Sherlock Holmes - Der Hund von Baskerville - Arthur Conan Doyle - E-Book

Sherlock Holmes - Der Hund von Baskerville E-Book

Arthur Conan Doyle

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Beschreibung

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Nicht zufällig heißt die Detektivfigur in Umberto Ecos weltberühmtem Roman ›Der Name der Rose‹ William von Baskerville – eine Hommage an Sherlock Holmes. In ›Der Hund von Baskerville‹, dem spannendsten und besten Roman von Sir Arthur Conan Doyle, beweist der Meisterdetektiv wieder einmal sein ganzes Können: In den Sümpfen von Dartmoor treibt sich eine geheimnisvolle Bestie herum, die den Herrn von Baskerville Hall getötet hat und nun auch noch den einzigen Erben bedroht. Sherlock Holmes kombiniert – und kommt einem teuflischen Komplott auf die Spur …

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Sir Arthur Conan Doyle

Sherlock Holmes

Der Hund von Baskerville

Roman

 

Aus dem Englischen von Renate Wyler

 

 

 

Die englische Originalausgabe erschien 1901/02 als Fortsetzungsroman im ›Strand Magazine‹ unter dem Titel ›The Hound of the Baskervilles‹.

1

Mr Sherlock Holmes, der, außer in den seltenen Fällen, wo er die ganze Nacht hindurch wach bleiben musste, ein Spätaufsteher war, saß am Frühstückstisch. Ich stand vor dem Kamin und nahm den Stock, den unser Besuch am Abend vorher vergessen hatte, in die Hand. Es war ein schönes, starkes Stück Holz mit zwiebelförmigem Griff, eines jener Dinger, die unter dem Namen »Penangstöcke« bekannt sind. Ein zollbreites silbernes Band saß knapp unter dem Griff. »James Mortimer M. R. C. S. von seinen Freunden im C. C. H. gewidmet« war darauf eingraviert sowie ein Datum: 1884. Es war genau der Stock, den ein altmodischer Hausarzt zu tragen pflegt – würdevoll, unverwüstlich und vertrauenerweckend.

»Nun, Watson, was schließen Sie daraus?«

Holmes saß mit dem Rücken zu mir – ich wunderte mich, dass er wusste, womit ich mich beschäftigte.

»Woher wissen Sie, was ich tue? Mir scheint, Sie haben Augen am Hinterkopf.«

»Jedenfalls habe ich eine gut polierte silberne Kaffeekanne vor mir stehen«, erwiderte er, »aber sagen Sie, Watson, was schließen Sie aus dem Spazierstock unseres Gastes? Da wir ihn unglücklicherweise verfehlt und keine Ahnung von dem Zweck seines Besuches haben, gewinnt dieses zufällige Souvenir an Bedeutung. Lassen Sie mich hören, welche Schlüsse Sie nach dessen Betrachtung auf seinen Besitzer ziehen?«

»Ich meine«, sagte ich, indem ich die Methode meines Freundes so gut ich konnte anwandte, »dass Dr. Mortimer ein erfolgreicher, sehr geschätzter älterer Arzt ist, da ihm Freunde dieses Zeichen ihrer Anerkennung gewidmet haben.«

»Gut«, nickte Holmes, »ausgezeichnet!«

»Es spricht auch viel dafür, dass er ein Landarzt ist, der seine Krankenbesuche zu Fuß macht.«

»Warum das?«

»Weil dieser Stock, obzwar ursprünglich gewiss sehr schön, so abgenutzt ist, dass ich mir ihn kaum im Besitz eines Arztes in der Stadt vorstellen kann. Die starke eiserne Spitze ist beinahe stumpf, was auf ausgedehnte Fußmärsche hinweist.«

»Vollkommen richtig«, lobte Holmes.

»Und dann ›die Freunde im C. C. H.‹. Ich würde meinen, es handle sich um eine ›Hunt‹, die Reitgesellschaft der Grafschaft, die ihm für irgendwann geleistete Hilfe ihre Anerkennung ausgesprochen hat.«

»Wirklich, Watson, Sie übertreffen sich!« Holmes stand auf und zündete sich eine Zigarette an. »Ich muss Ihnen sagen, dass Sie bei allen Gelegenheiten, bei denen Sie meine kleinen Erfolge erwähnen, immer Ihre eigenen Leistungen unterschätzen. Mag sein, dass Sie selber keine Leuchte sind, aber Sie wirken erleuchtend. Es gibt Menschen, die, ohne selbst Genie zu besitzen, die bemerkenswerte Gabe haben, es bei anderen anzufachen. Ich muss zugeben, lieber Freund, dass ich Ihnen sehr viel verdanke.«

Noch nie hatte er so viel gesagt, und ich gestehe, dass mich seine Worte besonders freuten; ich hatte mich oft über seine Gleichgültigkeit gegen meine Bewunderung für ihn und meine Versuche, seine Methoden bekannt zu machen, geärgert. Auch war ich stolz darauf, sein System so weit zu beherrschen, dass ich es nun in einer Weise anwenden konnte, die seinen Beifall fand.

Er nahm mir den Stock aus der Hand und betrachtete ihn einige Augenblicke lang mit bloßem Auge. Dann schien etwas sein Interesse zu erwecken – er legte seine Zigarette weg, trug den Stock zum Fenster und untersuchte ihn nochmals, diesmal mit einem Vergrößerungsglas.

»Interessant, wenn auch einfach«, sagte er und kehrte auf seinen Lieblingsplatz in der Ecke des Kanapees zurück. »Gewiss lässt der Stock das eine oder andere vermuten. Er lässt einige Schlussfolgerungen zu.«

»Habe ich etwas übersehen?«, fragte ich ziemlich eingebildet, »ich hoffe, mir ist nichts entgangen, was von Wichtigkeit wäre?«

»Ich fürchte, mein lieber Watson, die meisten Ihrer Folgerungen waren falsch. Wenn ich sagte, dass Sie mich anregen, meinte ich damit, dass ich, indem ich Ihre Fehler bemerke, zuweilen dadurch auf die richtige Spur gebracht werde. Nicht, dass Sie sich in diesem Falle vollständig geirrt hätten. Der Mann ist bestimmt ein Landarzt, und er geht viel zu Fuß.«

»Dann hatte ich doch recht.«

»So weit gewiss.«

»Das war aber doch alles?«

»Nein, nein, mein lieber Watson, nicht alles. Gewiss nicht alles. Ich würde zum Beispiel meinen, dass eine Widmung an einen Arzt eher von einem Krankenhaus als von einer Jagdgesellschaft stammt und dass, wenn die Buchstaben C. C. vor diesem Krankenhaus stehen, sich die Worte ›Charing Cross‹ ziemlich selbstverständlich daraus ergeben.«

»Damit könnten Sie recht haben.«

»Es spricht vieles dafür. Und wenn wir von dieser Voraussetzung ausgehen, ergibt sich eine neue Basis für die Auslegung der Persönlichkeit unseres unbekannten Besuchers.«

»Nun denn – angenommen, dass die Buchstaben C. C. H. wirklich Charing Cross Hospital bedeuten, was für weitere Schlüsse ziehen wir daraus?«

»Finden Sie nicht, dass sich welche daraus ergeben? Sie kennen meine Methode. Wenden Sie sie an.«

»Ich kann nur zu dem selbstverständlichen Schluss kommen, dass der Mann seine Praxis in der Stadt ausgeübt hat, ehe er auf das Land übergesiedelt ist.«

»Ich glaube, wir können sogar einen Schritt weiter gehen. Betrachten Sie die Sache von folgendem Standpunkt aus: Was wäre wohl die Gelegenheit zu einer solchen Widmung? Wann würden sich seine Freunde zusammentun, um ihm einen solchen Beweis ihrer Gesinnung zu geben? Sicherlich in dem Augenblick, wo Dr. Mortimer den Dienst im Krankenhaus aufgab, um eine eigene Praxis zu gründen. Wir wissen, dass ein Geschenk gemacht worden ist, wir nehmen an, dass es einen Wechsel von einem Krankenhaus in der Stadt zu einer Praxis auf dem Land gegeben hat – ist die Voraussetzung, dass dieser Wechsel die Ursache zu diesem Geschenk war, zu weit hergeholt?«

»Es scheint mir sogar sehr wahrscheinlich.«

»Nun müssen Sie in Betracht ziehen, dass er nicht Mitglied des Ärztepersonals dieses Krankenhauses gewesen sein kann, da nur ein Arzt mit einer gut fundierten Londoner Praxis eine solche Stellung einnehmen könnte und ein solcher Mann sich nicht auf das Land zurückziehen würde. Was also war seine Stellung? Wenn er im Krankenhaus arbeitete und nicht Mitglied des ständigen Ärztepersonals war, kann er nur Hauschirurg oder Hausinternist gewesen sein – wenig mehr als ein älterer Student. Und er hat das Krankenhaus vor fünf Jahren verlassen – das Datum ist auf dem Stock eingraviert –, wodurch aus Ihrem Hausarzt gesetzten Alters ein junger Mensch unter dreißig wird; liebenswürdig, ohne Ehrgeiz, zerstreut, und Besitzer eines Lieblingshundes, der größer als ein Terrier und kleiner als eine Bulldogge sein dürfte.«

Ich lachte ungläubig, während Sherlock Holmes sich zurücklehnte und kleine Rauchringe zur Zimmerdecke hinaufblies. »Was den zweiten Teil Ihrer Beobachtungen betrifft, habe ich keine Möglichkeit, ihn zu prüfen«, sagte ich. »Aber wenigstens ist es nicht schwer, Genaueres über das Alter und die berufliche Karriere dieses Mannes herauszufinden.«

Ich nahm das Ärzteverzeichnis von meinem Bücherregal und schlug nach. Es gab mehrere Mortimers, aber nur einer davon konnte unser Besucher sein. Ich las die Stelle aus dem Buche laut vor:

»Mortimer James M. R. C. S., 1882, Grimpen, Dartmoor, Devon. Hauschirurg 1882–1884 am Charing Cross Hospital, Empfänger des Jackson-Preises für vergleichende Pathologie für eine Abhandlung, betitelt: Ist Krankheit Vererbung? Korrespondierendes Mitglied der Schwedischen Gesellschaft für Pathologie. Autor von: Einige sonderbare Fälle von Atavismus (Lancet 1882), Machen wir Fortschritte? (Journal of Psychology März 1883), Oberarzt für die Gemeinden Grimpen, Thorsley und Highbarrow.«

»Die Jagdgesellschaft der Grafschaft wird nicht erwähnt, Watson«, sagte Holmes mit einem maliziösen Lächeln. »Aber, wie Sie richtig angenommen haben, er ist Landarzt. Ich glaube, dass meine Annahmen ziemlich stimmen. Was seine Eigenschaften betrifft – ich sagte, wenn ich mich recht erinnere: liebenswürdig, ohne Ehrgeiz und zerstreut. Meiner Erfahrung nach ist es nur ein liebenswürdiger Mensch, der beschenkt wird. Nur ein ehrgeizloser, der seine Praxis in London gegen eine solche auf dem Land eintauscht und nur ein zerstreuter, der seinen Stock und nicht seine Visitenkarte zurücklässt.«

»Und der Hund?«

»Ist daran gewöhnt, diesen Stock seinem Herrn nachzutragen. Da es ein schwerer Stock ist, hält ihn der Hund fest in der Mitte, und die Spuren seiner Zähne sind sehr gut sichtbar. Der Kiefer des Hundes, wie man aus diesen Zahnspuren schließen kann, ist meiner Meinung nach zu breit für einen Terrier und nicht breit genug für eine Bulldogge. Es könnte sein – ja, bei Jupiter! Es ist ein langhaariger Spaniel!«

Er war aufgesprungen und ging im Zimmer auf und ab. Dann blieb er in der Fensternische stehen. Aus seiner Stimme klang eine solche Überzeugung, dass ich überrascht aufsah.

»Lieber Freund, wie können Sie das mit solcher Sicherheit behaupten?«

»Aus dem sehr einfachen Grund, dass ich den Hund soeben vor unserer Haustüre sehe – und sein Besitzer läutet gerade. Rühren Sie sich bitte nicht, Watson, er ist ein Kollege von Ihnen, und Ihre Gegenwart kann von Nutzen für mich sein. Es ist immer ein dramatischer Moment, Watson, wenn Sie auf der Treppe einen Schritt hören, der in Ihr Leben einzutreten im Begriff ist, und Sie wissen nicht, ob es zum Guten oder zum Bösen sein wird. Was kann Dr. James Mortimer, ein Mann der Wissenschaft, von Sherlock Holmes, dem Sachverständigen für Verbrechen, wollen? ... Herein!«

Ich war beim Anblick unseres Besuchers überrascht, da ich einen typischen Landarzt erwartet hatte. Er war sehr groß, sehr schlank, mit einer langen Nase, die wie ein Schnabel zwischen den nahe beieinanderliegenden scharfen grauen Augen hervorragte. Eine goldgefasste Brille saß auf dieser Nase. Er war wohl seinem Beruf entsprechend, aber ziemlich unordentlich gekleidet – sein Gehrock war schmutzig und seine Hose ausgefranst. Obzwar er jung schien, war sein langer Rücken gebeugt, und er ging mit vorgestrecktem Kopf, was irgendwie einen Eindruck von neugierigem Wohlwollen hervorrief. Als er eintrat, fiel sein Blick auf den Stock in Holmes’ Hand; er stürzte sich mit einem freudigen Ausruf darauf.

»Ich bin so froh!«, rief er, »ich war nicht sicher, ob ich ihn hier oder bei der Schifffahrtsgesellschaft gelassen hatte. Ich möchte um nichts in der Welt diesen Stock verlieren.«

»Ein Geschenk, wie ich sehe«, sagte Holmes.

»Ja, Sir.«

»Vom Charing Cross Hospital?«

»Von einigen Freunden dort anlässlich meiner Hochzeit.«

»O weh, o weh – das ist schlecht«, sagte Holmes, den Kopf schüttelnd.

Dr. Mortimer blinzelte in milder Verwunderung hinter seinen Brillengläsern hervor.

»Warum ist das schlecht?«

»Nun, weil Sie soeben unsere Schlussfolgerungen zunichte gemacht haben. Ihre Hochzeit, sagten Sie?«

»Ja, Sir, ich heiratete und verließ deshalb das Krankenhaus und damit auch jede Aussicht auf eine Konsultationspraxis. Ich musste eben meinen eigenen Hausstand gründen.«

»So, so, wir haben uns also doch nicht vollkommen geirrt«, lächelte Holmes. »Und nun, Dr. James Mortimer ...«

»Mr Mortimer, Sir, ein schlichter Mr James Mortimer, M. R. C. S.«

»Und anscheinend ein Mann von exaktem Wissen?«

»Ein Amateurwissenschaftler, Mr Holmes. Ein Mann, der Muscheln am Strand des weiten, unbekannten Ozeans aufhebt. Ich nehme an, dass ich mit Mr Sherlock Holmes spreche und nicht mit ...?«

»Nein – dies hier ist mein Freund Dr. Watson.«

»Erfreut, Sie kennenzulernen, Doktor. Ich hörte Ihren Namen im Zusammenhang mit dem Ihres Freundes. Sie interessieren mich sehr, Mr Holmes. Ich hätte kaum eine so ausgesprochene Langschädelformation und so stark entwickelte Jochbogen bei Ihnen erwartet. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mit dem Finger Ihre Scheitelnaht entlangfahre? Ein Abguss Ihres Schädels, Sir, wäre, solange nicht das Original zur Verfügung steht, die Zierde jedes anthropologischen Museums. Plumpe Schmeichelei ist nicht meine Absicht, aber ich gestehe, dass ich gerne Ihren Schädel besäße.«

Mit einer Handbewegung lud Sherlock Holmes unseren seltsamen Gast zum Sitzen ein.

»Sie sind, wie ich sehe, Ihrem Temperament nach ein ebensolcher Enthusiast wie ich«, sagte er. »Ich bemerke an Ihrem Zeigefinger, dass Sie Ihre Zigaretten selbst drehen. Lassen Sie sich nicht davon abhalten, eine davon anzuzünden.«

Unser Gast zog Papier und Tabak hervor und drehte mit überraschender Geschicklichkeit eine Zigarette. Seine langen, behänden Finger waren beweglich und rastlos wie die Fühler eines Insekts.

Holmes schwieg. Aber seine schnellen, forschenden Blicke zeigten mir das Interesse, das er an unserem sonderbaren Besucher nahm.

»Ich nehme an«, begann er endlich, »dass Sie mir nicht die Ehre erweisen, mich gestern Abend und heute früh aufzusuchen, nur um meinen Schädel zu betrachten?«

»Nein, Mr Holmes, nein – obzwar ich mich freue, dass ich es bei dieser Gelegenheit tun konnte. Ich kam zu Ihnen, weil ich weiß, dass ich ein sehr unpraktischer Mensch bin, und weil ich plötzlich vor einem sehr ernsten und außergewöhnlichen Problem stehe. Da ich davon überzeugt bin, dass Sie der zweitbeste Experte Europas ...«

»So? Darf ich fragen, wer die Ehre hat, der Beste zu sein?«, erkundigte sich Holmes gereizt.

»Wer pedantisch genaue wissenschaftliche Arbeit schätzt, wird wohl von M. Bertillons Arbeitsweise am stärksten beeindruckt sein.«

»Dann wäre es vielleicht besser, wenn Sie ihn befragen würden.«

»Ich sagte, was genaue wissenschaftliche Arbeit betrifft. Aber als praktisch denkender Mann der Tatsachen stehen Sie nach aller Meinung unerreicht da. Ich hoffe, dass ich Sie nicht, ohne es zu wollen ...«

»Ein wenig schon«, sagte Holmes. »Ich glaube, Dr. Mortimer, es wäre gut, wenn Sie mir nun ohne weitere Umschweife erklären würden, welcher Art das Problem ist, zu dessen Lösung Sie meine Hilfe brauchen.«

2

»Ich habe ein Manuskript in meiner Tasche«, verkündete Dr. James Mortimer.

»Das sah ich, als Sie eintraten«, bemerkte Holmes.

»Es ist eine alte Handschrift.«

»Beginn des 18. Jahrhunderts – wenn es keine Fälschung ist.«

»Woher wissen Sie das?«

»Während Sie sprachen, haben Sie mir ein oder zwei Zoll davon gezeigt. Es müsste schon ein unfähiger Experte sein, der nicht imstande wäre, das Alter eines Dokumentes auf zehn Jahre genau zu bestimmen. Ich schätze es auf ungefähr 1730.«

»Die genaue Jahreszahl ist 1742.«

Dr. Mortimer zog das Papier aus seiner Brusttasche hervor.

»Dieses Familiendokument wurde mir von Sir Charles Baskerville anvertraut, dessen vor drei Monaten unter tragischen Umständen erfolgter Tod in ganz Devonshire so viel Aufregung verursacht hat. Ich darf wohl sagen, dass ich ebenso sein Freund wie sein ärztlicher Berater war. Er war ein willensstarker Mann, Mr Holmes, scharfsinnig, praktisch und ebenso phantasielos wie ich selbst. Trotzdem nahm er dieses Dokument sehr ernst und war auf genau solch ein Ende vorbereitet, wie es ihm dann tatsächlich beschieden war.«

Holmes streckte die Hand nach dem Manuskript aus, nahm es und strich es über seinem Knie glatt.

»Beachten Sie, Watson, dass abwechselnd das kurze und das lange S benützt wird. Das ist eine von verschiedenen Indikationen, die es mir ermöglichten, die Jahreszahl zu bestimmen.«

Ich blickte über seine Schulter hinweg auf das vergilbte Papier und die halb verwischte Schrift. Obenan stand Baskerville Hall und darunter in großen, ungelenken Ziffern: 1742.

»Es scheint eine Art Bericht zu sein?«

»Ja, es ist die Aufzeichnung einer Legende, die die Familie Baskerville betrifft.«

»Ich meinte doch verstanden zu haben, dass Sie mich wegen einer aktuellen und praktischen Angelegenheit konsultieren wollten?«

»Sehr aktuell. Ein sehr praktisches, dringendes Problem, das binnen vierundzwanzig Stunden gelöst werden muss. Das Manuskript ist kurz und mit dieser Angelegenheit eng verbunden.«

Holmes lehnte sich zurück, presste seine Fingerspitzen zusammen und schloss gottergeben die Augen. Dr. Mortimer hielt die Handschrift zum Licht und las mit hoher, brüchiger Stimme die folgende sonderbare alte Erzählung vor:

»Es gibt viele Schilderungen über den Ursprung des Hundes der Baskervilles, aber da ich in gerader Linie von Hugh Baskerville abstamme, und da ich die Legende von meinem Vater erfuhr, der sie wiederum von seinem Vater übernommen hat, habe ich sie niedergeschrieben, in dem festen Glauben, dass alles so geschah, wie es hier erzählt wird. Und ich möchte, dass ihr, meine Söhne, daran glauben sollet, dass dieselbe Gerechtigkeit, die Sünden bestraft, sie ebenso gnädig vergeben kann; und dass kein Fluch so schwer ist, dass er nicht durch Gebet und Reue gebannt werden könnte. Lernet also aus dieser Geschichte, dass man sich nicht vor den Früchten der Vergangenheit ängstigen, aber in der Zukunft desto vorsichtiger sein soll, damit diese bösen Leidenschaften, deretwegen unsere Familie so Schweres erdulden musste, nicht aufs Neue zu unserem Unheil losbrechen. Wisset also, dass in der Zeit des großen Aufstandes (dessen Geschichte, aufgezeichnet vom Gelehrten Lord Clarendon, ich dringend eurer Aufmerksamkeit empfehle) dieses Schloss von Baskerville einem Hugo desselben Namens gehörte, welcher ein besonders wilder, ruch- und gottloser Mensch war. Nun hätten ihm seine Nachbarn diese Untugenden vielleicht verziehen, da diese Gegend nie ein Boden für Heilige war, aber es waren seine lüsternen und grausamen Launen, die seinen Namen in der ganzen Gegend sprichwörtlich machten. Nun geschah es, dass sich dieser Hugo in die Tochter eines freien Bauern, welcher nahe dem Besitz der Baskervilles angesiedelt war, verliebte (wenn man solch dunkle Leidenschaft mit einem so lichten Wort bezeichnen kann). Aber das junge Mädchen, das bescheiden und guten Rufes war, vermied ihn so viel es konnte, da es sich vor seinem bösen Namen fürchtete. So geschah es, dass an einem St.-Michaels-Tag dieser Hugo mit einigen seiner niederträchtigen und verderbten Freunde sich an den Bauernhof heranschlich und das Mädchen entführte – er wusste, dass ihr Vater und ihre Brüder abwesend waren. Nachdem sie das Mädchen ins Schloss gebracht hatten, sperrten sie es in ein Zimmer und ließen sich, wie es ihre allnächtliche Gewohnheit war, zu einem langen, üppigen Gelage nieder. Das arme Mädchen, das in seinem Zimmer das Singen und Brüllen und die schrecklichen Flüche hörte – man sagte, dass, wenn Hugo Baskerville des Weines voll war, er Worte benützte, die jeden, der sie aussprach, zu ewiger Hölle verdammen mussten –, wurde halb wahnsinnig vor Angst. Endlich wagte es in seiner großen Verzweiflung, wovor der tapferste und geschickteste Mann zurückgeschreckt wäre: Mit Hilfe der Efeuranken, welche die Südmauern bedeckten und noch bedecken, gelang es ihr, herabzuklettern und rasch über das Moor zu ihres Vaters Haus zurückzueilen. Als Hugo eine Weile später seine Gäste verließ, um der Gefangenen Essen und Trinken – und vielleicht bösere Dinge - zu bringen, fand er den Käfig leer und den Vogel ausgeflogen. Da wollte es scheinen, als sei ein Teufel in ihn gefahren; denn die Treppe hinunterrasend, stürzte er in die Halle, sprang auf den Tisch, wobei Teller und Flaschen zu Boden fielen, und schrie laut vor allen Gästen, dass, wenn er nur heute Nacht noch das Mädchen sein Eigen nennen könne, er Leib und Seele dem Bösen verschreiben wolle. Und ehe die Saufkumpane sich von ihrem Schrecken über diesen Wutausbruch erholen konnten, rief einer von ihnen, grausamer und vielleicht noch betrunkener als die anderen, dass man die Hunde auf das Mädchen hetzen solle. Worauf Hugo in den Hof eilte und den Reitknechten befahl, sein Pferd zu satteln und die Hunde loszulassen. Dann warf er den Hunden ein Taschentuch des Mädchens, das es im Zimmer vergessen hatte, vor, und fort ging es in wilder Jagd über das mondbeschienene Moor. Eine Weile standen die Kumpane ganz bestürzt, ehe sie fassen konnten, was in solch rasender Eile geschehen war. Dann aber, als ihre benebelten Sinne etwas klarer wurden, begriffen sie, was nun dort auf dem Moor geschehen würde. Alles geriet in Aufruhr. Manche riefen nach ihren Pistolen, manche nach ihren Pferden und manche verlangten noch mehr Wein. Aber endlich kam etwas Ernüchterung in ihre heißen Köpfe und alle, dreizehn an der Zahl, sprangen auf ihre Pferde und nahmen die Verfolgung auf. Der Mond schien hell, und sie galoppierten wild dahin, in die Richtung, die auch das Mädchen auf der Flucht nach seinem Heim eingeschlagen haben musste. Als sie etwa eine oder zwei Meilen zurückgelegt hatten, trafen sie auf einen der Nachthirten im Moor und fragten ihn, ob er die wilde Jagd vielleicht gesehen habe. Und der Mann, so erzählt die Sage, war so verängstigt, dass er kaum sprechen konnte. Endlich sagte er, er habe wohl das unglückselige Mädchen, wie es von den Hunden verfolgt wurde, gesehen. ›Aber ich habe mehr als das gesehen‹, sagte er, ›denn Hugo Baskerville ritt auf seiner schwarzen Stute an mir vorüber, und hinter ihm lief lautlos ein Höllenhund, wie ich ihn um Gottes willen nie in meiner Nähe sehen möchte.‹ Da beschimpften die betrunkenen Gesellen den Hirten und ritten weiter. Aber bald lief es ihnen kalt über den Rücken, denn sie hörten Pferdegetrappel und die schwarze, schaumbedeckte Stute raste mit hängendem Zügel und leerem Sattel an ihnen vorbei. Da drängten sie sich eng aneinander, denn sie hatten große Furcht, aber trotzdem ritten sie weiter über das Moor, obzwar jeder Einzelne, wenn er allein gewesen, lieber umgekehrt wäre. Plötzlich trafen sie auf die Hunde. Diese, die doch wegen ihrer Tapferkeit und Wildheit bekannt waren, winselten zusammengedrängt am Rande eines tiefen Grabens. Einige machten sich davon, aber die anderen starrten mit gesträubten Haaren in die Tiefe. Die Reiter hielten an; wie ihr glauben möget, waren sie nüchterner als da sie losritten. Die meisten wollten auch nicht weiter, aber drei von ihnen, die tapfersten oder noch am meisten vom Weinrausch umfangenen, ritten hinab. Der Graben mündete in eine breite Fläche, auf welcher zwei jener Felsblöcke standen, die wohl vor Urzeiten von Menschen dort errichtet worden waren. Der Mond schien hell über der Lichtung, und da, in der Mitte, lag das unglückliche Mädchen, wie es vor Erschöpfung und Angst tot zusammengebrochen war. Doch war es nicht der Anblick ihrer Leiche, noch der Anblick der Leiche Hugo Baskervilles, der in ihrer Nähe lag, bei welchem sich die Haare auf den Häuptern der drei gottlosen Raufbolde sträubten – sondern, über Hugos Leiche stehend und an seinem Hals reißend, sahen sie etwas Entsetzliches: ein großes schwarzes Tier, der Gestalt nach ein Jagdhund, aber größer als jeder Jagdhund, den je ein menschliches Auge erblickt hat. Und während sie hinstarrten, riss das Tier Hugo Baskervilles Kehle auf, dann wandte es seine glühenden Augen und bluttriefenden Kiefer ihnen zu. Worauf die drei vor Angst aufbrüllten und in panischem Schrecken immer noch laut schreiend, über das Moor dahinjagten. Es heißt, dass einer der drei in derselben Nacht an diesem Schreck gestorben sei und die beiden anderen für den Rest ihres Lebens gebrochene Männer waren.

So, meine Söhne, geht die Sage von dem Erscheinen des Hundes, der seither unsere Familie so unheimlich verfolgt. Wenn ich sie hier so niedergeschrieben habe, ist es, weil das, was man deutlich weiß, weniger schauerlich ist als das, wovon man nur munkelt und was man zu erraten sucht. Es kann auch nicht geleugnet werden, dass viele Mitglieder unserer Familie eines unnatürlichen, gewaltsamen und blutigen Todes gestorben sind. Immerhin mögen wir auf die unendliche Güte der Vorsehung bauen, welche doch nicht Unschuldige über das dritte und vierte Geschlecht hinaus, wie es in der Heiligen Schrift angedroht wird, bestrafen würde. Dieser Vorsehung, meine Söhne, empfehle ich euch hiermit und rate euch noch, das Moor in jenen dunklen Stunden, da die Kräfte des Bösen am Werke sind, nicht zu überschreiten.

Dies ist von Hugo Baskerville an seine Söhne Rodger und John mit der Mahnung, ihrer Schwester Elisabeth nichts davon zu sagen.«

Als Dr. Mortimer geendet hatte, schob er seine Brille auf die Stirn und blickte zu Sherlock Holmes hinüber. Dieser gähnte laut und warf den Stummel seiner Zigarette ins Feuer.

»Nun?«, sagte er.

»Finden Sie das nicht interessant?«

»Für einen Liebhaber von Märchen – ja.«

Dr. Mortimer zog ein zusammengefaltetes Zeitungsblatt aus seiner Tasche.

»Nun, Mr Holmes, werden wir Ihnen etwas Aktuelleres bieten. Dies ist der Devon Country Chronicle vom 14.Juni dieses Jahres. Es ist eine kurze Darstellung der Tatsachen, die anlässlich des wenige Tage vorher erfolgten Ablebens Sir Charles Baskervilles bekannt wurden.«

Mein Freund beugte sich etwas vor, und sein Gesicht nahm einen angespannten Ausdruck an. Unser Gast schob seine Brille zurecht und begann:

»Der kürzlich erfolgte plötzliche Tod Sir Charles Baskervilles, dessen Name als voraussichtlicher Kandidat der Liberalen Partei für Mid-Devon anlässlich der nächsten Wahlen genannt wurde, hat einen Schatten über die Grafschaft geworfen. Obzwar Sir Charles erst seit kurzer Zeit in Baskerville Hall residierte, haben seine Liebenswürdigkeit und außerordentliche Großherzigkeit die Liebe und Wertschätzung all jener gewonnen, die in näheren Kontakt zu ihm traten. In dieser Welt der Neureichen ist es erquickend, einen Fall zu finden, in dem der Abkömmling einer alten Familie, die schlechte Zeiten durchgemacht hat, imstande war, selbst ein Vermögen zu erwerben und es heimzubringen, um den verblassten Glanz seiner Ahnen wieder aufleben zu lassen. Sir Charles hat, wie bekannt ist, große Summen in südafrikanischen Spekulationen erworben. Weiser als jene, die nicht aufhören wollen, ehe sich das Glück von ihnen wendet, hat er seinen Gewinn realisiert und ist damit nach England zurückgekehrt. Es ist erst zwei Jahre her, dass er seinen Wohnsitz auf Baskerville Hall aufgeschlagen hat, aber es war allgemein bekannt, wie umfassend seine Pläne für Wiederaufbau und Verbesserungen waren, Pläne, die durch seinen plötzlichen Tod unterbrochen sind. Selbst kinderlos, war es sein ausgesprochener Wunsch, dass seine ganze Umgebung während seines Lebens an seinem Reichtum teilhaben möge, und sicher gibt es viele, die sein vorzeitiges Ableben aufs schmerzlichste trifft. Seine großmütigen Spenden für wohltätige Werke, sowohl in der Grafschaft als auch in seinem nächsten Umkreis, sind oftmals in diesen Spalten erwähnt worden. Die Umstände, unter welchen Sir Charles’ Tod erfolgt ist, sind wohl durch die gerichtliche Untersuchung nicht ganz aufgeklärt worden, aber es ist wenigstens genug geschehen, um jene Gerüchte, die aus örtlichem Aberglauben entstanden sind, zum Schweigen zu bringen. Es ist absolut kein Grund vorhanden, ein Verbrechen zu vermuten oder Sir Charles’ Tod einem anderen als einem natürlichen Grund zuzuschreiben. Sir Charles war Witwer und ein Mann, von dem man sagen kann, dass er in manchen Dingen etwas eigen schien. Trotz seines großen Reichtums war er einfach in seiner Lebensführung, und seine Dienerschaft bestand nur aus einem Ehepaar namens Barrymore. Der Mann war Kammerdiener und die Frau Haushälterin. Nach ihren Angaben, die von vielen Freunden Sir Charles’ bestätigt wurden, war seine Gesundheit seit einiger Zeit geschwächt. Vieles spricht für ein Herzleiden, das sich in Atemnot, wechselnder Gesichtsfarbe und akuten Anfällen nervöser Depression geäußert hat. Dr. James Mortimer, Freund und Arzt des Verstorbenen, hat im selben Sinne ausgesagt.

Die Tatsachen sind einfach. Sir Charles Baskerville pflegte abends vor dem Schlafengehen in der berühmten Eibenallee von Baskerville Hall auf und ab zu spazieren. Beide Barrymores bezeugen, dass dies seine Gewohnheit war. Am 4.Juni hatte Sir Charles die Absicht geäußert, am nächsten Morgen nach London zu fahren, und Barrymore angewiesen, sein Gepäck vorzubereiten. Am selben Abend begab er sich auf seinen gewohnten Spaziergang, bei dem er eine Zigarre zu rauchen pflegte. Er kehrte nicht zurück. Als Barrymore um Mitternacht die Haustüre noch offen fand, wurde er ängstlich, zündete eine Laterne an und begab sich auf die Suche nach seinem Herrn. Es hatte geregnet, und Sir Charles’ Fußspuren waren in der Allee leicht erkennbar. Auf halbem Weg befindet sich ein Tor, das auf das Moor hinausführt. Es war ersichtlich, dass Sir Charles kurze Zeit dort gestanden hatte. Dann war er weitergegangen. Seine Leiche wurde am Ende der Allee aufgefunden. Eine der unaufgeklärten Tatsachen ist Barrymores Behauptung, die Fußabdrücke seines Herrn hätten sich von dem Augenblick, als er das Tor verlassen hatte, verändert, und es scheine, er sei von da an auf den Zehenspitzen gegangen. Ein gewisser Murphy, Zigeuner und Pferdehändler, der um jene Zeit in nächster Nähe das Moor überquerte und zugab, dass er etwas angeheitert gewesen sei, sagt, dass er Schreie gehört habe, aber die genaue Richtung, aus der sie kamen, nicht feststellen konnte. An Sir Charles’ Körper waren keinerlei Zeichen von Gewalt zu sehen, und – obwohl der Befund des Arztes von einer unwahrscheinlichen Verzerrung der Gesichtszüge spricht, die so stark war, dass Dr. Mortimer anfangs nicht glauben wollte, dass sein Freund und Patient vor ihm lag – scheint es sich um ein Symptom zu handeln, das in einem Falle von Herzlähmung nicht selten ist. Diese Erklärung wurde durch den Obduktionsbefund, der ein veraltetes Herzleiden feststellte, bestätigt, und der Leichenbeschauer stellte sein Attest in Übereinstimmung mit dem ärztlichen Zeugnis aus. Es ist gut, dass dem so war, denn es ist gewiss von großer Wichtigkeit, dass sich Sir Charles’ Erbe in Baskerville Hall niederlässt und die guten Werke, die so jäh unterbrochen wurden, fortsetzt. Wenn das nüchterne Urteil des Leichenbeschauers nicht mit den abenteuerlichen Geschichten, die im Zusammenhang mit dieser Angelegenheit gemunkelt wurden, aufgeräumt hätte, wäre es sicher schwer gewesen, einen Bewohner für Baskerville Hall zu finden. Der nächste Anwärter wäre, falls er noch am Leben ist, Mr Henry Baskerville, der Sohn von Sir Charles’ jüngerem Bruder. Als man zuletzt von ihm hörte, war der junge Mann in Amerika, und es ist bereits alles geschehen, um ihn von dem ihm zufallenden Erbe zu verständigen.«

Dr. Mortimer faltete die Zeitung zusammen und steckte sie wieder in die Tasche.

»Dies, Mr Holmes, sind die allgemein bekannten Tatsachen im Zusammenhang mit dem Tod von Sir Charles Baskerville.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, bemerkte Sherlock Holmes, »dass Sie mich auf einen Fall aufmerksam machen, der sicherlich viel Interessantes an sich hat. Ich habe zu jener Zeit einige Zeitungsberichte darüber gelesen, aber ich war damals mit dieser kleinen Angelegenheit der vatikanischen Kameen sehr beschäftigt, und in meinem Bestreben, dem Papst gefällig zu sein, habe ich den Zusammenhang mit einigen interessanten Fällen in England verloren. Dieser Artikel, sagen Sie, enthält die allgemein bekannten Tatsachen?«

»So ist es.«

»Dann lassen Sie mich die unbekannten Tatsachen wissen.« Er lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen aneinander und nahm eine äußerst undurchdringliche und sachverständige Haltung an.

»Wenn ich das tue«, erklärte Dr. Mortimer, der sichtlich stark erregt war, »sage ich etwas, das ich noch niemandem anvertraut habe. Mein Beweggrund dafür, dass ich es dem Coroner vorenthalten habe, ist der, dass ein Mann der Wissenschaft davor zurückschreckt, in der Öffentlichkeit einem bestehenden Aberglauben das Wort zu reden. Auch meinte ich, dass, wie die Zeitung es sagt, Baskerville Hall nicht bewohnt werden würde, wenn sein ohnehin unheimlicher Ruf Bestätigung fände. Aus diesen beiden Gründen fühlte ich mich berechtigt, eher weniger zu sagen, als ich wusste, da etwas anderes auch keinen praktischen Sinn gehabt hätte. Aber Ihnen gegenüber kann ich vollkommen aufrichtig sein.

Das Moor ist sehr spärlich besiedelt, und die Menschen, die dort in der Nähe voneinander wohnen, halten natürlich zusammen. Daher sah ich Sir Charles Baskerville sehr viel. Mit Ausnahme von Mr Frankland auf Lafter Hall und Mr Stapleton, dem Naturforscher, gibt es im Umkreis von vielen Meilen keinen gebildeten Menschen. Sir Charles war von Natur aus zurückhaltend, aber seine Krankheit brachte uns einander näher, und ein gemeinsames Interesse für alles Wissenschaftliche vertiefte unsere Freundschaft. Er hatte aus Südafrika manches Neue auf naturwissenschaftlichem Gebiet mitgebracht, und wir haben viele angenehme Abende mit Diskussionen über die vergleichende Anatomie des Buschmannes und des Hottentotten verbracht.

Im Laufe der letzten Monate wurde mir klar, dass Sir Charles’ Nervensystem aufs äußerste angespannt war. Er hatte sich diese Legende, die ich Ihnen vorgelesen habe, sehr zu Herzen genommen, so sehr, dass, obschon er auf seinem eigenen Grund und Boden spazieren ging, ihn nichts dazu bringen konnte, in der Nacht auf das Moor zu gehen. So unwahrscheinlich es für Sie klingen mag, Mr Holmes, er war davon überzeugt, dass ein schreckliches Unheil über seiner Familie schwebe; und sicherlich waren die Geschichten, die er mir von seinen Vorfahren erzählte, nicht ermutigend. Er glaubte an die Existenz eines unheimlichen Spukes, und mehr als einmal fragte er mich, ob ich auf meinen nächtlichen ärztlichen Visiten nie ein sonderbares Wesen gesehen oder das Bellen eines Hundes gehört hätte. Letztere Frage stellte er mir öfter mit vor Erregung zitternder Stimme. Ich erinnere mich genau, wie ich, ungefähr drei Wochen vor dem Unglückstag, beim Schloss vorbeifuhr. Er stand zufällig im Tor. Ich war aus meinem Wagen ausgestiegen und stand ihm gegenüber, als ich plötzlich sah, wie seine Augen über mich hinwegstarrten, mit einem Ausdruck entsetzlichen Grauens. Ich drehte mich rasch um und sah gerade noch etwas, das mir wie ein großes schwarzes Kalb vorkam, am Ende der Zufahrt vorübereilen. Er war so aufgeregt und geängstigt, dass ich zu der Stelle zurückging, wo ich das Tier zu sehen geglaubt hatte, und es suchte. Es war verschwunden, aber der Zwischenfall hatte einen entsetzlichen Eindruck auf ihn gemacht. Ich blieb den ganzen Abend bei ihm, und bei dieser Gelegenheit war es, dass er mir, um seine Erregung zu erklären, das Dokument übergab, das ich Ihnen soeben vorgelesen habe. Ich erwähne diese Begebenheit, weil sie in Anbetracht der nachfolgenden Tragödie an Wichtigkeit gewinnt. Aber damals war ich davon überzeugt, dass die Sache ganz harmlos sei und seine Aufregung darüber vollkommen unberechtigt.

Auf meinen Rat sollte Sir Charles nach London gehen. Ich wusste, dass sein Herz angegriffen war. Die stete Angst, in der er lebte, so hirnverbrannt auch deren Ursache sein mochte, schädigte seine Gesundheit ernstlich. Ich hoffte, dass einige Monate in einer Stadt, die viel Zerstreuung bot, einen anderen Menschen aus ihm machen würden. Mr Stapleton, ein gemeinsamer Freund, der sich große Sorgen um ihn machte, war derselben Meinung. Im letzten Augenblick kam es dann zu dieser entsetzlichen Katastrophe. An dem Abend von Sir Charles’ Tod schickte Barrymore den Reitknecht Perkins zu Pferde zu mir. Da ich noch wach war, konnte ich Baskerville Hall eine Stunde nach dem Unglück erreichen. Ich nahm alle Einzelheiten auf, die bei der Untersuchung erwähnt wurden. Ich verfolgte die Fußspuren die Eibenallee entlang, ich sah die Stelle neben dem Tor mit Blick auf das Moor, wo er anscheinend gewartet hatte; ich bemerkte die Veränderung der Fußabdrücke von dort an, ich sah, dass es außer den seinen keine anderen Fußspuren gab, und schließlich untersuchte ich sorgfältig die Leiche, die bis zu meiner Ankunft nicht berührt worden war. Sir Charles lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Gesicht – seine Finger waren in den Boden gekrallt, seine Züge so verzerrt, dass ich seine Identität kaum hätte beschwören können. Aber eine der Angaben, die Barrymore bei der Untersuchung gemacht hat, ist falsch. Er sagte, es seien um die Leiche herum keinerlei Spuren auf dem Boden gewesen. Er hatte keine gesehen. Aber ich. Sie waren wohl etwas weiter entfernt, aber frisch und deutlich sichtbar.«

»Fußspuren?«

»Fußspuren.«

»Von einem Mann oder von einer Frau?«

Dr. Mortimer blickte uns einen Augenblick lang sonderbar an, und seine Stimme wurde beinahe ein Flüstern, als er antwortete:

»Mr Holmes, es waren die Fußspuren eines überlebensgroßen Hundes.«

3

Ich gebe zu, dass mir beim Anhören dieser Worte ein Schauer über den Rücken lief. Die bebende Stimme des Arztes bewies, wie sehr er selbst von dem, was er uns erzählt hatte, erschüttert war. Holmes beugte sich erregt vor, und seine Augen bekamen den harten, hellen Glanz, der aus ihnen sprühte, sobald eine Angelegenheit sein intensives Interesse erweckte. »Sie sahen die Spuren wirklich?«

»So klar wie ich Sie jetzt sehe.«

»Und Sie sagten nichts?«

»Was hätte es für einen Sinn gehabt?«

»Wieso kam es, dass niemand anderer sie bemerkte?«