Sherlock Holmes' Buch der Fälle - Arthur Conan Doyle - E-Book

Sherlock Holmes' Buch der Fälle E-Book

Arthur Conan Doyle

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Beschreibung

Das große Finale - Verpassen Sie nicht den letzten Band der »Sherlock Holmes-Reihe« in der Neuübersetzung von Henning Ahrens. Sherlock Holmes' ungebrochene Popularität bewog Arthur Conan Doyle auch nach dessen »Abschiedsvorstellung« zu weiteren Geschichten. Das Genie und Dr. Watson bekommen es im »Buch der Fälle« mit kunstaffinen Mördern, Blausäureattentaten, vermeintlichen Vampirbissen, gelben Haarquallen und einem Farbenhändler im Ruhestand zu tun.

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Seitenzahl: 388

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Arthur Conan Doyle

Sherlock Holmes' Buch der Fälle

Erzählungen.

Erzählungen

Neu übersetzt von Henning Ahrens

FISCHER E-Books

Inhalt

INHALTVorwortDas Abenteuer mit dem illustren KlientenDas Abenteuer mit dem bleichen SoldatenDas Abenteuer mit dem KronjuwelDas Abenteuer von Three GablesDas Abenteuer mit der Sussex-VampirinDas Abenteuer mit den drei GarridebsDas Problem der Thor-BrückeDas Abenteuer mit dem kriechenden MannDas Abenteuer mit der LöwenmähneDas Abenteuer mit der verschleierten MieterinDas Abenteuer in Shoscombe Old PlaceDas Abenteuer mit dem ehemaligen Händler für KünstlerbedarfEditorische NotizZur Neuübersetzung

INHALT

Vorwort

Sherlock Holmes’ Buch der Fälle

Mr Sherlock Holmes, befürchte ich, gleicht inzwischen einem jener beliebten Tenöre, die der Verlockung erliegen, ihrem geneigten Publikum immer neue Abschiedsvorstellungen zu geben, obwohl ihre Zeit längst abgelaufen ist. Damit muss jetzt Schluss sein, Sherlock Holmes muss den Weg allen Fleisches gehen, ob im konkreten oder im übertragenen Sinn. Es wäre schön, wenn es einen phantastischen Limbus für die Kinder der Phantasie gäbe, einen ebenso verrückten wie unwirklichen Ort, an dem Fieldings Beaus den Belles von Richardson weiter den Hof machen, Scotts Helden weiter stolz einherschreiten, Dickens’ wunderbare Cockneys weiter ihr Gelächter anstimmen und Thackerays Weltlinge ihre verwerflichen Karrieren weiterverfolgen. Vielleicht finden ja auch Sherlock und sein Watson in einem solchen Walhalla vorübergehend einen kleinen Winkel, während ein noch klügerer Spürhund und sein noch begriffsstutzigerer Kompagnon die Lücke füllen, die beide auf der Bühne hinterlassen haben.

Er blickt auf eine lange Karriere zurück – die man aber auch überschätzen kann; auf betagte Herren, die mir erklären, die Lektüre seiner Abenteuer habe ihre Jugendjahre geprägt, reagiere ich offenbar nicht wie erwartet. Sie sind nicht erfreut, wenn ich ihre intimen Bekenntnisse unwirsch aufnehme. Tatsache ist, dass Holmes sein Debüt in Eine Studie in Scharlachrot und in Das Zeichen der Vier feierte, zwei schmale Bücher, die zwischen 1887 und 1889 erschienen. Ein Skandal in Böhmen, die erste einer langen Reihe von Kurzgeschichten, erschien 1891 im The Strand Magazine. Und weil das Publikum die Geschichten mochte und mehr lesen wollte, wurden sie seither, also seit neununddreißig Jahren, in einer losen Folge publiziert, die inzwischen auf nicht weniger als sechsundfünfzig Geschichten angewachsen ist, neuveröffentlicht in Die Abenteuer, Die Memoiren, Die Rückkehr und Seine Abschiedsvorstellung. Bleiben noch diese zwölf, geschrieben während der letzten Jahre, die hier unter dem Titel Sherlock Holmes’ Buch der Fälle erscheinen. Er begann seine Karriere in der Spätphase der viktorianischen Ära, setzte sie während der viel zu kurzen Regentschaft Edwards fort und konnte seine kleine Nische bis in diese fiebrigen Zeiten behaupten. Man kann also sagen, dass jene, die seine Abenteuer als Jugendliche gelesen haben, heute erleben, wie ihre erwachsenen Kinder die Abenteuer des gleichen Helden in der gleichen Zeitschrift verfolgen. Ein schlagendes Beispiel für die Geduld und die Treue des britischen Lesepublikums.

Nachdem ich Die Memoiren geschrieben hatte, war ich fest entschlossen, mit Holmes endgültig abzuschließen, weil ich es falsch fand, meine schriftstellerische Energie in nur einen Kanal fließen zu lassen. Das blasse, scharf geschnittene Gesicht und die schlaksige Gestalt beanspruchten meine Phantasie viel zu stark. Gesagt, getan – aber zum Glück bekam kein Coroner den Toten zu Gesicht, und deshalb fiel es mir nach einer langen Pause leicht, auf die schmeichelhaften Bitten einzugehen und meine übereilte Tat für aus der Welt zu erklären. Ich habe das nie bereut, denn diese Fingerübungen hinderten mich nicht daran, die Grenzen meiner Fähigkeiten in so unterschiedlichen literarischen Gattungen wie der Geschichtsschreibung, der Lyrik, dem historischen Roman, der Seelenforschung und dem Drama zu erproben. Ich hätte selbst dann nicht mehr schaffen können, wenn Holmes niemals existiert hätte, obwohl er der Würdigung meiner ernsthafteren literarischen Werke sicher ein Stück weit im Weg stand.

Und somit, Leser, adieu Sherlock Holmes! Ich danke dir für deine langjährige Treue und kann nur hoffen, dass du einen Gewinn davon hattest, in dieser Form von den Alltagssorgen abgelenkt und auf neue Gedanken gebracht zu werden, eine Form, wie sie nur im Märchenreich der Literatur zu finden ist.

 

Arthur Conan Doyle

Das Abenteuer mit dem illustren Klienten

»Kann jetzt auch nicht mehr schaden«, lautete die Erwiderung von Mr Sherlock Holmes, als ich ihn zum zehnten Mal in zehn Jahren bat, diese Geschichte ans Licht bringen zu dürfen. So kam es, dass mir schließlich doch noch gestattet wurde, das festzuhalten, was in mancher Hinsicht den Höhepunkt der Karriere meines Freundes darstellt.

Holmes und ich hatten eine Schwäche für das türkische Bad. Wenn wir angenehm entspannt im Ruheraum rauchten, kam er mir menschlicher und zugänglicher vor als irgendwo sonst. Im Obergeschoss des Hammam in der Northumberland Avenue gibt es eine abgeschiedene Ecke mit zwei Liegen, und dort ruhten wir uns am dritten September 1902 aus, dem Tag, an dem meine Geschichte beginnt. Ich hatte ihn gefragt, ob sich etwas tue, und er hatte als Antwort einen langen, schmalen, nervösen Arm aus den Decken schießen lassen, in die er sich gehüllt hatte, und einen Umschlag aus der Innentasche des neben ihm hängenden Mantels gezogen.

»Könnte sich um einen wichtigtuerischen, übergeschnappten Dummkopf handeln; könnte aber auch eine Sache von Leben und Tod sein«, sagte er, als er mir den Umschlag reichte. »Ich weiß auch nicht mehr, als in diesem Brief steht.«

Dieser stammte aus dem Carlton Club und war am Vorabend aufgegeben worden. Ich las Folgendes:

Sir James Damery entbietet Mr Sherlock Holmes seine besten Grüße und wird ihn morgen Nachmittag um halb fünf aufsuchen. Sir James erlaubt sich zu ergänzen, dass die Angelegenheit, die er mit Mr Holmes erörtern möchte, ebenso heikel wie wichtig ist. Er vertraut deshalb darauf, dass Mr Holmes alles tun wird, um das Gespräch zu ermöglichen, und bittet um eine telefonische Zusage im Carlton Club.

»Ich muss wohl nicht extra erwähnen, dass ich zugesagt habe, Watson«, sagte Holmes, als ich den Brief zurückreichte. »Haben Sie schon mal von diesem Damery gehört?«

»Ich weiß nur, dass sein Name in höheren gesellschaftlichen Kreisen sehr bekannt ist.«

»Nun, ich weiß etwas mehr. Er hat sich den Ruf erworben, Angelegenheiten zu regeln, die in der Presse keine Erwähnung finden dürfen. Sie erinnern sich vielleicht, dass er im Fall des Hammerford-Testaments mit Sir George Lewis verhandelte. Er ist ein weltläufiger Mann und ein diplomatisches Naturtalent. Ich gehe also davon aus, dass es sich nicht um einen Fehlalarm handelt, sondern dass er tatsächlich unsere Hilfe braucht.«

»Unsere?«

»Vorausgesetzt, Sie sind so freundlich, Watson.«

»Es wäre mir eine Ehre.«

»Sie wissen, wann er kommt – um halb fünf. Bis dahin können wir die Sache aus unseren Gedanken verbannen.«

Damals bewohnte ich in der Queen Anne Street eigene Räumlichkeiten, war aber schon vor der verabredeten Stunde in der Baker Street. Punkt halb fünf wurde Colonel Sir James Damery angekündigt. Unnötig, ihn zu beschreiben, denn man erinnert sich bestimmt an diese beeindruckende, offene und ehrliche Persönlichkeit mit dem breiten, glattrasierten Gesicht und der angenehm sanften Stimme. Seine grauen irischen Augen strahlten Aufrichtigkeit aus, seine regen, lächelnden Lippen wurden von Gutmütigkeit umspielt. Sein glänzender Zylinder, sein dunkler Gehrock, ja jedes Detail, von der mit einer Perle geschmückten Nadel in der schwarzen Seidenkrawatte bis zu den lavendelfarbigen Gamaschen über den blankpolierten Schuhen, zeugte von der berühmten Sorgfalt, die er auf seine Kleidung verwandte. Der stattliche, gebieterische Aristokrat dominierte das kleine Zimmer.

»Ich war natürlich darauf vorbereitet, Dr. Watson anzutreffen«, bemerkte er mit einer höflichen Verbeugung. »Seine Mitarbeit könnte von großem Nutzen sein, denn wir haben es mit einem Mann zu tun, für den Gewalt alltäglich ist und der buchstäblich vor nichts zurückschreckt, Mr Holmes. Ich glaube, in ganz Europa gibt es keinen gefährlicheren Mann.«

»Ich hatte mehrere Gegenspieler, die man so schmeichelhaft charakterisiert hat«, erwiderte Holmes lächelnd. »Sie rauchen nicht? Mit Ihrer Erlaubnis zünde ich eine Pfeife an. Sollte Ihr Mann wirklich gefährlicher sein als der verstorbene Professor Moriarty oder der quicklebendige Colonel Sebastian Moran, dann wäre es ein Gewinn, ihn kennenzulernen. Darf ich seinen Namen erfahren?«

»Haben Sie jemals von Baron Gruner gehört?«

»Sie meinen den österreichischen Mörder?«

Colonel Damery lachte auf und warf die Hände hoch, die noch in Lederhandschuhen steckten. »Immer eine Nasenlänge voraus, Mr Holmes! Herrlich! Sie haben ihn also schon als Mörder eingestuft?«

»Die Verbrechen auf dem Kontinent genau zu verfolgen, gehört zu meinem Beruf. Wer hätte von den Ereignissen in Prag lesen können, ohne von der Schuld dieses Mannes überzeugt zu sein? Er kam durch einen Formfehler und den verdächtigen Tod eines Zeugen davon! Angeblich starb seine Frau bei einem Unfall auf dem Splügenpass, aber ich bin so felsenfest davon überzeugt, dass er sie ermordet hat, als wäre ich persönlich dabei gewesen. Ich wusste auch, dass er inzwischen in England lebt, und habe geahnt, dass ich mich irgendwann mit ihm befassen muss. Was hat Baron Gruner jetzt schon wieder angestellt? Es hat sicher nichts mit der erwähnten Tragödie zu tun, richtig?«

»Nein, die Sache ist viel ernster. Ein Verbrechen zu sühnen ist wichtig, aber eines zu verhüten ist noch wichtiger. Wenn man mitansehen muss, Mr Holmes, wie alles auf ein schreckliches Ereignis, auf eine furchtbare Situation zusteuert, dann ist das grauenvoll, zumal, wenn man genau weiß, wie es enden wird, ohne etwas dagegen tun zu können. Gibt es eine quälendere Ausgangslage?«

»Wohl kaum.«

»Dann haben Sie sicher vollstes Verständnis für den Klienten, dessen Interessen ich vertrete.«

»Mir war nicht klar, dass Sie nur der Mittler sind. Wer ist die Hauptfigur?«

»Ich muss Sie bitten, nicht auf dieser Frage zu beharren, Mr Holmes. Der Mann muss die Gewissheit haben, dass sein ehrbarer Name nicht in diese Sache hineingezogen wird. Seine Motive sind absolut ehrenhaft und ritterlich, aber er möchte nicht genannt werden. Ich muss wohl nicht extra betonen, dass Sie ihr Honorar garantiert erhalten und freie Hand haben. Der echte Name des Klienten tut wenig zur Sache, nicht wahr?«

»An einem Ende meiner Fälle steht immer ein Geheimnis, das bin ich gewohnt«, sagte Holmes, »aber an beiden Enden? Nein, das ist zu verwirrend. Ich fürchte, ich muss ablehnen, Sir James, tut mir leid.«

Unser Besucher war sehr verstört. Enttäuschung und andere Emotionen verdunkelten sein großes, sensibles Gesicht.

»Sie ahnen nicht, was Ihre Forderung bedeutet, Mr Holmes«, sagte er. »Sie bringt mich in eine schlimme Zwickmühle. Ich bin überzeugt, dass Sie diesen Fall mit Stolz übernehmen würden, sobald Sie die Fakten kennen, auch wenn ich aufgrund meines Versprechens nicht alle offenbaren kann. Darf ich wenigstens schildern, was mir gestattet ist?«

»Unbedingt. Sie müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass ich mich dadurch zu nichts verpflichte.«

»Das nehme ich zur Kenntnis. Ich gehe davon aus, der Name General de Merville sagt Ihnen etwas?«

»De Merville, der Held vom Chaiber-Pass? Ja, der Name sagt mir etwas.«

»Er hat eine Tochter, Violet de Merville, jung, reich, schön und formvollendet, in jeder Hinsicht die perfekte Frau. Und diese Tochter, dieses wunderbare, unschuldige Mädchen, müssen wir unbedingt aus den Klauen eines Schurken retten.«

»Sie steht also unter dem Bann von Baron Gruner?«

»Unter dem stärksten Bann, was Frauen betrifft – dem der Liebe. Sie wissen vielleicht, dass der Mann blendend aussieht und eine extrem faszinierende Art, eine sanfte Stimme und die romantische, geheimnisvolle Ausstrahlung hat, die Frauen so hinreißt. Angeblich liegt ihm die ganze Weiblichkeit zu Füßen, was er auch weidlich ausgenutzt hat.«

»Wie konnte der Mann Bekanntschaft mit einer Dame vom Rang Miss Violet de Mervilles schließen?«

»Auf einer Yacht, während einer Mittelmeer-Kreuzfahrt. Eine exklusive Gesellschaft, nur vermögende Leute. Die Veranstalter haben das wahre Wesen des Barons zweifellos zu spät durchschaut. Der Schurke hat die Dame umworben, und zwar so erfolgreich, dass er ihr Herz komplett erobert hat. Zu sagen, dass sie ihn liebt, wäre eine Untertreibung. Sie himmelt ihn an; sie ist von ihm besessen. Für sie gibt es auf Erden nur noch ihn. Sie will nichts Negatives hören. Man hat alles getan, um ihr diesen Wahnsinn auszutreiben, vergeblich. Kurz gesagt: Sie will ihn im kommenden Monat heiraten. Da sie volljährig ist und einen eisernen Willen hat, weiß keiner, wie man sie daran hindern soll.«

»Ist sie über den Vorfall in Österreich informiert?«

»Dieser gerissene Teufel hat ihr alle widerwärtigen Skandale gebeichtet, in die er verwickelt war, aber stets so, dass er als unschuldiger Märtyrer dastand. Sie akzeptiert seine Versionen ohne Wenn und Aber und will nichts anderes hören.«

»Du liebe Güte! Aber Sie haben den Namen Ihres Klienten gerade aus Versehen preisgegeben, nicht wahr? Es kann nur General de Merville sein.«

Unser Besucher rutschte auf seinem Stuhl herum.

»Ich könnte das bejahen, um Sie zu täuschen, Mr Holmes, aber es wäre nicht die Wahrheit. De Merville ist ein gebrochener Mann. Die Ereignisse haben den wackeren Soldaten vollkommen demoralisiert. Er hat die Nerven verloren, die ihn auf dem Schlachtfeld nie im Stich gelassen haben, und ist jetzt ein schwacher, klapperiger, alter Mann, der einem brillanten, forschen Schuft wie diesem Österreicher nicht die Stirn bieten kann. Mein Klient ist ein alter Freund, der den General seit vielen Jahren kennt und schon ein väterliches Interesse an der jungen Frau zeigte, als sie noch mit Puppen spielte. Er will nicht tatenlos zusehen, wie sich die Tragödie vollendet, sondern wenigstens versuchen, sie zu verhindern. Scotland Yard hat hier keine Handhabe. Der Vorschlag, Sie mit dem Fall zu betrauen, stammt von ihm, wenn auch – wie gesagt – unter der ausdrücklichen Bedingung, nicht selbst in den Fall verwickelt zu werden. Sie könnten meinen Klienten auf dem Umweg über mich zweifellos identifizieren, Mr Holmes, denn Sie verfügen über erstklassige Fähigkeiten, aber ich appelliere an Ihre Ehre: Bitte unterlassen Sie das, bitte respektieren Sie seinen Wunsch, inkognito zu bleiben.«

Holmes lächelte verschmitzt.

»Das kann ich Ihnen fest versprechen, denke ich«, sagte er. »Ich möchte ergänzen, dass mich der Fall interessiert. Ich übernehme ihn gern. Wie halten wir Kontakt?«

»Im Carlton Club weiß man immer, wo ich bin. Für den Notfall habe ich auch eine private Telefonnummer, ›XX31‹.«

Holmes notierte das und saß lächelnd da, das aufgeschlagene Merkheft auf den Knien.

»Und die aktuelle Adresse des Barons?«

»Vernon Lodge, bei Kingston. Ein großes Haus. Er ist durch dubiose Spekulationen und mit Glück zu Reichtum gelangt, was ihn natürlich zu einem noch gefährlicheren Gegenspieler macht.«

»Hält er sich momentan zu Hause auf?«

»Ja.«

»Haben Sie Informationen, die über das hinausgehen, was Sie mir bereits über den Mann berichtet haben?«

»Er hat teure Vorlieben. Er ist ein Pferdenarr. Er hat eine Weile Polo im Hurlingham Club gespielt, musste aber gehen, als seine Prager Affäre ruchbar wurde. Er sammelt Bücher und Gemälde. Er hat ein ausgeprägtes künstlerisches Naturell. Er ist ein anerkannter Experte für chinesisches Porzellan und hat ein Buch zu diesem Thema veröffentlicht.«

»Ein komplexer Geist«, meinte Holmes. »Das gilt für alle großen Kriminellen. Mein alter Freund Charlie Peace war ein Geigen-Virtuose. Wainwright war auch kein übler Künstler. Ich könnte viele andere nennen. Nun, Sir James, teilen Sie Ihrem Klienten mit, dass ich mich Baron Gruner widmen werde. Mehr kann ich jetzt nicht sagen. Ich habe eigene Informationsquellen, und ich wage zu behaupten, dass wir eine Möglichkeit finden werden, um mit den Ermittlungen zu beginnen.«

Nachdem unser Besucher gegangen war, saß Holmes so lange und so tief in Gedanken versunken da, dass ich glaubte, er hätte mich vergessen. Aber dann kehrte er ruckartig in die Realität zurück.

»Na, Watson, haben Sie eine Meinung zu all dem?«, fragte er.

»Ich denke, Sie sollten die junge Dame persönlich aufsuchen.«

»Mein lieber Watson, was sollte ich, ein Fremder, ausrichten können, wenn es nicht einmal ihrem alten, gebrochenen Vater gelingt, sie umzustimmen? Ihr Vorschlag hat trotzdem etwas für sich, jedenfalls, wenn alles andere scheitert. Nein, ich glaube, wir müssen den Hebel zunächst an anderer Stelle ansetzen. Ich habe das Gefühl, dass Shinwell Johnson dabei von Nutzen sein könnte.«

Ich hatte noch nie Gelegenheit, Shinwell Johnson in diesen Memoiren zu erwähnen, weil ich selten Fälle aus der späten Karrierephase meines Freundes aufgegriffen habe. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts mauserte er sich zu einem wertvollen Assistenten. Bedauerlicherweise machte Johnson zunächst als extrem gefährlicher Schurke von sich reden und verbüßte zwei Haftstrafen in Parkhurst. Danach zeigte er Reue und verbündete sich mit Holmes. Er agierte als sein Agent in der weitverzweigten kriminellen Unterwelt Londons und konnte immer wieder entscheidende Informationen beschaffen. Wäre Johnson ein ›Maulwurf‹ der Polizei gewesen, dann wäre er bald aufgeflogen, aber weil er nur in Fällen agierte, die nicht direkt vor Gericht kamen, wurde sein doppeltes Spiel von seinen Kumpanen nie durchschaut. Aufgrund des Glorienscheins zweier Haftstrafen konnte er jeden Nachtclub, jede Absteige und Spielhölle der Stadt betreten, und durch seine Adleraugen und sein rasches Denken war er der ideale Späher. An ihn wollte sich Sherlock Holmes nun wenden.

Ich konnte die nächsten Schritte meines Freundes nicht verfolgen, weil ich eigene Angelegenheiten regeln musste, aber wir verabredeten uns für den Abend im Simpson’s, wo er mich auf den neuesten Stand brachte, an einem kleinen Tisch vor der dem großen Fenster sitzend, das einen Blick auf das lebhafte Treiben auf der Strand bot.

»Johnson ist auf der Pirsch«, sagte er. »Vielleicht liest er in den dunklen Winkeln der Unterwelt etwas Unrat auf, denn genau dort, zwischen den finsteren Wurzeln des Verbrechens, müssen wir Jagd auf die Geheimnisse des Mannes machen.«

»Warum sollte sich die Lady, die alle bekannten Tatsachen ignoriert, durch neue Enthüllungen von ihrem Vorhaben abbringen lassen?«

»Wer weiß, Watson. Fühlen und Denken der Frauen sind für uns Männer unlösbare Rätsel. Ein Mord kann vergeben oder entschuldigt werden, aber ein kleineres Vergehen könnte an ihr nagen. Wie Baron Gruner mir gegenüber bemerkte …«

»Ihnen gegenüber bemerkte!«

»Ah, richtig, ich hatte Sie gar nicht in meine Schlachtpläne eingeweiht. Nun, Watson, ich stehe einem Gegner gern von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Ich suche ihn gern persönlich auf, um mir selbst ein Bild davon zu machen, aus welchem Holz er geschnitzt ist. Nachdem ich Johnson Anweisungen gegeben hatte, fuhr ich mit einer Droschke nach Kingston und traf den Baron in sehr liebenswürdiger Stimmung an.«

»Hat er Sie erkannt?«

»Sicher, denn ich habe meine Karte abgegeben. Er ist ein absolut glänzender Kontrahent, kalt wie Eis, mit seidiger Stimme, einlullend wie einer der Berater, die heutzutage so in Mode sind, und giftig wie eine Kobra. Er hat Format – ein wahrer Aristokrat des Verbrechens, jemand, der höflich zum Nachmittagstee bittet, während er alle Grausamkeiten des Grabes im Hinterkopf hat. Ja, ich bin froh, dass man meine Aufmerksamkeit auf Baron Adelbert von Gruner gelenkt hat.«

»Sie sagen, er sei liebenswürdig gewesen?«

»Eine schnurrende Katze, die glaubt, potenzielle Mäuse vor sich zu haben. Die Liebenswürdigkeit mancher Menschen ist gefährlicher als die Brutalität grobschlächtigerer Geister. Seine Begrüßung sagte schon alles: ›Ich habe geahnt, dass ich Ihnen früher oder später begegne, Mr Holmes‹, sagte er. ›Sie wurden sicher von General de Merville engagiert, um meine Heirat mit seiner Tochter Violet zu verhindern. So ist es doch, nicht wahr?‹

Ich bestätigte das.

›Guter Mann‹, sagte er, ›Sie werden Ihren wohlverdienten Ruf ruinieren. Diesen Fall schließen Sie ganz sicher nicht erfolgreich ab. Sie bemühen sich umsonst, von der Gefahr, die Sie eventuell eingehen, ganz zu schweigen. Ich lege Ihnen äußerst dringend ans Herz, sofort die Finger von dieser Sache zu lassen.‹

›Schon sonderbar‹, erwiderte ich, ›denn das wollte ich Ihnen auch raten. Ich respektiere Ihre Intelligenz, Baron, und mein erster Eindruck Ihrer Persönlichkeit hat diesen Respekt nicht gemindert. Ich will es von Mann zu Mann sagen: Niemand möchte Sie in ungebührlich tiefe Verlegenheit bringen, indem man in Ihrer Vergangenheit wühlt. All das ist Geschichte, und Sie bewegen sich inzwischen in ruhigerem Fahrwasser, aber wenn Sie auf dieser Heirat bestehen, würden Sie eine ganze Meute mächtiger Feinde gegen sich aufbringen, die Ihnen so lange zusetzen, bis Ihnen der Boden in England zu heiß wird. Lohnt Ihr Spiel diesen Preis? Es wäre weiser, wenn Sie die Dame in Ruhe ließen. Wenn man sie über einen gewissen Vorfall aus Ihrer Vergangenheit unterrichten würde, wäre das sicher unangenehm für Sie.‹

Der Baron trägt einen schmalen, gewachsten Schnurrbart, der an kurze Insektenfühler erinnert. Diese bebten vor Vergnügen, während er zuhörte, und dann musste er leise lachen.

›Verzeihen Sie, Mr Holmes‹, sagte er, ›aber es ist schon amüsant, wie Sie versuchen, mit einem wertlosen Blatt zu punkten. Das könnte niemand besser, davon bin ich überzeugt, und trotzdem ist es lächerlich. Sie haben keine Trümpfe auf der Hand, Mr Holmes, sondern nur das Wertloseste vom Wertlosen.‹

›Wenn Sie meinen.‹

›Ich weiß es. Lassen Sie mich eines deutlich sagen, denn mein Blatt ist so gut, dass ich es mir erlauben kann, meine Karten zu zeigen. Ich hatte das große Glück, die Zuneigung dieser Dame zu gewinnen, und zwar mit Leib und Seele. Diese wurde mir gewährt, obwohl ich sie ausführlich über die unglücklichen Vorfälle in meiner Vergangenheit aufgeklärt habe. Ich habe sie auch davor gewarnt, dass gewisse bösartige und verschlagene Personen – ich hoffe, Sie erkennen sich selbst wieder – ihr von alledem berichten werden, und ich habe ihr eingeschärft, wie sie mit diesen Personen umzugehen hat. Sie haben zweifellos von der posthypnotischen Suggestion gehört, Mr Holmes? Nun, Sie werden noch merken, wie sie funktioniert, denn ein Könner vermag diese Form der Hypnose ohne billige Tricks zu praktizieren. Die Dame ist also vorbereitet und wird Sie sicher empfangen, denn sie ist ihrem Vater ergeben – nur in einem kleinen Punkt nicht.‹

Tja, Watson, was sollte ich da noch erwidern? Ich habe mich möglichst kühl und würdevoll verabschiedet, aber als ich meine Hand auf den Türgriff legte, bremste er mich.

›Ach, übrigens, Mr Holmes‹, sagte er, ›kannten Sie Le Brun, den französischen Ermittler?‹

›Ja‹, sagte ich.

›Wissen Sie, was ihm widerfahren ist?‹

›Soweit ich weiß, wurde er auf dem Montmartre von Schlägern überfallen und zum Krüppel geprügelt.‹

›Sehr richtig, Mr Holmes. Wie es der Zufall wollte, hatte er eine Woche zuvor seine Nase in meine Angelegenheiten gesteckt. Tun Sie das nicht, Mr Holmes, denn es könnte böse enden. Das hat schon so mancher zu spüren bekommen. Mein letzter Rat: Gehen Sie Ihres Weges und lassen Sie mich meinen Weg gehen. Adieu!‹

Nun wissen Sie Bescheid, Watson. Sie sind auf dem neuesten Stand.«

»Der Mann ist gefährlich, scheint mir.«

»Extrem gefährlich. Großmäuler ignoriere ich, aber er ist einer der Männer, die weniger sagen, als sie meinen.«

»Müssen Sie sich denn einmischen? Wäre die Heirat tatsächlich so schlimm?«

»Wenn man bedenkt, dass er seine letzte Frau ermordet hat, wäre das tatsächlich sehr schlimm. Außerdem ist da noch unser Klient! Gut, gut, darüber müssen wir nicht diskutieren. Wenn Sie den Kaffee ausgetrunken haben, begleiten Sie mich am besten nach Hause, denn der wackere Shinwell wird schon dort sein, um Bericht zu erstatten.«

Der massige, grobschlächtige Mann mit dem geröteten Gesicht und den lebhaften schwarzen Augen, die das einzige äußere Anzeichen für seinen extrem scharfen Verstand waren, erwartete uns tatsächlich schon. Er schien in sein ganz spezielles Revier hinabgetaucht zu sein und dort eine genauso spezielle Beute gemacht zu haben, die neben ihm auf der Bank saß, eine schmale Frau mit blassem, entschlossenem Gesicht, jung, aber so verhärmt durch Sünde und Kummer, dass ihr die qualvollen Jahre anzusehen waren wie Lepraflecken.

»Miss Kitty Winter«, sagte Shinwell Johnson und schwenkte eine fette Pranke. »Was sie nich’ weiß – na, das kann sie ja selbst erzählen. Habe sie eine knappe Stunde nach dem Erhalt Ihrer Nachricht aufgegabelt, Mr Holmes.«

»Man findet mich leicht«, sagte die junge Frau. »Ja, Teufel, London packt mich jedes Mal. Porky Shinwell kennt meine Adresse. Wir sind seit langem befreundet, Porky, du und ich. Aber Menschenskinder! Es gibt jemanden, der in einer noch tieferen Hölle schmoren müsste als wir, wenn es auf der Welt so was wie Gerechtigkeit gäbe! Das ist der Mann, den Sie im Visier haben, Mr Holmes.«

Holmes lächelte. »Ich entnehme Ihren Worten, dass Sie uns viel Erfolg wünschen, Miss Winter.«

»Wenn ich helfen kann, ihn an den Ort zu befördern, an den er gehört, dann bin ich die Ihre, mit Haut und mit Haar«, sagte unsere Besucherin voll glühendem Zorn. Aus ihrem bleichen, starren Gesicht und den lodernden Augen sprach ein Hass, wie Frauen ihn selten, Männer nie entwickeln. »Mein Vorleben kann Ihnen egal sein, Mr Holmes. Das spielt hier keine Rolle. Aber was ich bin, das hat Adelbert Gruner aus mir gemacht. Wenn ich ihn vernichten könnte!« Sie gestikulierte, als wollte sie ihn zerfetzen. »Oh, könnte ich ihn doch nur in den Abgrund zerren, in den er so viele gestoßen hat!«

»Sie wissen, worum es geht?«

»Porky Shinwell hat es mir erzählt. Der Mann ist wieder hinter einer Närrin her, nur will er sie jetzt heiraten. Sie möchten das verhindern. Tja, Sie wissen sicher genug über diesen Teufel, um ein braves Mädchen, das noch bei Trost ist, davon abzuhalten, mit ihm vor den Traualtar zu treten.«

»Sie ist nicht bei Sinnen. Sie ist verrückt vor Liebe. Man hat ihr alles über ihn erzählt. Es ist ihr egal.«

»Sie weiß auch von dem Mord?«

»Ja.«

»Mein Gott, die hat ja wirklich Nerven!«

»Sie tut alles als Verleumdung ab.«

»Können Sie ihr denn keine Beweise vor die dummen Augen führen?«

»Vielleicht könnten Sie uns dabei helfen?«

»Ich bin der lebende Beweis! Wenn ich vor ihr stünde und erzählen würde, wie er mich missbraucht hat …«

»Das würden Sie tun?«

»Ob ich das tun würde? Na, sicher!«

»Gut, es wäre einen Versuch wert. Andererseits hat er ihr fast alle Sünden gebeichtet, und sie hat ihm verziehen, und wenn ich es richtig verstehe, will sie nichts weiter davon hören.«

»Jede Wette, dass er nicht alles erzählt hat«, sagte Miss Winter. »Der eine Mord hat für viel Furore gesorgt, aber ich weiß von ein, zwei anderen. Zuerst hat er mit samtiger Stimme von jemandem erzählt, und dann hat er mir fest in die Augen gesehen und gesagt: ›Einen Monat später war er tot.‹ Und das war keine heiße Luft. Mich hat das nicht weiter interessiert – denn ich habe ihn damals ja geliebt! Was auch immer er getan hat, es war mir so egal wie dieser armen Närrin! Erschüttert hat mich nur eines. Ja, Mensch! Hätte er nicht diese giftige, verlogene Zunge, die alles wegerklärt und jeden einlullt, dann hätte ich ihn an dem Abend sofort verlassen. Er hat ein Buch – mit braunem Ledereinband, seinem Wappen in Goldprägung und mit einem Schloss. An dem Abend war er wohl angetrunken, sonst hätte er es mir nie gezeigt.«

»Und was enthält das Buch?«

»Ich sage Ihnen, Mr Holmes, der Mann sammelt Frauen, und er ist so stolz auf seine Sammlung wie jemand, der Motten oder Schmetterlinge zusammenträgt. Das Buch enthält alles über seine Frauen. Schnappschüsse, Namen, Einzelheiten. Ein wirklich abscheuliches Buch – niemand würde so etwas anlegen, nicht einmal jemand, der aus der Gosse stammt. Und trotzdem ist es das Buch von Adelbert Gruner. ›Seelen, die ich zerstört habe‹, das könnte er als Titel auf den Einband drucken lassen. Aber gut, das tut wohl nichts zur Sache, denn das Buch hilft Ihnen jetzt auch nicht, und wenn Sie es verwenden wollten, würden Sie nicht rankommen.«

»Wo ist es?«

»Woher soll ich das wissen? Ich habe ihn vor über einem Jahr verlassen. Ich weiß natürlich, wo er es damals aufbewahrt hat. Er ist in vieler Hinsicht so akkurat und penibel wie eine Katze, es wäre also denkbar, dass es noch immer in der Ablage des alten Schreibtisches im hinteren Arbeitszimmer liegt. Kennen Sie sein Haus?«

»Ich war in seinem Arbeitszimmer«, antwortete Holmes.

»Ach, ja? Wenn Sie tatsächlich erst heute Vormittag losgelegt haben, sind Sie wahrhaftig kein Faulenzer. Vielleicht ist der gute Adelbert dieses Mal an einen Ebenbürtigen geraten. Das vordere Arbeitszimmer erkennen Sie an dem chinesischen Porzellan – zwischen den Fenstern steht eine große Glasvitrine. Hinter dem Schreibtisch befindet sich die Tür zum hinteren Arbeitszimmer – ein kleiner Raum, in dem er Unterlagen und anderes aufbewahrt.«

»Fürchtet er denn keine Einbrecher?«

»Adelbert ist kein Feigling. Das könnte nicht einmal sein ärgster Feind behaupten. Nachts ist die Alarmanlage eingeschaltet. Und was gäbe es für Einbrecher schon zu holen – außer sie machen sich mit seinem edlen Geschirr aus dem Staub?«

»Taugt nichts«, sagte Shinwell Johnson in dem entschiedenen Ton eines Fachmanns. »Kein Hehler will Krimskrams, den man weder einschmelzen noch verkaufen kann.«

»Sehr richtig«, sagte Holmes. »Nun gut, Miss Winter, vielleicht schauen Sie morgen um siebzehn Uhr noch einmal hier vorbei. In der Zwischenzeit denke ich darüber nach, ob es sinnvoll ist, dass Sie die Dame persönlich aufsuchen. Für Ihre Hilfe bin ich Ihnen jedenfalls zu tiefem Dank verpflichtet. Ich muss wohl nicht extra sagen, dass sich mein Klient als sehr großzügig …«

»O nein, Mr Holmes«, rief die junge Frau. »Mir geht es nicht um Geld. Sorgen Sie dafür, dass der Mann am Boden liegt, das wäre mir Belohnung genug – am Boden, mit meinem Fuß in seiner verfluchten Visage. Das ist meine Bedingung. Solange Sie gegen ihn ermitteln, stehe ich jederzeit zur Verfügung. Porky weiß, wo ich zu finden bin.«

Ich bekam Holmes bis zum nächsten Abend, als wir in unserem Restaurant in der Strand zu Abend aßen, kaum zu Gesicht. Er zuckte nur mit den Schultern, als ich wissen wollte, ob seine Unterredung erfolgreich gewesen sei. Er antwortete mit dem Bericht, den ich hier leicht abgewandelt wiedergebe, denn ich musste seinen trockenen, harschen Worten etwas Leben einhauchen.

»Der Besuch ließ sich problemlos vereinbaren«, erzählte Holmes, »denn alle zweitrangigen Dinge betreffend, ist die Tochter nicht nur fügsam, sondern fast unterwürfig, weil sie den Ungehorsam ihrer Verlobung wettmachen möchte. Der General teilte mir telefonisch mit, alles sei arrangiert, und die vor Wut kochende Miss Winter erschien wie vereinbart, so dass uns die Droschke um halb sechs vor 104 Berkeley Square absetzte, wo der alte Haudegen residiert – eine dieser grauen, grässlichen Londoner Burgen, mit denen verglichen eine Kirche fast frivol wirkt. Ein Lakai führte uns in einen großen Salon mit gelben Vorhängen, wo uns die junge Dame erwartete, demütig, bleich, beherrscht, und so starr und distanziert wie eine Schneegestalt im Gebirge.

Ich weiß nicht, wie ich sie beschreiben soll, Watson. Vielleicht begegnen Sie ihr ja noch, und dann können Sie Ihr schriftstellerisches Talent darauf verwenden, sie zu schildern. Sie ist schön, aber es ist die ätherische Schönheit einer Fanatikerin, die nicht von dieser Welt ist und verstiegenen Idealen folgt. Gesichter wie das ihre kenne ich von Gemälden mittelalterlicher Meister. Wie ein Raubtier von Mann ein so vergeistigtes Geschöpf in die Fänge bekommen konnte, übersteigt meine Vorstellungskraft. Wie Ihnen vielleicht aufgefallen ist, ziehen sich Extreme an – das Geistige strebt zum Animalischen, der Höhlenmensch zum Engel. Einen so extremen Fall haben Sie aber sicher auch noch nie erlebt.

Sie wusste natürlich, warum wir da waren – dieser Schurke hatte keine Sekunde gezögert, ihren Geist uns gegenüber zu vergiften. Miss Winters Erscheinen hat sie wohl verblüfft, aber sie zeigte auf die Stühle, auf denen wir Platz nehmen sollten, wie eine ehrwürdige Äbtissin, die zwei bettelnde Leprakranke empfängt. Würden Sie zur Aufgeblasenheit neigen, Watson, dann dürfte Miss Violet de Merville Sie rasch kurieren.

›Ihr Name, Sir‹, sagte sie mit einer Stimme wie ein Wind, der von einem Eisberg weht, ›ist mir bekannt. Wenn ich die Sache richtig sehe, sind Sie hier, um meinen Verlobten zu verleumden, Baron Gruner. Dass ich Sie überhaupt empfange, haben Sie nur der Bitte meines Vaters zu verdanken, und ich weise Sie schon jetzt darauf hin, dass mich nichts, was Sie vorzubringen haben, umstimmen kann.‹

Sie tat mir leid, Watson. Ich sorgte mich um sie, wie ich mich um eine eigene Tochter gesorgt hätte. Ich bin nicht immer wortgewandt. Ich benutze den Kopf, nicht das Herz. Trotzdem habe ich mit den wärmsten Worten an sie appelliert, die mir einfielen. Ich schilderte ihr die schreckliche Situation einer Frau, die den wahren Charakter ihres Mannes erst nach der Hochzeit erkennt – einer Frau, die es erdulden muss, von blutigen Händen und lüsternen Lippen liebkost zu werden. Ich habe ihr nichts erspart – die Scham, die Angst, die Qualen, die Hoffnungslosigkeit der ganzen Sache. Aber meine leidenschaftlichen Worte konnten nicht einmal einen Hauch von Farbe auf diese elfenbeinweißen Wangen, kein einziges Aufblitzen von Gefühlen in diese abwesenden Augen zaubern. Ich musste daran denken, was mir der Schurke über den posthypnotischen Einfluss erzählt hatte. Man hatte wirklich den Eindruck, dass sie sich, über der Erde schwebend, in einem ekstatischen Traum befand. Ihre Antworten waren trotzdem sehr dezidiert.

›Ich habe Ihnen geduldig zugehört, Mr Holmes‹, sagte sie. ›Die Wirkung auf mich ist genau wie vorhergesagt. Mir ist bewusst, dass Adelbert, mein Verlobter, ein bewegtes Leben geführt hat, in dem er erbitterten Hass und absolut ungerechtfertigte Vorwürfe auf sich gezogen hat. Sie sind der Letzte in einer ganzen Reihe von Leuten, die mir ihre Verleumdungen zu Gehör gebracht haben. Vielleicht meinen Sie es gut, obwohl Sie, wie ich höre, ein bezahlter Handlanger sind, der ebenso gut für den Baron wie gegen ihn arbeiten könnte. Sie sollten jedenfalls ein für alle Mal begreifen, dass ich ihn liebe, und dass er mich liebt, und dass die Meinung der Welt für mich nicht mehr ist als das Gezwitscher der Vögel draußen vor dem Fenster. Und sollte sein edles Wesen jemals eine kleine Schwäche gezeigt haben, dann wäre es gut möglich, dass ich ihm gesandt wurde, um es wieder auf seine wahre und hehre Ebene zu erheben. Ich weiß nicht genau …‹ – hier richtete sie ihren Blick auf meine Begleiterin – ›… wer die junge Dame ist.‹

Ich wollte gerade etwas dazu sagen, als das Mädchen wie ein Wirbelwind dazwischenging. Ich weiß nicht, ob Sie je erlebt haben, wie sich Feuer und Eis gegenüberstehen, aber so war es im Fall dieser beiden Frauen.

›Ich will Ihnen sagen, wer ich bin‹, rief sie und sprang mit leidenschaftlich verzerrtem Mund vom Stuhl auf, ›ich war seine letzte Geliebte. Ich bin eine von hundert Frauen, die er verführt und benutzt und ruiniert und auf den Müllhaufen geworfen hat, und so wird er es auch mit Ihnen machen. Ihr Müllhaufen wird wahrscheinlich ein Grab sein, und vielleicht wäre das gut so. Wenn Sie diesen Mann heiraten, Sie Närrin, dann bedeutet das Ihren Tod, lassen Sie sich das gesagt sein. Vielleicht sterben Sie an einem gebrochenen Herzen, vielleicht an einem gebrochenen Hals, aber er wird Sie auf die eine oder andere Art loswerden. Und ich sage das nicht, weil Sie mir etwas bedeuten. Ob Sie leben oder sterben, schert mich einen Dreck. Ich sage das, weil ich ihn hasse, weil ich ihm schaden will, weil er für das büßen soll, was er mir angetan hat. Aber was soll’s. Sie müssen mich nicht so anstarren, piekfeine Lady, denn am Ende könnten Sie noch tiefer gesunken sein als ich.‹

›Ich möchte derlei Dinge lieber nicht diskutieren‹, erwiderte Miss de Merville eisig. ›Ich weise Sie lediglich darauf hin, dass ich über die drei Phasen im Leben meines Verlobten im Bilde bin, in denen er von intriganten Frauen verführt wurde, und dass ich weiß, wie sehr es ihn reut, dass er vielleicht etwas Schlechtes getan hat.‹

›Drei Phasen!‹, schrie meine Begleiterin. ›Närrin! Sie sind eine unbeschreibliche Närrin!‹

›Mr Holmes, ich bitte Sie, das Gespräch hiermit zu beenden‹, erklärte die eisige Stimme. ›Ich habe dem Wunsch meines Vaters entsprochen und Sie empfangen, aber das Gerede dieser durchgedrehten Person muss ich mir nicht anhören.‹

Miss Winter sprang sie fluchend an. Sie hätte diese Frau, die einen wahrlich in den Wahnsinn treiben kann, bei den Haaren gepackt, wenn ich sie nicht festgehalten hätte. Ich schaffte sie zur Tür und konnte froh sein, sie ohne öffentliche Szene wieder in die Droschke gesetzt zu haben, denn sie schäumte vor Wut. Auch ich war auf kalte Art zornig, Watson, denn die Arroganz und die Selbstgefälligkeit der Frau, die wir retten wollen, waren unerhört provozierend. Nun sind Sie auf dem neuesten Stand, und ich muss mir dringend einen neuen Eröffnungszug überlegen, denn meine Strategie läuft ins Leere. Wir bleiben in Kontakt, Watson, denn Sie kommen eventuell noch ins Spiel. Vielleicht tut unser Gegner aber auch den nächsten Zug, nicht wir.«

So kam es dann auch. Sie schlugen zu, besser gesagt: Er schlug zu, denn dass die junge Dame eingeweiht war, mochte ich nicht glauben. Ich könnte Ihnen noch die Pflastersteine zeigen, auf denen ich stand, als ich bei einem Blick auf die Werbung für eine neue Zeitungsausgabe von Entsetzen durchzuckt wurde. Das geschah zwischen dem Grand Hotel und der Charing Cross Station, wo ein einbeiniger Verkäufer die Abendzeitungen feilbot, zwei Tage nach meinem letzten Gespräch mit Holmes. Dort hing das Plakat mit der schrecklichen Neuigkeit, schwarz auf gelb.

Mörderischer Überfall auf Sherlock Holmes

Ich stand eine ganze Weile da wie vor den Kopf gestoßen. Ich erinnere mich dunkel daran, nach einer Zeitung gegriffen zu haben und vom Verkäufer angeblafft worden zu sein, weil ich nicht bezahlt hatte, und dann daran, im Eingang einer Drogerie gestanden zu haben, während ich den verhängnisvollen Bericht aufschlug. Er lautete wie folgt:

Wie wir zu unserem Bedauern erfahren, wurde Mr Sherlock Holmes, der bekannte Privatdetektiv, heute Vormittag Opfer eines brutalen Überfalls, der ihn in heikler Verfassung zurückließ. Noch gibt es keine verlässlichen Informationen, aber der Vorfall trug sich offenbar gegen Mittag vor dem Café Royal in der Regent Street zu. Mr Holmes wurde von den Tätern mit Holzknüppeln attackiert und erlitt laut der Ärzte schwere Verletzungen an Kopf und Oberkörper. Er wurde zunächst zum Charing Cross Hospital gebracht, bestand aber darauf, in seine Wohnung in der Baker Street gefahren zu werden. Die ehrbar gekleideten Täter flohen durch das Café Royal und von dort in die rückwärtige Glasshouse Street. Sie gehören vermutlich der kriminellen Vereinigung an, die oft Anlass hatte, die Ermittlungstätigkeit und die Genialität des Verletzten zu beklagen.

Ich muss wohl nicht extra betonen, dass ich nach einer flüchtigen Lektüre des Artikels sofort in eine Kutsche sprang und zur Baker Street fuhr. Im Eingangsflur begegnete ich dem berühmten Chirurgen Sir Leslie Oakshott, dessen Brougham an der Bordsteinkante wartete.

»Keine akute Gefahr«, lautete seine Zusammenfassung. »Zwei Schürfwunden am Kopf und schwere Prellungen. Ich musste mit mehreren Stichen nähen. Ich habe ihm Morphium verabreicht, und Ruhe ist dringend geboten, aber ein kurzes Gespräch will ich trotzdem nicht strikt verbieten.«

Mit seiner Erlaubnis stahl ich mich in das dunkle Zimmer. Der Kranke war hellwach, und ich hörte ihn heiser meinen Namen flüstern. Die Jalousie war zu drei Vierteln geschlossen, aber ein Lichtstrahl fiel auf den verbundenen Kopf des Verletzten. In der weißen Leinenkompresse zeichnete sich ein roter Fleck ab. Ich setzte mich neben Holmes und senkte den Kopf.

»Schon gut, Watson, schauen Sie nicht so verängstigt drein«, murmelte er mit sehr schwacher Stimme. »Alles halb so wild.«

»Gott sei Dank!«

»Wie Sie wissen, bin ich im Kampf mit Holzknüppeln eine Art Experte. Ich konnte die meisten Schläge abwehren, aber es war ein Mann zu viel.«

»Was soll ich tun, Holmes? Diese Schläger haben natürlich im Auftrag dieses Schufts gehandelt. Ich werde ihm die Seele aus dem Leib prügeln, wenn Sie möchten.«

»Braver alter Watson! Nein, wir können nichts tun, außer die Polizei fasst die beiden Täter. Sie hatten ihre Flucht allerdings sehr gut vorbereitet. Warten Sie erst einmal ab, denn ich habe Pläne. Zuerst müssen wir die Schwere meiner Verletzungen übertreiben. Man wird Sie bestimmt ansprechen, um mehr darüber zu erfahren. Tragen Sie möglichst dick auf, Watson. Behaupten Sie, ich könne von Glück reden, wenn ich die nächste Woche überlebe – Gehirnerschütterung – Delirium – was auch immer! Sie können gar nicht genug übertreiben.«

»Und Sir Leslie Oakshott?«

»Oh, keine Sorge. Ich sorge dafür, dass er mich in schlimmster Verfassung erlebt.«

»Sonst noch etwas?«

»Ja. Shinwell Johnson soll das Mädchen in Sicherheit bringen. Die zwei Hübschen sind zweifellos hinter ihr her. Sie wissen sicher, dass sie mir geholfen hat. Wenn sie es schon wagen, mich zusammenzuschlagen, werden sie auch die junge Frau nicht verschonen. Geben Sie Johnson noch heute Abend Bescheid. Es eilt.«

»Ich breche sofort auf. Noch etwas?«

»Legen Sie meine Pfeife auf den Tisch – und den Hausschuh mit dem Tabak. Perfekt! Kommen Sie jeden Morgen bei mir vorbei, wir schmieden dann Pläne für unseren Feldzug.«

Ich bat Johnson noch am gleichen Abend, Miss Winter in einen stillen Vorort zu bringen und dafür zu sorgen, dass sie in ihrem Versteck blieb, bis die Gefahr ausgestanden war.

Die Öffentlichkeit hatte sechs Tage den Eindruck, dass Holmes auf der Schwelle des Todes stand. Die Berichte klangen ernst, die Zeitungen brachten düstere Artikel. Meine regelmäßigen Besuche bewiesen aber, dass es nicht ganz so schlimm stand. Seine eiserne Konstitution und sein starker Wille wirkten Wunder. Er genas rasant, und ich hatte mitunter den Verdacht, dass er sich sogar rascher erholte, als er zugab. Der Mann neigte zu einer Geheimnistuerei, die oft für dramatische Effekte sorgte, aber sogar seine engsten Freunde über seine genauen Pläne im Dunkeln ließ. Er trieb den Grundsatz ins Extrem, dass man nur sicher planen kann, wenn man allein plant. Ich stand ihm näher als jeder andere Mensch, aber die Kluft zwischen uns war mir stets bewusst.

Am siebten Tag wurden die Fäden gezogen, obwohl die Abendzeitungen von einer Wundrose wissen wollten. Die gleichen Abendzeitungen enthielten eine Information, die ich meinem Freund, ob krank oder gesund, unbedingt zur Kenntnis bringen musste. Sie lautete, dass sich unter den Passagieren an Bord der Ruritania, ein Dampfer der Cunard Line, der am Freitag in Liverpool ablegen sollte, auch Baron Adelbert Gruner befinde, der wichtige finanzielle Angelegenheiten in den Staaten regeln müsse, bevor er die Ehe schließe, dies mit Miss Violet de Merville, einzige Tochter etc. etc. etc. Der bleiche Holmes lauschte dem mit einer kalten, konzentrierten Miene, die mir verriet, dass die Neuigkeit ein schwerer Schlag für ihn war.

»Freitag!«, rief er. »Nur noch drei Tage. Ich glaube, der Schuft möchte jedes Risiko ausschließen. Aber das wird nicht klappen, Watson! Beim Beelzebub, das wird misslingen! Gut, Watson – ich möchte, dass Sie etwas für mich tun.«

»Ich stehe Ihnen zur Verfügung, Holmes.«

»Schön, dann müssen Sie in den nächsten vierundzwanzig Stunden einen Intensivkurs über chinesische Keramik absolvieren.«

Er gab keine weiteren Erklärungen, und ich verlangte keine. Ich wusste aus langer Erfahrung, dass es am weisesten war, ihm zu gehorchen. Aber nachdem ich sein Zimmer verlassen hatte und durch die Baker Street ging, fragte ich mich, wie ich diese sonderbare Anweisung in die Tat umsetzen sollte. Schließlich fuhr ich zur London Library am St. James’s Square, legte die Sache meinem Freund Lomax dar, dem stellvertretenden Bibliothekar, und kehrte dann mit einem Wackerstein von Buch unter dem Arm in meine Wohnung zurück.

Man sagt, der Anwalt, der einen Fall so sorgfältig vorbereitet, dass er am Montag einen Experten im Zeugenstand befragen kann, habe das eingehämmerte Wissen am Samstag darauf schon wieder vergessen. Ich will nicht behaupten, ein Keramik-Experte zu sein, und doch saugte ich an jenem Abend und in jener Nacht, nur unterbrochen von einer kurzen Ruhepause, und am ganzen nächsten Vormittag Wissen in mich auf und prägte mir Namen ein. Ich lernte, die wichtigsten Künstler zu unterscheiden, erfuhr von dem Rätsel zyklischer Datierungen, den Schriftzeichen des Hongwu und der Pracht des Yongle, von den Schriften von Tang Yin und den Herrlichkeiten der Regentschaften der Song und der Yuan. Als ich Holmes am folgenden Abend einen Besuch abstattete, quoll dieses Wissen aus sämtlichen meiner Poren. Er hatte das Bett verlassen, was man nach einer Lektüre der Zeitungsartikel nicht für möglich gehalten hätte, und war tief in seinen Lieblingssessel gesunken, den dick bandagierten Kopf auf die Hand gestützt.

»Mensch, Holmes«, sagte ich, »wenn man den Zeitungen glaubt, sind Sie so gut wie tot.«

»Das«, erwiderte er, »ist genau der Eindruck, den ich erwecken möchte. Also, Watson, haben Sie Ihre Lektion gelernt?«

»Ich habe es jedenfalls versucht.«

»Gut. Können Sie ein kluges Gespräch über das Thema führen?«

»Ich denke schon.«

»Dann geben Sie mir bitte das Kästchen, das auf dem Kaminsims steht.«

Er klappte es auf und holte ein Objekt heraus, das sorgsam in feinste fernöstliche Seide eingepackt war. Was zum Vorschein kam, war eine zarte Untertasse von einem wunderschönen Dunkelblau.

»Sie müssen sehr behutsam damit umgehen, Watson. Das ist echtes Eierschalenporzellan aus der Ming-Dynastie. Der Wert eines kompletten Sets entspräche dem Lösegeld für einen König – und man darf mit Recht bezweifeln, dass außerhalb des Kaiserpalastes in Peking ein vollständiges Set zu finden ist. Ein echter Kenner wäre beim Anblick dieser Preziose vollkommen aus dem Häuschen.«

»Was soll ich damit tun?«

Holmes reichte mir eine Visitenkarte mit dem Aufdruck »Dr. Hill Barton, 369 Half Moon Street«.

»So lautet Ihr Name heute Abend, Watson. Sie werden Baron Gruner aufsuchen. Ich bin über seine Gewohnheiten im Bilde, und gegen halb neun wird er vermutlich Muße haben. Er wird im Vorfeld durch ein Schreiben über Ihr Kommen unterrichtet, und Sie werden erklären, dass Sie ihm das Stück eines absolut einmaligen Porzellan-Sets der Ming-Dynastie zeigen möchten. Sie können sich auch als Arzt vorstellen, dann müssen Sie kein Theater spielen. Sie sind ein Sammler, Sie sind auf dieses Stück gestoßen, Sie haben gehört, wie sehr der Baron an dergleichen interessiert ist, und Sie haben nichts gegen einen Verkauf, vorausgesetzt, der Preis stimmt.«

»Und wie hoch soll er sein?«

»Gute Frage, Watson. Sie würden sich sicher furchtbar blamieren, wenn Sie den Wert ihrer Ware nicht kennen. Diese Untertasse wurde von Sir James beschafft und stammt, soweit ich weiß, aus der Sammlung seines Klienten. Es wäre keine Übertreibung, wenn Sie behaupten, das Stück habe auf der Welt nicht seinesgleichen.«

»Ich könnte eine Begutachtung des Sets durch einen Experten vorschlagen.«

»Ausgezeichnet, Watson! Heute glänzen Sie. Schlagen Sie Christie's oder Sotheby's vor. Ihr Takt hindert Sie daran, den Preis selbst festzusetzen.«

»Und wenn er mich nicht empfängt?«

»Oh, er wird Sie empfangen. Er ist einer der besessensten Sammler überhaupt, vor allem in diesem Bereich, in dem er als Autorität gilt. Setzen Sie sich, Watson, dann diktiere ich den Brief. Ohne Bitte um Rückmeldung. Sie teilen nur mit, dass Sie kommen, und nennen den Anlass.«

Es war ein bewundernswertes Schreiben, kurz, höflich und darauf angelegt, die Neugier des Kenners zu entfachen. Ein Bote wurde umgehend damit losgeschickt. Noch am gleichen Abend brach ich zu meinem Abenteuer auf, die kostbare Untertasse in der Hand und die Visitenkarte von Dr. Hill Barton in der Tasche.

Das prächtige Haus, ja das ganze Anwesen bewies, dass Sir James recht hatte: Baron Gruner war tatsächlich ein schwerreicher Mann. Eine lange, gewundene Einfahrt, auf beiden Seiten von seltenen Hecken gesäumt, führte auf einen weiten, kiesbedeckten, mit Statuen geschmückten Platz. Das Anwesen war während des großen Booms von einem südafrikanischen Gold-Magnaten angelegt worden, und das lange, niedrige Haus mit Türmchen an den Ecken war vielleicht ein architektonischer Albtraum, wirkte durch seine Größe und massive Beschaffenheit aber durchaus imposant. Ein Butler, der einem Bischofskollegium zur Ehre gereicht hätte, führte mich hinein und reichte mich an einen üppig ausstaffierten Lakaien weiter, der mich zum Baron eskortierte.

Dieser stand vor einer offenen Glasvitrine, die sich zwischen den Fenstern befand und einen Teil seiner Sammlung chinesischen Porzellans enthielt. Bei meinem Eintreten drehte er sich um, eine kleine braune Vase in der Hand.

»Bitte nehmen Sie Platz, Doktor«, sagte er. »Ich habe meine eigenen Schätze in Augenschein genommen und überlege, ob ich mir eine Ergänzung leisten kann. Dieses Objekt aus dem siebten Jahrhundert, Tang-Dynastie, dürfte Sie interessieren. Ich bin überzeugt, dass Sie noch nie eine feinere Handwerkskunst oder eine raffiniertere Glasur gesehen haben. Haben Sie die Untertasse aus der Zeit der Ming-Dynastie dabei, die Sie in Ihrem Schreiben erwähnt haben?«