel, in den ich alljährlich einfuhr, im darauffolgenden Monat an sein vorgegebenes Ende käme, spätestens aber mit den länger werdenden Tagen im neuen Jahr. Das war ein Trost, immerhin. Darin glichen meine herbstlichen Erfahrungen nicht denen des Vierundzwanzigjähren, Zigarre rauchenden Studenten, den Dürrenmatt mit dem Zug auf den Weg nach Zürich schickte, um anderentags ein Seminar zu besuchen, das zu schwänzen er schon entschlossen war. Nein, mein November-Tunnel war ein Tunnel mit Ausgang.

Allein dies Wissen tröstete mich Jahr für Jahr über diese Zeit hinweg.

Jedenfalls hatte ich das bis zu jenem verhängnisvollen Abend vor zwei Jahren geglaubt. Damals fuhr ich doch in einen Tunnel ein, der nicht enden wollte. Er erwies sich als länger, als meine Erfahrung mich bisher gelehrt hatte. Den von mir als tröstlich empfundenen Gesetzmäßigkeiten der Jahreszeiten lief er auf schmerzlichste Art zuwider. Auf das zurückweichende Licht folgte kein Aufschwung im neuen Jahr. Und wie der Vierundzwanzigjährige schien ich mich mit der erschreckenden Erkenntnis konfrontiert, dass es keinen Lokführer gab, der meinen in die Tiefe stürzenden Lebenstunnel hätte stoppen können.

Das alles wusste ich noch nicht, als am Mittag des fünfzehnten Novembers eine fahle Sonne von schnell fliegenden Wolken immer wieder verdeckt wurde. Wind war aufgekommen, der in der Nacht zu einem Sturm anwachsen sollte.

Mit Alexandra, seit mehr als dreißig Jahren die Frau meines Lebens, plante ich, am Abend, wie jedes Jahr, meinem Bruder zum Geburtstag zu gratulieren. Um sechs waren wir verabredet. Zwanzig Minuten Fahrt bis in den Nachbarort. Wie gewohnt klappten auch diesmal die Absprachen mit den Kollegen, obwohl ich als Lokalredakteur der heimischen Tageszeitung oft abends Termine wahrzunehmen hatte. Also: Im November nichts Neues!

Aber dann geschah das Unerwartete. Es krachte geradezu in mein Leben und das unserer Kinder, so nachhaltig, dass kein Stein auf dem anderen blieb.

Schon einige Zeit hatte Alex auf eine unbestimmte Art verändert gewirkt. Weniger lebensfroh, eher etwas bekümmert, in sich gekehrt. Besondere Beachtung hatte ich dem nicht geschenkt. Ein Fehler, wie sich herausstellte. Mein persönlicher Novemberblues ließ mich die offensichtlichen Zeichen nicht erkennen. Schließlich, am Morgen des verhängnisvollen Tages, wurde Alexandras Verschlossenheit auch für mich deutlich.

„Was ist los mit dir? Du wirkst so, ich weiß nicht, anders“, begann ich am Frühstückstisch das Gespräch. Aber ich war wohl nicht besonders geschickt. Jedenfalls schaute sie ohne eine Antwort zur Seite. Eine Sorgenfalte zwischen ihren Augen gab wortlos Auskunft über ihr Inneres. Vorsichtig legte ich meine Hand auf ihren Arm und wiederholte so liebevoll wie möglich die Frage.

„Was ist los? Ich sehe doch, dass du etwas hast.“

„NICHTS!“

Harsch, fast brutal sprach sie das Wort aus. Tief ins Mark traf mich ihre Antwort. Das irritierte und ärgerte mich. Lag es an mir? Hatte ich das Offensichtliche nicht bemerkt? Wollte ich es nicht wahrhaben? Der kalte Hauch eines Gefühls von Schuld streifte mich, ein Empfinden, das mich seitdem immer häufiger und immer stärker überfiel.

„Nun komm schon. Dir ist doch irgendeine Laus über die Leber gelaufen. Was meinst du, sollen wir das kleine Tierchen nicht zusammen einfangen?“ Ich erschrak, als ich sah, dass sich bei dem unbeholfenen Scherz die Falte auf ihrer Stirn noch tiefer eingrub. „Hat es mit mir zu tun?“, fragte ich irritiert und ängstlich zugleich. „Bin ich der Anlass für deine Stimmung?“

„Du doch nicht.“ Ein leichtes Lächeln huschte über ihre Lippen. Aber ihre Augen erreichte es nicht. „Es hat mit Selke zu tun. Der wird immer schwieriger.“

„Mit Selke – deinem Chef?“ Meine Überraschung ließ mich verstummen. Und das war gut so, denn nach einer kurzen Zeit des Schweigens begann sie mit dem herauszurücken, was sie bedrückte.

„Ach!“ Kaum merklich schüttelte sie den Kopf. „Das geht schon eine ganze Weile so. Der wird immer komischer, geradezu schmierig. Ich weiß gar nicht recht, wie ich das Gefühl beschreiben soll, wenn er in meine Nähe kommt. Ganz unangenehm. Es läuft mir, wie soll ich sagen, irgendwie kalt den den Rücken hinunter.“

„Und das geht dir schon länger so?“

Sie zuckte mit den Schultern.

Das alles hörte sich nicht gut an. Ich war Alex‘ Chef ein paarmal begegnet und sah den Typen vor mir. Trotz seines äußerlich tadellosen Anzuges strahlte er etwas Verschlagenes aus, nein, etwas Schmieriges, wie Alex es genannt hatte. Und dann der Name: Rainer-Maria Selke, ziemlich hochtrabend fand ich, zumindest der Vorname. Na ja, dachte ich, dafür kann er ja nicht.

Grotesk wurde es allerdings, als er mir auf einer Betriebsfeier ungefragt und deutlich angeheitert Auskunft darüber gab. Ein Grinsen konnte ich mir nur mit Mühe verkneifen.

„Meine Mutter“, führte er mit dem Bierglas in der Hand aus, „hat den Namen ausgesucht. Sie hatte einen fast schon komischen Hang zum Bildungsbürgertum, ohne wirklich dazuzugehören. Rainer-Maria – sie fand das bedeutend, weil mein Familienname mit etwas Fantasie an den Lyriker Rainer-Maria Rilke erinnere. Sie kennen ihn?“

Ich musste an mich halten bei dieser Frage, brauchte aber zum Glück nicht zu antworten, weil Selke von sich aus sofort weitersprach. „Und sie liebte es, auf den Dichter hinzuweisen, wenn sie nach der Namenswahl für mich gefragt wurde. Diese Gelegenheiten hat sie regelrecht zelebriert. Meistens fügte sie unmittelbar eine Gedichtzeile an: Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hintertausend Stäben keine Welt. Und mit einem verklärten Blick schaute sie dabei nach oben.“ Selke schüttelte sich unvermittelt und sein Bierglas schwappte verdächtig. „Erst später, in der Schule“, ergänzte er, „erfuhr ich, dass die Zeile aus dem Gedicht Der Panther stammt. Aber zu dem Zeitpunkt war der Spaß längst vorbei, das können Sie mir glauben. So ein halber Mädchenname! Manche Jungs konnten es sich nicht verkneifen, mich Mariechen zu rufen. Na ja, wenigstens bei den Frauen hat er nicht geschadet.“ Er lachte dumpf auf. „Bei denen hatte ich oft Schlag deswegen. Die fuhren darauf ab. Immerhin! Ist wohl tatsächlich so‘n Frauending, dieser Schöngeist-Name.“

„Na ja“, antwortete ich ziemlich genervt. „Wenigstens ist Selke als Nachname ausgleichend normal.“ Er lachte gekünstelt über den Scherz, wobei das Bier im Glas endgültig überschwappte. Aber in seinem Gesicht stand etwas anderes geschrieben. Sein Name, so schien es mir in diesem Moment, war eine offene Wunde. Ob seine Mitschüler wohl auch mit dem Nachnamen Unfug getrieben hatten und Selke – Nelke – verwelke oder noch Schlimmeres hinter ihm herriefen? Einen Augenblick tat er mir damals leid.

„So wie der mich anguckt – das ist nicht normal!“ Alexandras Worte holten mich in die Gegenwart zurück. Dann schwieg sie wieder. Stumm beendeten wir das Frühstück. Schließlich gingen wir unseren Tagesgeschäften nach. Alexandra fuhr ins Büro und ich in die Redaktion. Nur noch eine kurze Verabredung für den Abend. Um halb sechs wollten wir zu Wolfgangs Geburtstagsfeier aufbrechen. „Ich bin pünktlich“, versprach Alex, als sie das Haus verließ.

„Lass dich nicht unterkriegen!“, rief ihr noch nach. „Das ist der Kerl nicht wert.“

Kurz vor fünf am Nachmittag sah ich auf die Uhr. Draußen war es beinahe gänzlich dunkel geworden. Noch reichte die Zeit, damit wir um sechs bei Wolfgang eintrafen. Aber Alexandra würde sich noch frischmachen und etwas Passendes anziehen. Ich wurde unruhig. Um halb sechs ich hörte, wie sie unten ins Treppenhaus trat. Endlich! Kaum später schloss sie die Wohnungstür auf. Wir wohnten ganz oben. Nachdem die Kinder aus dem Haus waren, hatten wir unser Haus gegen eine Wohnung getauscht. Weniger Verantwortung, weniger Arbeit und trotzdem eine schöne Dachterrasse.

„Da bist du ja endlich“, empfing ich sie etwas zu heftig. „Pünktlich schaffen wir es nun nicht mehr.“ Sie legte ihre Stirn in Falten, erneut, wie schon am Morgen. Ich hielt den Mund. Ihre Stimmung hatte einen neuen Tiefpunkt erreicht, tiefer noch als in der Früh.

„Tut mir leid“, sagte sie schließlich. „Es ging nicht eher. War viel los heute. Du weißt, wie sehr ich Unpünktlichkeit hasse. Aber es war nicht meine Schuld. Ganz zum Schluss wollte Selke noch was von mir. Irgendeine vollkommen unwichtige Sache ohne jeden Zeitdruck. Die sollte aber trotzdem noch heute Abend erledigt werden.“ Sie unterbrach sich selbst und ließ mich stehen, um direkt ins Bad zu gehen. Als ich ihr folgte, stand sie vor dem Spiegel, schien aber nicht hineinzuschauen, sondern durch ihn hindurch.

„Alex, was ist passiert? Ich sehe es dir doch an, dass irgendetwas vorgefallen ist.“

Sie wendete das Gesicht zu mir und ich sah Tränen, die sie mit einer Bewegung, die wie zufällig aussehen sollte, wegzuwischen versuchte. Dann ging ein Ruck durch sie und mit bewusst fester Stimme antwortete sie: „Ich hab ihm sehr deutlich gesagt, dass das, was er wollte, ja wohl Zeit bis morgen hätte. Aber er hörte gar nicht zu. Stattdessen wünschte er meinen Kolleginnen einen schönen Abend, die dann eilig verschwanden. Die Situation war, wie soll ich sagen, irgendwie aufgeladen. Anzüglichkeiten kenne ich ja schon von ihm. Auch gegenüber den Kolleginnen. Aber heute war es … anders.“ Alexandras Stimme erstarb.

Erneut lief es mir kalt den Rücken hinunter. Was versuchte Alexandra mir da gerade mitzuteilen?

„Ich fühlte mich schrecklich unwohl“, fuhr sie nach einer Weile gefasst fort: „Ich wollte mich den anderen anschließen, weg aus dem Büro, weg aus seiner Nähe.“ Sie rang um Fassung. „Aber er versperrte mir den Weg. Stand wie beiläufig im Raum und verdeckte die Tür. Und dann stieß er sie mit einem Fuß zu. Dabei grinste er süffisant.“ Alex‘ Mimik verriet Ekel.

„Was hat er getan?“, fragte ich aufgeregt. Mir war mulmig zumute. Ich hatte das Gefühl, dass sie nun endlich mit der Sprache herausrücken würde.

„Er kam ganz nah und machte mir Komplimente. Jedenfalls denke ich, dass er glaubte, es seien tatsächlich gelungene Schmeicheleien. Aber es war nur eklig. Wie attraktiv ich doch aussehe, wesentlicher interessanter als alle anderen Frauen. Besonders auch als alle jüngeren, mit denen er nur wenig anfangen könne.“ Sie musste schlucken. „Und dann kam er noch näher heran und flüsterte mir ins Ohr, wie gut meine Figur doch heute in einem Kleid zur Wirkung käme.“ Sie verzog angewidert den Mund. „Du glaubst gar nicht, wie abstoßend das war. Ich roch sein ekliges Rasierwasser und seinen sauren Atem. Offenbar hatte er getrunken.“ Unvermittelt brach sie ab und hielt sich die Hand vor den Mund, als wolle sie verhindern, weiter zu sprechen.

Ich hörte mit wachsendem Entsetzen zu.

„Du musst ihn in seine Schranken verweisen“, raffte ich mich schließlich auf. „Unbedingt und nachhaltig.“ Ich wusste sofort, dass es falsch war, dies jetzt und dies so zu sagen.

„Was glaubst du denn, was ich alles versucht habe.“ Ihr Ton wurde lauter, sogar aggressiv. „Das war doch heute nicht das erste Mal. Zwei, drei Wochen geht das schon so und ich habe mich ihm entzogen, so gut es ging.“

„Ja natürlich. Natürlich hast du das.“

„Du nimmst mich nicht ernst!“

„Entschuldigung. Den Eindruck wollte ich nicht vermitteln. Dennoch musst du etwas unternehmen. Am besten mit deinen Kolleginnen zusammen. Schaltet einen Rechtsanwalt ein. Zeigt ihn an. Damit darf er nicht durchkommen.“

„Du kannst dir nicht vorstellen, wie fies das ist, wenn er immer näherkommt und ich sein fürchterliches Duftwässerchen rieche. Der Mann hält sich offenbar für unwiderstehlich.“ Angewidert verzog sie das Gesicht.

Ich sah Alexandra misstrauisch an. Mir schwante Böses. „War da mehr, als dass er die Tür hinter sich schloss und die anderen gegangen waren?“

Aber sie blieb stumm.

„Bitte, rede mit mir.“

„Lass mich! Ich muss mich fertig machen.“ Dann drehte sie sich um, als wollte sie gehen, zögerte aber doch.

Ich ärgerte mich. Sie verschwieg mir etwas. Sie rückte nicht mit der Sprache heraus. Es war offensichtlich, dass sie nicht die geringsten Absichten hatte, den Avancen ihres Arbeitgebers nachzugeben. Aber genauso deutlich war, dass ihr die Sache nicht leichtfiel. Ich spürte, dass es ernst war.

„Du wirst das Problem nicht los, wenn du es verdrängst“, versuchte ich es erneut.

„Lass mich in Ruhe mit dem Blödmann“, platzte sie heraus. „So ein verdammter Scheißkerl!“

Ich ging auf sie zu und streichelte ihr sanft die Wange.

„Tut mir leid für dich. Ist schon ein ziemlicher Spinner, oder?“

Sie schlang ihre Arme um mich und gab mir einen Kuss. Dann seufzte sie schwer und löste sich von mir. „Ich muss duschen“, sagte sie, „und du musst dich auch fertigmachen.“

Mir war klar, dass die Angelegenheit damit vorerst beendet war. Das kannte ich an ihr. Aber ich wusste auch: Da war mehr passiert, als sie mir erzählen wollte.

Ich nahm mir vor, sie nach dem Duschen erneut darauf anzusprechen. Aber ich musste vorsichtig sein, sonst würde sie endgültig dicht machen. Leider kam es genauso. Mein Versuch, doch noch etwas aus ihr herauszubekommen, ging völlig schief.

„Kümmere dich um dich selbst und zieh dich um. Ich dachte, du hättest es eilig.“ Die Worte trafen mich wie Peitschenhiebe. „Du hast doch gemerkt, dass ich nicht weiterreden will.“

Stumm gingen wir schließlich aus dem Haus und ebenso stumm setzten wir uns ins Auto.

Der Sturm hatte zugenommen, als wir losfuhren. Das Heulen des Windes machte die Dunkelheit beklemmender.

Die Strecke kannte ich im Schlaf. Eine Allee mit alten Bäumen. Wunderschöne Linden, deren Kronen oben über der Straßenmitte zusammengewachsen waren. Ein natürlicher Tunnel. Ich ahnte nicht, dass er zu einem Tunnel dürrenmattsche Prägung werden sollte.

„Fahr nicht so schnell“, mahnte Alexandra. „Auf fünf Minuten kommt es nicht an.“ Ihr Tonfall war gequält.

Ich nickte nur und ging etwas vom Gas. Laub auf der Straße machte die Fahrbahn rutschig. Aber es ging, wenn ich aufpasste.

„Sag, mal“, räusperte sich Alex nach einer Weile. „Wie ist das eigentlich im nächsten Jahr mit unseren Ferien? Sollen wir dann endlich mal die schon lange geplante Reise zum Nordkap unternehmen? Vielleicht schaffen wir es, wenn wir die Sache früh genug angehen.“

Das kam unerwartet nach dem unerfreulichen Gespräch von vorhin. Normalerweise waren Urlaub und Reisen die beliebtesten Themen, über die wir sprachen. Nichts machte uns mehr Spaß, als deren Planung. Die Vorbereitungen waren fast so schön wie die Fahrt selbst.

„Wie kommst du jetzt darauf?“

„Na ja, sollten wir nicht die Reise nach Norwegen und Schweden unternehmen, über die wir schon so oft gesprochen haben? Und zwar bis ganz nach oben? Auf jeden Fall weiter als beim letzten Mal. Da sind wir ja nur bis zum Siljasee gekommen. Richtung Norden geht da noch was.“

„Verstehe, Richtung Norden und dann immer geradeaus. Wär schon ’ne tolle Sache. Das sollten wir ernsthaft überlegen. Am Wochenende vielleicht? Was stellst du dir vor? Wohnmobil oder mit unserem Auto einfach auf gut Glück losfahren? Hab‘ vor kurzem noch mit jemandem gesprochen, der das genauso gemacht hat. Auf den Campingplätzen kann man überall Hütten mieten. Irgendwas scheint da immer möglich zu sein.“

„Oder Hotelzimmer vorbestellen. Wie wir das schon mal in Frankreich gemacht haben. Geht sicher auch in Skandinavien. Uns fällt bestimmt was ein. Wo ein Wille ist, da ist auch Unterkunft.“

„Mag sein.“

Ich konnte mich nicht einlassen auf das Gespräch, das sie, so schien es mir, begonnen hatte, um von Selke abzulenken. Dennoch blieb ich in Gedanken bei der Traumreise zum Nordkap hängen. Vor meinem inneren Auge sah ich sie vor mir: die Weiten des Nordens, die unendlichen Wälder, die einsame Tundra. Rentiere und Mitternachtssonne. Aber noch eine Überlegung kam mir in den Sinn. Es war nicht nur die Weite Skandinaviens, die mich lockte. Die norwegische Provinz Finnmark hatte in der Geschichte meiner Kindheitsfamilie eine dumpf herausragende Rolle gespielt. Aber damit wollte ich mich auf keinen Fall beschäftigen.

Zur Schönheit nordischer Landschaften fand ich nicht zurück. Denn nun schoben sich wieder Gedanken an Alexandras Chef dazwischen. Erneut stieg Ärger in mir auf. Das ging doch mit diesem verkorksten Macho so nicht weiter! Das konnte man doch nicht einfach hinnehmen. Ich fühlte mich auf eine unbestimmte Art verantwortlich für meine Frau. Männlicher Beschützerinstinkt? Ich wusste es selbst nicht genau.

„Wenn’s dir zu viel wird mit deinem Chef, solltest du dir eventuell überlegen, ob du nicht kündigst.“

Alexandra sah überrascht zur Seite. In ihrem Gesicht erkannte ich, dass sie genervt war.

„Nicht wieder diese Diskussion. Ich will über Selke jetzt nicht reden. Und erst recht nicht hier im Auto. Pass lieber auf die Straße auf. Lass uns das zu Hause in Ruhe besprechen.“

Hätte ich es doch getan. Hätte ich es doch getan! Stattdessen sagte ich: „Aber ich sehe doch, dass es dich belastet.“

Alexandra antwortete nicht sofort. Einen Moment schwiegen wir beide erneut und ich glaubte schon, das Thema sei tatsächlich für den Augenblick erledigt. War ja auch ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt dafür.

„Es hat doch gar keinen Sinn über eine neue Arbeitsstelle nachzudenken. Ich bin zu alt, um was Neues zu finden, und ich käme mir vor, als ob ich vor dem Dummkopf einknicken würde. Und was ist mit dem Geld, das ich verdiene? Das können wir doch gut gebrauchen. Oder möchtest du dich bei unseren Reisen einschränken.“

„Ist ja schon gut“, versuchte ich, auf Alexandra einzugehen. Das Gespräch, das ich vom Zaun gebrochen hatte, wurde mir nun meinerseits unangenehm. Aber ich konnte die Diskussion nicht beenden. Alexandras Situation ließ mir keine Ruhe. „Am Ende“, fuhr ich deshalb fort, „ist Geld nicht das Wichtigste. Versprich mir, dass du es mir rechtzeitig sagst, wenn der Kerl noch übergriffiger wird. Bitte!“

„Und was willst du dann machen? Ihn dir vorknöpfen?“ Alexandra klang gereizt.

Ich schwieg wie ein ertappter Sünder.

„Wohl kaum“, erwiderte ich. „Kennst mich doch. Aber anzeigen solltest du ihn auf jeden Fall. Das geht gar nicht, was der sich da herausnimmt.“

Alexandra antwortete nicht. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie sie die Diskussion leid war. Ihr Blick verriet sie. Deshalb insistierte ich nicht weiter auf das Thema. Einen echten Streit durfte ich nicht riskieren. Das sollte hier und jetzt nicht passieren. Nicht in diesem Auto und nicht auf der dunklen Landstraße.

„Mit Selke werde ich schon fertig.“ Sie presste die Worte regelrecht heraus. „Darauf kannst du dich verlassen. Garantiert.“

Mit zusammengekniffenen Lippen fuhr ich weiter. Ich versuchte mich auf den Verkehr und die schwierigen Witterungsverhältnisse zu konzentrieren. Aber es gelang mir kaum. Ich fühlte deutlich, dass das, was Alexandra mir gesagt hatte, nicht alles war.

Unvermittelt hörte ich, wie sie schluchzte. Ganz leise nur, aber unverkennbar. Ich blickte zur Seite und nun sah auch sie mich an.

„Alexandra, da stimmt doch was nicht. Bitte! Sag die Wahrheit. Das darfst du nicht mit dir allein ausmachen.“

Wieder blieb sie stumm, aber das Schluchzen wurde deutlicher. Ich wartete erneut ab und blickte angestrengt nach vorn. Es wäre besser gewesen, irgendwo rechts ranzufahren. Aber im Dunkeln war es unmöglich, eine passende Stelle zu finden. Auf beiden Seiten säumten Bäume die Straße. Ich ärgerte mich, das Thema während der Fahrt angesprochen zu haben. Jetzt war der denkbar schlechteste Zeitpunkt. Aber nun hatte ich die Diskussion begonnen, und Alexandra saß weinend neben mir.

„Er hat mich angegrabscht. Überall! Dieser miese Kerl hat es tatsächlich getan.“ Sie spuckte die Worte geradezu heraus. Dann schwieg sie erneut.

„Das, das…“, stammelte ich. Ich war vollkommen perplex. In meinem Inneren hatte ich damit gerechnet, dass es um so etwas ging. Aber nun, da Alex die Dinge beim Namen nannte, war ich tief schockiert. Es fiel mir zunehmend schwer, mich auf die Straße zu konzentrieren. Ich musste mir Luft machen und schrie meine Wut regelrecht heraus. Nichts konnte ich dagegen unternehmen. „Was für ein mieses Schwein. Was für ein elender Schuft. Was bildet der sich eigentlich ein.“

Alexandra schwieg, ein verzweifeltes, trauriges Schweigen. Vollkommen eingeknickt saß sie da. Immer wieder sah ich nach rechts zu ihr hinüber, um in ihrer Mimik lesen zu können. Aber ihr Gesicht war wie erstarrt. Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen, sie an mich gedrückt, um sie zu trösten und ihr zu zeigen, dass ich für sie da war. Stattdessen presste ich die Lippen aufeinander und fuhr mit versteinertem Blick weiter. Nur noch wenige Kilometer bis zum Ziel.

Gespenstisch leuchteten meine Scheinwerfen den sich über der Straße wölbenden Lindentunnel aus. Wie krakenartige Tentakel verkrallten sich die Äste ineinander. Es kam mir vor, als wollten sie nach Alexandra und mir greifen. Zudem hatte Regen eingesetzt, der die Sicht erschwerte.

Die Gedanken daran, wie Alexandras Chef meine geliebte Frau begrabscht hatte, wühlten mich nach wie vor auf. Tränen des Mitgefühls legten einen Schleier auf meine Augen, die ich verstohlen wegzuwischen versuchte.

„Mensch, mach das Fernlicht aus!“ Unwirsch reagierte ich auf ein entgegenkommendes Fahrzeug. Aber das tat mir nicht den Gefallen. Immer greller blendete mich das gleißende Licht. Ich hob die linke Hand, um meine Augen zu schützen. Dann fuhr das Auto vorbei und die Gefahr war vorüber. Noch geblendet kniff ich die Augen weiterhin zusammen.

Was genau in diesem Augenblick die Katastrophe herbeiführte, ich weiß es bis heute nicht. Jedenfalls bemerkte ich im letzten Moment rechts am Fahrbahnrand irgendetwas, das sich bewegte. Ich wusste nicht zu sagen, was es war. Auch später konnte ich nicht benennen, was ich dort gesehen hatte. Ein Reh vielleicht. Aber was es auch gewesen sein mag, es schien auf die Straße springen zu wollen. Oder war es Einbildung? Es ging alles rasend schnell. Ein furchtbarer Schreck fuhr mir in die Glieder, durchzuckte mich regelrecht. Ich spüre ihn noch heute. Unvermittelt riss ich das Steuer herum. Der Wagen geriet ins Schlingern, die Reifen quietschten, Alexandra schrie angstvoll auf. Ein Knall, ein harter Schlag. Das Auto prallte gegen einen Baum. Dann nichts mehr. Nur noch Dunkelheit und Schwärze.

Umgeben von hektischer Betriebsamkeit wachte ich auf. Blaulicht und Stimmengewirr. Irgendjemand klopfte mir auf die Wange.

„Hallo, hören Sie mich? Ich bin Sven Berger. Rettungssanitäter. Ich werde Ihnen helfen. Wir holen Sie jetzt sofort hier raus. Können Sie sich bewegen?“

Ich war vollkommen benommen und orientierungslos. Dann kam ein Stück Erinnerung zurück. Wahnsinnige Schmerzen verspürte ich am Kopf und im linken Arm. Der hing unbeweglich an mir. Und meine Beine? Sie steckten fest. Ein Unfall, ein verdammter Scheißunfall! Ich hätte heulen können. Stattdessen schrie ich auf, als der Sanitäter den Arm befühlte.

„Meine Frau, Was ist mit ihr? Kümmern Sie sich um sie.“

„Das machen wir. Mein Kollege ist bei ihr.“

Ich hörte, was der Sanitäter sagte, konnte es aber nicht begreifen.

„Meine Frau“, jammerte ich erneut. „Helfen Sie ihr.“

„Wie ist Ihr Name? Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?“

„Was? Wie? – Brückner. – Alexandra bist du da?“

„Herr Brückner, wir holen Sie raus. Aber vorher bekommen Sie noch eine Spritze gegen die Schmerzen. Die sollte schnell wirken. Und dann bringen wir Sie ins Krankenhaus.“

Aber das hörte ich kaum noch.

Kapitel 2

Ich schlug die Augen auf und blickte mich um. Was war das hier? Ein Krankenhaus? Eine Intensivstation? Ich sah Apparate, die mich umgaben. Gegenüber eine Glaswand, hinter der eine Krankenschwester ihren Dienst versah. Ich versuchte, sie auf mich aufmerksam zu machen, aber es gelang mir nicht. Ich konnte mich nicht rühren. Auch meine Stimme versagte. Stattdessen brachte ich nur ein würgendes Geräusch hervor. Dann sah ich an mir herunter. Ein Bein in einem Streckverband und fixiert. Ebenso der linke Arm. Der rechte war frei und ließ sich bewegen. Als ich es versuchte, fehlte mir jedoch die Kraft.

Dann kamen die Erinnerungen zurück. Ich begann, die Ereignisse zu rekonstruieren. Aber es gab Lücken im Gedächtnis. Es hatte einen Unfall gegeben. Ich war durch einen sich nähernden Schatten am rechten Fahrbahnrand zusammengezuckt. Im nächsten Erinnerungsfetzen beugte sich ein Rettungssanitäter über mich und redet auf mich ein. Eine gespenstische Szene entspann sich vor meinem inneren Auge. Von Blaulicht durchzucktes Dunkel, der Sanitäter, der mir auf die Wange klopfte. Er sagte irgendetwas, das nach „rausholen … jetzt“ klang. Und dann ein Gedanke, der mich traf wie Schlag: Alexandra! Ich versuchte, nach rechts und links zu blicken. Das misslang. Ich konnte den Kopf nicht drehen. Der schien ebenfalls fixiert zu sein. Mit einem Verband? Was für ein jämmerliches Bild musste ich abgeben in diesem Bett? Und wieder durchzuckte es mich: Alexandra! Alexandra!

Hinter der Glaswand sah ich die Krankenschwester weiterhin hantieren. Hatte sie noch nicht bemerkt, dass ich erwacht war? Ich musste mich bemerkbar machen. Erneut versuchte ich, den freien, rechten Arm zu heben. Nun gelang es ein wenig. Und tatsächlich, die Pflegerin wurde auf mich aufmerksam. Unmittelbar darauf stand sie neben mir und griff nach meiner Hand.

„Hallo, Herr Brückner. Da sind Sie ja wieder. Können Sie schon sprechen? Wenn nicht, machen Sie sich keine Sorgen, das ist im Moment ganz normal. Bald werden Sie es schaffen.“

Ich nickte kaum merklich. Nur ein knarrend, krächzendes: „Ja“ brachte ich heraus. Die Pflegerin drückte leicht aber spürbar meine Hand. Das ermutigte mich sehr.

„Sie sind im Krankenhaus in Bünde. Sie hatten einen Autounfall und wurden hierhergebracht. Erinnern Sie sich daran?“

Ja, ich erinnerte mich. Jetzt hatte ich es vor Augen, wie ich aus dem Auto geholt wurde, wie die Sanitäter mich in einen Rettungswagen schoben, wie der mit Blaulicht und Martinshorn losfuhr. Zwei Menschen kümmerten sich um mich. Aber alles war verschwommen wie hinter einer Nebelwand.

Das nächste Bild, das sich abzeichnete, war ein langer Gang, den ich entlanggeschoben wurde, dann in einen Raum, in dem weitere Personen in Krankenhauskleidung auf mich warteten. An dieser Stelle brach meine Erinnerung ab.

„Herr Brückner, machen Sie sich keine Gedanken. Sie sind in guten Händen. Sie hatten Brüche an Bein und Arm, die konnten bereits operiert werden. Am meisten Sorge gemacht hatte uns eine Blutung am Bein. Aber sie ist gestillt. Alles wird gut.“

„Mein Kopf. Ich kann meinen Kopf nicht bewegen.“ Wieder war es mehr ein Krächzen denn ein verständlicher Satz.

„Gehirnerschütterung und Platzwunde. Deshalb der Verband. Nicht besorgniserregend. Sie brauchen sich wirklich nicht zu sorgen. Da ist nichts, was nicht im Laufe der Zeit wieder in Ordnung käme. Glauben Sie mir. Sie werden wie vorher leben können.“

Leben wie vorher. Ich hörte die Worte, aber deren Sinn drang kaum zu mir hindurch. Stattdessen sah ich Alexandras Gesicht vor mir. Der Gedanke an sie schüttelte mich. So sehr, dass es auch die Pflegerin bemerkte. Erschrocken, fragend sah sie mich an.

„Alexandra!“ Ich brauchte alle Kraft. „Meine Frau war auch im Auto. Was ist mit ihr? Ist sie hier?“

Die Intensivschwester drückte die Lippen aufeinander. Für mich bedeutete diese Geste ein Stich ins Herz. „Nun sagen Sie es schon. Sie wissen doch was!“

„Tut mir leid, Herr Brückner, ich weiß es nicht.“

Fragend sah ich sie an. Sie registrierte das und ergänzte: „Aber ich werde mich erkundigen. Auf dieser Station ist sie nicht.“

„Aber wieso …? Sie muss doch …“ Angst schnürte mein Herz ein.

Die Pflegerin drückte meine Hand fester. „Das muss gar nichts heißen. Wirklich nicht. Sie wird in ein anderes Krankenhaus gebracht worden sein. Das ist nicht ungewöhnlich. Das kommt oft vor. Unsere Intensivbetten sind im Augenblick alle belegt.“

Mir fehlte die Kraft nachzufragen. Aber die ruhige und sanfte Stimme der Krankenschwester flößte mir Vertrauen ein. „Alles wird gut.“ Diese Worte hallten in mir nach und ich gab mich meiner Erschöpfung hin.

Ich laufe durch einen Tunnel aus krakenartigen Bäumen. Links und rechts von mir jagen Lichter vorbei, blau zuckend. Ich sehe zur Seite, sehe ein Auto, das gegen einen Baum geprallt ist, mein Auto, unseres. Ich wende mich um und laufe weiter die Tunnelstraße entlang. Aber ich komme nicht voran, klebe fest auf dem Asphalt. Die Krakenbäume bleiben nicht stehen. Wie kann das sein? Sie huschen an mir vorbei, beugen sich dabei zu mir herunter. Ihre Arme greifen nach mir. Aber ich komme nicht vom Fleck. Ein tiefsitzender Fluchtinstinkt springt mich an. Ich muss hier raus! Ich will ans Ende des Tunnels gelangen, ihn verlassen, wieder die freie Landschaft sehen. Aber es ist kein Ende in Sicht. Die Lichter der entgegenkommenden Fahrzeuge blitzen auf. Sie blenden mich, dass ich die Augen verschließen muss.

Als ich sie öffne, löst sich eine Gestalt aus den Ästen der Tunnelbäume, eine Frau, meine Frau, Alexandra. Sie berührt nicht die Straße, sondern schwebt über ihr. Ich will mit ihr sprechen, will sie fragen, was hier gerade passiert. Aber die Stimmbänder versagen. Mein sich öffnender und schließender Mund produziert nur lautlose Wörter. Aber sie spricht. „Es gibt keinen Weg nach vorn“, sagt sie. „Der Tunnel ist eine Sackgasse, eine Straße ohne Wiederkehr. Es hat keinen Zweck nach seinem Ende zu suchen.“ Dann verschwindet sie in dem Geäst, aus dem sie sich herausgeschält hatte. Ich bleibe zurück. Einsam und allein in der Dunkelheit des unendlichen Tunnels sacke ich zusammen und kauere mich auf den Asphalt, während Autos weiterhin an mir vorbeirauschen.

Eine sanfte Berührung weckte mich. Ich konnte nicht sagen, wie viel Zeit verstrichen war. Ich war eingeschlafen. Mühsam sammelte ich meine Gedanken, versuchte, mich aus dem Albtraum zu befreien. Ein Mann stand neben mir, das erkannte ich jetzt.

„Ich bin Dr. Christoph Weinert. Hatten Sie einen bösen Traum?“ Mit einem Tuch tupfte er mir Schweißperlen von der Stirn. „Sie sind gut aufgehoben hier. Ich habe Sie operiert. Es ist alles gut verlaufen. Mag sein, dass es sich im Augenblick noch nicht so anfühlt, aber das wird wieder. Glauben Sie mir.“

Ganz langsam, vorsichtig, kam ich in die Realität zurück. Ich begriff, dass der Albtraum zu Ende war, obwohl ich Alexandras Gesicht noch vor mir sah. Traurig, angsterfüllt, resignierend.

„Lassen Sie sich Zeit. Wir kümmern uns um Sie. Hier kann Ihnen nichts passieren. Sie werden wieder gesund.“

„Was ist mit meiner Frau? Wissen Sie mehr als die Schwester?“

Der Arzt legte beruhigend seine Hand auf meinen Arm.

„Ihre Frau ist ins Klinikum Herford gebracht worden. So viel konnte ich in Erfahrung bringen. Die Kollegen dort sind auch auf schwierigere Fälle in der Unfallversorgung eingestellt.“

Ich versuchte, den Inhalt der Worte zu erfassen. Er war alarmierend.

„Wie…? Was heißt…? Ist meine Frau so schwer verletzt? Und ich bin in Bünde?

„Ja, Sie sind in Bünde. Zu Ihrer Frau weiß ich nichts Genaues, außer dass Sie in ein künstliches Koma versetzt wurde. Aber sie ist in den besten Händen. Die Kollegen tun gewiss alles, was sie nur können. Seien Sie unbesorgt.“

Unbesorgt? Was für ein seltsames Wort. Wie sollte ich mir keine Sorgen machen, wenn meine geliebte Alexandra in einem anderen Krankenhaus lag, offenbar schwer verletzt. Oder rang sie gar mit dem Tode? Der Traum kam zu mir zurück. Der Tunnel ist eine Sackgasse, eine Straße ohne Wiederkehr. Das waren ihre Worte. Es hat keinen Zweck nach seinem Ende zu suchen.

„Nun reden Sie schon. Sie wissen doch mehr, als Sie sagen.“

„Nein. Tut mir leid. Ich weiß tatsächlich nicht mehr. Aber ich halte Sie auf dem Laufenden. Das verspreche ich Ihnen.“

Erneut schwand mir die Kraft. Wieder rasten mir tausend Gedanken durch den Kopf, tauchten Bilder vor meinem geistigen Auge auf. Alexandra auf einer Intensivstation, wie ich. Im künstlichen Koma. Schläuche, Beatmungsgerät, Überwachungsmonitore. Herr Gott im Himmel! Das kann doch alles nicht wahr sein. Was hatte ich getan? Ich erschauderte bei der Erkenntnis, dass ich den furchtbaren Unfall verursacht hatte. Ich war gefahren. Ich hatte unkontrolliert reagiert, als der Schatten am Straßenrand auftauchte. Ach, wenn ich doch nur jetzt bei Alexandra sein könnte, neben ihr auf derselben Station. Immer wieder erkundigte ich mich nach ihr, aber wen ich auch fragte, alle wichen mir aus.

Am Abend besuchten unsere Kinder Maren und Felix mich. Vorsichtig traten sie an mein Bett. In ihren Augen erkannte ich Unsicherheit, auch Erschrecken über meinen Zustand, den ihres Vaters. Zaghaft kamen sie näher. Links und rechts vom Bett stehend, nahmen Sie meine Hände. Ich weinte hemmungslos.

„Was ist mit Alexandra? Habt ihr etwas gehört? Mir sagt keiner was. Der Arzt behauptet, nichts zu wissen. Aber er verschweigt mir was.“ Ich verschluckte die Worte in immer neuem Schluchzen und ich sah die Betroffenheit in ihren Augen. Oder war es gar Entsetzen. „So redet doch. Sagt endlich etwas.“

Maren, die ältere, antwortete schließlich. Offensichtlich musste sie ihre ganze Kraft zusammennehmen.

„Ja, wir sind zuerst bei Mama in Herford gewesen.“ Sie versuchte, ihre Stimme zu beruhigen.

„Es geht ihr nicht gut. Schlechter als dir, wenn ich die Ärzte richtig verstanden habe. Sie war gar nicht ansprechbar. Ein künstliches Koma.“

Ich sah die traurigen Augen der Tochter. Dann blickte ich hinüber zu Felix. Dessen Mimik war versteinert. Ich versuchte, Blickkontakt zu meinem Sohn aufzunehmen, aber der schaute starr auf die Bettdecke.

„Ihr Leben hängt an einem seidenen Faden“, bestätigte Maren schließlich meine schlimmsten Befürchtungen. „Aber noch kämpften die Ärzte um sie.“

Dann schwiegen wir zusammen eine Weile. Es gab nichts zu sagen. Die Lage war ernst. War sie hoffnungslos?

„Ich bin schuld!“, platzte es aus mir heraus. Ich sah die zutiefst erschrockenen Gesichter unserer Kinder. Langsam und gefasster wiederholte ich den Satz: „Ja, ich bin schuld! Immer wieder habe ich die Szene vor Augen. Eure Mutter und ich waren in ein aufgeregtes Gespräch vertieft und ich habe einen Moment nicht aufgepasst. Irgendetwas, ein Reh vielleicht, tauchte plötzlich neben der Straße auf und ich hab mich so erschrocken, dass ich das Lenkrad verrissen habe.“ Mit Entsetzen im Gesicht sahen sie mich an. Sie sagten nichts, konnten offenbar nichts sagen.

Maren fand nach einer Weile als erste wieder Worte. „Es war ein Unfall, Papa.“ Beschwichtigend redete sie auf mich ein. „Ein Unfall. Menschen erschrecken sich manchmal. Und dann die vom nassen Laub rutschige Straße. Das ist nicht deine Schuld. Das darfst du nicht glauben.“

Doch genau das glaubte ich, und die Worte meiner Tochter erreichten mich nicht. Ich wandte den Blick von ihr ab. Aber jetzt kreuzte er sich mit dem von Felix.

„Habt ihr euch … gestritten?“, fragte er mit brüchiger Stimme. „Hattet ihr Streit und deshalb hast du nicht aufgepasst?“

„Nein, kein Streit“, antwortete ich schwach. Dann schwieg ich wieder.

„Was war es dann? Da war doch was. Ich spüre das.“ Felix ließ keine Ruhe. Er war mit Alexandra enger verbunden als Maren, die ein Papa-Kind war.

Intensiv dachte ich nach. Sollte ich die Wahrheit sagen, hier und jetzt? Erzählen, was Alex‘ Chef ihr angetan hat, und dass ich deshalb nicht konzentriert genug gefahren war? Wäre es nicht vernünftiger, noch zu warten. Dies Gespräch später zu führen, wenn es allen besser ginge? Aber ich hatte längst damit begonnen, und es platzte aus mir heraus.

„Alexandras Chef hat sie angemacht.“ Ich atmete tief durch. „Er hat sie belästigt, sexuell. Und Alexandra wollte das auf sich beruhen lassen.“

„Was sagst du da?“ Maren war überrascht. Ihre Mimik drückte Erschütterung aus. Und mit fast erschreckender Kälte setzte sie hinzu: „Was hat er getan? Was?“

„Er hat …?“ Auch Felix war fassungslos. „Du meinst …“, er musste schlucken, „er hat sie angegrabscht? Me-too-mäßig?“ Er war regelrecht angewidert. Dann verstummte er.

„Sag uns offen und ehrlich, was los war. Wir müssen das wissen.“ Maren versuchte, gefasst zu sein.

Es fiel mir schwer, zu antworten. Ich stamme aus einer Zeit, in der über Sexualität nicht gesprochen wurde, schon gar nicht vor den Kindern. Dennoch musste ich hier und jetzt Auskunft geben.

„Ja.“, sagte ich schließlich. „Er hat sie …“, wieder stockte ich. „Er hat sie unsittlich berührt. Aber ich glaube, Alexandra konnte sich gegen ihn wehren. Hoffe ich zumindest. Und das alles nach Feierabend, als ihre Kolleginnen gegangen waren. Das heißt: Nein! Sie hat irgendetwas davon erzählt, dass Selke die anderen rausgeschickt und die Tür zugestoßen hat. Er hat sowas wohl schon öfters versucht, aber diesmal war es schlimmer. Allerdings …“. Wieder musste ich mich fassen. „Sie meinte, sie käme allein klar mit dem Kerl. Das wäre ganz allein ihre Sache.“

Ich musste mich unterbrechen, neue Kraft tanken, einen neuen Anlauf nehmen. Die fassungslosen, fragenden Gesichter meiner Kinder machten es nicht leichter.

„Gestern aber war sie vollkommen erledigt. Im Auto hat sie geweint, wollte aber nach wie vor nicht ganz mit der Sprache rausrücken. Ich glaube, sie schämte sich. Das hat mich furchtbar enttäuscht. Hatte sie so wenig Vertrauen zu mir? Und dann wurde ich richtig ärgerlich. Ich meine, so einen Typen darf man doch nicht davonkommen lassen. Das geht doch nicht. Da muss man doch was unternehmen, ihn anzeigen! Und dann, genau in dem Moment, taucht dieses verdammte Vieh neben der Straße auf …“

Erneut stockte das Gespräch. Erschöpft fiel ich ins Kissen. Ich bereute, das Thema angeschnitten zu haben. Aber es belastete mich. Ich musste es loswerden. Und nun war ich völlig am Ende.

„So ein verdammter Scheißkerl!“ Felix war außer sich, mehr als ich in meiner Lage ertrug. „Dann ist der doch schuld! Nicht du. Er, dieser furchtbare Chef!“

„Ich hätte rechts ranfahren müssen, um in Ruhe zu sprechen. Aber da war nichts, wo ich anhalten konnte. Ein Baum am anderen auf der Allee.“

„Papa, schau mich mal an.“ Maren sprach mit bewusst fester Stimme. „Du bist nicht schuld. Es war ein Unfall. Genauso passieren sie. Ein vollkommen unglücklicher Zufall. Wer hätte denn ahnen könne, dass genau in diesem Moment am Rand ein Reh auftaucht? Niemand. Du bist nicht schuld. Hörst du? Das darfst du nicht denken. Unfälle passieren. Das ist furchtbar und schrecklich. Und nicht immer gibt es dafür einen Schuldigen. Das macht es nicht besser, aber so ist es nun mal.“

Ich war nicht überzeugt, auch wenn die Worte meiner Tochter gut taten. Ich hatte mich hinreißen lassen und unkontrolliert reagiert. Ich hätte mich auf die Straße konzentrieren müssen. Nach ein bis zwei Kilometern wäre die Allee zu Ende gewesen. Dann hätte ich rechts ranfahren können. Bin ich aber nicht. Aber ich wollte nicht weiter mit den Kindern diskutieren. Das alles war schlimm genug. Kraftlos ließ ich die Hände fallen. Dann schloss ich die Augen vor Erschöpfung. Ich brauchte Ruhe. Und allein sein wollte ich. Deshalb war ich froh, dass sich die beiden nach einiger Zeit verabschiedeten.

„Wir sollen dich noch grüßen von Jonas und Leonie“, sagte Maren im Hinausgehen.

„Von Franziska natürlich auch“, ergänzte Felix.

„Das ist lieb von euch“, antwortete ich pflichtgemäß. Jonas war Marens Mann und Leonie, deren knapp einjährige Tochter, unser Enkelkind, Franziska die Lebensgefährtin unseres Sohnes.

Am zweiten Tag wurde ich auf eine normale Station verlegt. Eine Schwester trennte mich von den verschiedenen Überwachungsgeräten. Ein Pfleger schob mich in meinem Bett in einen Fahrstuhl, mit dem wir auf eine andere Etage fuhren. Dort ging es auf ein Zweibettzimmer, in dem bereits ein Patient lag, offenbar ebenfalls mit einem gebrochenen Bein. Aber Arme und Kopf waren in Ordnung.

Eine Pflegerin begrüße mich. Sie stellte sich als Schwester Anna Bente vor, die Stationsleiterin.

„Herzlich willkommen auf unserer Station, Herr Brückner. Wie fühlen Sie sich?“