Sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung - Barbara Ortland - E-Book

Sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung E-Book

Barbara Ortland

0,0

Beschreibung

Das Recht auf Sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung ist heute unbestritten. Das stellt die Einrichtungen der Eingliederungshilfe und die darin tätigen Fachkräfte vor völlig neue Aufgaben, für deren Lösung das Wissen um Leitlinien, Handlungskonzepte und -maßnahmen unabdingbar ist. Das Buch beleuchtet zunächst beeinträchtigungsspezifische und strukturelle Erschwernisse sexueller Selbstbestimmung für erwachsene Menschen mit Behinderung. Darauf folgt eine praxisnahe Bestandsaufnahme zu den Arbeitsbedingungen der Fachkräfte, aber auch zu den Lebensbedingungen der Bewohner im Hinblick auf die mögliche Realisierung sexueller Selbstbestimmung in den Einrichtungen. Das Buch beschreibt dann Handlungsoptionen, wobei der Schwerpunkt auf ganz konkreten Maßnahmen in den unterschiedlichsten Bereichen liegt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 338

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Barbara Ortland

Sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung

Grundlagen und Konzepte für die Eingliederungshilfe

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

 

 

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-029314-4

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-029315-1

epub:    ISBN 978-3-17-029316-8

mobi:    ISBN 978-3-17-029317-5

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

 

 

 

 

 

1 Einleitung

2 Sexuelle Selbstbestimmung für erwachsene Menschen mit Behinderung

2.1 Sexuelle Selbstbestimmung

2.2 Einschränkungen sexueller Selbstbestimmung

2.2.1 Beeinträchtigungsbedingte Einschränkungen

2.2.2 Einschränkungen durch äußere Faktoren in Verbindung mit der Beeinträchtigung

2.2.3 Einschränkungen durch Mitarbeitende

2.2.4 Einschränkungen durch strukturelle sowie bauliche Rahmenbedingungen

2.3 Die Forderungen der UN-Konvention

2.4 Konsequenzen für die Erhebung

3 Befragung von Mitarbeitenden in Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe

3.1 Ziel der Erhebung

3.2 Forschungsmethodisches Vorgehen

3.3 Die Stichprobe

3.4 Fragebogen und Auswertung

4 Ergebnisse der Befragung

4.1 Die Befragten

4.2 Informationen zur Darstellung der Ergebnisse

4.3 Erfahrungen der Mitarbeitenden mit sexuellen Verhaltensweisen

4.3.1 Beobachtete sexuelle Verhaltensweisen bei den Männern

4.3.2 Beobachtete sexuelle Verhaltensweisen bei den Frauen

4.3.3 Sexuelle Verhaltensweisen im Vergleich der Geschlechter

4.3.4 Sexuelle Verhaltensweisen der Paare

4.3.5 Als störend wahrgenommene Verhaltensweisen

4.4 Belastung der Mitarbeitenden durch sexuelle Verhaltensweisen

4.5 Erklärungsideen der Mitarbeitenden für sexuelle Verhaltensweisen

4.6 Veränderungswünsche und Unterstützungsbedarfe der Mitarbeitenden

4.6.1 Wünsche für die Bewohner/innen

4.6.2 Wünsche für die Mitarbeitenden

4.6.3 Wünsche für die Einrichtung

4.6.4 Betrachtung der Wünsche insgesamt

4.7 Gesamtzufriedenheit in den Einrichtungen

5 Diskussion der Ergebnisse

5.1 Erfahrungen mit sexuellen Verhaltensweisen der Frauen und Männer

5.1.1 Vielfalt der sexuellen Verhaltensweisen

5.1.2 Privat- und Intimsphäre der Frauen und Männer

5.1.3 Das Recht auf Schutz der Intim- und Privatsphäre

5.1.4 Wunsch nach Freund oder Freundin

5.1.5 Homoerotisches/-sexuelles Verhalten

5.1.6 Sexuelles Verhalten im Vergleich der Geschlechter

5.1.7 Anforderungen an die Mitarbeitenden

5.2 Bewertung der sexuellen Verhaltensweisen

5.3 Angenommene Gründe für sexuelles Verhalten

5.4 Wünsche nach Veränderung und Unterstützung

5.4.1 Gewünschte Veränderungen in der Einrichtung

5.4.2 Gewünschte Veränderungen für die Bewohner/innen

5.4.3 Gewünschte Veränderungen für die Mitarbeitenden

5.5 Themenbereich Sexuelle Gewalt

5.6 Zusammenfassung zentraler Ergebnisse

6 Konsequenzen für sexualpädagogische/-andragogische Gesamtkonzeptionen

6.1 Einleitende Überlegungen

6.2 Das Konzept »Sexuell selbstbestimmt leben in Wohneinrichtungen«

6.2.1 Zielperspektive: Gelingende sexuelle Selbstbestimmung

6.2.2 Leitlinien gelingender sexueller Selbstbestimmung

6.2.3 Konzeptstruktur

6.2.4 Schaffen einer verbindlichen Grundorientierung

6.3 Prozessbegleitende Maßnahmen

6.4 Maßnahmen für Mitarbeitende

6.4.1 Ein einleitender Blick auf die Mitarbeitenden

6.4.2 Grundstruktur der Angebote für Mitarbeitende

6.4.3 Maßnahmen im Bereich Reflexion

6.4.4 Maßnahmen im Bereich Wissen

6.4.5 Maßnahmen im Bereich Können

6.5 Maßnahmen für Bewohner/innen

6.5.1. Ein einleitender Blick auf die Frauen und Männer

6.5.2 Grundstruktur der Angebote für Bewohner/innen

6.5.3 Maßnahmen im Bereich Reflexion

6.5.4 Maßnahmen im Bereich Wissen

6.5.5 Maßnahmen im Bereich Können

7 Konzepte sexueller Selbstbestimmung in Organisationen

7.1 Grundlagen zur Analyse von Organisationen

7.1.1 Drei Stufen des Vorgehens

7.1.2 Organisationsprofile

7.1.3 Organisationsdynamik

7.1.4 Organisationsmethodik

7.2 Exemplarische Konkretisierung der Organisationsanalyse

7.2.1 Dimensionierung: Technostruktur vs. Soziostruktur

7.2.2 Dimensionierung: Paläste vs. Zelte

7.2.3 Dimensionierung: Hierarchien vs. Netze

7.2.4 Dimensionierung: Fremdorganisation vs. Selbstorganisation

7.3 Grundlagen zur Analyse einer Organisationskultur

7.3.1 Kennzeichen einer Organisationskultur

7.3.2 Aufbau einer Organisationskultur

7.3.3 Effekte einer Organisationskultur

7.3.4 Lernende Organisationen

8 Fazit

9 Literaturverzeichnis

Anhang

1          Einleitung

 

 

 

 

2012 erschreckten die Ergebnisse der repräsentativen Studie zur »Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderung und Beeinträchtigung in Deutschland«, die von Schröttle im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durchgeführt wurde. So ein immenses Ausmaß von Gewalterfahrungen im Leben der Frauen hatte die Fachwelt nicht vermutet, obwohl schon die Studien von Zemp und Pircher (1996) sowie Zemp et al. (1997) diesbezüglich sehr deutliche Hinweise zur Betroffenheit von sexueller Gewalt bei Frauen und Männern mit geistiger Behinderung in Einrichtungen gaben.

Die Zahlen sprachen für sich: Menschen mit Behinderung sind deutlich häufiger Opfer sexueller Gewalt als Menschen ohne Behinderung. Dabei sind Menschen mit Behinderung, die in Einrichtungen leben, besonderen Gefährdungen ausgesetzt. Tschan (2012, 36) bezeichnet die Institutionen sogar als »Hochrisikobereiche für sexualisierte Gewaltdelikte«.

Die Ergebnisse haben verstärkte Bemühungen im Bereich der Prävention und Intervention sexueller Gewalt in ihrer Notwendigkeit und Dringlichkeit deutlich gemacht. Gelingende und umfassende Maßnahmen in den Bereichen der Sexualpädagogik und Sexualandragogik sind unumstrittene Anteile von Präventionsarbeit (vgl. Mattke 2015). Sie sind sowohl in diesbezüglichen Präventionskonzepten zu finden (vgl. Limita 2011) als auch bei den Hinweisen von Enders (2012, 149 ff) zu den erforderlichen »täterunfreundlichen Strukturen« von Institutionen.

Konzeptansätze und einzelne Ideen zur Schaffung sexualfreundlicher Strukturen in Institutionen finden sich immer wieder in der entsprechenden Fachliteratur (vgl. Walter 2005, Clausen/Herrath 2013). Forderungen werden vor allem an die Mitarbeitenden gestellt. Sie sollen sich in der Regel fortbilden, um angemessen auf die Bedarfe der Bewohner/innen reagieren zu können.

Überprüfte man jedoch, was in Fachkreisen über die Arbeitssituation der Mitarbeitenden in Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe wissenschaftlich gesichert bekannt war, so wurde recht schnell deutlich, dass deren Situation umfassend zuletzt 1980 von Walter beschrieben wurde. In den darauf folgenden Jahrzehnten hatte sich aber vieles verändert – sowohl in den Einrichtungen als auch gesamtgesellschaftlich im Bereich der sexuellen Selbstbestimmung sowie den Forderungen nach umfassender gesellschaftlicher Teilhabe für Menschen mit Behinderung z. B. durch die UN-Behindertenrechtskonvention.

Die Zielperspektive war somit klar: Zur Minimierung der Gefahr sexueller Gewalt durch gelingende sexualpädagogische und -andragogische Maßnahmen mussten die Mitarbeitenden mit ihrer Arbeitssituation, ihrer Belastung und ihren Veränderungsmöglichkeiten in den Blick genommen werden.

Dies war 2013 Anlass für eine von mir initiierte Mitarbeitendenbefragung, welche nachfolgende Fragen in den Blick genommen und das Ziel verfolgt hat, auf die Ergebnisse aufbauend ein Konzept zur Realisierung gelingender sexueller Selbstbestimmung in Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe zu entwickeln:

•  Was erleben die Mitarbeitenden mit den Bewohner/innen im Alltag im Bereich Sexualität?

•  Was stört sie in dem Bereich?

•  Was belastet sie?

•  Wie erklären sie sich das Verhalten der Bewohner/innen?

•  Was wollen sie für Veränderungen?

•  Und womit haben sie schon positive Erfahrungen gemacht?

An meiner Befragung nahmen 640 Mitarbeitende aus sechs Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe teil. Der Aufbau der Befragung sowie die sehr aufschlussreichen Ergebnisse werden im ersten Teil des Buches vorgestellt und diskutiert. Sie zeigen deutlich die Komplexität und die enormen Herausforderungen, vor die alle Beteiligten bei der Realisierung sexueller Selbstbestimmung gestellt sind. Hiermit liegt eine aktuelle und umfassende Beschreibung des Arbeitsalltags der Mitarbeitenden in Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe unter der Perspektive der sexuellen Selbstbestimmung der Bewohner/innen vor.

Die Ergebnisse und deren Diskussion sind Grundlage für das in Kapitel sechs vorgestellte Gesamtkonzept »Sexuell selbstbestimmt leben in Wohneinrichtungen«, das vor allem Wohneinrichtungen in den Blick nimmt, in denen erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung leben. Aufgrund des Lebensalters der Bewohner/innen wäre es sicherlich angemessen, von einem sexualandragogischen Konzept zu schreiben. Trotzdem werden in dem Buch die Begriffe Sexualandragogik und Sexualpädagogik entweder nebeneinander oder synonym verwendet. Die jetzigen Erwachsenen, die in den Wohneinrichtungen leben, haben oft keine oder eine nur lückenhafte Sexualerziehung in ihrer Kindheit und/oder Jugend erlebt. Insofern besteht bei ihnen oft noch (Nachhol-)Bedarf für sexualpädagogische Inhalte. Die Nutzung beider Termini soll dies deutlich machen.

In die Konzeptvorstellung fließen auch erste aktuelle Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt ein, das aufgrund der Ergebnisse der Mitarbeitendenbefragung entstanden ist. In dem Forschungsprojekt »Reflexion, Wissen, Können – Qualifizierung von Mitarbeitenden und Bewohner/innen zur Erweiterung der sexuellen Selbstbestimmung für erwachsene Menschen mit Behinderung in Wohneinrichtungen (ReWiKs)« werden gemeinsam mit den Kollegen/innen Prof. Dr. Kathrin Römisch von der Evangelischen Fachhochschule Bochum sowie Prof. Dr. Sven Jennessen von der Universität Koblenz-Landau drei inhaltliche Schwerpunkte in enger Kooperation mit Bewohner/innen und Mitarbeitenden aus Einrichtungen erarbeitet:

•  Reflexion: Auf der Grundlage von »Leitlinien gelingender sexueller Selbstbestimmung« (Kap. 6.2.1), die es in Ausführungen sowohl in schwerer Sprache für Mitarbeitende als auch in leichter Sprache für Bewohner/innen gibt, werden für beide Gruppen Reflexionsmanuale entwickelt. Diese dienen dazu, die aktuelle Arbeits- und Lebenssituation komplex zu reflektieren und Ansatzpunkte für Veränderungsnotwendigkeiten zu finden.

•  Wissen: Aufbauend auf neu entwickelten und mit der Praxis diskutierten Fortbildungsmodulen ( Kap. 6.3.4.2) werden exemplarisch Fortbildungsbausteine entworfen, die in der Praxis erprobt, evaluiert und weiter entwickelt werden.

•  Können: Basierend auf einer umfassenden Recherche gelingender Praxisprojekte zur Realisierung (sexueller) Selbstbestimmung werden für ausgewählte Projekte Handlungsanweisungen für deren Umsetzung in der Praxis erarbeitet, erprobt, evaluiert und weiter entwickelt.

Das Projekt wird von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) gefördert. Sowohl die Kollegen/innen aus dem Projekt als auch die Kollegen/innen der BzgA haben freundlicherweise der Veröffentlichung der aktuellen Versionen (Stand Juni 2015) der »Leitlinien gelingender sexueller Selbstbestimmung« in schwerer Sprache sowie der »Fortbildungsmodule« zugestimmt. An der Entwicklung der Fortbildungsmodule war maßgeblich Dorothea Kusber-Merkens beteiligt, die mit ihren Erfahrungen und ihren Kompetenzen als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Münster das Projekt voran bringt.

Durch die Diskussion der Befragungsergebnisse mit den Kollegen/innen des Forschungsschwerpunktes »Teilhabeforschung« der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Münster wurde der bis Ende 2013 auf die Mitarbeitenden und die inhaltlichen Aspekte der Konzeptentwicklung fokussierte Blick noch einmal erweitert. Die Organisationen, und hier vor allem die Organisationskulturen, wurden als relevante Einflussgröße deutlich. Die Frage nach der inhaltlichen Stimmigkeit oder Widersprüchlichkeit der Basisannahmen einer Organisationskultur mit den Grundannahmen eines Konzeptes sexueller Selbstbestimmung wurden als äußerst bedeutsam für den Prozess der Konzeptimplementierung erkannt. So konnte es nicht mehr reichen, in diesem Buch ein auf Forschungsergebnissen basierendes, in sich kongruentes Konzept sexueller Selbstbestimmung vorzulegen. Vielmehr wurde durch die Diskussion vor allem mit dem Kollegen Prof. Dr. Heinrich Greving deutlich, dass die Analyse von Organisationen unverzichtbar mit den Konzeptideen verbunden ist. Dies wird im siebten Kapitel differenzierter erläutert.

Das mit diesem Buch vorgelegte Konzept »Sexuell selbstbestimmt leben in Wohneinrichtungen« ist kein ›Rezeptbuch‹ oder eine 1:1 umsetzbare ›Handlungsanweisung‹. Stattdessen wird in strukturierter Form weitestgehend umfassend dargelegt, welche Bereiche in einer Organisation von den verschiedenen Beteiligten für Veränderungsmaßnahmen in den Blick genommen werden können und sollten. Verschiedene Ideen zur konkreten Umsetzung werden angeboten.

Es werden somit Hinweiszeichen und Wegmarken für einen Weg zu mehr sexueller Selbstbestimmung der Frauen und Männer mit Behinderung gesetzt, den jede Organisation mit den in ihr und um sie herum beteiligten Akteuren/innen gemeinsam suchen und umsetzen muss. Die Herausforderung wird sein, diesen zu beginnen, ihn partizipativ zu gestalten, eigene kreative Ideen (weiter) zu entwickeln sowie alle Beteiligten mit auf den Weg zu nehmen und motiviert auf dem Weg zu behalten.

Sexualität und sexuelle Selbstbestimmung, Sexualpädagogik und Sexualandragogik sind komplexe Themen. Die mit ihnen verbundene Vielfältigkeit, die Schwierigkeit, sie zu erfassen und für den Austausch eine gemeinsame, für alle angemessene Kommunikationsform zu finden, die enorme Heterogenität sexueller Biografien und Lebensentwürfe, die beeinflussenden Normen und Werte – all das macht es oft zu einer Herausforderung, diesen Lebensbereich der Menschen mit Behinderung als professionellen Auftrag für die Mitarbeitenden und die Gesamtorganisation zu bestimmen und zu realisieren.

Alleine ist durch den ›Dschungel der Sexualitäten‹ kaum ein gangbarer und überschaubarer Weg zu finden. Auch mich haben in dem Entstehungsprozess der Befragung, der Diskussion der Ergebnisse, der Konzeptentwicklung und der Realisierung des Buches viele Menschen begleitet, indem sie mit mir immer wieder diskutiert haben. Einigen möchte an dieser Stelle ausdrücklich und namentlich danken möchte.

Zunächst gilt mein Dank den Mitarbeitenden der sechs Einrichtungen: Den Leitungskräften, die der Erhebung nicht nur zugestimmt, sondern sie auch unterstützt haben, sowie den Mitarbeitenden, die sich die Zeit zum Ausfüllen des Fragebogens genommen haben. Meine Kollegin Antonia Thimm hat mich sehr fachkompetent und geduldig bei der statistischen Auswertung der Ergebnisse unterstützt. Danken möchte ich den Fachkollegen/innen der KatHO, ihrer Diskussionsbereitschaft und kritischen Rückmeldung. Hier vor allem möchte ich Heinrich Greving für das gemeinsame Schreiben des siebten Kapitels danken und Michael Katzer für die vielen konstruktiven und kontroversen Diskussionen über verschiedene Buchinhalte.

Den Kollegen/innen des Projektes ReWiKs und der BzgA nochmals herzlichen Dank für die Möglichkeit der Veröffentlichung bisheriger Arbeitsergebnisse sowie die gute Projektarbeit!

Und schließlich möchte ich mit noch bei Sigrid Stegemann bedanken für die kritische Durchsicht des Manuskriptes aus der Perspektive der Praktikerin sowie bei meinem Bruder Dr. Christoph Ortland, der sowohl die Befragung durch seine hohe Forschungskompetenz als auch das Buch durch seine konstruktiv kritische Korrektur, die wertvollen Rückmeldungen und die Diskussion verschiedener inhaltlicher Aspekte sehr bereichert hat.

Schließen möchte ich die Einleitung mit den Worten eines Mannes, der als Bewohner einen Praxis-Austausch-Tag im Forschungsprojekt ReWiKs bereichert hat. Im Fokus stand an dem Tag die Diskussion des Entwurfs der Fortbildungsmodule mit Bewohner/innen und Mitarbeitenden. Die Vorstellung der Diskussionsergebnisse aus den homogen angelegten Arbeitsgruppen beendete er, gewandt an die Mitarbeitenden, mit dem Satz: »Ihr müsst keine Angst haben, mit uns über Sexualität zu reden.«

In diesem Sinne hoffe ich, dass die Inhalte des Buches Sie und Ihre Kollegen/innen dazu ermutigen.

 

Münster, im Juli 2016

Barbara Ortland

2          Sexuelle Selbstbestimmung für erwachsene Menschen mit Behinderung

 

 

 

 

Menschen mit (geistiger) Behinderung sind im Erleben und Ausleben ihrer Sexualität oft auf die Unterstützung von anderen Menschen angewiesen. Dabei sind verschiedene Aspekte auf beiden Seiten bedeutsam. Von Seiten der Menschen ohne Behinderung können als relevant benannt werden:

•  Das Wissen über mögliche Veränderungen der sexuellen Entwicklung durch das Leben mit einer Behinderung, aber auch das Wissen über sexuelle Entwicklung und Sexualität allgemein,

•  die Bereitschaft, sich auf das Gegenüber in vielen Facetten seines/ihres Lebens offen einzulassen,

•  die eigenen diesbezüglichen Kompetenzen, die durch berufliche Kompetenzen, aber auch die eigene (sexuelle) Lerngeschichte bestimmt sind,

•  sowie die individuellen Normen und Werte im Lebensbereich der Sexualität, die durch einen gesamtgesellschaftlichen Rahmen geprägt sind.

Leben Menschen mit Behinderung in Wohneinrichtungen, so können sie bei der Realisierung sexueller Selbstbestimmung auf die Mitarbeitenden angewiesen bzw. von ihnen abhängig sein. Die persönlichen und professionellen Begegnungen sind neben den beiderseitigen individuellen Voraussetzungen noch durch weitere strukturelle Rahmenbedingungen beeinflusst. Hier lassen sich z. B. die baulichen Gegebenheiten nennen (Einzelzimmer, eigenes Bad etc.) sowie die Teamstruktur in einer Wohngruppe, Vorgaben und Unterstützungsleistungen durch die Leitungskräfte, die inhaltliche Ausrichtung des Trägers sowie die Organisationskultur.

Im Folgenden soll dieses Handlungsfeld anhand aktueller Forschungsergebnisse skizziert werden, um daraus die leitende Fragestellung für die Befragung abzuleiten. Dazu wird zunächst dargestellt, was unter sexueller Selbstbestimmung verstanden wird und wie diese oft für Erwachsene mit Behinderung eingeschränkt wird. Vor dem Hintergrund der Forderungen der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung werden Konsequenzen für die Erhebung abgeleitet.

2.1       Sexuelle Selbstbestimmung

Grundlegend ist sexuelle Selbstbestimmung mit der Frage verbunden, wie Sexualität inhaltlich gefüllt wird.

Das hier vertretene Verständnis von Sexualität setzt bei der für alle Menschen angenommenen Möglichkeit der individuellen Realisierung von Sexualität an. Jedem Menschen wird die Ausbildung einer subjektiv befriedigenden Sexualität zugetraut und demgemäß auch zugemutet. Sexuelle Selbstbestimmung ist somit eine Entwicklungsoption und -ressource, die jeder Mensch hat, egal wie seine Lebensvoraussetzungen sind. Das grundgelegte weite Verständnis von Sexualität ist durch folgende Aspekte, die bereits an anderer Stelle ausführlicher dargelegt sind (vgl. Ortland 2008, 16 ff.), gekennzeichnet:

•  Sexualität ist mehr als Geschlechtsverkehr.

•  Sexualität umfasst immer den ganzen Menschen mit seinen Gedanken, Gefühlen und dem Körper. Eine subjektiv befriedigende Sexualität ist nicht an die Intaktheit des Körpers gebunden.

•  Sexualität ist eine unverzichtbare Lebensenergie, deren Ausleben weitere Energien freisetzen und deren Fehlen zu Bedrückung oder auch (Auto-)Aggression führen kann.

•  Sexualität gehört ein Leben lang zu einem Menschen.

•  Sexualität hat viele Schattierungen, die als positiv oder negativ erlebt und bewertet werden können.

•  Der Weg zu einer individuelen, subjektiv befriedigenden Sexualität ist ein Lernprozess, der Erfahrungen braucht und jedem möglich ist.

Dies wird in folgender Definition zusammengefasst:

»Sexualität kann begriffen werden als allgemeine, jeden Menschen und die gesamte menschliche Biografie einschließende Lebensenergie, die den gesamten Menschen umfasst und aus vielfältigen Quellen – soziogenen und biogenen Ursprungs – gespeist wird. Sie beinhaltet eine geschlechtsspezifische Ausprägung, kennt ganz unterschiedliche – positiv oder negativ erfahrbare – Ausdrucksformen und ist in verschiedenster Weise sinnvoll« (Ortland, 2005, 38).

Sexuelle Selbstbestimmung hat in ihrer Realisierung als subjektiv befriedigende Sexualität keine äußere Norm, an der sie erkennbar wäre. So kann sich sexuelle Selbstbestimmung in vielen Facetten bewusst oder unbewusst durch das Individuum herstellen lassen. Sexuell selbstbestimmt zu leben kann eine (zeitweise) Entscheidung gegen oder für Genitalsexualität bedeuten, eine Entscheidung gegen oder für partnerschaftliche Sexualität, eine Entscheidung gegen oder für vermehrte Masturbation, gegen oder für bestimmte Formen der Gestaltung der eigenen Geschlechtsidentität in den Polen zwischen Mann und Frau und vieles andere mehr. Diese oft unbewussten Gestaltungsprozesse subjektiver sexueller Selbstbestimmung sind nicht für jeden Menschen in gleicher Weise reflektierbar und kommunizierbar.

Sexuelle Selbstbestimmung beinhaltet, dass (bewusste oder unbewusste) individuelle Entscheidungen für oder gegen verschiedenste Formen sexuellen Lebens durch das Individuum in der jeweils aktuellen Lebenssituation selbst getroffen werden. Dies geschieht auf der Grundlage unterschiedlicher emotionaler, körperlicher und kognitiver Lebensvoraussetzungen und kann bei Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung in der Ausdrucksform sehr basal sein. Diese Entscheidungen verändern sich im Laufe des Lebens z. B. durch die eigenen körperlichen, emotionalen, psychischen, sozialen, kommunikativen, perzeptiven etc. Veränderungen und die sexuelle Biografie bzw. Lerngeschichte.

Die Annahme der Realisierung sexueller Selbstbestimmung für jeden Menschen schließt aufgrund deren hoher Individualität die Benennung eines definierbaren ›richtigen‹ oder ›erwachsenen‹ Sexualverhaltens aus. Subjektiv befriedigendes Sexualverhalten ist in allen individuellen Variationen denk- und lebbar und findet seine klare Grenze immer in der Persönlichkeit und den Rechten des anderen.

Sexualität braucht also Lernerfahrungen und diese wiederum Lernmöglichkeiten mit sich selbst und anderen. Individuelle sexuelle Entwicklung braucht demzufolge ein Umfeld, das aufgrund des Anerkennens der Sexualität eines jeden Menschen, egal wie schwer dessen Beeinträchtigungen sind, passende Lernmöglichkeiten in der Lebenswelt bereit hält. Sexualität als Lebensenergie und Entwicklungsressource kann vielfältig erfahren werden. Sie kann idealerweise von leichten, spielerischen Aspekten und Momenten getragen sein, die z. B. in der Erkundung des eigenen Körpers und dessen lustvollen Möglichkeiten liegen können. Eine vergleichbare spielerische Leichtigkeit können die Erfahrungen mit anderen haben, die sich in der Erprobung des Flirtens, des sich Annäherns, des sich gegenseitig Kennenlernens in allen Facetten und auch Grenzen ereignet. Gleichzeitig gibt es Erfahrungen von eigenen Unmöglichkeiten, eigenen (körperlichen) Grenzen oder auch Ablehnungserfahrungen durch erwünschte Partner/innen. Offenheit für und Bereitschaft zu neuen, immer auch leichten und spielerischen Lernerfahrungen, denen Grenzerfahrungen immanent sind, sind tragend für die lebenslange Weiterentwicklung der individuellen Sexualität. Auf diesem Weg können auch die körperlichen Veränderungen, die sich z. B. in der pubertären Entwicklung als auch im Klimakterium sehr offensichtlich zeigen, in das eigene sexuelle Leben integriert werden.

Die Offenheit für die Notwendigkeit und Möglichkeit sexuellen Lernens sowie deren individuelle Nutzung zu subjektivem Lernen gehen in dem Spannungsfeld von Bedürftigkeit und Fähigkeit, das Gröschke (2008, 248) beschreibt, auf. In diesem Spannungsfeld leben alle Menschen. »Jeder Mensch ist immer zugleich bedürftig und fähig« (ebd., Hervorhebung im Original). Für Menschen mit Behinderung beschreibt Gröschke, dass hier »diese anthropologische Bedürftigkeit allenfalls existentiell zugespitzt und mehr auf äußere Ressourcen und Unterstützung der Bedürfnisbefriedigung angewiesen« (ebd.) ist.

In Bezug auf die Fähigkeiten eines jeden Menschen benennt er im Rahmen seiner heilpädagogischen Anthropologie drei »allgemeingültige menschliche Grundbefähigungen«: Entwicklungsfähigkeit, Lernfähigkeit und Handlungsfähigkeit. Entwicklungsfähigkeit beschreibt Gröschke (2008, 236) folgendermaßen:

»Jeder Mensch, unabhängig vom Ausmaß eventuell vorliegender psychophysischer Beeinträchtigungen oder Schädigungen, ist und bleibt entwicklungsfähig zu einer individuell einzigartigen Persönlichkeit«.

Die Grundbefähigung der Lernfähigkeit benennt Folgendes:

»Die individuelle psychosoziale Entwicklung vollzieht sich, neben Wachstums- und Reifungsprozessen, über Lernprozesse, die man von einfachen bis komplexen Lernformen stufen kann, und über die das Individuum Informationen aus seiner Umwelt aufnimmt, verarbeitet, speichert und als Wissen, Können sowie Selbst-,Welt- und Lebenserfahrung sich aneignet und nutzt« (ebd. 237).

Die Handlungsfähigkeit bildet dann nach Gröschke

»das Integral aus Entwicklungs- und Lernfähigkeit. Der Mensch als praktisches Wesen lernt und lebt, um zu handeln, und handelt um zu leben und im Lernprozess sich selbst hervorzubringen, zu verwirklichen und seine sozio-kulturelle Umwelt zusammen mit anderen zur gemeinsamen Lebenswelt zu machen« (ebd. 237).

Die mit diesem Menschenbild verbundene Haltung trägt und gestaltet (im günstigen Fall) die individuelle Begegnungen mit den Mitmenschen sowie die strukturellen Lebensbedingungen. In Bezug auf das Handlungsfeld der Eingliederungshilfe sind es die Mitarbeitenden, die in und mit den jeweiligen Rahmenbedingungen der Institution das Lern- und Entwicklungsfeld sowie die Handlungsmöglichkeiten im Bereich der sexuellen Selbstbestimmung eröffnen können bzw. wollen – oder auch nicht. So können die Bewohner/innen gemäß ihrer subjektiven Entwicklungs-, Lern- und Handlungsfähigkeiten im Rahmen förderlicher Bedingungen zu einer befriedigenden Sexualität gelangen und so ihre Sexualität selbstbestimmt leben. Allerdings sollte bei diesen Begegnungen zwischen Mitarbeitenden und Bewohner/innen dialogische Offenheit von Seiten der Mitarbeitenden für alle Entwicklungswege der Menschen mit Behinderung vorhanden sein. Jantzen (1999) beschreibt diese Haltung der Offenheit im Rahmen der Ausführungen zur rehistorisierenden Diagnostik folgendermaßen und auch zum Thema der sexuellen Selbstbestimmung passend:

»Nicht immer sind wir einfallsreich genug, klug genug, und manchmal ist die Situation auch gar nicht so, daß wir es sein könnten, um einen Dialog mit einem anderen Menschen zu realisieren. Denn immer gehört zu einer Situation das unverfügbare Recht des Anderen, ›Nein‹ zu unseren Deutungen zu sagen. Erst dieses Recht schafft Freiheit und nur die Garantie von Freiheit schafft die Möglichkeit der Entwicklung« (Jantzen 1999, 6).

Diese Offenheit für Entwicklung bedeutet nicht, dass einzelne Beteiligte Eingriffe in ihre Privat- oder Intimsphäre durch andere hinnehmen müssen. Individuelle sexuelle Selbstbestimmung aller Akteure/innen hat bei den Rechten der anderen – wie überall geltend – ihre Grenzen.

Die Begegnungen der Beteiligten und ihre Handlungsmöglichkeiten werden durch die Rahmenbedingungen der Organisation sowie deren Kultur beeinflusst. Diese wiederum bewegen sich in einer Gesellschaft und deren Kultur, die die Normen und Werte im Bereich der Sexualität gestalten.

2.2       Einschränkungen sexueller Selbstbestimmung

Menschen mit Behinderung erleben oft andere Möglichkeiten im Ausleben ihrer Sexualität als Menschen ohne Behinderung. Häufig sind dies Einschränkungen und Erschwernisse, die zum einen in der eigenen Beeinträchtigung begründet oder zum anderen, und das deutlich häufiger, strukturell bedingt sein können (vgl. u. a. Clausen und Herrath 2013, Hennies und Sasse 2004, Mattke 2004, Ortland 2011, Specht 2008). Diese beiden Bereiche sind eng miteinander verwoben, wie die folgende Darstellung des aktuellen Forschungsstandes zeigt.

In der Auflistung wird nach Einschränkungen bzw. Veränderungen der sexuellen Selbstbestimmungsmöglichkeiten unterschieden, die auf der einen Seite schwerpunktmäßig in der Beeinträchtigung der Bewohner/innen und auf der anderen Seite in den institutionellen Rahmenbedingungen liegen. Die starke Verwobenheit und teilweise gegenseitige Bedingtheit der Aspekte sind der Autorin bewusst und werden zugunsten einer Prägnanz der Darstellung außer Acht gelassen. So muss natürlich bei allen als beeinträchtigungsbedingt bezeichneten Einschränkungen kritisch hinterfragt werden, inwieweit diese strukturell (mit-)bedingt sind.

2.2.1     Beeinträchtigungsbedingte Einschränkungen

•  Mobilitätseinschränkungen, die das Aufsuchen geeigneter Treffpunkte und Orte zum Kennenlernen potentieller Partner/innen verhindern sowie Möglichkeiten selbstbestimmter und unbeobachtet gestalteter Zeit in der Partnerschaft erschweren (vgl. Ortland 2012, 117).

•  Kommunikationseinschränkungen bis hin zu nicht verständlicher Lautsprache und dem Angewiesensein auf Unterstützte Kommunikation, die Kontaktaufnahme zu anderen und Kontaktgestaltung in Beziehungen erschweren (vgl. Hennies/Sasse 2004, 67 ff, Ortland 2008) und wiederum die Abhängigkeit von Menschen verstärken, die Kommunikationsförderung als notwendig erkennen und angemessen anbieten.

•  Leichtere Beeinflussbarkeit und Manipulierbarkeit von Menschen mit geistiger Behinderung (vgl. Seifert 2006, 378) durch andere Menschen und durch Medien (Bosch weist hier insbesondere auf die Schwierigkeit von pornografischem Material hin, dessen Darstellungsformen häufig nicht entsprechend von Menschen mit geistiger Behinderung reflektiert und bewertet werden können (Bosch 2004, 140 ff)).

•  »Mangelndes Körperbewusstsein, fehlendes Wissen über eigene Bedürfnisse und Wünsche« (Specht 2008, 300, vgl. Zemp 2011, 164 f)

•  Mangelnde Ausbildung von Schamgefühl und des Bewusstseins über eine eigene Intimsphäre bei Angewiesensein auf Pflege bzw. Unterstützung im urogenitalen Bereich (vgl. Ortland 2007, 183).

2.2.2     Einschränkungen durch äußere Faktoren in Verbindung mit der Beeinträchtigung

•  Erschwerende Biografien durch Institutionalisierung, Erleben von Fremdbestimmung und Abhängigkeit sowie negativen Körpererfahrungen (Knorr 2011, Ortland 2011).

•  Sexualität stellt »trotz voranschreitender Normalisierung ihrer Lebensverhältnisse weiterhin keinen selbstverständlichen Bestandteil« (Specht 2008, 295) des Lebens von Menschen mit geistiger Behinderung dar.

•  (Negative) Beeinflussung des Selbstbildes und Selbstkonzeptes durch Stigmatisierungsprozesse und behindernde Erfahrungen (Stöppler und Albeke 2006, 55 f); fehlende Angebote zur Unterstützung dieses Auseinandersetzungsprozesses mit der eigenen Beeinträchtigung und behinderungsbedingter Lebenssituation.

•  Mehrdimensionale Diskriminierung von Frauen mit Behinderung (Hüner 2012, 105).

•  Vermissen von engen und vertrauensvollen Beziehungen vor allem bei Frauen mit Behinderung, die in Einrichtungen leben (BMFSFJ 2012, 48).

•  Multiple Gewalterfahrungen bei Frauen mit Behinderung:

»So haben je nach Untersuchungsgruppe ca. 30-40 % der Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen mehrere Formen von Gewalt in Kindheit/Jugend und Erwachsenenleben erlebt, was nur auf 7 % der Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt zutrifft. Frauen mit sogenannten geistigen Behinderungen gaben hier zu geringeren Anteilen multiple Gewalterfahrungen an (16 %), was allerdings vor allem darauf zurückzuführen sein dürfte, dass sie sich häufiger nicht an entsprechende Situationen in Kindheit und Jugend erinnern konnten. Zudem haben sie häufiger als andere Befragte keine Angaben zu erlebter Gewalt, insbesondere zu Fragen nach sexueller Gewalt gemacht. Deshalb ist hier ein hohes Dunkelfeld zu vermuten« (BMFSFJ 2012, 32).

•  Hohe Gefährdung im Bereich sexuelle Gewalt für Männer und Frauen mit Behinderung (Zemp 2011, 163 f).

•  Mangelnde Sexualerziehung in Schule und Elternhaus, daraus resultierend häufig nur mangelndes Wissen im Bereich Sexualität (vgl. Leue-Käding 2004, Ortland 2005, Mattke 2004, 48, 2005, 34).

•  Weniger sexuelle Erfahrungen vor allem bei jungen Frauen (Leue-Käding 2004), weniger (unbeaufsichtigte) Erfahrungsräume zur Ausbildung einer subjektiv befriedigenden Sexualität (Specht 2008, 299).

2.2.3     Einschränkungen durch Mitarbeitende

•  (Negative) Bewertung des sexuellen Verhaltens der Bewohner/innen auf der Grundlage eigener Werte und Moralvorstellungen (Mattke 2004, 49 f).

•  Implizite, unhinterfragte Vorstellungen ›richtiger‹ und ›falscher‹ Sexualität, wie z. B. die notwendige Langfristigkeit von Partnerschaften als ›richtige‹ Sexualität:

»Aber auch die unhinterfragte Annahme, dass Schwangerschaften zu vermeiden seien oder dass es einen ›richtigen‹ Zeitpunkt für Sexualaufklärung gibt, bilden, wenn auch nicht so elaborierte, implizite Konzepte, die dringend reflektiert werden sollten.« (Jeschke et al. 2006, 284)

•  Einschränkende Bedingungen für das Ausleben der Sexualität für die Bewohner/innen (Jeschke et al. 2006, 285).

•  Mangelnde Reflexion der eigenen Einstellungen und der eigenen sexuellen Biografie der Mitarbeitenden (Ortland 2008).

•  Mangelnde gemeinsame selbstkritische Reflexion der Mitarbeitenden, »so dass kein professioneller Konsens zu diversen sexualpädagogischen Themen im Team und in der Einrichtung erarbeitet werden kann, der für eine kompetente Sexualerziehung erforderlich ist« (Jeschke et al. 2006, 287).

•  Mangelnde Fähigkeiten, in einer für alle Beteiligten angemessenen und verständlichen Form über Sexualität zu reden (Ortland 2011).

•  Wenig Privat- und Intimsphäre im Gruppenleben der Wohneinrichtungen (Römisch 2011, 63, BMFSFJ 2012, 39): Die strukturellen Bedingungen in Wohnheimen »lassen wenig Intimsphäre zu, und die Themen rund um Partnerschaft und Sexualität werden im öffentlichen Raum der Wohngruppe verhandelt« (Römisch 2011, 63).

•  Abhängigkeit in der Ausgestaltung der eigenen Sexualität (sowohl alleine als auch mit Partner/in) von den Mitarbeitenden, die diesbezügliche Regeln z. B. für Übernachtungen aufstellen (Thomas et al. 2006, 185 ff)

•  Prophylaktische hormonelle Verhütung in Verbindung mit mangelnder Aufklärung sowie zu geringem Einbezug in diesbezügliche Entscheidungsprozesse (Römisch 2011, 63) und in Bezug zum Umfang der Verhütung eher geringer sexueller Aktivität (BMFSFJ 2012, 41):

»Das Ergebnis zeigt, dass bei diesen Frauen (mit geistiger Behinderung, B.O.) häufig auch dann schwangerschaftsverhütende Maßnahmen zum Einsatz kommen, wenn sie nach eigenen Angaben sexuell nicht aktiv sind und waren« (BMFSFJ 2012, 41).

•  Sexualpädagogische Angebote werden selten kontinuierlich angeboten, sondern es wird eher auf Bedarfe/Fragen der Bewohner/innen reagiert; mögliche Zuständigkeiten für sexualpädagogische Angebote scheinen nicht geklärt (Jeschke et al. 2006, 258 ff).

•  Mitarbeitende beanstanden den Mangel an sexualpädagogischem Arbeitsmaterial für Menschen mit geistiger Behinderung (Jeschke et al. 2006, 262).

•  Sekundäre soziale Behinderung:

»Das Personal schreibt den eigenen meidenden Umgang mit Sexualität der mangelnden Präsenz des Themas zu und realisiert keine umgekehrte Wirkrichtung« (Jeschke et al. 2006, 285).

2.2.4     Einschränkungen durch strukturelle sowie bauliche Rahmenbedingungen

•  Mangelnde Wahrung der Privat- und Intimsphäre in Einrichtungen (BMFSFJ 2012, 39, Jeschke et al. 2006, 419 f).

•  Zwei Fünftel der befragten Frauen mit geistiger Behinderung in der repräsentativen Studie des BMFSFJ (2012, 38) gaben an, keine abschließbaren Wasch- und Toilettenräume zur Verfügung zu haben.

•  Mangelnde Mitbestimmungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der Bewohner/innen (BMFSFJ 2012, 39):

»Einem Fünftel der in Einrichtungen lebenden Frauen (20 %) stand kein eigenes Zimmer zur Verfügung. Viele Frauen konnten darüber hinaus nicht mitbestimmen, mit wem sie zusammenwohnen und äußerten den Wunsch nach mehr Alleinsein« (ebd. 38).

•  Mangelnder Schutz vor psychischer, physischer und sexueller Gewalt (BMFSFJ 2012, 39).

•  Zu geringe Beachtung genderbezogener Aspekte in Bezug auf die Begleitung und Pflege der Bewohner/innen (Jeschke et al. 2006, 334 ff, Römisch 2011, 62, Hüner 2012, 107).

•  Ungleichverteilung der Geschlechter in den Wohneinrichtungen: a) Einrichtungen, die historisch als Männer- bzw. Fraueneinrichtungen gewachsen sind und erst seit einigen Jahren Bewohner/innen des anderen Geschlechts aufnehmen, haben in der Regel ein deutliches Ungleichgewicht der Geschlechter; b) Überrepräsentation der Männer in Wohneinrichtungen, sowohl ambulant als auch stationär (Römisch 2011, 61).

•  Mangelnde Außenkontakte erhöhen das Risiko, Opfer sexueller Gewalt zu werden und erschweren den Bewohner/innen, eine/n Partner/in zu finden (Jeschke et al. 2006, 421; Zemp 2011, 164).

Es wird deutlich, dass sich die Einschränkungen sexueller Selbstbestimmung bei Erwachsenen mit geistiger Behinderung vorrangig strukturell und deutlich weniger beeinträchtigungsbedingt darstellen. Der folgende Blick auf die Forderungen der UN-Konvention zeigt Handlungsbedarf für Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung.

2.3       Die Forderungen der UN-Konvention

Durch die 2009 erfolgte Ratifizierung des »Übereinkommens der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen« (UN-Konvention) durch Deutschland besteht die Notwendigkeit, dass Institutionen der Eingliederungshilfe die Realisierung der Rechte von Menschen mit Behinderung genau prüfen. Für den Kontext der sexuellen Selbstbestimmung sind vor allem die Artikel 22 und 23 von Relevanz. Darin heißt es:

Artikel 22 Achtung der Privatsphäre

(1) Menschen mit Behinderungen dürfen unabhängig von ihrem Aufenthaltsort oder der Wohnform, in der sie leben, keinen willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffen in ihr Privatleben, ihre Familie, ihre Wohnung oder ihren Schriftverkehr oder andere Arten der Kommunikation oder rechtswidrigen Beeinträchtigungen ihrer Ehre oder ihres Rufes ausgesetzt werden. Menschen mit Behinderung haben Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen.

(2) Die Vertragsstaaten schützen auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen die Vertraulichkeit von Informationen über die Person, die Gesundheit und die Rehabilitation von Menschen mit Behinderungen.

Artikel 23 Achtung der Wohnung und der Familie

(1) Die Vertragsstaaten treffen wirksame und geeignete Maßnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung von Menschen mit Behinderung auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen in allen Fragen, die Ehe, Familie, Elternschaft und Partnerschaft betreffen, um zu gewährleisten, dass

a) das Recht aller Menschen mit Behinderungen im heiratsfähigen Alter, auf der Grundlage des freien und vollen Einverständnisses der künftigen Ehegatten eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen, anerkannt wird;

b) das Recht von Menschen mit Behinderungen auf freie und verantwortungsbewusste Entscheidung über die Anzahl ihrer Kindern und die Geburtenabstände sowie auf Zugang zu altersgemäßer Information sowie Aufklärung über Fortpflanzung und Familienplanung anerkannt wird und ihnen die notwendigen Mittel zur Ausübung dieser Rechte zur Verfügung gestellt werden;

c) Menschen mit Behinderungen, einschließlich Kindern, gleichberechtigt mit anderen ihre Fruchtbarkeit behalten.

2.4       Konsequenzen für die Erhebung

Aus den bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, dass die aktuellen Aufträge in der Umsetzung der UN-Konvention im Bereich der sexuellen Selbstbestimmung den Erkenntnissen aus den aufgeführten Forschungsergebnissen an etlichen Stellen entgegen stehen. So muss z. B. kritisch geprüft werden, ob Bewohner/innen vor Eingriffen in ihr Privatleben ausreichend geschützt sind, sie Partnerschaft oder Elternschaft selbstbestimmt und ohne Diskriminierung leben können oder ihnen ausreichende und altersgemäße Informationen über Fortpflanzung und Familienplanung zugänglich sind.

Die Lebenssituation von Menschen mit geistiger Behinderung in Wohneinrichtungen in den Bereichen Sexualität und Partnerschaft und darauf folgend auch Ehe, Familie und Elternschaft muss so verändert werden, dass die UN-Behindertenrechtskonvention realisiert werden kann. Da damit die Zielperspektive gesetzt ist, entsteht die Frage nach dem geeigneten Weg dorthin. Der aktuelle Forschungsstand zeigt, dass Mitarbeitende eine zentrale Position in Bezug auf mögliche Veränderungsprozesse einnehmen. Allerdings wird aus den zusammengestellten Studien auch deutlich, dass die organisationalen Bedingungen hohe Relevanz durch Bereitstellung entsprechender Strukturen haben. Weiterhin sind perspektivisch Erwachsene mit Behinderung durch partizipative Veränderungsprozesse einer Einrichtung einzubinden. Ein gemeinsamer Weg braucht die Menschen mit Behinderung, die Mitarbeitenden und diese wiederum in ihrer konkreten Arbeit in den Wohngruppen eine institutionelle Ausrichtung in Richtung ›sexuelle Selbstbestimmung der Bewohner/innen‹, die durch die Leitungsebene initiiert in die vorhandene Organisationskultur eingebunden werden kann sowie unterstützt und mitgetragen wird.

Mit einem Veränderungsweg über die Mitarbeitenden als einem zentralen Ansatzpunkt braucht es Kenntnisse über deren Berufsalltag in Bezug auf sexuelle Selbstbestimmung der Bewohner/innen und vor allem über die Veränderungs- und Unterstützungswünsche, die sich aus dem konkreten Alltag ergeben.

Eine aktuelle Befragung von Mitarbeitenden zu ihren Erfahrungen, ihrem Erleben und dem Bewerten sexueller Verhaltensweisen der Bewohner/innen, ihrer daraus möglicherweise resultierenden Belastung sowie ihrer Perspektive auf Veränderungsnotwendigkeiten und ihr Bedarf an Unterstützung liegt derzeit nicht vor. Dies ist umso bedauerlicher, da in ihrer Arbeit viel Potential für Veränderungsprozesse liegt. So schreibt auch Wüllenweber (2008) den Fachkräften in der Behindertenhilfe eine zentrale Position bei der Umsetzung der Entwicklung in Richtung Empowerment, Selbstbestimmung und Teilhabe zu. »Dennoch benötigen sie in vielen Einrichtungen mehr Unterstützung und Anleitung und – was vielleicht verwundern mag – auch mehr Kontrolle« (ebd. 15).

Um diese Lücke zu schließen, soll daher im Folgenden eine von der Autorin initiierte und ausgewertete Befragung vorgestellt werden, die einen differenzierten Blick auf den Alltag der Mitarbeitenden in Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe ermöglicht. Grundlage ist ein ausführlicher Forschungsbericht, der in Bezug auf die methodische Vorgehensweise und deren Begründung sowie in Bezug auf die vielen Einzelergebnisse der Befragung stark gekürzt wurde.

3          Befragung von Mitarbeitenden in Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe

 

 

3.1       Ziel der Erhebung

Aus den dargestellten Begründungszusammenhängen ergaben sich folgende Forschungsfragen in Bezug auf die sexuelle Selbstbestimmung in Wohneinrichtungen aus der Perspektive der Mitarbeitenden im Wohngruppenkontext:

•  Welche Erfahrungen machen die Mitarbeitenden im Bereich »sexuelle Selbstbestimmung« mit den Bewohner/innen? Wie bewerten sie diese Erfahrungen?

•  Welche Veränderungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten sehen die Mitarbeitenden in diesem Bereich?

•  Welche Unterstützung benötigen Sie zur Realisierung von Veränderungen?

Die Befragung war nicht als Erfassung einer ›objektiv‹ abbildbaren Wirklichkeit in Wohneinrichtungen in Bezug auf sexuelle Selbstbestimmung der Bewohner/innen geplant und ausgelegt. Zentral waren vielmehr die subjektiven Wahrnehmungen der Mitarbeitenden, ihre Bewertungen, Deutungen und Unterstützungsbedarfe, da diese für sie in der Alltagsarbeit handlungsleitend sind. Die Ergebnisse als eine umfassende Beschreibung ihrer Arbeitssituation sollten Grundlage für eine sexualpädagogische/-andragogische Konzeptentwicklung sein.

3.2       Forschungsmethodisches Vorgehen

Die Befragung wurde als quantitative Erhebung in Form eines Fragebogens durchgeführt. Die Entscheidung für eine schriftliche Befragung hatte folgende Begründung: Bei dem tabuisierten und möglicherweise mit Sprechhemmungen versehenen Thema der Sexualität/sexuellen Selbstbestimmung ist bei einer schriftlichen anonymen Befragung eher davon auszugehen, dass sich Antworten im Sinne der sozialen Erwünschtheit vermeiden lassen. Der Einfluss von Merkmalen und Verhalten der interviewenden Personen lässt sich ebenso ausschalten (vgl. Diekmann 2002). Weiter ist es den Befragten eher möglich, über die Fragen nachzudenken und den Fragebogen zu verschiedenen Zeitpunkten auszufüllen.

Die Datenauswertung erfolgte über SPSS 21 mit Schwerpunkt auf Werten der deskriptiven Statistik in Form von Häufigkeitsverteilungen sowie ergänzenden interferenzstatistischen Berechnungen.

3.3       Die Stichprobe

Die Stichprobe setzte sich zusammen aus Mitarbeitenden aus sechs Wohneinrichtungen für Menschen mit vorrangig geistiger Behinderung in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen.

Da sich aus der bisherigen Literaturlage keine Zusammenhänge zwischen Größe einer Einrichtung, innerer Ausdifferenzierung verschiedener Wohnangebote, Zusammensetzung der Gruppe der Bewohner/innen nach Alter, Geschlecht oder Form der Behinderung herstellen lassen, würde für die Auswahl der Einrichtungen deren Bereitschaft zur Mitarbeit ausschlaggebend sein. Damit ist die Stichprobe nicht repräsentativ. Die Ergebnisse können jedoch wertvolle Hinweise auf Veränderungsnotwendigkeiten und Unterstützungsbedarfe zur Realisierung sexueller Selbstbestimmung der Bewohner/innen geben.

Durch die Verteilung der Fragebögen über Mitarbeitende der mittleren Leitungsebene an die Mitarbeitenden der Wohngruppen liegt keine gesicherte Angabe darüber vor, wie viele Fragebögen die Mitarbeitenden konkret erreicht haben. Durch die vorherige Abfrage der Anzahl der Mitarbeitenden im Bereich »Wohnen« in den einzelnen Einrichtungen kann von 1292 verteilten Fragebögen ausgegangen werden.

Der Rücklauf betrug 652 Fragebögen, von denen 640 auswertbar waren (ca. 50 % Rücklauf). Dies ist für die gewählte Form der schriftlichen Befragung mit einer Ausfülldauer von ca. 30 Minuten ein unerwartet hoher Rücklauf.

Es hat an der Befragung jeweils ungefähr die Hälfte der Mitarbeitenden aus sechs Einrichtungen teilgenommen. Dabei machen die Antworten aus den beteiligten drei großen Einrichtungen zusammen über vier Fünftel der abgegebenen Fragebögen aus.

3.4       Fragebogen und Auswertung

An dieser Stelle sollen kurz einige Aspekte des Fragebogens erläutert werden.

Analog zu den drei leitenden Forschungsfragen erhält der verwendete Fragebogen drei inhaltliche Bereiche, die auf dem Deckblatt des Fragebogens für die Auszufüllenden folgendermaßen dargestellt waren.

Abschnitt I:

Ihre Wahrnehmung: Sexuelle Verhaltensweisen der Bewohner/innen

Abschnitt II:

Ihre Wahrnehmung: Störende/hinderliche sexuelle Verhaltensweisen der Bewohner/innen im Gruppenalltag

Abschnitt III:

Ihre persönliche Herausforderung: Sexuelle Verhaltensweisen der Bewohner/innen

Abschnitt IV:

Ihre Vermutungen: Gründe für das sexuelle Verhalten der Bewohner/innen

Abschnitt V:

Ihr Bedürfnis: Unterstützungs- und Veränderungsbedarf

Abschnitt VI:

Angaben zu Ihrer Person

In Bezug auf die beobachteten sexuellen Verhaltensweisen der Bewohner/innen aus dem eigenen Arbeitsbereich handelt es sich bewusst um eine subjektive Einschätzung der Mitarbeitenden zur Häufigkeit des beobachteten Verhaltens der Bewohner/innen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die subjektiven Wahrnehmungen der Mitarbeitenden deren Arbeitsalltag bestimmen. Die erhobenen Werte sind in ihrer Auftretenshäufigkeit Aussagen über die sexuellen Verhaltensweisen, die die Mitarbeitenden im Alltag wahrnehmen! Es sind damit nur bedingt Aussagen über die Häufigkeit der Verhaltensweisen, die die Bewohner/innen zeigen, möglich.

Aufgrund der Geschlechtsspezifität sexueller Entwicklung sowie der Berücksichtigung einer notwendigen gendersensiblen Perspektive, die bei Menschen mit Behinderung oft vernachlässigt wird, wurden die beobachteten Verhaltensweisen getrennt sowohl für männliche als auch weibliche Bewohner/innen erfragt (Abschnitt 1). Dabei unterscheiden sich die jeweils geschlechtsbezogen angebotenen Items nur um einige wenige spezifische Items (z. B. »Die weibliche Bewohnerin schmiert mit Menstruationsblut« oder »Die weibliche Bewohnerin reibt sich die Brüste/kneift sich in die Brüste«) bzw. sind geschlechtsbezogen formuliert (z. B. »der männliche Bewohner hat die Hand von außen (über der Hose) am Penis« bzw. »die weibliche Bewohnerin hat die Hand von außen (über der Hose) an der Scheide«). Damit sollte bewusst eine inhaltliche Einengung geschlechtsspezifischer Aspekte vermieden werden. Selbstkritisch muss hier allerdings angemerkt werden, dass die Autorin selbst bei dem Item »Die Bewohnerin äußert starken Wunsch/fragt nach eigenen Kindern« nicht gendersensibel genug war, um dieses Item auch bei den männlichen Bewohnern aufzuführen. Analog ist dies bei dem Item »Mann fragt MA nach Vermittlung einer Prostituierten für ihn« passiert. Allerdings bestand immer die Möglichkeit, dies bei »Sonstiges« zu ergänzen.

Weiterhin wurden auch sexuelle Verhaltensweisen von Bewohner-Paaren erfasst. Hier wurde offen gelassen, ob es sich um hetero- oder homosexuelle Paare handelt. Dementsprechend wurden z. B. die Items, die sich auf genitale Sexualität bezogen, sowohl zu Geschlechtsverkehr, Oralverkehr als auch Analverkehr formuliert. Allerdings lassen sich bei den Ergebnissen die verschiedenen Formen der gelebten Sexualität nicht homo- oder heterosexuellen Paaren zuordnen, da dies nicht ausdrücklich erfragt wurde. Ebenso wurde in der Erhebung nicht vorgegeben, was unter einem »Paar« zu verstehen ist. Somit sind die Bewohner-Paare erfasst, die von den Mitarbeitenden als solche gesehen und bewertet wurden.

Neben dieser geschlechtsspezifischen Differenzierung wurden die Items situationsspezifisch differenziert in die drei Situationen

a)  »Bewohner/in oder Paare in Situation allein/fühlt sich unbeobachtet«,

b)  »Bewohner/in oder Paare in Situation mit anderen Bewohner/innen« sowie

c)  »Bewohner/in oder Paare mit Mitarbeitenden«.

Sexuelles Verhalten wird als ein situationsspezifisches Verhalten verstanden, das mit Umgebungsbedingungen und weiteren anwesenden Personen verbunden ist. So wird bei den Items häufig das gleiche sexuelle Verhalten in verschiedenen Situationen abgefragt wie das nachfolgende Beispiel zeigt:

a)  »Mann befriedigt sich erfolgreich selbst«,

b)  »Mann befriedigt sich selbst im Beisein der Mitbewohner/innen«,

c)  »Mann befriedigt sich selbst im Beisein des Mitarbeitenden«.

Zusammenfassend wird der Aufbau der Frage eins an folgendem Auszug aus dem Fragebogen deutlich:

I Sexuelle Verhaltensweisen der Bewohner/innen

Frage 1: Welche der folgenden sexuellen Verhaltensweisen der Bewohner/innen begegnen Ihnen bei Ihrer Arbeit in der Wohneinrichtung?

Bitte schätzen Sie deren Häufigkeit des Auftretens bei den Bewohner/innen Ihrer Wohngruppe bzw. Ihres Arbeitsbereiches ein. Es geht dabei um Ihre subjektive Wahrnehmung, wie häufig die genannten Verhaltensweisen auftreten.

Situationhäufigmanch- mal nie

Für die Frage zwei sollten die Befragten noch einmal die Liste der Items von Frage eins durchsehen und die Verhaltensweisen markieren, die sie (in der entsprechend beschriebenen Weise) als besonders störend erleben. Dahinter steht die Annahme, dass die Verhaltensweisen, die als besonders störend oder hinderlich im Gruppenalltag erlebt werden, bei den Mitarbeitenden eher den Wunsch auslösen, etwas zu verändern und ggf. auch den Grad an subjektiver Belastung bestimmen.

Dazu wurde folgende Frage gestellt (Auszug aus dem Fragebogen):

II Störende/hinderliche sexuelle Verhaltensweisen der Bewohner/innenim Gruppenalltag:

Frage 2: Betrachten Sie bitte noch einmal die Seiten 2-5. Kreisen Sie bitte in dieser Auflistung die Verhaltensweisen ein (oder markieren diese farblich), die Sie im Gruppenalltag für Einzelne oder alle Beteiligten als besonders störend bzw. hinderlich erleben.

Als störende Verhaltensweisen sollen hier verstanden werden:

 

•  Verhaltensweisen der Bew., durch die Sie sich subjektiv gestört fühlen und die Sie als hinderlich im Gruppenalltag erleben

•  Verhaltensweisen der Bew., durch die andere Bewohner/innen sich gestört fühlen

•  Verhaltensweisen der Bew., durch die diese selbst z. B. in ihren sozialen Kontakten behindert/gestört werden (weil z. B. andere sich abgestoßen fühlen)