Kaltschwarze Rache - Rolf Düfelmeyer - E-Book

Kaltschwarze Rache E-Book

Rolf Düfelmeyer

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Beschreibung

Ein Mann versucht sich als Geisterfahrer auf der Autobahn bei Göttingen das Leben zu nehmen. Warum? Was treibt ihn zu dieser Wahnsinnstat, bei der ein Familienvater den Tod findet und eine Familie zerstört wird? Jahre später wird eine alleinerziehende Mutter in der ostwestfälischen Kleinstadt Werther erhängt auf dem Dachboden ihres Hauses aufgefunden. Hat sie es selbst getan? Abgründe von Hass und menschlichem Leid tun sich auf, als Frank Sommer und die ermittelnden Kommissare der Bielefelder Mordkommission die Zusammenhänge erkennen. Die Ermittlungsgruppe droht darunter zu zerbrechen. Doch es ist noch nicht zu Ende …

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Veröffentlichungsjahr: 2015

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Inhalt

Titelseite

Impressum

Über den Autor

Prolog

Erster Teil: Vergangenheit

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Zweiter Teil: Verhängnis

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Dritter Teil: Verschleierung

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Vierter Teil: Verachtung

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Nachwort und Danksagung

Rolf Düfelmeyer

Kaltschwarze Rache

Frank Sommers dritter Fall

Im Verlag CW Niemeyer sind bereits folgende Bücher des Autors erschienen:

Septemberwut

Sonnenuntergang

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

© 2015 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Der Umschlag verwendet Motive von shutterstock.com

Grunge Room Valentin Agapov 2014, Kitchen Knife stuart.ford 2014

Druck und Bindung: Nørhaven, Vibrog

eISBN 978-3-8271-9873-0

EPub Produktion durch ANSENSO Publishing www.ansensopublishing.de

Der Roman spielt hauptsächlich an allseits bekannten Orten von Ostwestfalen, doch sind die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

 

 

Über den Autor

Rolf Düfelmeyer, geboren 1953 in Herford, lange Jahre als evangelischer Pfarrer und Religionslehrer in Werther und Lübbecke tätig, legt nach „Septemberwut“ und „Sonnenuntergang“ nun mit „Kaltschwarze Rache“ seinen dritten Krimi vor. Er lebt mit seiner Frau, einer gebürtigen Bielefelderin, in Werther bei Bielefeld. Sie haben zwei erwachsene Söhne. Zusammen mit dem älteren und ihrer Schwiegertochter freuen sie sich über eine Enkeltochter.

Mehr über Rolf Düfelmeyer erfahren Sie auf:

www.rolf-duefelmeyer.de

Prolog

Noch steht die Sonne hoch am Himmel an diesem warmen Juniabend. Aber die Schatten werden länger. Bald wird die Dämmerung einsetzen. Die Nacht steht bevor.

Ich versuche die letzten Strahlen auf dem Balkon zu genießen, aber es fällt mir schwer. Er ist wieder aufgetaucht. Nach Jahren der Ruhe hat er mich aufgespürt, werde ich eingeholt von den Ereignissen, die ich glaubte, hinter mir gelassen zu haben. Aus den schwarzen Tiefen meiner Erinnerung ist er hervorgekrochen und ist zu mir gekommen. Die Wohnung, in der ich lebe, hat aufgehört, ein sicherer Zufluchtsort zu sein. Die Angst ist zurückgekehrt und greift nach mir. Die Tage verdüstern sich. Sogar die Sonne scheint dunkler zu scheinen und die Wärme des Sommers verliert ihre Kraft.

Wie konnte er mich finden? Wie weit soll ich laufen, um nicht aufgespürt zu werden? Plötzlich stand er wieder vor meiner Tür und mein ganzes Denken kreist erneut um ihn und um alles, was er mir und meinen Kindern angetan hat. Ich will diese Gedanken nicht. Ich wünsche mir, sie abstellen zu können. Aber es gelingt nicht. Gefangen im kaltschwarzen Strudel meiner Angst werde ich in die Tiefe gezogen. Meine mühsam zurückgewonnene Sicherheit verfliegt wie Staub im Wind. Oder ist die Ruhe immer nur eine Täuschung, eine Illusion gewesen?

Alles habe ich hinter mir gelassen. Selbst zu meiner Mutter ist der Kontakt selten geworden. Sogar sie hat er mir geraubt. Ich kann es nicht mehr ertragen, in jener Stadt zu sein, in der alles Erinnerung ist, bittere, dunkle Erinnerung. Niemals wieder seit damals bin ich zurückgekehrt.

Wohin kann ich fliehen, wie weit rennen, um endlich Ruhe zu finden für mich und für meine Tochter, das einzige Kind, das mir geblieben ist? Gezeichnet ist sie von ihm, hat unter ihm zu leiden bis heute. Niemals wieder darf er in ihre Nähe kommen. Sie gilt es zu schützen, unbedingt. Aber was kann ich tun? Ich weiß es nicht. In Schockstarre erdulde ich seine Besuche, lasse sie über mich ergehen. Und ich weiß: Er wird keine Ruhe geben. Er wird wiederkommen, immer wieder. Jedes Geräusch an der Tür versetzt mich in Angst und Schrecken. Die Dämmerung hat eingesetzt, die Nacht kommt.

Erster Teil

Vergangenheit

Kapitel 1

Göttingen 2007

Durch einen hinter ihm mit Lichthupe heranrasenden Porsche wurde er aus seinen Gedanken geholt. Er lenkte seinen Passat auf die rechte Spur, nachdem er einen Lkw überholt hatte. Links durch das Seitenfenster konnte er, angestrahlt von der im Westen stehenden Sonne, einige markante Häuser in Göttingen erkennen. Bald würde er zu Hause sein.

Große Veränderungen standen bevor, Veränderungen, die er selbst verursacht, ja gewollt hatte, die Olaf Henneberger aber nun mehr und mehr in Unruhe versetzten. Schließlich betrafen sie nicht nur ihn, sondern die ganze Familie.

Seit Monaten schon pendelte er wegen seiner neuen Stelle zwischen Wolfsburg und Kassel hin und her. Eine neue, gut bezahlte Position bei VW war ihm in der Autostadt angeboten worden, die er, so hatte es auch der Familienrat empfunden, nicht ablehnen durfte. Jetzt aber, da der Abschied immer näher rückte, waren ihm mehr und mehr Zweifel gekommen. War es die richtige Entscheidung, wegen des höheren Gehalts alles aufzugeben und einen Neuanfang zu wagen? Gab es noch einen Weg zurück? Schwierig, aber vielleicht nicht unmöglich. Er musste unbedingt noch einmal in aller Ruhe mit Anke und den Kindern sprechen. Allerdings: Es wurde höchste Zeit! Heute Abend bereits sollte es eine letzte große Grillparty in Kassel geben. Danach würden alle Zeichen unwiderruflich auf Umzug gestellt.

Eine Dreiviertelstunde noch, dachte er. Ein Blick auf die entsprechende Anzeige seines Navis bestätigte sein Gefühl. Zeit, sich anzukündigen. Auf dem Handy wählte er die eins, die Kurzwahl für Zuhause. Bereits nach dem dritten Klingeln wurde abgenommen.

„Hallo Papa!“ Die Stimme seiner Tochter Julia klang wie immer fröhlich beschwingt. „Wie geht’s? Wo bist du gerade? Du kommst doch pünktlich?“

„Ja sicher! Keine Sorge. Bin schon in Göttingen. Wenn alles klappt, bin ich um ...“, er schaute erneut auf das Navi, „... um halb acht zu Hause.“

„Ist das Papa?“ Im Hintergrund hörte er seine Frau rufen. „Gib mir mal das Telefon.“

„Hallo Olaf! Ich bin’s!“ Ups, dachte er, in Ankes Stimme lag etwas Irritierendes. Vorsichtig fragte er zurück: „Ist irgendwas los? Du klingst so genervt.“

„Na ja, ist schon sehr viel Arbeit, die wir mit der Vorbereitung des Grillabends haben. Ich hoffe, du hast an den Wein gedacht, den du in Wolfsburg besorgen wolltest. Das hast du doch nicht vergessen, oder?“

„Nein, keine Sorge, alles erledigt.“

Anke wurde hörbar ruhiger. Es wäre nicht das erste Mal, dass er etwas zu besorgen vergaß, wenn er bei seiner Arbeit noch aufgehalten wurde und dann überhastet losfuhr. Aber heute war alles in Ordnung.

„Hast du auch an den Rosé-Wein gedacht und nicht nur an deinen Roten?“, schob seine Frau dennoch sicherheitshalber nach.

„Ja, auch Rosé. Hab ihn extra zusammen mit Eis akkus in die Kühlbox gelegt, damit er nicht vollkommen warm ist, wenn ich ankomme. Sechs Flaschen, ich hoffe, das reicht! Und sechs Rote.“

„Ja sicher, das reicht.“ Ankes Stimme klang jetzt entspannter. Es würde ein schöner Abend werden mit ihren Freunden, unter denen sich auch seine wichtigsten Arbeitskollegen befanden. Ein bisschen wehmütig war aber auch ihr zumute, so schien es Olaf. Er meinte das aus ihrer Stimme herauszuhören. Oder waren es nur seine eigenen Zweifel, die er in die Stimme seiner Frau projizierte? Sie hatte gern in Kassel gewohnt. Den Bergpark Wilhemshöhe unterhalb des Herkules‘ würde sie vermissen, das wusste Olaf, auch die Karls-Aue und nicht zuletzt alle fünf Jahre die Documenta, die auch dauerhaft künstlerische Spuren in der Stadt hinterlassen hatte. Andererseits, ihre Arbeitsstelle in Kassel hatte sie in den letzten Jahren immer weniger gemocht. Da käme ihr, hatte sie gesagt, der Wechsel in eine andere Stadt verbunden mit einem beruflichen Neuanfang nicht ganz ungelegen. Aber Wolfsburg?

„Na, denn“, schloss Anke das Gespräch, „bis gleich, und fahr vorsichtig. Es ist noch genügend Zeit und wir haben hier alles im Griff. Nicht, dass noch irgendetwas passiert ...“

„Scheiße! Nein! Anke! Anke!“

Seine letzten Worte gingen unter in einem schier entsetzlichen Angstschrei, der durchs Telefon zu ihr drang.

„Olaf?“ Sie horchte in das Telefon. „Olaf? Was ist los?“ Ankes Stimme bebte. „Was ist passiert? Antworte doch!“

Statt einer Antwort, quietschende Bremsen, ein dumpfer Knall, kreischende Reifen. Noch einmal ein Angstschrei ihres Mannes. Schließlich ein ohrenbetäubender, krachender, splitternder Knall und das scheppernde Geräusch, wenn Metall über Asphalt schlittert. Dann plötzlich Ruhe, vollkommene, gespenstische Ruhe. Verwirrt und ungläubig sah sie auf das Display ihres Telefons. Der Teilnehmer hat das Gespräch beendet, las sie dort. Die Leitung war tot.

„Olaf, Olaf!“ Ihre Stimme wurde lauter. Sie überschlug sich, als könne Anke Henneberger ihren Mann so zur Antwort zwingen. Aber die Leitung blieb tot. Kraftlos, wie erstarrt, lag ihr Blick auf dem Display. Der Teilnehmer hat das Gespräch beendet, stand dort nach wie vor menetekelhaft. Dann fiel ihr der Hörer aus der Hand und sie bemerkte gerade noch, dass sie von irgendjemandem gehalten und gestützt wurde, bevor sie in sich zusammensackte.

„Mama? Was ist passiert? Was ist los? Mama!“ Julia war es gewesen, die ihre Mutter aufgefangen hatte und nun auf einen Stuhl hinunterließ. Mit angsterfüllten Augen stand sie vor ihr und hielt sie mit beiden Händen an den Schultern. Auch Ankes Schwester Sabine und Jan, Julias Bruder, waren dazugekommen. Von draußen waren sie hereingestürzt, die Festvorbereitungen unterbrechend. „Gib mir das Telefon“, sagte Sabine mit gewollt fester Stimme. Dann wählte sie Olafs Handynummer.

Als sie die Ansage hörte, ließ sie sich neben ihrer Schwester auf einen Stuhl fallen. „Der gewünschte Gesprächsteilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar.“

„Anke!“ Sie griff nach dem Arm ihrer Schwester. „Was ist geschehen? Erzähl doch! Bitte!“

„Was? – Ich – weiß nicht – Unfall“, stammelte Anke. Ihre Stimme war kaum zu hören. Dann schwieg sie. Ihr Gesicht wirkte grau und eingefallen. „Anke, Anke!“, fuhr sie nach einer Weile fort, „immer wieder hat er meinen Namen gerufen. Dann nichts mehr. Nur noch Krachen.“ Ankes Entsetzen schien sich noch zu vergrößern. „Immer wieder meinen Namen, immer wieder. Er braucht mich! Ich muss sofort ...“ Sie wollte aufspringen, wurde aber von ihrer Schwester daran gehindert. Kraftlos fiel sie auf den Stuhl zurück.

„Wir müssen die Polizei anrufen. Wo war Olaf, als er anrief?“, erkundigte sich Sabine, aber Anke blickte nur noch starr auf die gegenüberliegende Wand. Ihre Hände zitterten.

„Papa hat irgendwas von Göttingen gesagt und dass er in einer Dreiviertelstunde da sein wollte.“ Julia wirkte gefasster als ihre Mutter.

„Auf der Autobahn?“, fragte Sabine nach.

„Weiß nicht“, antwortete Julia. „Ja, wahrscheinlich.“

„Dann ruf ich da jetzt an. Welche Nummer hat denn die Poli ... Ach egal, ich wähle die 110.“ Auch Sabine kämpfte mehr und mehr um ihre Fassung. Mit dem Telefon in der Hand, das sie vom Boden aufgehoben hatte, blieb sie einen Augenblick fast regungslos sitzen. Dann wählte sie.

„Leitstelle der Polizei Kassel.“

„Ja, hallo, ich bin Sabine Wolter.“ So gefasst wie möglich versuchte sie die schreckliche Situation zu erläutern. Der Beamte der Leitstelle strahlte wohltuende Routine aus. Ein paar wichtige Fragen konnte Sabine mit Hilfe von Julia beantworten. Dann schloss er: „Bleiben Sie unbedingt zu Hause. Ich werde die Autobahnpolizei Göttingen informieren und sie bitten, Sie anzurufen, damit Sie Klarheit haben. Zur Vorsicht gebe ich Ihnen die Nummer. Vielleicht meldet sich aber auch ein Kollege von der Polizeiwache ganz in Ihrer Nähe. Deshalb, zwanzig bis dreißig Minuten sollten Sie schon warten, auch wenn das sehr schwer fällt. Haben Sie etwas zu schreiben?“

Sabine ließ sich schnell Stift und Papier geben und notierte die Nummer. Dann bedankte sie sich und legte auf.

Es dauerte fast eine ganze Stunde, bis ein Beamter der zuständigen Polizeiwache an der Tür klingelte. Sabine öffnete. Neben dem älteren Polizisten stand ein jüngerer Mann in Jeans und Sporthemd, der sich als der örtliche Gemeindepfarrer vorstellte. Augenblicklich wurde Sabine klar, was das bedeutete. Etwas sehr Ernstes war geschehen.

„Guten Abend“, begann der Polizist. „Sie sind Frau Henneberger, Frau Anke Henneberger?“

„Nein, nein, ich bin die Schwester, Sabine Wolter. Aber kommen Sie doch herein. Die anderen sind alle im Wohnzimmer. Die Kinder Julia und Jan sind auch da.“

„Ich glaube, es ist besser, wenn ich vorgehe“, sagte der junge Pfarrer an den Polizisten gerichtet. „Ich kenne die Familie seit der Konfirmation der Tochter im letzten Jahr.“ Jetzt erinnerte sich Sabine daran, ihn im Gottesdienst gesehen zu haben. Aber im Talar hatte er natürlich anders gewirkt. Drinnen ging der Pfarrer direkt auf Anke Henneberger zu, die bleich im Gesicht und mit angstvoll verzerrten Zügen aufstand, sich aber nicht vom Fleck bewegte. „Herr Seydel, was ist passiert?“ Ihre Stimme zitterte.

„Ich habe tatsächlich keine guten Nachrichten“, begann der Pastor. „Wie die Autobahnpolizei Göttingen mitgeteilt hat, ist Ihr Mann in einen schweren Unfall verwickelt gewesen und ...“

„Unfall, ja. Wo ist Olaf jetzt? Wohin haben sie ihn gebracht? Kann ich ihn besuchen?“ Ankes Stimme zitterte nicht mehr, jetzt überschlug sie sich.

„Frau Henneberger, Ihr Mann lebt nicht mehr. Er ist tot.“

Klar und deutlich sprach der junge Geistliche. Seine Sachlichkeit ließ keinen Zweifel an der Wahrheit des Gesagten zu.

Julias Schrei war schrill und angstvoll. Jan rannte kreidebleich aus der Tür. Sabine ging ihm sofort nach. Anke schlug die Hände vor ihr Gesicht und ließ sich wieder auf das Sofa fallen. Gespenstische Ruhe breitete sich aus. Seydel setzte sich neben Frau Henneberger und legte ihr eine Hand auf den Arm. Der Polizist schluckte heftig und setzte sich schließlich in einen freien Sessel. Niemand sagte etwas.

Nach einiger Zeit kam Sabine wieder herein. Jan war hinter ihr, blieb aber im Flur an der geöffneten Tür stehen. Schließlich war es Ankes Schwester, die als Erste etwas fragte: „Was ist denn geschehen? Was genau ist passiert? Weiß man das schon?“

„Die genauen Umstände sind noch nicht gänzlich geklärt“, antwortete der Polizist. „Fest steht bis jetzt nur, dass es einen schweren Unfall auf der A 7 bei Göttingen gegeben hat, in den mehrere Pkw und ein Lkw verwickelt waren. Offenbar war ein Geisterfahrer die Ursache. Die Autobahn ist noch gesperrt. Es gab einige Verletze, darunter zwei Schwerverletzte, und ...“ Er zögerte fortzufahren. „... es gab einen Toten. Der Tote wurde als Ihr Mann identifiziert.“ Lautes Schluchzen der Frauen unterbrach ihn.

„Aber wieso denn? Woher wollen Sie das denn wissen? Das ist doch gerade erst gewesen. Das könnte doch auch ... Papa ist doch kein Geisterfahrer!“ Jan war wieder ganz in den Raum zurückgekommen und schrie in Richtung des Polizisten.

„Nein. Du hast recht. Dein Vater war nicht der Geisterfahrer“, versuchte der Beamte so sachlich wie möglich zu antworten. „Er wollte wohl noch ausweichen. Und dabei wurde sein Wagen vom nachfolgenden Verkehr erfasst, wenn ich die Kollegen aus Göttingen richtig verstanden habe. Aber ...“ Der Beamte seufzte tief. „Dein Vater ist tatsächlich der Tote. Daran gibt es offenbar keinen Zweifel. Die Kollegen haben entsprechende Ausweisdokumente sichergestellt.“

„Das glaube ich erst, wenn ich Papa gesehen habe.“ Und nach einer Pause fügte Jan hinzu: „Ich ruf ihn jetzt an. Der antwortet bestimmt sofort auf seinem Handy.“ Dabei flogen seine Finger schon über die Tastatur. Mit sichtbarer Anspannung horchte er in den Hörer. Aber es dauerte nur wenige Sekunden, dann ließ er den Apparat mit versteinert enttäuschter Miene sinken. Stumm rutschte er am Türrahmen hinunter und blieb schließlich am Boden sitzen.

Kapitel 2

Ostwestfalen – Gegenwart

Es versprach ein schöner Morgen zu werden. Marina Burmann hatte an diesem Samstag länger als erwartet geschlafen, jedenfalls wenn sie bedachte, dass sie Bereitschaftsdienst hatte. Da kann ich von Glück sagen, dachte sie, dass ich bisher noch nicht gestört wurde.

Seit einem Jahr war sie Kommissarin bei der Bielefelder Mordkommission und sie hatte den Schritt von Minden nach Bielefeld nie bereut, jedenfalls beruflich nicht. Sehr gut war sie in das Team um den Leiter Frank Sommer aufgenommen worden. Vor allem mit ihrem Kollegen Karsten Linnemann verstand sie sich wunderbar. Auch er musste heute abrufbereit sein.

Sie blickte aus dem Fenster ihrer kleinen Dachgeschosswohnung. Bielefeld-Schildesche, dachte sie wieder einmal, eine Welt für sich mitten in der Großstadt, besonders der Kern hinter der Stiftskirche. Nach rechts konnte sie erkennen, dass der Wochenmarkt schon gut besucht war. Besser kann man es nicht haben, Marktstände direkt vor der Haustür. Dann glitt ihr Blick nach links zur Buchhandlung Welscher. Auch hier war schon geöffnet. Kurz nach ihrem Einzug in die Wohnung vor etwa einem Jahr hatte sie dort zum ersten Mal hineingeschaut. Sie bezeichnete sich selbst gern als Leseratte, und eine Buchhandlung vor der Tür, an diesen Gedanken konnte sie sich sofort gewöhnen. Inzwischen war sie bereits so etwas wie eine Stammkundin und wurde jedes Mal mit einem freundlichen Hallo wie eine alte Bekannte begrüßt. Besser kann man es nicht haben, dachte sie erneut.

Sie wandte sich vom Fenster ab und stellte die Kaffeemaschine an. Nach einem Jahr wirkten diese Samstage schon sehr eingeübt. Dann ging sie ins Bad. Frisch geduscht trank sie anschließend im Stehen eine erste Tasse Kaffee. Dann war der richtige Zeitpunkt gekommen, sich unten auf dem Markt frische Brötchen zu holen.

Auf dem Kirchplatz mit seinem bunten Markttreiben spürte sie die angenehme, warme Juniluft. Man konnte aber ahnen, dass die Temperatur im Laufe des Tages deutlich ansteigen würde. Dann wurde es oben in ihrer Wohnung immer recht stickig. Das war jedoch, so empfand sie es, der einzige Nachteil. Das heißt, nein, einen weiteren Nachteil gab es noch, auch wenn der nichts mit den Räumen zu tun hatte. Sie wohnte allein, als Single, und dieser Umstand machte ihr gelegentlich zu schaffen. In Minden hatte sie mit ihrem damaligen Freund zusammengelebt. Als sie sich beruflich veränderte und nach Bielefeld wechselte, ging die Beziehung in die Brüche, etwas, was sie bis heute nicht verstehen konnte. Nie im Leben hatte sie daran gedacht, dass ihr Lebensgefährte sie deswegen verlassen würde, zumal er vorher immer wieder das Gegenteil signalisiert hatte. Offenbar, das war Marina im Laufe der Zeit bewusst geworden, hatte er die Beziehung schon vorher nicht mehr ernsthaft gewollt und nur auf eine günstige Gelegenheit gewartet, sie zu beenden. So war sie schließlich allein nach Bielefeld gezogen und mit ihren dreiunddreißig Jahren wieder solo. Aber eben nicht freiwillig, wie sie seufzend feststellte. Dazu kam, dass auch ihre Arbeit als Kriminalkommissarin nicht besonders beziehungsfreundlich war.

„Nun, meine Dame, was darf’s sein?“ Marina Burmann wurde durch die ungeduldige Stimme des Händlers aus ihren Gedanken gerissen. Erschrocken sah sie sich um und blickte in die fragenden Gesichter der hinter ihr stehenden Kunden.

„Ein Croissant und ein Kornbrötchen bitte“, beeilte sie sich zu sagen. „Ja, und ein Landbrot.“

„Geschnitten?“

„Nein danke, am Stück bleibt es länger frisch.“ Der Händler tat Brötchen und Brot in jeweils eine Tüte.

„Darf es sonst noch etwas sein?“

Marinas Blick fiel auf den Kuchen in der Auslage. „Ach, geben Sie mir doch noch ein Stück von dem Erdbeerplunder. Das war’s dann. Vielen Dank.“

Sie bezahlte und überlegte kurz, noch ein bisschen weiter über den Markt zu schlendern. Ihr Handy würde sich schon melden, wenn es etwas Wichtiges gäbe. An einem Obst- und Gemüsestand blieb sie stehen. Die Möhren sahen besonders gut aus. Sie würden einen wunderbaren Salat ergeben ... und dann noch Aprikosen, ihre Lieblingsfrüchte zu dieser Jahreszeit, zusammen mit Erdbeeren natürlich. Sie ließ sich alles einpacken und machte sich auf den Rückweg.

Unüberhörbar krächzte ihr Handy den Titelsong aus „Fluch der Karibik“, gerade als sie die Tür zu ihrer Wohnung aufschließen wollte. Auf dem Display las sie den Namen ihres Kollegen: Karsten Linnemann. Mist, dachte sie, immer zum ungünstigsten Zeitpunkt. Sie öffnete die Tür und lief dann schnell in die Küche, um die Einkäufe abzulegen. Dann nahm sie das Gespräch an.

„Hallo Karsten. Was gibt’s?“ Sie war etwas außer Atem geraten.

„Wo bist du? – Ach, egal. Was auch immer du gerade tust, lass es stehen und liegen und komm her. Es gibt Arbeit.“

„Okay! Adieu, du schöne Wochenendidylle.“

„Hast du was anderes erwartet? Wir haben Bereitschaft.“ Karsten wurde am Telefon jetzt ernst und dienstlich. „Es gibt eine Leiche. Eine Frau wurde auf dem Dachboden des Hauses gefunden, in dem sie wohnt. Scheint sich aufgehängt zu haben. Eine Bewohnerin aus demselben Haus fand sie heute Morgen, als sie Wäsche aufhängen wollte. Vermutlich Suizid.“

„Suizid? Und deshalb machst du so einen Wind? Suizide sind immer eine Tragödie, aber für uns Routine.“

„Ja, vielleicht. Oder auch nicht. Der Notarzt, der noch kam, machte so komische Andeutungen. Ach, komm einfach her und sieh es dir selbst an. Den Gerichtsmediziner habe ich schon informiert, der müsste auch jeden Moment kommen. Dann bis gleich.“

„Hallo, stopp mal! Wohin muss ich denn? Und wieso bist du schon da?“

„Äh, ja, sicher, nach Werther, Schlesierweg. Und ich bin schon da, weil ich nur einen Steinwurf von dort entfernt wohne. Im Flachskamp. Die Ersten vor Ort waren natürlich die Kollegen von der Streife und der Rettungswagen mit dem Doc. Konnte aber niemand mehr was machen, die Frau war schon tot. Aber jetzt komm, sonst ist unser Freund Lakefeld von der Gerichtsmedizin noch vor dir hier. Und das wollen wir doch beide nicht, oder?“

Nein, das wollen wir nicht, dachte Marina. Dieser Werner Meyer zu Lakefeld war ein ziemlich bärbeißiger Vertreter seiner Zunft, dem Marina eher in herzlicher Abneigung zugetan war. Brummig, immer ein wenig rechthaberisch, gab er ihr gegenüber gelegentlich auch den väterlichen Freund, der es natürlich nur gut meinte mit der jungen und unerfahrenen Kollegin. Seine Arbeit machte er ordentlich, aber die meisten waren sich einig, dass er wohl vor allem seine demnächst bevorstehende Pensionierung im Blick hatte.

Bevor sie das Haus verließ, trank sie noch rasch einen großen Schluck Orangensaft. Für heißen Kaffee reichte die Zeit nicht mehr. Die Brötchentüte nahm sie mit. Nach zwanzig Minuten war sie in Werther. Die Kleinstadt lag gleich hinter der Stadtgrenze von Bielefeld am Nordhang des Teutoburger Waldes, schon im Kreis Gütersloh. Eine sehr kleine Kleinstadt, hatte sie gedacht, als sie das erste Mal dort gewesen war, aber irgendwie auch nett.

Kurz vor dem Ortseingangsschild erkannte Marina Burmann durch die Bäume hindurch rechts unterhalb der Straße den Notarztwagen und einen Streifenwagen. Sie konnte auch eine Wohnsiedlung mit kleineren Mehrfamilienhäusern erkennen. Dorthin muss ich wohl, dachte sie und im selben Moment wurde sie vom Navi an einer Tankstelle nach rechts dirigiert. Nach wenigen hundert Metern war sie am Ziel. Sie parkte hinter dem Polizeifahrzeug. Linnemanns Wagen konnte sie nirgends ausmachen. Zielstrebig ging sie auf den Eingang des Hauses zu, vor dem der Rettungswagen stand. Es gehörte zu einer Siedlung von etwa einem Dutzend ähnlicher Gebäude, die allesamt sicher schon vor einigen Jahrzehnten gebaut, aber in der letzten Zeit gründlich renoviert worden waren. Die Außenwände machten einen frisch sanierten Eindruck, zudem waren offenbar Balkone angebaut worden. In jedem dieser Häuser wohnten vier oder sechs Parteien. Als sie die Eingangstür passierte, bestätigte der Blick auf das Klingelschild ihre Vermutung: Hier gab es vier Wohnungen.

Im Treppenhaus wimmelte es von Leuten, offenbar die Bewohner des Hauses oder auch der Nachbarhäuser, wenn sie die Anzahl abschätzte. Burmann musste sich ihren Weg durch die Menschen geradezu hindurchbahnen. Als sie ihren Kollegen sah, der sie auf der Treppe in Empfang nahm, war sie froh.

„Hallo Karsten! Wohnst du so nahe, dass du zu Fuß gekommen bist?“ Marina sah ihn neugierig an.

„Ja, zu Fuß. Sind tatsächlich nur gut dreihundert Meter. Aber komm mit nach oben.“ Dem Kollegen war offenbar nicht nach Smalltalk zumute.

Auf der Treppe zur ersten Etage stand ein uniformierter Kollege, der den oberen Bereich absperrte. Marina war dankbar dafür, blieb aber noch einmal stehen. Mit aller Autorität und fester Stimme wandte sie sich an die Bewohner: „Ich bin Kriminalkommissarin Marina Burmann und das ist mein Kollege Karsten Linnemann. Wir sind von der Kripo aus Bielefeld. Offenbar hat es hier im Haus einen Suizid gegeben. In einem solchen Fall ist routinemäßig die Polizei zuständig. Ich kann verstehen, dass Sie ziemlich aufgeregt sind und erfahren wollen, was hier genau geschehen ist. Aber am meisten helfen Sie uns, wenn Sie das Treppenhaus verlassen. Gehen Sie in Ihre Wohnungen oder draußen auf die Wiese, das Wetter ist ja schön, aber halten Sie das Treppenhaus frei.“ Und an den Kollegen von der Streifenpolizei gewandt fügte sie hinzu: „Bitte, sorgen Sie doch dafür, dass das auch so geschieht.“

Da Marina Burmann es tatsächlich geschafft hatte, noch vor dem Gerichtsmediziner anzukommen, war zu diesem Zeitpunkt niemand auf dem Dachboden, außer der am Boden liegenden Leiche einer Frau, deren Alter sie auf irgendetwas zwischen dreißig und vierzig schätzte. Marina streifte sich wie Karsten Plastiküberzieher über die Schuhe und zog Latexhandschuhe an. Dann fragte sie ihn, was er ihr schon sagen könne.

„Im Grunde noch nicht viel“, begann er. „Die Tote ist Dörthe Langer. Jedenfalls nach Aussage von Frau Kramer, der Bewohnerin, die sie gefunden hat. Sie wusste auch zu erzählen, dass Dörthe Langer eine Tochter hat, die in Bethel in einem Pflegeheim wohnt.“ Marina schaute Karsten fragend an. „Ja, diese Frau Kramer meinte, die Tochter sei, ich zitiere, irgendwie geistig behindert und müsse rund um die Uhr betreut werden.“

Beim letzten Satz ihres Kollegen hatte sich Burmann schon der Szenerie auf dem Dachboden zugewandt. Die tote Frau war nur mit einem längeren T-Shirt bekleidet und lag links vom Treppenaufgang flach auf dem Estrichboden. Neben ihr war ein kleiner Hocker umgestürzt. Möglicherweise war Dörthe Langer auf den gestiegen, um dann hinunterzuspringen.

„Der Notarzt hat zusammen mit einem unserer Kollegen die Leiche heruntergeholt und so auf den Boden gelegt, wie wir sie jetzt sehen“, kommentierte Karsten die Szenerie. „Das musste er, um feststellen zu können, ob es vielleicht noch irgendwelche Lebenszeichen gab. Aber sie war schon hinüber, mausetot.“ Marina sah Karsten wegen der flapsigen Ausdrucksweise tadelnd an, der dadurch ein wenig ins Stocken geriet. „Was ich sagen will, ist, dass da nichts mehr zu machen war. Der Doc ist übrigens schon wieder weg. Ein anderer Einsatz.“

„Und was war mit den ‚komischen Andeutungen‘, die du am Telefon erwähnt hast?“

„Als er weggeholt wurde, hatte er es ziemlich eilig. Mehr oder weniger im Vorbeigehen sagte er noch irgendetwas von merkwürdigen Strangulationszeichen. Darauf sollten wir achten.“

Burmann nickte mit dem Kopf: „Nun, wir werden sehen. Hat er schon einen Totenschein ausgefüllt?“

„Nein, das muss Lakefeld noch tun, wenn er gleich kommt. Der neue Einsatz ging vor. Der zweite Kollege von der Streife war so clever und hat Fotos und ein Video gemacht, wie die Frau da oben an dem Balken hing, beziehungsweise wie sie heruntergeholt wurde. So können wir uns eine Vorstellung davon machen, wie es hier ursprünglich ausgesehen hat. Auf dem Hocker, den du dort siehst, hat die Frau gestanden, bevor sie ihn umgestoßen hat. Der Doc hat ihn beiseitegeschoben. “

„Wie darf ich das verstehen?“

„Weiß ich nicht. Das waren jedenfalls seine Worte, als er verschwand. Auf den Bildern wird ja wohl auch das zu sehen sein.“

Marina machte sich eine Notiz.

„Und wie sieht’s mit einem Abschiedsbrief aus?“, fuhr sie fort.

„Fehlanzeige! Bis jetzt wurde keiner gefunden. Aber sieh doch selbst. Der Boden ist ziemlich aufgeräumt, um nicht zu sagen: leer. Vielleicht liegt er ja in der Wohnung.“

Professionell neugierig ging Marina auf die Tote zu und betrachtete sie von allen Seiten. Um den Hals der Toten lag ein eher dünnes Seil, eine Wäscheleine vielleicht. Sie sah zwei lose Enden, die vermutlich vorher um den Balken geknotet waren. Der Knoten war zu erkennen und auch, dass der Strick durchschnitten war.

„Wer hat das hier durchtrennt?“, wollte sie wissen.

„Das war schon so, als ich ankam. Vermutlich waren es unser Kollege und der Doc, als sie sie heruntergeholt haben“, antwortete Linnemann.

Marina gab sich damit zunächst zufrieden. Um die ursprüngliche Situation zu rekonstruieren, würden ihnen die Aufnahmen des Kollegen helfen. Dann sah sie sich weiter die Leiche an, natürlich ohne sie zu berühren. Um den Hals herum führte das Seil in einer doppelten Schlaufe. Es war gelockert worden, vermutlich auch vom Notarzt, sodass Marina die sogenannten Strangulationsfurchen erkennen konnte. Zwei dieser Furchen schienen auf den ersten Blick zum doppelt liegenden Seil zu passen. Sie verliefen wie zu erwarten aufwärts hinter den Ohren vorbei. Aber da war noch etwas, was ihre Neugier weckte. Es gab noch eine dritte Furche, die nicht parallel zu den anderen verlief, auch schwächer als diese, aber ohne Weiteres erkennbar.

„Karsten? Kommst du mal! Ist es das, was der Notarzt meinte?“

Marina wies ihren Kollegen auf die dritte Schürfstelle hin.

„Merkwürdig“, fuhr sie fort. „So etwas sollte man nur direkt unter dem Seil vermuten, da, wo es sich zusammengezogen hat und dann die Luft wegdrückte. Und dann, in diesem Fall zumindest, auch nur zwei Abdrücke. Aber diese dritte Furche – komisch irgendwie. Das sollten wir uns wirklich merken.“ Sie machte sich eine weitere Notiz.

„Bist du jetzt unter die Kriminaltechniker und Gerichtsmediziner gegangen? Oder ist das der Erfolg deines letzten Fortbildungsseminars?“, wollte Karsten mit einem Grinsen im Gesicht wissen.

„Wer macht mir da Konkurrenz?“ Die Kommissare blickten sich erschrocken um, als sie den brummenden Bass des Gerichtsmediziners hinter sich poltern hörten.

Linnemann reckte abwehrend und entschuldigend die Arme in die Höhe. „Keiner hat die Absicht, Ihnen Konkurrenz zu machen. Wir haben uns nur gerade über eine dritte Schürfstelle neben dem Seil gewundert, die wir uns nicht erklären können. Schließlich liegt das Seil nur in einer Doppelschlaufe um den Hals.“

„Na, dann lasst mal den Profi ran. Keine Sorge, ich krieg’s schon raus und sag’s euch dann. Und Sie, Frau Burmann, haben einen Fortbildungskurs gemacht? Mit welchem Inhalt, wenn ich fragen darf?“

„Es ging darum, unsere Sicht für eventuell verdeckte Tötungsdelikte, die als Suizide getarnt wurden, zu schärfen. Der Referent, übrigens ein Kollege von Ihnen aus Münster, war fest davon überzeugt, dass sehr viele Morde falsch eingestuft würden ...“

„So, so! Ein Kollege aus Münster! Etwa dieser Professor Johannes Pfeiffer?“ Lakefeld konnte, so schien es Burmann, gar nicht genug Abscheu in die Aussprache des Namens legen.

„Ja, Professor Pfeiffer, das war der Referent“, bestätigte Marina mit einem Achselzucken.

„Oh, da hat unsere Kommissarin aber einen ganz Großen der Branche erlebt.“ Wieder triefte die Stimme des Bielefelder Rechtsmediziners vor Sarkasmus. Dann wandte er sich demonstrativ seiner Arbeit zu.

Für Burmann und Linnemann gab es im Augenblick auf dem Dachboden nichts mehr zu tun. Sie wollten aber unbedingt noch abwarten, ob es schon allererste Ergebnisse gäbe. Vor allem der Todeszeitpunkt und die Frage der zusätzlichen Abschürfung interessierten sie.

„Lass uns doch inzwischen“, meinte Marina, als sie die Bodentreppe hinunterstiegen, „in der Wohnung nachschauen, ob es dort etwas Verwertbares gibt. Irgendeinen Hinweis. Vielleicht auf Angehörige, die man benachrichtigen müsste. So vollkommen allein ist doch eigentlich niemand. Und eventuell gibt es ja dort einen Abschiedsbrief. Ehrlich, Karsten, ich habe ein ungutes Gefühl. Ich glaube, der Notarzt hat recht mit seiner Vermutung. Irgendetwas stimmt mit diesem Suizid nicht.“

An dem Streifenbeamten vorbei, der nach wie vor auf der Treppe die Neugierigen zurückhalten musste, betraten sie vorsichtig die Räume der toten Dörthe Langer. Schuhüberzieher und Handschuhe behielten sie an. Die Wohnung war nicht sehr groß, drei eher kleine Zimmer, dazu Küche und Bad sowie ein Balkon in der Art, wie er Marina schon draußen aufgefallen war. Die Wände waren durchgängig mit Raufaser tapeziert und in unterschiedlichen, überwiegend hellen Tönen gestrichen. Neben dem Wohnzimmer gab es ein Schlafzimmer und eine Art Kinder- oder Jugendzimmer, das unbenutzt aussah.

„Hatte die Nachbarin nicht etwas von einer behinderten Tochter in Bethel erzählt? Vielleicht schläft sie ja gelegentlich hier“, mutmaßte Marina. „Kannte sie eigentlich den Namen des Kindes?“

„Mia“, gab Karsten unmittelbar zurück. Und nach einer kleinen Sekunde des Nachdenkens: „Ja, sie heißt Mia. Das hat diese Frau Kramer gesagt.“

Karsten ging zuerst in die Küche, während Marina sich den Schlafraum der Mutter vornahm. Die Einrichtung wies keine Überraschungen auf. Ein Einzelbett, ein Kleiderschrank, eine Kommode und eine Ablage als Nachttischchen. Allerdings: Das Bett war zerwühlt. Die Nachttischlampe brannte. Ungewöhnlich, schoss es Burmann durch den Kopf. Ist sie etwa aus dem Bett aufgestanden, vielleicht mitten in der Nacht, hat die Lampe eingeschaltet und sich dann auf dem Boden aufgehängt? Nein, das konnte sie sich nicht so recht vorstellen, würde aber zu dem nachthemdartigen T-Shirt passen, das Dörthe Langer übergezogen hatte. Wer weiß, dachte die Kommissarin, Menschen, die sich das Leben nehmen, denken selten geradlinig und vernünftig.

Auf der Ablage am Bett stand neben der Lampe ein Bilderrahmen mit dem Foto eines Mädchens. Vermutlich die Tochter Mia. Auf dem Bild war die Behinderung mehr als deutlich zu erkennen.

Eine Medikamentenpackung auf der Ablage zog Marinas Aufmerksamkeit auf sich. Zopiclon, ein Schlafmittel. Sie notierte sich den Namen und machte sicherheitshalber ein paar Bilder mit ihrem Smartphone, nicht nur von der Schachtel und dem Nachttischchen, sondern vom gesamten Raum. Das hatte sie sich schon in Minden angewöhnt. Die Bilder halfen ihr später bei der exakten Erinnerung. Die Spurensicherer schossen natürlich auch jede Menge Fotos, detailreicher und schärfer, aber ihre eigenen fand sie am Ende immer besonders hilfreich, weil sie zu ihren persönlichen Eindrücken passten. Schließlich verließ sie das Schlafzimmer, das sonst nichts Besonderes zu enthalten schien. Im letzten Moment drehte sie sich noch einmal um. Sie entdeckte ein Wasserglas, halb unter das Bett gerollt. Der Teppichboden war sogar etwas feucht an der Stelle. Offenbar war noch ein Rest im Glas gewesen, als es umfiel. Auch davon machte sie ein Foto.

In der Küche traf sie auf Karsten, der, ebenfalls mit Handschuhen an den Händen, einen Stapel Briefe durchsah, der auf dem Küchentisch gelegen hatte.

„Irgendetwas Spannendes dabei?“, fragte sie.

„Kann ich so noch nicht erkennen. Eine Stromrechnung, Werbung und eine, ach das ist interessant, eine Gehaltsmitteilung für den letzten Monat.“

Neugierig geworden schaute Burmann zusammen mit Linnemann auf das Papier. Auszahlungsbetrag: 1.465,47 Euro. Arbeitgeber: Karstadt AG Bielefeld. Steuerklasse zwei. „Aha“, sagte Karsten, „alleinstehend mit Kind. Passt zu dem, was diese Frau Kramer gesagt hat.“

„Ja“, entgegnete Marina, „und zu einem Bild, das ich im Schlafzimmer gesehen habe. Das behinderte Kind, von dem die Nachbarin gesprochen hat, wohnt möglicherweise tatsächlich zeitweilig hier. Das müssen wir noch genauer untersuchen. Sonst irgendwelche Hinweise auf Verwandte oder Bekannte? Vielleicht Urlaubspostkarten oder etwas in der Art?“ Karsten schüttelte den Kopf und legte die Papiere zurück. Schließlich warfen die beiden noch einen Blick in das Wohnzimmer. Auch hier, zumindest in Bezug auf die Einrichtung, nichts Besonderes. Das war die Wohnung einer Frau, die versucht hatte, mit geringen Mitteln ein wenig wohnliche Atmosphäre zu schaffen und offenbar hatte ihr ein schwedisches Möbelhaus dabei geholfen. Und tatsächlich, dachte Marina, es ist ihr gelungen.

Schließlich schauten sie in das Kinderzimmer. Dieser Raum war besonders liebevoll eingerichtet, wirkte aber wenig benutzt. Mia ist nur selten hier, wenn überhaupt, schoss es Burmann durch den Kopf. Besonders auffällig war eine große Lampe unter der Decke, die einen Sternenhimmel imitieren konnte.

Karsten und Marina sahen sich nachdenklich an. „Denkst du das Gleiche, was ich denke?“, begann Karsten.

„Wenn du denkst, dass eine Mutter, die, wie es aussieht, sehr an ihrem behinderten Kind hängt, sich niemals das Leben nimmt, um es allein in der Welt zu lassen, dann denken wir das Gleiche. – Karsten, das war kein Suizid!“

„Spricht jedenfalls bis jetzt nicht viel dafür. Wenn wir einen Abschiedsbrief fänden ... Mal sehen, was Lakefeld meint.“

„Lakefeld meint: Suizid. Ganz klar.“ Unbemerkt war der Gerichtsmediziner in die Wohnung gekommen und stand nun hinter ihnen. „Tod durch Erhängen. Es spricht nichts dagegen, dass sie es selbst getan hat.“

„Sind Sie da sicher?“ Burmann konnte ihr Erstaunen über die kurze und bündige Mitteilung des Forensikers kaum verbergen. „Und was ist mit der zusätzlichen Strangmarke? Ich meine, dort neben den deutlichen, aufwärts verlaufenden Strangfurchen auch eine horizontale Abschürfung erkannt zu haben. Vertikale Marken bei Erhängen, horizontale bei Drosselung durch jemand anders. So ist es doch, Herr Lakefeld, oder? Übrigens, auch der Notarzt, wenn ich Kollege Linnemann recht verstanden habe, hatte Zweifel an der Suizidtheorie.“

„So, so! Das haben Sie schön gelernt.“ Der Sarkasmus in Lakefelds Worten kannte erneut fast keine Grenzen. „Verstehe“, fügte er dann noch hinzu, „das sind wohl die Früchte Ihres Seminars mit diesem Pfeiffer. Aber glauben Sie mir, meine Liebe, ein bisschen mehr Erfahrung als Sie habe ich denn doch. Nein, hier gibt es keine Zweifel. Ganz klare, aufwärts verlaufende Strangfurchen mit Knotenbildung im Nacken, Speichelfäden als letztes vitales Zeichen, Stauungsblutungen nicht besonders ausgeprägt. Der Tod trat durch Erhängen ein, nicht durch Erdrosseln.“

„Und die parallele Furche?“

„Da hat wohl der Strick nicht richtig gesessen. Kann schon mal passieren. So einen Selbstmord kann man ja vorher nicht üben.“ Ein glucksendes Lachen ließ Marina und Karsten erschaudern.