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Lew Tolstoi

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Beschreibung

Sewastopol, geschrieben von Lew Tolstoi, ist eine Sammlung von Berichten über die Belagerung von Sewastopol während des Krimkrieges. Tolstoi verwendet eine klare und nüchterne Sprache, um die Grausamkeiten des Krieges und die psychologischen Auswirkungen auf Soldaten und Zivilisten darzustellen. Durch seine detaillierten Beschreibungen liefert er einen einzigartigen Einblick in die Realität des Krieges und den Verlust von Menschlichkeit. Sewastopol ist ein wichtiges Werk innerhalb der Kriegsliteratur und zeigt Tolstois Talent als Schriftsteller.

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Lew Tolstoi

Sewastopol

 
EAN 8596547078173
DigiCat, 2022 Contact: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Sewastopol im Dezember 1854, im Mai und August 1855
Sewastopol im December 1854
Sewastopol im Mai 1855
Sewastopol im August 1855
Kaukasische Erzählungen - Ein Ueberfall - Der Holzschlag - Begegnung im Felde
Ein Ueberfall - Erzählung eines Freiwilligen
Der Holzschlag - Erzählung eines Junkers
Eine Begegnung im Felde mit einem Moskauer Bekannten (Aus den kaukasischen Aufzeichnungen des Fürsten Nechljudow)

Sewastopol im Dezember 1854, im Mai und August 1855

Inhaltsverzeichnis

Leo Tolstoj war aus dem Kaukasus in die Heimat zurückgekehrt. Er war Soldat und konnte sich – nach den kleinen Scharmützeln mit den ungebändigten Gebirgsstämmen, – auch dem gewaltigen Völkerkriege nicht entziehen, dessen Schauplatz die Krim ward. Vor Sewastopol fiel die Entscheidung in diesem ungleichen Kampfe, den Rußland gegen zwei Großmächte des Westens zu führen hatte.

Am 23. September hatten die Russen ihre ganze Flotte in das Schwarze Meer versenkt, um den Angriff von der Seeseite her zu vereiteln, und Totlebens Kunst hatte die Festung durch Aufführung von Forts und Bastionen zu einer fast uneinnehmbaren gemacht. Die fortgesetzte Beschießung aber mit ihren Opfern an Menschenleben, die Abschneidung der Zufuhr von Lebensmitteln und die gänzliche Ermattung des russischen Heeres führten endlich am 27. August 1855 nach einem furchtbaren Sturmangriff zur Uebergabe Sewastopols.

Alle Leiden des russischen Heeres hatte der junge Offizier in der vierten Bastion, an einer der gefährlichsten Stellen der belagerten Festung, mitgemacht. Und gewohnt, das Erlebte im dichterischen Spiegelbilde festzuhalten, bannte Leo Tolstoj auch die Leidenstage von Sewastopol in drei gewaltige Schilderungen, die das entzückte Rußland mit steigender Bewunderung las, während noch der Heldenmut seiner Söhne vergeblich um den Sieg rang. Kaiser Nikolaus selbst, der Urheber des großen Völkerunglücks, war von dem Werke des jungen Offiziers begeistert. Er gab den Befehl, ihn von dem gefährlichen Orte zu entfernen, damit das Leben eines zukunftsreichen Talents geschont werde.

Tolstoj wählte für seine Schilderungen den Anfang, den Höhepunkt und das Ende der Kämpfe vor Sewastopol, und benennt sie äußerlich nach der Zeit: Sewastopol im Dezember, Sewastopol im Mai, Sewastopol im August.

Aus diesen drei Augenblicksbildern sprechen mit beredten Worten das tiefe Mitgefühl mit den Leiden des Volks, die Bewunderung für seine unwandelbare Tapferkeit und Leidensfähigkeit, der große Schmerz um den Völkerwahn des Krieges, die Geringschätzung für Eigenschaften, die eine hergebrachte Anschauung Tugenden nennt – genug, all die Grundideen Tolstojscher Ethik, die auch in seinen anderen dichterischen Werken zum Ausdruck kommen, und die erst im sechsten Jahrzehnt seines Lebens sich zu einer systematischen Weltanschauung verdichten sollten.

Aber trotz des scheinbar auf sittliche Ziele gerichteten Inhalts ist die Schilderung von ruhigster Sachlichkeit. Dem Dichter ist nichts gut, nichts böse; nicht zur Nachahmung aneifern will er in seinen Schilderungen der Tapferkeit, nicht abschrecken vom Bösen durch grausige Darstellung des Entsetzlichen, nicht einmal in den einzelnen Personen, die er handeln läßt, Muster kriegerischer Tugenden oder abschreckende Beispiele des Gegenteils vorführen. Die Menschen alle »können nicht die Uebelthäter, noch die Helden der Erzählung sein«.

»Der Held meiner Erzählung – sagt Tolstoj – den ich mit der ganzen Kraft meiner Seele liebe, den ich in ganzer Schöne zu schildern bemüht war, und der immer schön gewesen ist und immer schön sein wird – ist die Wahrheit.«

Erscheinen in dieser Hinsicht die Schilderungen der Sewastopoler Kämpfe gewissermaßen als eine kunstlose Wiedergabe der Wirklichkeit, so zeigt sich die berechnende Kunst des Dichters deutlich in der Steigerung, die in der Wahl der drei Momente liegt, die von entscheidender Bedeutung für den Krieg waren: die Zeit der Entwicklung, der Wendung und des tragischen Abschlusses.

Alle drei Skizzen sind unter den Eindrücken der Sewastopoler Leidenstage selbst geschrieben, in den Jahren 1854 und 1855. Zwischen ihnen liegt nur die Abfassung der kurzen Erzählung: »Der Holzschlag«.

Die Kritik nahm die Sewastopoler Skizzen mit Bewunderung auf. Sie waren das erste Werk Leo Tolstojs, das einen allgemeinen, unbestrittenen Erfolg hatte. Das lesende Rußland sah in den poetischen Schilderungen des Grafen Tolstoj nicht bloß interessante Thatsachen in der Wiedergabe eines Augenzeugen, nicht bloß begeisterte Erzählungen von Heldenthaten, die auch den Leidenschaftslosesten hätten fortreißen können; jeder Leser erblickte darin die Verherrlichung der nationalen Tapferkeit und die Verewigung ihres Andenkens.

Nie vorher hatte Rußland Soldatenschilderungen solcher Art gekannt. Skobelews vielgelesene Erzählungen waren unter den Vorurteilen einer schönfärberischen Vaterlandsliebe entstanden und sind die Schöpfungen einer mittelmäßigen Dichtergabe. Tolstoj strebte nach einer treuen Wirklichkeitsschilderung und besaß zugleich die Kraft, dem Alltäglichen den Charakter des Erhabenen zu geben.

R. L.

Sewastopol im December 1854

Inhaltsverzeichnis

Eben beginnt die Morgenröte den Horizont über dem Ssapunberg zu färben; die dunkelblaue Meeresfläche hat bereits das nächtliche Dunkel abgestreift und erwartet den ersten Sonnenstrahl, um in glänzenden Farben zu spielen; von der Bucht her weht es kalt und neblig; es liegt kein Schnee, alles ist schwarz, aber der scharfe Morgenfrost greift das Gesicht an und macht die Erde unter den Füßen knirschen; nur das entfernte, unaufhörliche, bisweilen von rollenden Schüssen in Sewastopol übertönte Brausen des Meeres unterbricht die Stille des Morgens. Auf den Schiffen ist es still; die achte Stunde schlägt.

Auf der Nordseite beginnt allmählich die Ruhe der Nacht der Thätigkeit des Tages zu weichen: hier marschiert eine Wachablösung, mit den Gewehren klirrend, vorbei; dort eilt ein Arzt schon ins Lazarett; hier kriecht ein Soldat aus einer Erdhütte, wäscht sich mit eisigem Wasser das sonnenverbrannte Gesicht und betet, nach dem sich rötenden Osten gewendet und sich schnell bekreuzigend, zu Gott; hier schleppt knarrend eine hohe, schwere, mit Kamelen bespannte Madshara (tatarischer Bauernwagen) blutige Leichen, mit denen sie fast bis an den Rand beladen ist, zur Beerdigung auf den Kirchhof ... Wir gehen auf den Hafen zu, – hier schlägt uns ein eigentümlicher Geruch von Steinkohlen, Dünger, Feuchtigkeit und Fleisch entgegen; tausend verschiedenartige Gegenstände – Brennholz, Fleisch, Schanzkörbe, Mehl, Eisen u.s.w. – liegen haufenweis am Hafen; Soldaten verschiedener Regimenter, mit Säcken und Gewehren, ohne Säcke und ohne Gewehre, drängen sich hier, rauchen, zanken sich, schleppen Lasten auf den Dampfer, der rauchend an der Landungsbrücke liegt; Privatkähne, voll von allerlei Volk, – von Soldaten, Seeleuten, Kaufleuten, Weibern, – legen an oder stoßen ab.

Nach der Grafßkaja, Euer Wohlgeboren, wenn's gefällig ist! bieten uns zwei oder drei verabschiedete Matrosen ihre Dienste an, indem sie in ihren Böten aufstehen.

Wir wählen den, der uns am nächsten ist, schreiten über den halbverfaulten Kadaver eines braunen Pferdes, der hier im Schmutz in der Nähe des Bootes liegt, und gehen an's Steuerruder. Wir stoßen vom Ufer ab. Rings um uns haben wir das schon in der Morgensonne glänzende Meer, vor uns den alten Matrosen, in einem Überrock aus Kamelhaar, und einen blonden Knaben, die unter Schweigen emsig die Ruder führen. Wir sehen die vielen segelfertigen Schiffe, die nah und fern in der Bucht zerstreut sind, die kleinen, schwarzen Punkte der auf dem glänzenden Azur des Meeres sich bewegenden Schaluppen und die auf der andern Seite der Bucht befindlichen, durch die hellroten Strahlen der Morgensonne gefärbten, schönen und hellen Häuser der Stadt; wir sehen die schaumbespritzte Linie des Molo und der versenkten Schiffe, deren schwarze Mastenspitzen hie und da düster aus dem Wasser ragen; unserm Blicke begegnet die entfernte feindliche Flotte, die am kristallenen Horizont des Meeres unthätig daliegt, endlich sehen wir die durch unsere Ruder in den schäumenden Wellen in die Höhe geworfenen und springenden Tropfen der Salzflut; wir hören den einförmigen Laut von Stimmen, die über das Wasser her zu uns dringen, und die majestätischen Töne der Kanonade, die, wie uns scheint, immer stärker wird in Sewastopol.

Es ist unmöglich, daß bei dem Gedanken: auch wir sind in Sewastopol, unsere Seele nicht das Gefühl eines gewissen Mutes und Stolzes durchdringe, und das Blut nicht schneller in unsern Adern fließe.

Euer Wohlgeboren! Steuern Sie direkt auf den Kistentin (das Schiff »Konstantin«), sagt zu uns der alte Matrose, indem er sich rückwärts wendet, um die Richtung, die wir dem Boote geben, zu berichtigen, das Steuerruder rechts!

Und er hat noch all seine Kanonen! bemerkt der blonde Bursche, während er am Schiffe vorbeirudert und es betrachtet.

Freilich. Er ist neu, Kornilow hat ihn befehligt, bemerkt der Alte, indem er ebenfalls das Schiff betrachtet.

Sieh, wie sie geplatzt ist! sagt der Knabe nach einem längeren Schweigen, indem er auf ein weißes Wölkchen zerfließenden Rauches sieht, das sich plötzlich hoch über der südlichen Bucht erhebt und von dem lauten Krachen einer platzenden Bombe begleitet ist.

Er feuert heut aus einer neuen Batterie, fügt der Alte hinzu, indem er sich gleichmütig in die Hände spuckt. Nun, Mischka, zugerudert, wir wollen die Barkasse überholen! ... Und unser Boot eilt schneller vorwärts über die weite, wogende Bucht, überholt wirklich die schwere Barkasse, die mit Säcken beladen ist und von ungeschickten Soldaten ungleich gerudert wird, und landet, zwischen einer Menge am Ufer befestigter Böte, im Grafßkaja-Hafen.

Auf dem Uferdamm bewegen sich lärmend Scharen von Soldaten in grauen Mänteln, von Matrosen in schwarzen Winterröcken und von buntgekleideten Frauen. Alte Weiber verkaufen Semmeln, Bauern mit Theemaschinen schreien: »Heißer Sbitjen!«[A] und dort auf den ersten Stufen der nach dem Landungsplatz führenden Treppe liegen verrostete Kanonenkugeln, Bomben, Kartätschen und gußeiserne Kanonen verschiedenen Kalibers; etwas weiter ist ein großer Platz, auf dem mächtige Balken, Kanonenlafetten, schlafende Soldaten liegen, und Pferde, Fuhrwerke, grüne Pulverkasten mit Geschützen, und Sturmgeräte der Infanterie stehen; Soldaten, Matrosen, Offiziere, Weiber, Kinder und Kaufleute bewegen sich durcheinander; Bauernwagen mit Heu, mit Säcken und Fässern kommen angefahren; hier reitet ein Kosak und ein Offizier, dort fährt ein General in einer Droschke. Rechts ist die Straße durch eine Barrikade gesperrt, auf der in Schießscharten kleine Kanonen stehen; neben diesen sitzt, seine Pfeife rauchend, ein Matrose. Links erhebt sich ein hübsches Haus mit römischen Ziffern an der Stirnseite, vor dem Soldaten neben blutigen Tragbahren stehen, – überall sehen wir die häßlichen Spuren des Lagerlebens im Kriege. Der erste Eindruck, den wir empfinden, ist jedenfalls der unangenehmste; die eigentümliche Vermischung des Lagerlebens mit städtischem Leben und Treiben, der schönen Stadt mit dem schmutzigen Biwak ist nicht nur unschön, sondern kommt uns wie ein widerwärtiges Durcheinander vor; es scheinen uns sogar alle bestürzt und unruhig, und nicht zu wissen, was sie thun sollen. Aber wenn wir den Menschen, die sich um uns herum bewegen, näher ins Gesicht sehen, kommen wir zu einer ganz andern Ansicht. Betrachten wir nur diesen Train-Soldaten, der seine drei Braunen zur Tränke führt, und so ruhig vor sich hinsummt, daß man ihm anmerkt, er wird sich in dieser bunten Menge, die für ihn nicht existiert, nicht verirren, er verrichtet seine Arbeit, welche es immer sei, ob Pferde zu tränken, oder am Geschütz zu ziehen, ebenso ruhig, selbstvertrauend und gleichgültig, als wenn das alles irgendwo in Tula oder Saransk geschehe. Denselben Ausdruck lesen wir auch auf dem Gesicht des jungen Offiziers, der in tadellosen weißen Handschuhen vorbeigeht, auf dem Gesicht des Matrosen, der rauchend auf der Barrikade sitzt, auf den Gesichtern der als Träger verwendeten Soldaten, die mit Bahren auf der Außentreppe des ehemaligen Kasinos warten, und auf dem Gesicht des Mädchens, das, in der Furcht, sein rosafarbenes Kleid naß zu machen, von Stein zu Stein über die Straße hüpft.

[A] Getränk aus Wasser, Honig und Lorbeerblättern oder Salbei, das von den Aermeren als Thee getrunken wird. Anm. d. Herausg.

Wenn wir zum erstenmal in Sewastopol ankommen, sind wir unbedingt enttäuscht. Wir suchen vergebens, auch nur auf einem Gesicht, Spuren von Unruhe und Kopflosigkeit, oder auch von Begeisterung, Todesmut und Entschlossenheit, – nichts von alledem: wir sehen ruhig mit ihrer Alltagsarbeit beschäftigte Alltagsmenschen, so daß wir uns vielleicht selbst ein Übermaß von Enthusiasmus vorwerfen, daß wir leise Zweifel hegen an der Richtigkeit der Vorstellung von dem Heldenmut der Verteidiger Sewastopols, die wir uns nach den Erzählungen, den Beschreibungen gebildet haben und dem, was wir auf der Nordseite gesehen und gehört. Aber ehe wir zweifeln, gehen wir auf die Bastionen, betrachten wir Sewastopols Verteidiger auf dem Schauplatz der Verteidigung selber, – oder noch besser, gehen wir direkt in das Haus gegenüber, das früher das Sewastopoler Kasinogebäude gewesen und auf dessen Außentreppe Soldaten mit Tragbahren stehen, – da werden wir die Verteidiger Sewastopols sehen, da werden wir schreckliche, traurige, große, Erstaunen erregende und herzerhebende Szenen sehen.

Wir wollen in den großen Saal des Kasinos gehen. Kaum haben wir die Thür geöffnet, da erschreckt uns plötzlich der Anblick und der Geruch von vierzig oder fünfzig amputierten, sehr schwer verwundeten Kranken, die einen auf Pritschen, die meisten auf der Diele liegend. Wir dürfen dem Gefühl, das uns an der Schwelle zurückhält, nicht nachgeben – es ist kein schönes Gefühl; gehen wir nur vorwärts, schämen wir uns nicht, daß wir gekommen, von den quälendsten Schmerzen Gepeinigte zu sehen – schämen wir uns nicht, zu ihnen zu gehen und mit ihnen zu sprechen: die Unglücklichen sehen gern ein mitfühlendes Menschenantlitz, sprechen gern von ihren Qualen und hören gern Worte der Liebe und Teilnahme ... Wir wollen in der Mitte der Lagerstätten entlang gehen und ein weniger düsteres und schmerzdurchfurchtes Gesicht suchen, zu dem wir hingehen können, um zu sprechen.

Wo bist du verwundet? – fragen wir unentschlossen und zaghaft einen alten, abgemagerten Soldaten, der auf einer Pritsche sitzt, uns mit einem treuherzigen Blicke verfolgt und uns aufzufordern scheint, an ihn heranzukommen. Ich sage: zaghaft fragen wir, weil Leiden nicht nur tiefes Mitgefühl, sondern auch Scheu vor der Möglichkeit zu beleidigen und Hochachtung vor dem, der sie erträgt, einflößen.

Am Bein, antwortet der Soldat, aber zugleich bemerken wir selber an den Falten der Decke, daß ihm ein Bein bis zum Knie fehlt. Gott sei Dank, fügt er hinzu: ich werde jetzt aus dem Lazarett entlassen werden.

Und ist es schon lange her, daß du verwundet worden bist?

Ja, vor sechs Wochen, Euer Wohlgeboren.

Schmerzt es dich jetzt?

Nein, jetzt schmerzt es nicht, – gar nicht; nur die Wade scheint mir weh zu thun, wenn schlechtes Wetter ist, das ist alles.

Wie und wo bist du verwundet worden?

Auf der fünften Bastion, Euer Wohlgeboren, wie das erste Bombardement war, ich hatte das Geschütz hergerichtet, wollte nach einer anderen Schießscharte gehen, und da traf er mich ins Bein, es war mir, als ob ich in eine Grube stürzte, – fort war das Bein.

Empfandest du nicht Schmerz in diesem ersten Augenblick?

Nein, nur ein Gefühl, als wenn ich mit etwas Heißem ans Bein gestoßen würde.

Nun, aber dann?

Und dann war weiter nichts; nur als man mir die Haut straff zog, war mir, als ob sie wund gerieben würde. Das Erste, Euer Wohlgeboren, ist, an nichts denken; wenn man nichts denkt, dann ist auch weiter nichts. Alles kommt daher, daß der Mensch denkt.

Da tritt an uns eine Frau heran, in einem grauen gestreiften Kleide, mit einem um den Kopf gebundenen schwarzen Tuch, sie mischt sich in unser Gespräch mit dem Matrosen und beginnt von ihm zu erzählen, von seinen Leiden, dem verzweifelten Zustande, in dem er sich vier Wochen lang befunden, – wie er, verwundet, die Tragbahre hatte anhalten lassen, um die Salve unserer Batterie zu sehen, wie die Großfürsten mit ihm gesprochen und ihm 25 Rubel geschenkt, und wie er ihnen gesagt, daß er wieder auf die Bastion wolle, um die jungen Leute zu unterweisen, wenn er selber nicht mehr arbeiten könnte. Während die Frau dies in einem Atem hersagt, sieht sie bald uns, bald den Matrosen an, der, abgewandt und als wenn er nicht auf sie hörte, auf seinem Kopfkissen Charpie zupft, – und ihre Augen leuchten dabei von einem besonderen Entzücken.

Das ist meine Hausfrau, Euer Wohlgeboren! bemerkt uns der Matrose, mit einem Ausdrucke, als wenn er spräche: Sie müssen ihr schon verzeihen, es ist einmal so, Weiber müssen dummes Zeug schwatzen.

Wir beginnen die Verteidiger Sewastopols zu verstehen, wir schämen uns förmlich vor diesem Menschen. Wir möchten ihm gar viel sagen, um ihm unser Mitgefühl und unsere Bewunderung auszudrücken, aber wir finden keine Worte oder sind nicht zufrieden mit denen, die uns gerade einfallen, und beugen uns schweigend vor dieser schweigsamen und unbewußten Größe und Stärke des Geistes, dieser Scham vor dem eigenen Werte.

Nun möge Gott dich bald gesund werden lassen, sagen wir zu ihm und bleiben vor einem anderen Kranken stehen, der auf der Diele liegt und in unerträglichen Schmerzen den Tod zu erwarten scheint.

Es ist ein blonder Mensch mit einem geschwollenen und bleichen Gesicht. Er liegt auf dem Rücken, den linken Arm hinten unter gelegt, in einer Lage, die fürchterliche Schmerzen ausdrückt. Der vertrocknete, geöffnete Mund stößt mit Mühe röchelnden Atem aus; die blauen, glanzlosen Augen rollen nach oben gerichtet, und aus der umgeschlagenen Decke ragt der mit Binden umwundene Stumpf des rechten Arms hervor. Der dumpfige Geruch, den der leblose Körper ausströmt, fällt uns stark auf die Brust, und die verzehrende, innerliche Hitze, die alle Glieder des Dulders durchdringt, bemächtigt sich auch unser.

Wie, ist er besinnungslos? fragen wir die Frau, die hinter uns geht und uns, wie Verwandte, freundlich ansieht.

Noch nicht, er hört, befindet sich aber sehr schlecht, fügt sie flüsternd hinzu, ich habe ihm heute Thee zu trinken gegeben; obwohl er mir fremd ist, so muß man doch Mitleiden haben, – er hat fast gar nicht mehr getrunken.

Wie fühlst du dich? fragen wir ihn.

Der Verwundete bewegt auf unsere Frage die Pupillen, aber er sieht und versteht uns nicht.

Im Herzen brennt's.

Ein wenig weiter sehen wir einen alten Soldaten, der die Wäsche wechselt. Sein Gesicht und Körper sind ziegelfarbig und mager wie bei einem Skelett. Der eine Arm fehlt ihm gänzlich, er ist ihm an der Schulter abgenommen worden. Er sitzt gefaßt da, – er befindet sich auf dem Wege der Besserung; aber an dem toten, trüben Auge, an der schrecklichen Magerkeit und den Runzeln des Gesichts erkennen wir, daß dieses Wesen schon den größeren Teil seines Lebens durchlitten hat.

Auf der anderen Seite sehen wir auf einer Pritsche ein leidendes, bleiches und zartes Frauengesicht, auf dessen Wangen flammende Röte spielt.

Das ist unsere Matrosenfrau, am 5. hat sie eine Bombe am Bein getroffen, sagt uns unsere Führerin, sie brachte ihrem Manne Essen auf die Bastion.

Hat man sie amputiert?

Sie ist über'm Knie amputiert worden.

Jetzt gehen wir durch eine Thür links, wenn unsere Nerven stark sind; in diesem Zimmer werden die Verwundeten verbunden und operiert. Wir sehen hier die Ärzte mit Blut an den Armen bis zu den Ellbogen und mit blassen, finsteren Gesichtern um eine Pritsche beschäftigt, auf der mit geöffneten Augen und wie im Fieber sinnlose, bisweilen einfache und rührende Worte sprechend, ein Verwundeter chloroformiert liegt. Die Ärzte sind mit einer widerwärtigen, aber wohlthätigen Arbeit beschäftigt. Wir sehen, wie ein scharfes krummes Messer in den weißen, gesunden Körper einschneidet; – wir sehen, wie der Verwundete mit einem schrecklichen, herzzerreißenden Schrei und mit Verwünschungen plötzlich zur Besinnung kommt; – wir sehen, wie der Feldscher den abgeschnittenen Arm in eine Ecke wirft; – wir sehen in demselben Zimmer, auf einer Tragbahre, einen anderen Verwundeten liegen, der beim Anblick der Operation des Kameraden sich windet und stöhnt, nicht so sehr aus körperlichem Schmerz, wie aus Qual und Erwartung; – wir sehen schreckliche, herzerschütternde Szenen, wir sehen den Krieg nicht in dem üblichen schönen und glänzenden Gewande, mit Musik und Trommelklang, mit wehenden Fahnen und Generalen hoch zu Rosse, wir sehen den Krieg in seinem wahren Wesen – in Blut, in Leiden, in Tod ...

Treten wir aus diesem Hause der Qualen heraus, so empfinden wir unfehlbar ein tröstliches Gefühl, atmen voller die frische Luft ein, empfinden Vergnügen im Bewußtsein unserer Gesundheit, schöpfen aber zugleich aus der Anschauung dieser Leiden das Bewußtsein unserer eigenen Nichtigkeit und gehen ruhig und entschlossen auf die Bastionen ...

»Was bedeutet der Tod und die Leiden eines so nichtigen Wurmes, wie ich, im Vergleich zu dem Tode und dem Leiden so vieler?« Aber der Anblick des klaren Himmels, der strahlenden Sonne, der schönen Stadt, der geöffneten Kirche und des Kriegsvolks, das sich nach allen Richtungen hin bewegt, versetzt unsern Geist schnell in den normalen Zustand des Leichtsinns, der Alltagssorgen und des Genusses der Gegenwart.

Vielleicht begegnen wir einem aus der Kirche kommenden Begräbnis eines Offiziers, mit einem rosafarbenen Sarge, mit Musik und fliegenden Fahnen; an unser Ohr dringen vielleicht die Töne der Kanonade von den Bastionen, aber das versetzt uns nicht in die frühere Stimmung zurück: das Leichenbegängnis erscheint uns als ein wunderschönes militärisches Schauspiel, die Töne als ein minder schönes Kriegsgetön, und wir verknüpfen weder mit diesem Schauspiel, noch mit diesen Tönen den klaren, uns selbst betreffenden Gedanken an Leiden und Tod, wie wir das an dem Verbandort gethan haben.

An der Kirche und Barrikade vorüber kommen wir nach dem belebtesten Stadtteil. Auf beiden Seiten befinden sich Aushängeschilder von Verkaufsläden und Gastwirtschaften. Kaufleute, Frauen in Hüten und Tüchern, stutzerhafte Offiziere, – alles spricht uns von der Standhaftigkeit, dem Selbstvertrauen und der Sicherheit der Einwohner.

Wir müssen in ein Gasthaus rechter Hand gehen, wenn wir ein Gespräch von Seeleuten und Offizieren hören wollen; hier werden jedenfalls Gespräche über die verflossene Nacht, über Fenjka, über den 24. geführt, darüber, wie schlecht und teuer man die Koteletts bekommt, und wie der und jener Kamerad gefallen ist.

Hol's der Teufel, wie arg es heut bei uns ist! spricht mit Baßstimme ein bartloser Marineoffizier mit blonden Augenbrauen und Wimpern, der eine grüne, gestrickte Schärpe trägt.

Wo ist das – bei uns? fragt ihn ein anderer.

Auf der vierten Bastion, antwortet der junge Offizier, und wir betrachten unfehlbar mit großer Aufmerksamkeit und sogar mit einer gewissen Achtung den blonden Offizier bei den Worten: »auf der vierten Bastion«. Seine übermäßige Ausführlichkeit, sein Herumfuchteln mit den Händen, sein lautes Lachen und Sprechen, die uns erst keck erscheinen, erweisen sich als jene besondere prahlerische Stimmung, die leicht nach einer Gefahr über junge Leute kommt; wir denken, daß er anfangen wird, uns zu erzählen, wie arg es auf der vierten Bastion ist der Bomben und Gewehrkugeln wegen – weit gefehlt! arg ist es dort, weil es schmutzig ist. – »Man kann nicht nach der Batterie gehen, spricht er, indem er auf seine bis über die Waden mit Schmutz bedeckten Stiefel zeigt. Und heut habe ich meinen besten Kommandeur verloren, direkt in die Stirn ist er getroffen worden,« sagt ein anderer. – »Wer war es? Mitjuchin?« »Nein ... Nun, wird man mir endlich den Kalbsbraten geben ... Seid ihr Kanaillen!« fügt er hinzu, zu der Bedienung des Gasthauses gewandt. »Nicht Mitjuchin, sondern Abramow. Es war ein braver Kamerad – sechs Ausfälle hat er mitgemacht!«

Am andern Ende des Tisches sitzen bei Koteletts mit Schoten und einer Flasche sauren Krimweins, sogenannten Bordeaux, zwei Offiziere von der Infanterie: der eine mit rotem Kragen und zwei Sternen auf dem Mantel, ein junger Mann, erzählt dem andern, mit schwarzem Kragen und ohne Sterne, von dem Treffen an der Alma. Der erstere hat schon ein wenig getrunken, und man merkt es an den Pausen, die er in seiner Erzählung macht, an dem unentschlossenen Blick, der zweifelnd zu fragen scheint, ob man ihm auch glaube, hauptsächlich aber an der allzu großen Rolle, die er in allem spielt, und weil alles zu furchtbar klingt, daß er stark von der strengen Wiedergabe der Wahrheit abweicht. Aber wir sind nicht in der Stimmung, diese Erzählungen mit anzuhören, die wir noch lange an allen Enden Rußlands werden zu hören bekommen; wir wollen so schnell als möglich auf die Bastionen, besonders auf die vierte, von der man uns so vieles und so verschiedenartiges erzählt hat. Wenn jemand sagt, er sei auf der vierten Bastion gewesen, so sagt er das mit besonderer Befriedigung und mit Stolz; sagt jemand: ich gehe auf die vierte Bastion, so sieht man ihm sicher eine kleine Erregung oder allzugroßen Gleichmut an; will man jemanden necken, so sagt man: dich sollte man in die vierte Bastion schicken; begegnet man Tragbahren und fragt: woher? – so bekommt man meist die Antwort: von der vierten Bastion. Es giebt überhaupt zwei völlig verschiedene Meinungen über diese schreckliche Bastion: die Meinung solcher, die nie dort waren und die überzeugt sind, daß die vierte Bastion das sichere Grab für jeden ist, der dorthin geht – und solcher, die dort hausen, wie der blonde Midshipman, und die, wenn sie von der vierten Bastion sprechen, uns sagen, ob es in der Erdhütte trocken oder schmutzig, warm oder kalt ist u.s.w.

In der halben Stunde, die wir im Gasthaus zugebracht haben, hat sich das Wetter geändert: der Nebel, der über das Meer gebreitet lag, hat sich zu grauen, düsteren, feuchten Wetterwolken geballt und verhüllt die Sonne; ein trauriger Staubregen sprüht vom Himmel und netzt die Dächer, die Straßen und die Soldatenmäntel ...

Wir gehen noch durch eine Barrikade hindurch, dann treten wir zur Thür heraus, wenden uns rechts und steigen auf einer langen Straße bergauf. Hinter dieser Barrikade sind die Häuser zu beiden Seiten unbewohnt, Schilder fehlen, die Thüren sind mit Brettern vernagelt, die Fenster eingeschlagen, hier ist eine Mauerecke fortgeschossen, dort ein Dach durchgeschlagen. Die Gebäude gleichen Veteranen, die alle Not und Sturm erfahren haben, und scheinen stolz und geringschätzig auf uns herabzusehen. Unterwegs stolpern wir über herumliegende Kanonenkugeln und fallen in Löcher voll Wasser, welche die Bomben auf dem steinigen Grunde gerissen. Auf der Straße treffen wir Soldatendetachements, Grenzkosaken, Offiziere. Bisweilen begegnen wir einer Frau oder einem Kinde, aber die Frau geht nicht in Weiberkleidung; sie ist eine Matrosenfrau und trägt einen alten Pelz und Soldatenstiefel. Wenn wir auf der Straße weitergehen und unter eine kleine Anhöhe gelangt sind, bemerken wir um uns nicht mehr Häuser, sondern sonderbare Trümmerhaufen – Steine, Bretter, Lehm, Balken; vor uns sehen wir auf einer steilen Anhöhe eine schwarze, schmutzige, von Gräben durchzogene Fläche, und dies vor uns ist die vierte Bastion ... Hier begegnen wir noch weniger Menschen, Frauen sind gar nicht zu sehen, die Soldaten gehen schnell, auf dem Wege zeigen sich Blutstropfen, und unfehlbar treffen wir hier vier Soldaten mit einer Tragbahre, und auf der Bahre ein fahlgelbes Gesicht und einen blutigen Mantel. Wenn wir fragen: »Wo ist er verwundet?« sagen die Träger ärgerlich, ohne sich zu uns zu wenden, am Bein oder am Arm, wenn der Kranke leicht verwundet ist; oder sie schweigen mürrisch, wenn auf der Bahre der Kopf nicht sichtbar und der Getragene bereits tot oder schwer verwundet ist.

Das nahe Pfeifen einer Kanonenkugel oder Bombe, gerade da wir den Berg zu besteigen beginnen, überrascht uns in unangenehmer Weise. Wir begreifen plötzlich, und ganz anders, als wir es vorher begriffen haben, die Bedeutung der Kanonentöne, die wir in der Stadt gehört haben. Ein friedlich tröstliches Erinnern blitzt in unsern Gedanken auf; unser eigenes Ich beginnt uns mehr zu beschäftigen, als die Beobachtungen: die Aufmerksamkeit für alles, was uns umgiebt, nimmt ab, und ein unangenehmes Gefühl der Unentschlossenheit überkommt uns plötzlich. Wir achten dieser kleinlichen Stimme nicht, die bei dem Anblick der Gefahr plötzlich in unserm Innern sich vernehmen läßt, und bringen, – besonders da wir den Soldaten betrachten, der mit ausgebreiteten Händen über den flüssigen Kot schnell lachend an uns vorbei den Berg hinanklimmt, – diese Stimme zum Schweigen, strecken unwillkürlich die Brust vor, heben den Kopf empor und klettern den schlüpfrigen, lehmigen Berg hinauf. Kaum haben wir uns etwas auf den Berg hinaufgearbeitet, so beginnen rechts und links Kugeln aus Stutzen zu pfeifen, und wir denken vielleicht, ob wir nicht besser thäten, den Laufgraben entlang zu gehen, der mit dem Wege parallel läuft; aber der Laufgraben ist so voll von flüssigem, gelbem, übelriechendem, bis über die Knie reichendem Schmutz, daß wir unbedingt den Weg auf dem Berge wählen, umsomehr, als wir alle ihn gehen sehen. Zweihundert Schritt weiter gelangen wir zu einer aufgerissenen, schmutzigen Fläche, die auf allen Seiten von Schanzkörben und von Erdaufschüttungen umgeben ist, in denen sich Pulverkeller und Erdwohnungen befinden, und auf denen große gußeiserne Kanonen, mit regelmäßigen Haufen von Kugeln daneben, stehen. Das alles scheint uns ohne Zweck und Ordnung aufgetürmt zu sein. Da in der Batterie sitzt eine Schar Matrosen, dort in der Mitte des Platzes liegt eine halb in Schmutz versunkene, zerschossene Kanone; da geht ein Infanterist mit seinem Gewehr durch die Batterien und zieht mit Mühe seine Füße aus dem Schmutz. Aber überall, auf allen Seiten und allen Punkten, sehen wir Sprengstücke, nichtgeplatzte Bomben, Kanonenkugeln, Spuren des Lagerlebens, und das alles ist in flüssigen, morastigen Schmutz versunken; wir hören das Aufschlagen einer Kanonenkugel, hören die verschiedenen Töne der Gewehrkugeln, die wie Bienen summen, schnell pfeifen oder wie eine Darmsaite klingen, wir hören furchtbaren Geschützdonner, der uns alle erschüttert und mit furchtbarem Entsetzen erfüllt.

»Das ist also die vierte Bastion, das ist also der schreckliche, wirklich furchtbare Ort!« denken wir und empfinden ein kleines Gefühl des Stolzes und ein großes Gefühl unterdrückter Angst. Aber wir sind enttäuscht, das ist noch nicht die vierte Bastion. Das ist die Jasonow-Redoute, ein verhältnismäßig sehr gefahrloser und durchaus nicht schrecklicher Platz. Um nach der vierten Bastion zu gelangen, müssen wir rechts einen engen Laufgraben verfolgen, in dem ein Infanterist gebückt einhergeht. In diesem Graben treffen wir vielleicht wieder Tragbahren, Matrosen, Soldaten mit Schaufeln, sehen Leitungen zu Minen, Erdhütten voll Schmutz, in denen nur zwei Menschen gebückt herumkriechen können, wir sehen die hier wohnenden Plastuns[B] der Bataillone vom Schwarzen Meer, die sich dort umkleiden, essen, Tabak rauchen, wohnen, und sehen wiederum überall denselben übelriechenden Schmutz, die Spuren des Lagerlebens und in jedweder Gestalt umherliegendes Gußeisen. Nach dreihundert Schritten kommen wir wieder zu einer Batterie, – zu einem kleinen mit Löchern bedeckten Platze, der von Schanzkörben voll Erde, von Geschützen auf Plattformen und von Erdwällen umgeben ist. Hier sehen wir nun fünf Mann Matrosen, die unter der Brustwehr Karten spielen, und einen Marineoffizier, der uns, als neugierigen Neulingen, seine Wirtschaft und alles uns Interessierende zeigt. Dieser Offizier dreht sich so ruhig, auf dem Geschütz sitzend, eine Cigarette aus gelbem Papier, geht so ruhig von einer Schießscharte zur andern, spricht so ruhig mit uns, so gänzlich ungezwungen, daß wir ungeachtet der Gewehrkugeln, die häufiger als früher über uns pfeifen, kaltblütig bleiben, aufmerksam fragen und den Erzählungen des Offiziers lauschen. Dieser Offizier wird uns, aber nur, wenn wir ihn fragen, von dem Bombardement am 5. erzählen; er wird erzählen, wie in seiner Batterie nur ein einziges Geschütz thätig sein konnte, und von der ganzen Bedienungsmannschaft nur acht Mann übrig geblieben waren, und wie er dennoch am folgenden Morgen, am 6., aus allen Geschützen gefeuert; er wird uns erzählen, wie am 5. eine Bombe in eine Matrosen-Erdhütte eingeschlagen und elf Mann niedergestreckt hat; er wird uns von der Schießscharte aus die nicht mehr als dreißig bis vierzig Faden entfernten Batterien und Laufgräben des Feindes zeigen. Nur das eine fürchte ich, daß wir, zur Schießscharte hinausgelehnt, um zu dem Feinde hinüberzuschauen, unter dem Einflusse des Sausens der Kugeln nichts sehen, und wenn wir etwas sehen, uns sehr wundern werden, daß dieser uns so nahe weiße Steinwall, über dem weiße Rauchwölkchen emporsteigen, der Feind ist – »er«, wie die Soldaten und Matrosen sagen.

[B] Plastuns hießen die am östlichen Ufer des Schwarzen Meeres und am Kuban lebenden Kosaken.

Es ist sogar leicht möglich, daß der Marineoffizier aus Eitelkeit oder nur so, um sich ein Vergnügen zu machen, in unserer Gegenwart ein wenig schießen lassen will. »Den Kommandor herschicken, Bedienungsmannschaft ans Geschütz!« – und an vierzehn Mann Matrosen, der eine seine Pfeife in die Tasche steckend, der andere Zwieback kauend, gehen frisch und munter, mit den beschlagenen Stiefeln auf der Plattform laut auftretend, an die Kanone und laden sie. Wir betrachten die Züge, die Haltung und die Bewegung dieser Leute: in jeder Falte dieses verbrannten Gesichts mit den starken Backenknochen, in jeder Muskel, in diesen breiten Schultern, in diesen kräftigen Beinen, die in gewaltigen Stiefeln stecken, in jeder dieser ruhigen, sicheren, langsamen Bewegungen erkennt man die Hauptcharakterzüge, die die Kraft des Russen ausmachen – Schlichtheit und Festigkeit; aber hier, dünkt uns, hat die Gefahr, der Zorn und die Leiden des Krieges jedem Gesicht außer diesen Hauptzügen noch die Spuren des Bewußtseins des eigenen Wertes, erhabenen Denkens und Empfindens eingeprägt.

Plötzlich überrascht uns ein schrecklicher, nicht nur unser Gehör, sondern unseren ganzen Organismus erschütternder Knall, so daß wir am ganzen Leibe erzittern. Gleich darauf hören wir, wie das Geschoß sich pfeifend entfernt, und dichter Pulverdampf hüllt uns, die Plattform und die schwarzen Gestalten der hin- und hergehenden Matrosen ein. Wir hören verschiedene Gespräche der Matrosen über diesen Schuß. Wir sehen, wie sie lebhaft werden und ein Gefühl offenbaren, das wir kaum erwartet hätten – das Gefühl der Wut, der Rache am Feinde, das in der Seele eines jeden verborgen ruht. »Gerade in die Schießscharte hat es getroffen; wie es scheint, sind zwei gefallen ... dort trägt man sie heraus,« hören wir freudig ausrufen. »Sieh, er ärgert sich, – gleich wird er hierher schießen,« sagt jemand, und wirklich sehen wir bald darauf Blitz und Rauch vor uns; der auf der Brustwehr stehende Posten schreit: »Kano–one!« und gleich darauf kommt eine Kanonenkugel an uns vorbeigeflogen, schlägt auf die Erde auf und wirft, sich trichterförmig einbohrend, Steine und Erdstücke um sich. Der Batteriechef, ärgerlich wegen dieser Kugel, befiehlt ein zweites und drittes Geschütz zu laden, – der Feind beginnt uns zu antworten, und wir durchleben interessante Empfindungen, hören und sehen interessante Dinge. Der Posten schreit wiederum: »Kanone!« und wir hören denselben Ton und Schlag, sehen dieselben Erdstücke; oder er schreit: »Mörser!« – und wir hören ein gleichmäßiges, ziemlich angenehmes Pfeifen der Bombe, mit dem man nur mühsam den Gedanken an etwas Furchtbares in Verbindung bringt, wir hören das Pfeifen, das sich uns nähert und sich beschleunigt, dann sehen wir eine schwarze Kugel, ihr Aufschlagen auf die Erde und das von einem starken Krach begleitete Platzen der Bombe. Mit Pfeifen und Zischen fliegen dann die Splitter umher, schwirren Steine durch die Luft und wir werden mit Schmutz beworfen. Bei diesen Tönen empfinden wir ein sonderbares Gefühl, gemischt aus Angst und Genuß. In dem Augenblicke, wo das Geschoß auf uns zufliegt, schießt uns unbedingt der Gedanke durch den Kopf, daß es uns tötet; aber das Gefühl der Eigenliebe stachelt uns, und niemand bemerkt das Messer, das uns ins Fleisch schneidet. Dafür aber leben wir, wenn das Geschoß vorübergeflogen ist, ohne uns zu streifen, wieder auf, und ein erquickendes, unsagbar angenehmes Gefühl kommt, wenn auch nur einen Augenblick, über uns, so daß wir an der Gefahr, an diesem Spiel um Leben und Tod einen besonderen Genuß finden; wir wünschen, es möchten noch näher und näher bei uns Kugeln oder Bomben niederfallen. Da schreit der Posten noch einmal mit seiner lauten, tiefen Stimme: »Mörser!« – wiederum ertönt das Pfeifen, Aufschlagen und Platzen der Bombe, aber zugleich mit diesem Ton erschreckt uns das Stöhnen eines Menschen. Wir gehen zu gleicher Zeit mit den Trägern zu dem Verwundeten heran, der blutig und beschmutzt ein seltsames, nicht menschliches Aussehen hat. Einem Matrosen ist ein Teil der Brust fortgerissen worden. In dem ersten Augenblick ist in seinem mit Schmutz bespritzten Gesicht nur Schreck und ein unechter, vorzeitiger Ausdruck von Leiden zu lesen, wie er einem Menschen in solcher Lage eigen ist; aber in dem Augenblick, wo man ihm die Tragbahre bringt, und er sich selbst mit seiner gesunden Seite darauf legt, bemerken wir, daß dieser Ausdruck sich in den Ausdruck einer gewissen Begeisterung und eines erhabenen, unausgesprochenen Gedankens verwandelt: die Augen leuchten heller, die Zähne pressen sich aufeinander, der Kopf richtet sich mit Anstrengung in die Höhe und in dem Augenblick, wo man ihn aufhebt, hält er die Bahre an und spricht mühsam mit zitternder Stimme zu den Kameraden: »Lebt wohl, Brüder!« – er will noch etwas sagen, man sieht, er will etwas Rührendes sagen, aber er wiederholt noch einmal: »Lebt wohl, Brüder!« Da geht ein Kamerad, ein Matrose, zu ihm, setzt ihm die Mütze auf den Kopf, den ihm der Verwundete hinhält, und kehrt ruhig, gleichmäßig die Arme schwenkend, zu seinem Geschütz zurück. »So ist es jeden Tag – sieben oder acht Mann,« sagt uns der Marineoffizier, indem er uns antwortet auf den Ausdruck des Entsetzens, das aus unsern Zügen spricht, und dabei gähnt und aus gelbem Papier eine Cigarette dreht.

So haben wir die Verteidiger Sewastopols an dem Orte der Verteidigung selber gesehen und gehen zurück, ohne den Kanonen- und Gewehrkugeln, die den ganzen Weg entlang bis zu dem niedergeschossenen Theater hin pfeifen, Beachtung zu schenken, – wir gehen mit ruhiger, erhobener Seele. Die hauptsächliche, tröstliche Überzeugung, die wir davontragen, ist die Überzeugung von der Unmöglichkeit, die Kraft des russischen Volkes an irgend einem Punkte zu erschüttern. Und diese Unmöglichkeit haben wir nicht in der Menge der Quergänge, der Brustwehren, der kunstvoll gezogenen Laufgräben, der Minengänge und Geschosse, die übereinander getürmt sind, gesehen, wovon wir nichts verstanden haben, nein, wir haben sie in dem Blick, in der Rede, in dem Gebahren gesehen, in dem, was man den Geist der Verteidiger Sewastopols nennt. Was sie thun, thun sie so schlicht, so ohne Anspannung und Anstrengung, daß wir die Überzeugung gewinnen, sie können noch hundertmal mehr – sie können alles. Wir begreifen, daß das Gefühl, das sie schaffen heißt, nicht das Gefühl der Kleinlichkeit, der Eitelkeit, der Unbedachtsamkeit ist, das wir selbst empfunden haben, sondern ein anderes Gefühl, ein gewaltigeres, das sie zu Menschen gemacht hat, die ebenso ruhig unter dem Regen der Kugeln leben, unter hundert Möglichkeiten des Todes anstatt der einen, der diese Menschen alle unterworfen sind, und die unter diesen Bedingungen leben mitten in ununterbrochener Arbeit, in Wachen und Schmutz. Um eines Ordens willen, um eines Titels willen, um des Zwanges willen können Menschen sich so entsetzlichen Lebensbedingungen nicht fügen: es muß eine andere, eine erhabenere Triebfeder sein. Und diese Triebfeder ist ein Gefühl, das selten, verschämt bei dem Russen in die Erscheinung tritt, das aber auf dem Grunde der Seele eines jeden ruht – die Liebe zum Vaterland. Erst jetzt sind uns die Erzählungen von den ersten Zeiten der Belagerung Sewastopols, da es noch keine Befestigungen, keine Armee hatte, da es physisch unmöglich war, es zu halten, und doch nicht der mindeste Zweifel bestand, daß es sich dem Feinde nicht ergeben würde, glaubhaft geworden, – die Erzählungen von den Zeiten, da Kornilow, dieser des alten Griechenlands würdige Held, bei einer Musterung der Truppen sprach: »Wir wollen sterben, Kinder, aber Sewastopol nicht übergeben,« und unsere Russen, die kein Talent zur Phrasenmacherei haben, antworteten: »Wir wollen sterben! Urra!« – erst jetzt haben die Erzählungen aus jener Zeit aufgehört, für uns eine schöne geschichtliche Überlieferung zu sein, und sind zur Wahrheit, zur Thatsache geworden. Wir verstehen klar und würdigen die Menschen, die wir soeben gesehen, als die Helden, die in jener schweren Zeit den Mut nicht sinken ließen, sondern steigerten, und die freudig in den Tod gegangen sind, nicht für die Stadt, sondern für das Vaterland. Lange wird in Rußland diese Epopöe von Sewastopol, deren Held das russische Volk war, tiefe Spuren zurücklassen ...

Der Tag neigt sich schon. Die Sonne ist vor ihrem Untergange aus den grauen Wolken hervorgetreten, die den Himmel bedecken, und beleuchtet plötzlich mit purpurnem Licht: lilafarbene Wolken, das mit Schiffen und Böten bedeckte, gleichmäßig wogende grünliche Meer, die weißen Häuser der Stadt und die in den Straßen wogenden Menschen. Über das Wasser tönen die Klänge eines alten Walzers, den die Regimentsmusik auf dem Boulevard spielt, und der Schall der Geschosse von den Bastionen, der sie seltsam begleitet.

Sewastopol, den 25. April 1885.

Sewastopol im Mai 1855

Inhaltsverzeichnis

I

Schon sind sechs Monate vergangen seit der Zeit, da die erste Kanonenkugel von den Bastionen Sewastopols pfiff und die Erde in den feindlichen Werken aufriß, und seit der Zeit sind unaufhörlich Tausende von Bomben, Kanonen- und Gewehrkugeln von den Bastionen in die Laufgräben und aus den Laufgräben nach den Bastionen geflogen, und unaufhörlich hat der Engel des Todes über ihnen geschwebt.

Tausendfach ist hier menschliche Eigenliebe gekränkt, tausendfach befriedigt und genährt, tausendfach in den Umarmungen des Todes zum Schweigen gebracht worden. Wie viel blumengeschmückte Särge, wie viel linnene Leichentücher! Und noch immer erschallen dieselben Töne von den Bastionen, noch immer sehen, mit unwillkürlichem Schrecken und Zittern, die Franzosen an einem klaren Abende aus ihrem Lager auf die gelbliche, aufgerissene Erde der Bastionen Sewastopols und die schwarzen, auf ihnen umherwogenden Gestalten unserer Matrosen und zählen die Schießscharten, aus welchen gußeiserne Kanonen trutzig hervorragen; noch immer beobachtet ein Unteroffizier vom Steuer vom Telegraphenhügel aus durch ein Fernrohr die bunten Gestalten der Franzosen, ihre Batterien, ihre Zelte, die Truppenmassen, die sich auf der grünen Höhe bewegen, und die in den Laufgräben aufsteigenden Rauchwölkchen, – und immer noch streben von allen Enden der Welt verschiedene Menschenscharen mit derselben Glut und mit noch verschiedenartigeren Wünschen nach dieser schicksalsreichen Stätte. Und immer noch ist die Frage, die die Diplomaten nicht gelöst haben, nicht gelöst durch Pulver und Blut.

II

In der belagerten Stadt Sewastopol spielte auf dem Boulevard bei einem Pavillon eine Regimentskapelle, und Scharen von Soldaten und Frauen bewegten sich müßig in den Gängen. Die helle Frühlingssonne, die am Morgen über den englischen Verschanzungen aufgegangen war, hatte ihren Weg über die Bastionen, dann über die Stadt, über die Nikolai-Kaserne zurückgelegt und allen mit gleicher Freude geleuchtet; jetzt senkte sie sich zu dem fernen, blauen Meer hinab, dessen gleichmäßig wogende Wellen im Silberglanze funkelten.