Sherlock Holmes - Die besten Geschichten - Arthur Conan Doyle - E-Book

Sherlock Holmes - Die besten Geschichten E-Book

Arthur Conan Doyle

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Beschreibung

Kein skrupelloses Schurkenstück, kein noch so raffiniertes Verbrechen, das der weltberühmte englische Meisterdetektiv Sherlock Holmes mithilfe seiner verblüffenden Kombinationsgabe nicht zu durchschauen vermöchte! Dieser Band enthält 15 meisterhafte Kriminalerzählungen rund um Holmes und seinen treuen Freund, mit denen Sir Arthur Conan Doyle bereits seit über hundert Jahren seine Leser in den Bann schlägt.

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Seitenzahl: 624

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Arthur Conan Doyle

SHERLOCK HOLMES

Die besten Geschichten

Aus dem Englischen von Adolf Gleiner,Margarete Jacobi, Louis Ottmannund Rudolf Lautenbach

Anaconda

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2019 Anaconda Verlag GmbH, Köln,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten.

Covermotiv: Jonathan Barry, »Holmes Explains the Facts« (2010),

Private Collection / bridgemanart.com

Covergestaltung: www.katjaholst.de

Satz und Layout: paquémedia, www.paque.de

ISBN: 978-3-641-29982-8V001

www.anacondaverlag.de

[email protected]

www.penguinrandomhouse.de

INHALT

Der Bund der Rothaarigen

Der geheimnisvolle Mord im Tal von Boscombe

Fünf Apfelsinenkerne

Der Mann mit der Schramme

Die Geschichte des blauen Karfunkels

Das getupfte Band

Die verschwundene Braut

Die Geschichte des Beryll-Kopfschmuckes

Das Landhaus in Hampshire

Der Katechismus der Familie Musgrave

Der Baumeister von Norwood

Die einsame Radfahrerin

Sherlock Holmes als Einbrecher

Die sechs Napoleonbüsten

Die gestohlenen Unterseebootszeichnungen

Quellenverzeichnis

DER BUND DER ROTHAARIGEN

Als ich im vorigen Herbst eines Tages meinen Freund Sherlock Holmes aufsuchte, traf ich ihn in eifrigem Gespräch mit einem dicken, blühend aussehenden, älteren Herrn, der feuerrotes Haar hatte. Schon wollte ich mich mit einer Entschuldigung wieder entfernen, als mich Holmes rasch in das Zimmer zog und die Tür hinter mir schloss.

»Gelegener konnten Sie nicht kommen, lieber Watson«, sagte er herzlich.

»Ich fürchtete, Sie seien beschäftigt«, entgegnete ich.

»Das bin ich – und zwar sehr.«

»So will ich im Nebenzimmer warten.«

»Nein, nein, bleiben Sie nur hier – Doktor Watson«, sagte er, mich dem Fremden vorstellend, »hat mir vielfach in meinen wichtigsten Fällen mit Rat und Tat zur Seite gestanden, und ich bezweifle nicht, dass er mir auch in Ihrer Angelegenheit, Mr Wilson, von großem Nutzen sein wird.«

Der dicke Herr erhob sich halb von seinem Sitz und nickte grüßend, indem er aus seinen kleinen, von Fettpolstern umgebenen Augen schnell einen forschenden Blick auf mich warf.

»Nehmen Sie Platz«, bat Holmes, in seinen Lehnstuhl zurücksinkend, und legte die Fingerspitzen aneinander, wie er es in kritischer Stimmung zu tun pflegte. »Ich weiß, lieber Watson, dass Sie meine Vorliebe für alles Absonderliche teilen, für alles, was nicht zum ledernen Einerlei des Alltagslebens gehört. Sie haben das durch die Wärme bewiesen, mit welcher Sie einige meiner eigenen, unbedeutenden Erlebnisse wiedergegeben, ja – entschuldigen Sie – gewissermaßen ausgeschmückt haben.«

»Allerdings interessierten mich Ihre Fälle stets ganz besonders«, erwiderte ich.

»Sie werden sich erinnern, dass ich neulich, als wir es mit Miss Mary Sutherlands einfacher Angelegenheit zu tun hatten, die Bemerkung machte, wie die sonderbarsten Vorfälle und die merkwürdigsten Verwicklungen im Leben selbst zu finden sind. Die Wirklichkeit bringt weit Überraschenderes hervor als die lebhafteste Einbildungskraft.«

»Eine Behauptung, die ich mir anzuzweifeln getraute.«

»Das taten Sie, und dennoch werden Sie sich zu meiner Ansicht bekehren müssen, sonst häufe ich Beweise auf Beweise, bis Sie überführt sind und mir Recht geben. Mr Jabez Wilson hier war so freundlich, mich heute Morgen aufzusuchen, um mir etwas zu erzählen, was man nicht alle Tage zu hören bekommt. Ich sagte schon früher, dass ungewöhnliche Dinge häufiger bei kleinen als bei großen Verbrechen vorkommen, ja in Fällen, bei denen es zuweilen sogar zweifelhaft ist, ob überhaupt ein Verbrechen vorliegt. Vielleicht handelt es sich auch im vorliegenden Fall um kein Verbrechen – so viel ist aber gewiss, dass er höchst merkwürdig ist. Hätten Sie wohl die große Gefälligkeit, noch einmal von vorn anzufangen, Mr Wilson? Ich bitte nicht allein darum, weil mein Freund den ersten Teil nicht gehört hat, sondern weil mir daran liegt, jede in Betracht kommende Einzelheit möglichst genau zu vernehmen. Gewöhnlich vermag ich mir schon bei oberflächlicher Angabe der Begebenheiten ein Bild vom Ganzen zu machen durch den Vergleich mit den zahllosen ähnlichen Fällen, deren ich mich entsinne. Hier aber lässt mich jegliche Mutmaßung im Stich.«

Mit einem gewissen Stolz warf sich der behäbige Klient in die Brust und zog ein schmutziges, zerknittertes Zeitungsblatt aus der Rocktasche. Während er vorgebeugt den Anzeigenteil des Blattes durchsah, das er auf seinen Knien ausbreitete, hatte ich Zeit, den Mann ruhig zu betrachten und nach Art meines Freundes zu versuchen, ob ich aus seinem Äußeren gewisse Anhaltspunkte gewinnen könnte, um mir ein Urteil über ihn zu bilden. Viel kam dabei jedoch nicht heraus.

Unserem Besucher war der Stempel eines ganz gewöhnlichen Durchschnittsmenschen aufgeprägt; sein wohlgenährtes, schwerfälliges und bedächtiges Aussehen bestätigte das – vermutlich gehörte er dem Kaufmannsstand an. Er trug sehr weite graukarierte Beinkleider, einen nicht allzu sauberen schwarzen Rock, der nicht zugeknöpft war, eine hellgraue Tuchweste und eine schwere vernickelte Uhrkette, an deren Ende ein viereckiges Metallstück als Verzierung baumelte. Ein abgeschabter Zylinder und ein ebensolcher Überzieher mit runzeligem Samtkragen lagen auf dem Stuhl neben ihm. So gespannt ich den Mann auch betrachtete, fand ich an ihm weiter nichts Bemerkenswertes als sein feuerrotes Haar und einen Ausdruck von Verdruss und Missmut in seinen Zügen.

Sherlock Holmes’ geübtem Auge entging mein Versuch nicht, und lächelnd schüttelte er den Kopf über meine forschenden Blicke. Dann sagte er: »Dass Mr Wilson eine Zeit lang Handwerker war, dass er schnupft, dass er Freimaurer ist, dass er in China war und kürzlich sehr viel geschrieben hat, sind Dinge, die klar auf der Hand liegen – weiter kann ich ihm aber nichts ansehen.«

Jabez Wilson schrak auf seinem Stuhl zusammen; den Zeigefinger auf der Zeitung, starrte er zu meinem Freund hin.

»Woher in aller Welt wissen Sie das alles, Mr Holmes?«, fragte er. »Woher wissen Sie zum Beispiel, dass ich Handwerker war? Richtig ist’s, weiß Gott! Ich fing als Schiffszimmermann an.«

»Das sehe ich Ihren Händen an, mein werter Herr; die rechte Hand ist weit größer als die linke. Da Sie mit jener arbeiteten, hat sich deren Muskulatur viel kräftiger entwickelt.«

»Gut – aber das Schnupfen und die Freimaurerei?«

»Ich traue Ihnen so viel Scharfsinn zu, Mr Wilson, dass Sie erraten, woraus ich das entnehme – besonders, weil Sie, wohl etwas gegen die strengen Statuten Ihres Ordens, Bogen und Kompass als Busennadel tragen.«

»Ja, allerdings, das hatte ich vergessen. Und die Schreiberei?«

»Auf was lässt sonst hier rechts diese fünf Zoll lange, durchgeriebene Falte schließen und der glänzende Fleck am Ellenbogen – da wo der Arm auf dem Pult ruht?«

»Auch gut – aber China?«

»Nur in China konnte der Fisch dort über Ihrem rechten Handgelenk eingeätzt werden. Ich beschäftigte mich etwas mit tätowierten Zeichen, bereicherte sogar die Literatur hierüber; weiß also, dass die Kunst, die Fischschuppen so zart rötlich zu färben, speziell chinesisch ist. Sehe ich obendrein eine chinesische Münze an Ihrer Uhrkette, so ist die Sache noch einfacher.«

Jabez Wilson lachte laut: »Alle Wetter!«, rief er aus. »Erst glaubte ich, Sie verstünden Wunder was – jetzt sehe ich, dass schließlich blutwenig daran ist.«

»Allmählich komme ich dahinter, Watson, dass ich ein Tor bin mit meinen Erklärungen. Du weißt: ›Omne ignotum pro magnifico‹ und mein bisschen Ruf geht in die Brüche, wenn ich zu aufrichtig bin. – Sie können wohl die Anzeige nicht finden, Mr Wilson?«

»Ja, jetzt habe ich sie«, erwiderte der Gefragte und legte seinen dicken, roten Finger mitten auf die Spalte. »Da steht’s – damit fing die ganze Geschichte an. Lesen Sie bitte selbst, Herr Doktor.«

Ich nahm das Blatt und las folgendes:

»An den Bund der Rothaarigen. Zufolge des Vermächtnisses des verstorbenen Ezekiah Hopkins von Libanon, Pennsylvania, ist wieder eine Stelle zu besetzen, die ein Mitglied des Bundes zu einer Einnahme von vier Pfund wöchentlich berechtigt gegen rein nominelle Leistungen. Alle an Leib und Seele gesunden Rothaarigen, die das einundzwanzigste Jahr zurückgelegt haben, können sich bewerben – Persönliche Anmeldung Montag um 11 Uhr bei Duncan Ross, im Bundeslokal, Popes Court, 7 Fleet Street.«

»Was in aller Welt soll das heißen?«, rief ich aus, nachdem ich die sonderbare Anzeige zweimal durchgelesen hatte.

Holmes wälzte sich förmlich vor Lachen auf seinem Stuhl, wie er es immer tat, wenn er guter Laune war.

»Nicht wahr, das ist absonderlich?«, rief er. »Und nun, Mr Wilson, legen Sie los und erzählen Sie uns von sich, Ihrem Haushalt und von der Wirkung dieser Zeilen auf Ihr Lebensglück. – Sie, Doktor, notieren bitte Namen und Nummer der Zeitung.«

»Es ist der ›Morning Chronicle‹ vom 27. April 1890. Das Blatt erschien genau vor zwei Monaten.«

»Gut. Bitte, fangen Sie an, Mr Wilson.«

»Also«, sprach Jabez Wilson, sich die Stirn trocknend, »wie ich Ihnen schon sagte, Mr Holmes – ich bin Inhaber einer kleinen Trödelbude am Coburg Square, unweit der City. Ein sehr bedeutendes Geschäft ist’s nicht, und in den letzten Jahren warf es nur so viel ab wie ich zum Leben brauchte. Früher konnte ich zwei Gehilfen halten, jetzt aber habe ich nur einen, und es würde mir sauer werden, den zu bezahlen, wenn er nicht freiwillig für halben Lohn arbeitete, weil er das Geschäft erlernen will.«

»Wie heißt dieser gefällige Jüngling?«, fragte Holmes.

»Er heißt Vincent Spaulding und ist gerade kein Jüngling mehr. Sein Alter lässt sich schwer bestimmen. Einen gewandteren Gehilfen kann ich mir gar nicht wünschen, Mr Holmes. Ich weiß wohl, dass er leicht eine bessere Stellung finden und doppelt so viel verdienen könnte als ich ihm gebe. Da er aber zufrieden ist, weshalb sollte ich ihm einen Floh ins Ohr setzen?«

»Ja, allerdings weshalb? Sie können sich glücklich schätzen, einen Angestellten mit geringen Ansprüchen zu haben. Heutzutage kommt das im Geschäftsleben nicht oft vor. Mir scheint Ihr Gehilfe kaum weniger absonderlich zu sein als Ihre Anzeige.«

»Nun, er hat auch seine Fehler«, meinte Wilson. »Er ist ganz versessen auf das Fotografieren. Auf einmal geht er mit seinem Apparat davon, lässt die Arbeit im Stich und verkriecht sich im Keller wie ein Karnickel in seinem Loch, um die Aufnahmen zu entwickeln. Das ist sein Hauptfehler, sonst ist er ein tüchtiger Arbeiter; ich kann nicht über ihn klagen.«

»Ich setze voraus, dass er noch bei Ihnen ist?«

»Ja, Mr Holmes. Er und ein vierzehnjähriges Mädchen, das etwas kochen kann und das Reinmachen besorgt – ist mein ganzes Personal im Haus. Wissen Sie, ich bin kinderloser Witwer. Wir drei leben ruhig beieinander, und wenn wir es auch nicht weit bringen, so haben wir doch unser Auskommen und machen keine Schulden. – Alles ging glatt, bis die Anzeige erschien. Gerade heute vor acht Wochen tritt Spaulding mit diesem Blatt in der Hand ins Geschäft und spricht:

›Wollte Gott, Mr Wilson, ich hätte rote Haare!‹

›Weshalb?‹, frage ich.

›Weshalb?‹, gibt er zurück. ›Weil hier wieder eine Freistelle im Bund der Rothaarigen ausgeschrieben ist. Für den, der sie kriegt, ist’s wirklich ein kleines Vermögen, und wie ich sehe, gibt es mehr freie Stellen als Bewerber, sodass die Verwaltung nicht mehr weiß, wohin mit dem Geld. Ließe sich doch mein Haar umfärben – in dies behagliche Nestchen setzte ich mich gern.‹

›Nanu, wie verhält sich denn die Sache?‹, fragte ich. Sehen Sie, Mr Holmes, ich bin eine richtige Hausunke, und da ich des Geschäfts wegen nicht auszugehen brauche, setze ich den Fuß oft wochenlang nicht über die Schwelle. Auf diese Weise erfahre ich wenig von dem, was draußen vor sich geht, und freue mich daher immer, etwas Neues zu hören.

›Wissen Sie gar nichts vom Bund der Rothaarigen?‹, fragte er und riss die Augen auf.

›Gar nichts.‹

›Wirklich nicht? Das nimmt mich wunder, denn Sie selbst könnten Ansprüche auf eine Stelle erheben.‹

›Und was wirft sie denn ab?‹, fragte ich.

›Mehr nicht als ein paar hundert im Jahr, doch ist die Arbeit gering, und man kann dabei auch seinen sonstigen Beschäftigungen nachgehen.‹

Da können Sie sich wohl denken, Mr Holmes, dass ich die Ohren spitzte, denn in den letzten Jahren ging das Geschäft nicht brillant, und so ein paar hundert nebenbei wären mir gerade gelegen gekommen.

›Erzählen Sie mir Näheres davon‹, bat ich.

›Sie sehen ja selbst‹, sagte Spaulding und wies auf die Anzeige, ›dass eine Vakanz des Bundes ausgeschrieben ist, und hier ist die Adresse, an die man sich zu wenden hat. Soviel ich in Erfahrung bringen konnte, wurde der Verein durch einen amerikanischen Millionär, Ezekiah Hopkins, gegründet, der ein rechter Sonderling gewesen sein muss. Bei seinem Tod fand sich ein Testament, in welchem er sein enormes Vermögen zur Errichtung einer Stiftung für Rothaarige bestimmte. Die Zinsen des Kapitals sollten dazu verwendet werden, solchen Leuten eine bequeme und auskömmliche Existenz zu verschaffen.‹

›Da werden sich wohl Millionen Rothaarige melden?‹, warf ich ein.

›Keineswegs‹, erwiderte er. ›Die Stiftung beschränkt sich auf die Londoner und auf erwachsene Männer. Der Amerikaner hatte seine Jugend in London verlebt und wollte der alten Heimat eine Wohltat erweisen. Ferner hörte ich, es sei ganz nutzlos sich zu melden, wenn das Haar nur rotblond oder rotbraun ist; auf ein grelles, brennendes Rot kommt es an. Sollten Sie Lust haben, sich zu melden, ist Ihnen die Stelle sicher; vielleicht aber lohnt es sich kaum für Sie, sich wegen ein paar hundert Pfund zu bemühen.‹ –

Wie Sie sich selbst überzeugen können, meine Herren, ist meine Haarfarbe wirklich so feurig und lebhaft, dass ich mir als Bewerber Erfolg versprechen konnte, so gut wie jeder andere. Spaulding schien von der Sache so viel zu wissen, dass ich dachte, er könne mir behilflich sein; ich hieß ihn daher den Laden schließen und gleich mit mir gehen. Der freie Tag kam ihm gerade recht, wir machten die Bude zu und begaben uns zu der im Blatt angegebenen Adresse.

Das war ein Anblick, Mr Holmes! Von Nord und Süd, von Ost und West war alles herbeigelaufen, was nur einen rötlichen Schimmer auf dem Kopf aufzuweisen hatte! In Fleet Street wimmelte es von Rothaarigen. Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass es so viele rote Köpfe in London gebe, wie sie allein diese Anzeige zusammenführte. Jede Schattierung war vertreten – stroh-, zitronen-, orangegelb, ziegel-, leber-, lehmrot, doch hatten, wie Spaulding erklärte, nur wenige leuchtendes, flammendes Rot aufzuweisen. Als ich die Zahl der Bewerber sah, wäre ich am liebsten gleich wieder umgekehrt, davon aber wollte Spaulding nichts hören. Wie er es fertig brachte, begreife ich jetzt noch nicht, aber er stieß, puffte und knuffte nach allen Seiten, bis er mich durch die Menge hatte. Auf der Treppe flutete es hin und her, hoffnungsvoll stiegen die einen empor, enttäuscht kamen die anderen herab; wir schlugen uns durch, so gut es ging, und kamen glücklich ins Büro.«

»Das ist ja eine recht heitere Geschichte«, bemerkte Holmes, als der Klient sich unterbrach, um sein Gedächtnis durch eine gewaltige Prise zu stärken. »Bitte, fahren Sie fort.«

»Im Büro standen nur ein paar hölzerne Stühle und ein Tisch aus Tannenholz, an dem ein kleiner Mann saß, dessen Haar noch roter war als das meinige. An jeden Kandidaten, der hereintrat, richtete er ein paar Fragen, und fand dann an jedem etwas auszusetzen, das ihn für die Anwartschaft ungeeignet erwies. Die Freistelle zu erlangen, schien schließlich nicht so ganz leicht zu sein. Als aber endlich die Reihe an uns kam, zeigte sich der kleine Mann mir gewogener als allen übrigen; er schloss die Tür, um mit uns ein Wort allein zu reden.

›Das ist Mr Jabez Wilson‹, sagte mein Gehilfe, ›er ist geneigt, die freie Stelle zu übernehmen.‹

›Er scheint sich trefflich dazu zu eignen‹, erwiderte der kleine Mann, ›und erfüllt alle Bedingungen. Ich erinnere mich nicht, je so feines Haar gesehen zu haben.‹ Er trat einen Schritt zurück, legte den Kopf auf die Seite und starrte mein Haar an, bis ich selbst rot wurde. Dann neigte er sich plötzlich vorwärts, schüttelte mir die Hand und gratulierte mir warm zu meinem Erfolg.

›Jedes Bedenken wäre eine Ungerechtigkeit‹, sagte er. ›Doch werden Sie gewiss eine nötige Vorsichtsmaßregel entschuldigen.‹ Hierbei griff er mit beiden Händen in mein Haar und zauste es, bis ich vor Schmerzen aufschrie. ›Ihre Augen tränen‹, sagte er, mich loslassend, ›dieser Beweis genügt. Wir müssen vorsichtig sein, denn zweimal wurden wir hintergangen, einmal durch eine Perücke, ein andermal durch künstliche Färbung. Von Mixturen könnte ich Ihnen Geschichten erzählen, bei denen einem die Menschheit zum Ekel wird.‹ Er trat ans Fenster und schrie aus Leibeskräften hinaus, dass die ausgeschriebene Stelle besetzt sei. Ein Stöhnen der Enttäuschung drang herauf, die Menge verlief sich in die verschiedensten Richtungen, und bald war bis auf meinen Rotschopf und den des Beamten kein anderer mehr zu sehen.

›Ich heiße Duncan Ross‹, sagte er, ›und bin selbst ein Pfründner des Kapitals, das uns unser edler Wohltäter hinterließ. Sind Sie verehelicht, Mr Wilson? Haben Sie Familie?‹

Ich erwiderte, dass ich keine besitze.

Er nahm eine bedenkliche Miene an.

›Oh je!‹, sprach er bedauernd. ›Das ist freilich sehr misslich! Schade, schade! Wissen Sie, das Kapital sollte nämlich ebenso sehr zur Vermehrung und Verbreitung der Rothaarigen als zu ihrer Erhaltung dienen. Es trifft sich sehr unglücklich, dass Sie Junggeselle sind.‹

Bei seinen Worten machte ich ein langes Gesicht, Mr Holmes, denn ich fürchtete, schließlich die Stelle doch nicht zu erhalten; er überlegte noch eine Weile und meinte dann, es werde sich schon machen.

›Handelte es sich um einen anderen‹, sagte er, so würde dieser Umstand ein entschiedenes Hindernis sein, aber wer einen Kopf voll solcher Haare aufzuweisen hat wie Sie, bei dem darf man es nicht so genau nehmen. Wann würden Sie Ihren neuen Posten antreten können?‹

›Nun, so einfach ist die Sache nicht, denn ich habe schon ein Geschäft.‹

›Da machen Sie sich keine Sorgen, Mr Wilson!‹, sagte Spaulding. ›Das kann ich statt Ihrer schon besorgen.‹

›Welche Stunden wären einzuhalten?‹, fragte ich.

›Von zehn bis zwei.‹

Das Pfandleihgeschäft geht abends am flottesten, Mr Holmes, besonders Donnerstag- und Freitagabend, vor dem Zahltag; es war mir also ganz angenehm, in den Vormittagsstunden etwas zu verdienen. Auch konnte ich mich auf meinen Gehilfen verlassen. Ich sagte daher: ›Das passt mir sehr gut! Und wie ist die Bezahlung?‹

›Vier Pfund wöchentlich.‹

›Und die Arbeit?‹

›Ist kaum der Rede wert.‹

›Was nennen Sie ‚kaum der Rede wert’?‹

›Sie müssen die ganze Zeit über im Kontor oder wenigstens hier im Haus sein. Verlassen Sie es, setzen Sie Ihre ganze Stellung aufs Spiel. Über diesen Punkt ist die letztwillige Verfügung sehr bestimmt.‹

›Es sind ja nur vier Stunden am Tag, und es fiele mir gar nicht ein, wegzugehen.‹

›Entschuldigungen würden auch absolut nicht angenommen‹, versicherte Mr Ross, ›mag nun die Ursache Krankheit, ein Geschäft, oder sonst etwas sein. Sie müssen an Ort und Stelle bleiben – oder Sie verlieren Ihr Anrecht.‹

›Und die Arbeit?‹

›Besteht im Abschreiben der Encyclopaedia Britannica. Hier in diesem Schrank liegt der erste Band. Für Tinte, Federn und Papier haben Sie zu sorgen, wir liefern nur Tisch und Stuhl. Können Sie morgen anfangen?‹

›Gewiss‹, antwortete ich.

›So leben Sie wohl, Mr Wilson, und erlauben Sie mir, Ihnen nochmals zu der Stellung zu gratulieren, die Sie, vom Glück begünstigt, gewonnen haben.‹ Grüßend begleitete er mich bis an die Tür; ich ging heim mit meinem Gehilfen und wusste kaum, was ich denken oder sagen sollte, so vergnügt war ich über die glückliche Wendung meines Geschicks.

Den ganzen Tag überlegte ich die Geschichte hin und her, und als der Abend kam, war ich wieder kleinlaut geworden, denn am Ende lief die ganze Sache vielleicht nur auf einen schlechten Spaß oder einen Betrug hinaus, obwohl ich mir den Zweck desselben nicht zu erklären vermochte. Es schien fast unglaublich, dass jemand solche letztwillige Verfügung treffen könne oder dass eine derartige Rente für eine so einfache Sache gezahlt werde wie die Abschrift der Encyclopaedia Britannica. Spaulding tat zwar, was er vermochte, um meinen Mut zu heben, als ich aber zu Bett ging, hatte ich in Gedanken die ganze Geschichte an den Nagel gehängt. Indessen am anderen Morgen beschloss ich, dennoch einen Blick in das Kontor zu werfen. Ich kaufte ein Fläschchen Tinte und begab mich mit einer Gänsefeder und sieben Bogen Konzeptpapier zu Popes Court.

Zu meinem Staunen und zu meiner Freude fand ich alles ganz in Ordnung. Der Tisch stand bereit, und Duncan Ross war da, um mich in die Arbeit einzuführen. Er ließ mich beim Buchstaben A anfangen und entfernte sich mit dem Versprechen, dann und wann nach mir zu sehen. Um zwei Uhr verabschiedete er mich, lobte meinen Fleiß und schloss die Kontortür hinter mir ab.

So ging es Tag für Tag weiter, Mr Holmes, und am Sonnabend erschien der Beamte und legte mir vier Goldstücke als Wochenlohn hin. Acht Tage später war es wieder so und auch die Woche darauf. Jeden Morgen erschien ich um zehn auf meinem Posten und verließ ihn um zwei. Allmählich kam Mr Ross nur einmal täglich, und später kam er gar nicht mehr. Dennoch wagte ich es selbstverständlich nicht, die Stube auch nur für Augenblicke zu verlassen, war ich doch nie sicher, ob er kommen würde oder nicht. Die Anstellung war so günstig und passte mir so gut, dass ich sie nicht aufs Spiel setzen wollte. So verstrichen acht Wochen, ich hatte von A … bis Attika geschrieben und hoffte, durch Fleiß bald an das B zu gelangen. Es kostete mich viel Konzeptpapier, und meine Schreiberei füllte beinahe ein Fach aus. Da plötzlich nahm das ganze Geschäft ein Ende.«

»Ein Ende?«

»Ja, Mr Holmes. Und zwar heute Morgen. Wie sonst erscheine ich um zehn Uhr zur Arbeit, aber die Tür ist verschlossen, und mitten darauf ist mit einem Stift eine Karte angeheftet. Da ist sie, lesen Sie selbst.«

Er zog eine Karte in der Größe eines kleinen Briefbogens hervor; darauf stand geschrieben:

»Der Bund der Rothaarigen ist aufgelöst. 9. Oktober 1890.«

Sherlock Holmes und ich betrachteten diese kurze Ankündigung und dazu das klägliche Gesicht des Pfandverleihers, bis die Sache uns so komisch vorkam, dass wir, jede andere Rücksicht außer acht lassend, in lautes Gelächter ausbrachen.

»Ich kann gar nichts so Lächerliches dabei finden«, rief unser Klient, und das Blut stieg ihm zu Kopf bis in die Wurzeln seines brandroten Haares. »Wenn Sie nichts Besseres wissen als mich auszulachen, kann ich woanders hingehen!«

»Nein, nein«, rief Holmes und drückte ihn wieder auf den Stuhl zurück, aus dem er sich halb erhoben hatte. »Um keinen Preis möchte ich Ihren Fall aufgeben. So etwas ganz Ungewöhnliches tut ja Leib und Seele wohl; aber, verzeihen Sie, die Sache hat etwas sehr Komisches. Bitte, welche Schritte taten Sie, als Sie die Notiz an der Tür fanden?«

»Ich war verblüfft, Mr Holmes. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. In den Geschäften der Nachbarschaft, wo ich anfragte, schien niemand etwas zu wissen. Endlich ging ich zum Hauswirt, einem Buchhalter, der im Parterre wohnt, und erkundigte mich bei ihm, was aus dem Bund der Rothaarigen geworden sei. Er erklärte mir, von einer solchen Körperschaft nie etwas gehört zu haben. Dann fragte ich ihn, wer Mr Duncan Ross sei. Aber der Name war ihm fremd.

›Ich meine den Herrn auf Nr. 4.‹

›Was, den rothaarigen Mann?‹

›Ja.‹

›Der heißt William Morris. Er ist Anwalt und benutzte mein Zimmer nur vorübergehend, bis sein neues Lokal fertig wurde. Er ist gestern umgezogen.‹

›Wo kann ich ihn finden?‹

›In seinem neuen Büro.‹ – Er gab mir die Adresse: King Edward Street 17, bei St. Paul.

Ich machte mich rasch auf den Weg, Mr Holmes; als ich dort ankam, fand ich eine Fabrik von Gummistrümpfen, und kein Mensch hatte je etwas von William Morris oder von Duncan Ross gehört.«

»Was taten Sie dann?«, fragte Holmes.

»Ich ging nach Hause und fragte meinen Gehilfen um Rat. Doch vermochte der mir in keiner Weise zu helfen. Er meinte nur, wenn ich wartete, würde ich gewiss brieflich etwas erfahren. Das genügte mir aber nicht, Mr Holmes. Solch eine Stelle wollte ich nicht so ohne Weiteres verlieren, und da ich erfuhr, dass Sie so freundlich sind, armen Leuten in der Not Rat zu erteilen, kam ich geradewegs zu Ihnen.«

»Daran taten Sie recht. Ihre Geschichte ist ganz merkwürdig, und ich will sie mit dem größten Vergnügen zu enträtseln suchen. Ihren Mitteilungen entnehme ich, dass die Sache ernstere Folgen haben kann als auf den ersten Blick erscheinen mag.«

»Ernst genug!«, sagte Wilson. »Ich habe ja vier Pfund wöchentlich verloren.«

»Was Sie persönlich betrifft«, bemerkte Holmes, »so haben Sie nicht gerade viel Grund zur Unzufriedenheit mit diesem seltsamen Bund. Irre ich nicht, sind Sie um etwa dreißig Pfund reicher geworden, ganz abgesehen von der eingehenden Kenntnis, die Sie von allem, was mit dem Buchstaben A beginnt, erlangten. Verloren haben Sie also nichts durch die Leute.«

»Nein, Mr Holmes. Aber ich will dahinterkommen, will wissen, wer die Leute sind und weshalb sie mir diese Posse gespielt haben – wenn es eine Posse ist. Ihnen kam der Spaß ziemlich teuer zu stehen, zweiunddreißig bare Pfund hat er sie gekostet.«

»Wir werden uns Mühe geben, diese Punkte für Sie aufzuklären. Vorerst einige Fragen, Mr Wilson: Wie lange war der Gehilfe, der zuerst Ihre Aufmerksamkeit auf die Anzeige lenkte, damals schon bei Ihnen?«

»Damals ungefähr einen Monat.«

»Wie kam er zu Ihnen?«

»Durch ein Inserat in der Zeitung.«

»War er der einzige, der sich meldete?«

»Nein, ich hatte ein Dutzend Anmeldungen.«

»Warum wählten Sie gerade ihn?«

»Weil er geschickt war und billige Anforderungen stellte.«

»Für halben Lohn – nicht wahr?«

»Ja.«

»Wie sieht er aus, dieser Vincent Spaulding?«

»Er ist klein, untersetzt, sehr gelenkig und trägt keinen Bart, obwohl er vielleicht nahe an dreißig ist. Auf der Stirn hat er eine weiße Narbe.«

Ganz aufgeregt fuhr Holmes in die Höhe. »Dacht ich’s doch«, sagte er. »Haben Sie je bemerkt, dass seine Ohren durchstochen sind zum Einhängen von Ohrringen?«

»Ja. Er sagte mir, eine Zigeunerin habe ihm die Ohrlöcher gestochen, als er ein Knabe war.«

»Hm«, meinte Holmes und versank in tiefes Nachdenken. »Ist er noch bei Ihnen?«

»Jawohl; eben erst verließ ich ihn.«

»Wurden Ihre Geschäfte während Ihrer Abwesenheit ordentlich besorgt?«

»Darüber lässt sich nicht klagen, am Morgen ist nie sehr viel zu tun.«

»Das genügt, Mr Wilson. Hoffentlich vermag ich Ihnen schon in den allernächsten Tagen meine Ansicht über die Sache mitzuteilen. Heute ist Sonnabend, vielleicht können wir am Montag zu einem Ergebnis gelangen.«

»Nun, Watson, was denken Sie von der Geschichte?«, fragte Holmes, als uns der Mann verlassen hatte.

»Ich denke gar nichts«, erwiderte ich offen. »Das ist eine ganz dunkle Geschichte.«

»Je wunderlicher die Fälle, umso weniger dunkel sind sie meist«, versetzte Holmes. »Die ganz alltäglichen Verbrechen ohne besondere Merkmale lassen sich am schwersten durchschauen, genau wie sich ein alltägliches Gesicht am schwersten wiedererkennen lässt. In dieser Angelegenheit tut aber Eile not.«

»Was wollen Sie denn anfangen?«, fragte ich.

»Rauchen«, gab er zurück. »Der Fall verlangt drei volle Pfeifen, und ich bitte Sie, fünfzig Minuten lang nicht mit mir zu sprechen.« Er kauerte sich in dem Lehnstuhl zusammen, zog die Knie fast herauf bis an seine Habichtsnase und schloss die Augen, während seine schwarze Tonpfeife wie der Schnabel eines seltsamen Vogels in die Luft ragte. Ich glaubte, er sei eingeschlafen, und nickte selbst ein bisschen, da sprang er plötzlich auf, wie jemand, der zu einem Entschluss gekommen ist, und legte seine Pfeife auf den Kaminsims. »Heute Nachmittag spielt Sarasate in der St. James Hall«, bemerkte er. »Was meinen Sie, Watson? Lassen Ihnen Ihre Patienten einige freie Stunden?«

»Ich habe heute nichts zu tun. Meine Praxis nimmt mich selten viel in Anspruch.«

»So setzen Sie Ihren Hut auf und kommen mit. Wir gehen erst durch die City und frühstücken. Wie ich sehe, verspricht der Zettel viel deutsche Musik, die ist mir lieber als die französische und italienische; sie ist tiefer und Vertiefung, das brauche ich gerade. Kommen Sie, Freund!«

Wir benutzten die unterirdische Bahn bis Aldersgate, von wo uns ein kurzer Gang zum Saxe Coburg Square führte, dem Schauplatz der merkwürdigen Begebenheit, die wir am Morgen vernommen hatten. Es war ein kleiner, düsterer Platz, der einst bessere Tage gesehen haben mochte; auf allen vier Seiten umgaben ihn dunkle zweistöckige Häuser, und in der Mitte lag ein eingezäunter Grasplatz, auf dem mehrere Lorbeerbüsche im Kampf mit der rauchgeschwängerten, nebligen Luft ein kümmerliches Dasein führten. Drei vergoldete Kugeln und ein braunes Schild mit ›Jabez Wilson‹ in weißen Buchstaben an einem Eckhaus wiesen uns die Stelle, wo unser rothaariger Klient sein Geschäft betrieb. Sherlock Holmes blieb vor dem Haus stehen, neigte den Kopf zur Seite und betrachtete es von oben bis unten mit lebhaft zwinkernden Augen. Dann ging er langsam die Straße hinauf und wieder herab bis an die Ecke, immer forschend auf die Häuser blickend. Endlich kehrte er zum Pfandverleiher zurück, stieß seinen Stock mehrmals fest auf das Pflaster und klopfte dann an die Tür. Sie wurde von einem glatt rasierten jungen Mann mit aufgeweckten Zügen geöffnet, der ihn bat einzutreten.

»Danke«, sagte Holmes, »ich wollte nur bitten, mir zu sagen, wie man von hier zum Strand gelangt.«

»Dritte Straße rechts, vierte links«, antwortete der Gehilfe schnell und schloss die Tür.

»Schneidiger Kerl«, bemerkte Holmes, als wir weiter schritten. »Ich kenne in London wenig durchtriebenere Kerle als ihn, und was Keckheit betrifft, so steht er obenan. Von dem habe ich schon früher gehört.«

»Offenbar«, meinte ich, »spielt dieser Gehilfe des Mr Wilson keine geringe Rolle im Geheimnis des Bundes der Rothaarigen. Sie haben wohl lediglich nach dem Weg gefragt, um ihn zu sehen.«

»Nicht ihn!«

»Was sonst?«

»Seine Hosenknie.«

»Und was haben Sie gesehen?«

»Was ich erwartete.«

»Weshalb schlugen Sie auf das Pflaster?«

»Mein lieber Doktor, jetzt gilt es zu beobachten, nicht zu schwatzen. Wir sind Spione im feindlichen Lager. Wir kennen nun einigermaßen Saxe Coburg Square. Nun gilt es, die dahinterliegenden Teile zu ergründen.« Als wir um die Ecke des stillen Platzes bogen, bot sich uns ein völlig anderer Anblick dar. Wir befanden uns in einer der Hauptadern des geschäftlichen Lebens. Auf dem Fahrweg flutete der Verkehr in einer doppelten Strömung hin und her, und auf den Seitenwegen wimmelte das eilige Heer der Fußgänger wie die Ameisen.

»Warten Sie ein wenig«, sagte Holmes, an der Ecke stehen bleibend, und sah an den Häusern entlang, »ich möchte mir die Reihenfolge der Häuser hier einprägen. Ist’s doch mein Steckenpferd, London durch und durch zu kennen. Also: Mortimer, Tabakhändler, der kleine Zeitungsladen, die Filiale der City- und Vorstadtbank, das vegetarische Gasthaus und McFarlanes Wagenbau-Geschäft. Von da beginnt ein anderes Häuserviertel. Und nun sind wir fertig, Watson, nun kommt die Zeit der Erholung. Ein belegtes Brot und eine Tasse Kaffee und dann – fort ins Land der Saiten und Klänge, wo alles sanft, zart und harmonisch ist, wo es keine rothaarigen Klienten gibt, die uns mit ihren Rätselfragen den Kopf toll machen.«

Mein Freund war ein Musik-Enthusiast, der ausgezeichnet spielte und dessen Kompositionen sich weit über das Gewöhnliche erhoben. In völliger Glückseligkeit saß er den ganzen Nachmittag auf seinem Sperrsitz und bewegte die langen, schmalen Finger im Takt. Niemand hätte glauben können, dass dies sanft lächelnde Gesicht, diese schmachtend träumerischen Augen Sherlock Holmes gehörten, dem rastlosen, spitzfindigen, stets bereiten Kriminalagenten. In seinem sonderbaren Charakter machte sich die Doppelnatur abwechselnd geltend. Häufig fragte ich mich, ob nicht sein Scharfblick, seine außerordentliche Treffsicherheit ihre naturgemäße Ausgleichung in den beschaulichen und poetischen Stimmungen fänden, die von Zeit zu Zeit bei ihm die Oberhand hatten. Seine elastische Natur befähigte ihn, sich schnell wieder aus der äußersten Schlaffheit zur äußersten Energie emporzuschwingen, und ich wusste wohl, dass er sich nie gewaltiger zeigte, als wenn er tagelang in seinem Lehnstuhl gelegen und sich ganz seinen Improvisationen hingegeben oder in seine alten Druckwerke vertieft hatte. Dann kam plötzlich der Jagdtrieb über ihn, und seine glänzenden Vernunftschlüsse wurden zu förmlichen Eingebungen. Wer sein Wesen, seine Art und Weise nicht kannte, musste ihn dann fast mit scheuem Staunen anblicken, wie einen Menschen, der mehr weiß als die übrigen Sterblichen.

Als ich Holmes an dem Nachmittag in St. James so völlig in die Musik versunken sah, da dachte ich, es komme eine schlimme Zeit für diejenigen, auf die er es abgesehen hatte.

»Sie möchten gewiss nach Hause, Doktor«, meinte er, als wir hinausgingen.

»Ja, es wäre mir recht.«

»Und ich habe ein Geschäft vor, das mich einige Stunden in Anspruch nehmen wird. Die Geschichte in Coburg Square ist ernst.«

»Warum ernst?«

»Ein schweres Verbrechen ist dort im Gang. Ich habe jedoch guten Grund zu der Annahme, dass wir es noch rechtzeitig verhindern können. Dass heute Sonnabend ist, macht die Sache schwieriger. Heute Abend bedarf ich Ihrer Hilfe.«

»Um wie viel Uhr?«

»Um zehn ist’s früh genug.«

»Um zehn bin ich in der Baker Street.«

»Gut. Und bitte stecken Sie Ihren Revolver ein, vielleicht ist die Sache nicht ganz ohne Gefahr.« Er winkte mir zu, wandte sich um und verschwand sofort in der Menge.

Ich glaube nicht, dass ich mehr auf den Kopf gefallen bin als ein anderer, aber Sherlock Holmes gegenüber drückt mich stets das Bewusstsein meiner eigenen Dummheit. Auch diesmal hatte ich genau dasselbe gehört und gesehen wie er, und seine Worte bewiesen klar, dass er nicht nur alles, was geschehen war, deutlich durchschaute, sondern auch was kommen würde, während mir die Sachlage immer noch verworren und abenteuerlich erschien. Auf der Heimfahrt nach Kensington überlegte ich noch einmal alles, von der sonderbaren Geschichte des rothaarigen Kopisten an bis zu unserem Besuch am Saxe Coburg Square und bis auf die bedeutungsvollen Worte, mit denen Holmes von mir gegangen war. Wozu diese nächtliche Expedition? Weshalb sollte ich bewaffnet sein? Wohin würden wir gehen, und was hatten wir vor? Holmes hatte mir einen Wink gegeben, dieser glattrasierte Gehilfe sei ein furchtbarer Mensch – ein Mensch, der vielleicht einen verwegenen Streich plante. Ich sann hin und her, verzweifelte aber daran und ließ die Sache endlich ruhen, bis die Nacht mir Klarheit bringen würde.

Es war Viertel nach neun, als ich zu Hause aufbrach und mich durch den Park und die Oxford Street zur Baker Street begab. Zwei Droschken standen vor der Tür, und als ich in den Flur trat, hörte ich Stimmen oben. Ich fand Holmes in lebhaftem Gespräch mit zwei Männern; in dem einen erkannte ich Peter Jones, den Polizeibeamten, der andere war ein langer, magerer, trübselig blickender Herr in schwarzem Rock und Hut von tadelloser Beschaffenheit.

»Ha! Nun sind wir vollzählig!«, sagte Holmes, knöpfte seine bequeme Jacke zu und nahm seinen Hirschfänger vom Nagel. »Ich denke, Watson, Mr Jones von Scotland Yard ist Ihnen bekannt. Erlauben Sie mir, Sie Mr Merryweather vorzustellen, der an unserem nächtlichen Vorhaben teilnehmen wird.«

»Wir jagen wieder paarweise, Doktor«, meinte Jones in seiner praktischen Art. »Unser Freund hier, der versteht’s, das Wild aufzuspüren. Er braucht weiter nichts als einen alten Hund, der ihm beim Hetzen hilft.«

»Hoffentlich jagen wir etwas anderes auf als eine ›Ente‹«, bemerkte Mr Merryweather mürrisch.

»Vertrauen Sie nur ruhig Mr Holmes«, erwiderte der Polizeiagent überlegen. »Er hat seine eigenen kleinen Griffe und Kniffe, die, wenn er es mir nicht übel nimmt, vielleicht etwas zu theoretisch und fantastisch sind, aber in ihm steckt ein wahrer Detektiv. Es lässt sich nicht leugnen, dass er ein- oder zweimal der Wahrheit näher gekommen ist als die Polizei, zum Beispiel in Sachen des Scholtomordes und des Agraschatzes.«

»Nun, wenn Sie mir diese Versicherung geben, Mr Jones, dann bin ich beruhigt«, sagte Merryweather. »Ich gestehe indessen, dass mir meine Partie Sechsundsechzig schon lieber wäre. Es ist seit siebenundzwanzig Jahren der erste Samstagabend, wo ich mein Spielchen nicht mache.«

»Mich dünkt«, sprach Sherlock Holmes, »Sie werden selbst bald erkennen, dass Sie heute um höheren Einsatz spielen als je bisher, auch wird das Spiel aufregender sein. Für Sie, Mr Merryweather, handelt es sich um etliche dreißigtausend Pfund, und für Sie, Jones, um den Mann, den Sie gern beim Kragen kriegen möchten.«

»Ja, ja, dieser John Clay«, fiel ihm der Polizeiagent ins Wort, »ein Mörder, Dieb, Falschmünzer, Schriftfälscher und dabei noch ein junger Mann, versteht sein Geschäft gründlich. Keinem Spitzbuben Londons legte ich die Handschellen lieber an als ihm. Ein merkwürdiger Mensch ist dieser junge John Clay. Sein Großvater war ein Herzog, und er selbst studierte in Eton und Oxford. Er hat einen klugen Kopf und geschickte Hände; alle Augenblicke begegnen wir seinen Spuren, dem Mann selbst aber niemals. Seit Jahren bin ich ihm auf der Fährte, habe ihn aber noch nie zu sehen bekommen.«

»Ich hoffe, das Vergnügen zu haben, Ihnen den Schurken heute Nacht vorzustellen«, versicherte jetzt Holmes. »Auch ich habe bereits mit John Clay ein Hühnchen gerupft und stimme mit Ihnen überein: Der Mann versteht sein Geschäft. Doch es ist zehn vorüber und die höchste Zeit aufzubrechen. Wollen Sie beide den ersten Wagen benutzen, so folgen Watson und ich im zweiten.«

Mein Freund zeigte sich nicht sehr mitteilsam während der langen Fahrt; er lag zurückgelehnt im Wagen und summte die Melodien, die er am Nachmittag gehört hatte. Wir rasselten durch ein endloses Labyrinth hell erleuchteter Straßen, bis wir zur Farringdon Street gelangten.

»Jetzt sind wir ganz in der Nähe«, bemerkte mein Freund. »Merryweather ist Bankdirektor und hat ein persönliches Interesse an der Sache. Ich hielt es für gut, auch Jones dabei zu haben. Er ist ein ordentlicher Mensch, in seinem Beruf aber ein richtiger Dummkopf. Eine entschiedene Tugend besitzt er: Der Kerl ist mutig wie ein Bullenbeißer und hält fest wie ein Hummer, wenn er einen zwischen die Scheren kriegt. Wir sind jetzt da, und sie erwarten uns bereits.«

Wir befanden uns jetzt in derselben belebten Querstraße, wo wir am Morgen gewesen waren. Unsere Wagen wurden fortgeschickt; Merryweathers Führung folgend, gingen wir einen schmalen Gang hinab und durch eine Seitentür, die er uns öffnete. Hinter derselben lag ein kleiner Korridor, der auf ein schweres, eisernes Tor mündete. Auch dieses wurde geöffnet, und man gelangte von da über eine steinerne Wendeltreppe abermals vor ein starkes Tor. Merryweather blieb stehen, um seine Laterne anzustecken; dann führte er uns hinab durch einen dunklen, mit Erdgeruch erfüllten Gang, öffnete eine dritte Tür, durch welche wir in ein weites Gewölbe, eine Art Keller, eintraten. Ringsumher waren hier große Körbe und schwere Kisten aufgetürmt.

»Von oben her sind sie ja ziemlich geschützt«, bemerkte Holmes, als er die Laterne aufhob und um sich blickte.

»Von unten nicht weniger«, versetzte Merryweather und schlug mit dem Stock auf die Fliesen am Boden. »Ei was! Das klingt ja ganz hohl!«, bemerkte er, erstaunt aufblickend.

»Ich muss Sie ernstlich bitten, sich etwas ruhiger zu verhalten«, sagte Holmes streng. »Sie haben bereits den ganzen Erfolg unserer Expedition gefährdet. Darf ich Sie bitten, sich gefälligst auf eine dieser Kisten zu setzen und sich nicht weiter zu mucksen.«

Mit sehr gekränktem Ausdruck schwang sich der stattliche Mr Merryweather auf einen Korb, während Holmes am Boden niederkniete und anfing, mit der Laterne und einem Vergrößerungsglas die Sprünge zwischen den Steinen zu untersuchen. Wenige Sekunden genügten ihm, dann sprang er auf und steckte sein Glas in die Tasche.

»Wir haben wenigstens eine Stunde vor uns«, bemerkte er, »denn sie können doch kaum irgendetwas unternehmen, ehe der gute Trödler glücklich im Bett liegt. Dann werden sie keine Minute verlieren, denn je früher sie die Arbeit beginnen, umso mehr Zeit bleibt ihnen zum Entkommen. Wir befinden uns jetzt, wie Sie wohl längst erraten haben, Watson, im Keller des City-Zweiggeschäftes einer Hauptbank Londons. Mr Merryweather ist Vorsitzender des Direktoriums und wird Ihnen gern erklären, aus welchen Gründen die kecksten Einbrecher von London eben jetzt ein bedeutendes Interesse an diesem Keller haben.«

»Wegen unseres französischen Goldes«, flüsterte der Direktor. »Wir wurden mehrfach gewarnt, es sei ein Anschlag darauf im Gang.«

»Ihr französisches Gold?«

»Ja. Wir hatten vor einigen Monaten Veranlassung, unseren Barvorrat zu erhöhen, und liehen zu diesem Zweck dreißigtausend Napoleons von der Bank von Frankreich. Es ist bekannt geworden, dass wir nachher nicht nötig hatten, das Geld auszupacken, und dass es noch immer in unserem Keller ruht. Der Korb, auf dem ich sitze, enthält zweitausend Napoleons, die zwischen Stanniolpapier liegen. Unser Vorrat an ungemünztem Geld ist augenblicklich weit größer als er sonst auf einer einzelnen Filiale aufbewahrt wird, und den Direktoren war nicht mehr recht wohl bei der Sache.«

»Was freilich sehr begreiflich ist«, bemerkte Holmes. »Doch nun ist’s Zeit, unsere kleinen Rollen zu verteilen. Ich erwarte, dass sich die Dinge innerhalb der nächsten Stunde abspielen. Inzwischen, Mr Merryweather, müssen wir den Verschluss über die Blendlaterne ziehen.«

»Und im Dunkeln sitzen?«

»Ich fürchte ja. Ich habe ein Spiel Karten in die Tasche gesteckt, weil ich dachte, da wir zu viert sind, könnten Sie schließlich doch zu Ihrem Spielchen kommen. Aber ich sehe leider, dass die Vorbereitungen des Feindes bereits so weit gediehen sind, dass wir nicht wagen dürfen, Licht zu zeigen. Vor allem gilt es, unsere Stellungen zu wählen. Wir haben es mit waghalsigen Leuten zu tun, und packen wir sie auch in einer für sie nachteiligen Lage, könnten sie uns doch gefährlich werden, wenn wir nicht vorsichtig sind. Ich stelle mich hinter diesen Korb, verbergen Sie sich hinter jenem. Wenn ich dann den Lichtstrahl auf den Feind werfe, greifen Sie schnell ein; geben Sie Feuer, und auch Sie, Watson, machen Sie sich kein Gewissen daraus, sie niederzuschießen.«

Ich legte meinen Revolver mit gezogenem Hahn oben auf die Holzkiste, hinter die ich kroch. Holmes zog den Schieber der Laterne herunter, und es wurde stockfinster – eine so totale Finsternis habe ich nie zuvor erlebt. Der Geruch des heißen Metalls allein überzeugte uns, dass noch Licht da sei und im rechten Augenblick erscheinen konnte. Meine Nerven waren durch die Erwartung so aufgeregt, dass mich das plötzliche Dunkel und die kalte, feuchte Kellerluft förmlich niederdrückten und beängstigten.

»Es bleibt den Gaunern nur ein Ausweg«, flüsterte Holmes; »nämlich zurück durch das Haus im Saxe Coburg Square. Hoffentlich haben Sie getan, um was ich Sie bat, Jones.«

»Ich habe einen Inspektor und zwei Offiziere an die Haupttür postiert.«

»So sind denn alle Löcher verstopft. Und nun gilt es zu schweigen und zu warten.«

Welche Ewigkeit! Nachher zeigte es sich, dass wir nur fünf viertel Stunden gewartet hatten, und doch schien es mir, die Nacht müsse ziemlich vorüber sein und die Dämmerung über uns anbrechen. Meine Glieder waren steif und müde: Ich wagte es nicht, mich zu rühren, meine Nerven spannten sich mehr und mehr an, mein Gehör schärfte sich so, dass ich nicht allein das ruhige Atmen meiner Gefährten vernahm, sondern sogar die tieferen, schweren Atemzüge des dicken Jones von dem leisen Gestöhn des Bankdirektors zu unterscheiden vermochte. Von meinem Platz aus konnte ich über die Kiste hinweg auf die Steine am Boden sehen. Plötzlich gewahrte ich einen winzigen Lichtstreifen.

Erst zeigte sich nur ein fahler Schein auf den Steinfliesen; bald verlängerte sich dieser zu einem gelben Streifen, und ohne jeglichen Laut oder sonstiges Vorzeichen öffnete sich ein Spalt. Eine Hand erschien – eine zarte, weiße Hand, fast eine Frauenhand, die im Zentrum des kleinen Lichtkreises umhertastete. Etwa eine Minute lang ragte die Hand mit den suchenden Fingern aus dem Boden hervor. Dann verschwand sie plötzlich, wie sie erschienen, und es wurde wieder finster bis auf den einzigen fahlen Streifen, der die Spalte zwischen den Steinen verriet. Einen Moment war alles still. Jetzt erfolgte ein harter Stoß, eine Steinplatte hob sich und kippte um, und aus dem gähnenden Loch im Boden strömte das Licht einer Laterne. Ein scharfgeschnittenes, knabenhaftes Gesicht erschien in der Öffnung und blickte spähend umher; dann fassten zwei Hände an den Rand der Öffnung, herauf schwang sich ein Oberkörper, und im Nu kniete eine Gestalt am Boden. Rasch richtete sich der Mann auf und zog einen Gefährten nach – schmal und schmächtig wie er selber, mit einem blassen Gesicht und einer Fülle roten Haares.

»Alles klar«, flüsterte der erste. »Hast du den Meißel und die Säcke? – Himmel und Hölle! Lauf Archi, lauf – ich lass mich an deiner Stelle hängen!«

Sherlock Holmes war hervorgesprungen und hatte den Einbrecher am Kragen gepackt. Der andere verschwand im Loch; Jones erwischte gerade noch seinen Rockschoß, von dem ihm ein Fetzen in der Hand blieb. Das Licht schien in diesem Augenblick auf den Lauf eines Revolvers, aber Holmes’ Hirschfänger traf des Mannes Handgelenk, sodass die Waffe klirrend auf den Steinboden fiel.

»Es hilft alles nichts, John Clay«, sagte Holmes schmeichelnd, »Sie kommen nicht durch.«

»Das merke ich«, erwiderte der andere mit völliger Gelassenheit. »Aber wie mir scheint, kommt mein Gefährte glücklich davon, obwohl Sie, wie ich sehe, seinen Rockschoß haben.«

»Drei Männer erwarten ihn an der Tür.«

»Ah, wirklich! Sie scheinen die Sache recht gründlich gemacht zu haben. Ich muss Ihnen gratulieren.«

»Und ich Ihnen«, erwiderte Holmes. »Ihr Einfall war neu und sehr wirksam.«

»Sie werden Ihren Helfershelfer sogleich wiedersehen«, meinte Jones. »Der kriecht schneller durch die Löcher als ich es vermag. Warten Sie, ich lege Ihnen gleich die Fesseln an.«

»Ich bitte, mich nicht mit Ihren schmutzigen Händen zu berühren«, bemerkte unser Gefangener, als die Handschellen an seinen Gelenken rasselten. »Vielleicht wissen Sie nicht, dass fürstliches Blut in meinen Adern fließt. Haben Sie die Güte, mich ›Herr‹ zu nennen und ›bitte‹ zu sagen, wenn Sie mit mir reden.«

»Ganz recht«, versetzte Jones und kicherte verdutzt. »So bitte ich den Herrn, sich gefälligst hinaufzubegeben, wo wir einen Wagen nehmen können, um Eure Hoheit nach der Polizei zu geleiten.«

»Das klingt besser«, meinte John Clay zufrieden. Er verneigte sich höflich vor uns dreien und schritt gelassen unter der Führung des Polizeibeamten davon.

»Mr Holmes«, rief Merryweather, als wir den beiden aus dem Keller folgten, »ich weiß wirklich nicht, wie Ihnen die Bank das danken und vergelten soll. Sie haben ohne Zweifel den frechsten Bankeinbruch, der je geplant wurde, auf wunderbare Weise entdeckt und vereitelt.«

»Ich hatte noch von früher her einiges mit John Clay abzurechnen«, erwiderte Holmes. »Mehrere kleine Ausgaben, die mir durch diese Angelegenheit erwachsen sind, wird die Bank wohl tragen, sonst aber finde ich reichliche Entschädigung in der gemachten Erfahrung, die in vieler Hinsicht einzig dasteht, sowie in meinem Vergnügen an der ergötzlichen Erzählung vom Bund der Rothaarigen.«

»Sehen Sie, Watson«, erklärte er mir, als wir in früher Morgenstunde in seiner Wohnung bei einem Glas Whisky und Sodawasser saßen, »es war vom ersten Moment an vollkommen klar, dass diese etwas tolle Geschichte mit der Anzeige des Bundes und dem Abschreiben der Enzyklopädie keinen anderen Zweck haben konnte, als den nicht sehr hellen Trödler täglich für einige Stunden aus dem Weg zu schaffen. Das Mittel, dies zu erreichen, war sonderbar, aber ein besseres ließe sich schwerlich ersinnen. Ohne Zweifel kam John Clays erfinderischer Geist durch die Haarfarbe seines Mitschuldigen auf den Einfall. Die vier Pfund wöchentlich waren der Köder, und was lag an diesem Betrag, wo es sich um Tausende handelte. Sie rücken die Anzeige ein; der eine Taugenichts führt das zeitweilige Geschäft, der andere Taugenichts veranlasst den Mann, sich um die Stelle zu bewerben, und zusammen sorgen sie dafür, dass er jeden Morgen in der Woche abwesend ist. Sobald ich erfuhr, der Gehilfe arbeite für halben Lohn, war es mir zweifellos, dass für ihn ernste Gründe vorlagen, sich die Stellung zu wahren.«

»Aber wie konnten Sie seine Beweggründe erraten?«

»Wären Frauen im Haus gewesen, hätte ich einfach eine alltägliche Intrige vermutet. Doch stand eine solche außer Frage. Das Geschäft des Mannes war bescheiden, und nichts im Haus vermochte solche abgefeimten Vorbereitungen und Auslagen zu rechtfertigen. Also musste es sich um etwas außerhalb des Hauses handeln. Aber um was? Ich dachte an des Gehilfen Liebhaberei für das Fotografieren, an seine Vorliebe, im Keller zu verschwinden. Der Keller! Da lag die Lösung des Rätsels. – Ich zog Erkundigungen ein über diesen geheimnisvollen Gehilfen, und bald war mir klar, dass ich es mit einem der kecksten und verschmitztesten Verbrecher Londons zu tun hatte. Er machte sich im Keller zu schaffen – und zwar mit etwas, das für Monate täglich viele Stunden erforderte. Was mochte das nur sein? Ich konnte mir nichts anderes denken, als dass er einen Gang zu einem anderen Gebäude grub.

So weit war ich gekommen, als wir die Örtlichkeiten besuchten. Sie staunten, als ich mit dem Stock auf das Pflaster schlug; ich wollte dadurch herausfinden, ob sich der Keller nach vorn oder nach hinten erstreckte. Nach vorn war es nicht. Dann klingelte ich, und wie ich gehofft, erschien der Gehilfe. Obwohl sich unsere Wege schon einige Male gekreuzt, hatten wir einander doch noch nie gesehen. Ich blickte kaum auf sein Gesicht. Nur seine Knie interessierten mich. Sie sprachen deutlich von jenem stundenlangen Graben. Nun fragte es sich nur noch, wonach gegraben wurde. Ich ging um die Ecke, fand, dass die City- und Vorstadtbank an das Grundstück unseres Freundes stieß, und wusste, dass ich des Pudels Kern gefunden hatte. Als Sie nach dem Konzert heimfuhren, begab ich mich nach Scotland Yard und suchte dann die Direktoren der Bank auf – mit welchem Erfolg haben Sie gesehen.«

»Wie konnten Sie voraussetzen, dass sie heute Nacht ihren Anschlag ausführen würden?«, fragte ich.

»Nun, dass sie das Kontor ihres Bundes schlossen, bewies, dass sie Mr Wilsons Gegenwart nicht mehr fürchteten; mit anderen Worten: Ihr Tunnel war vollendet. Sie hatten allen Grund, denselben schnell zu benutzen, da er entdeckt oder der Schatz fortgeschafft werden konnte. Der Sonnabend musste ihnen günstiger sein als jeder andere Tag, weil er ihnen zwei Tage zur Flucht gewährte. Aus all diesen Gründen erwartete ich sie heute Nacht.«

»Das haben Sie prachtvoll ausgetüftelt«, rief ich, voll aufrichtiger Bewunderung. »Die Kette ist lang, und doch schließt jedes Glied.«

»Mich rettet dieser Zeitvertreib vor Langeweile«, erwiderte er gähnend. »Ach! Ich fühle schon, wie sie mich beschleicht. Mein Leben ist eine fortdauernde Anstrengung, mich dem Alltäglichen zu entziehen. Diese kleinen Probleme verhelfen mir dazu.«

»Und Sie werden damit zum Wohltäter der Menschheit«, sagte ich.

Er zuckte die Achseln. »Nun ja, vielleicht ist’s schließlich doch ein klein wenig nützlich«, bemerkte er. »›L’homme, ce n’est rien – l’œuvre c’est tout‹, wie Gustave Flaubert an George Sand schrieb.«

DER GEHEIMNISVOLLE MORD IM TAL VON BOSCOMBE

Wir saßen eines Morgens beim Frühstück, meine Frau und ich, als uns das Dienstmädchen eine Depesche hereinbrachte. Sherlock Holmes telegrafierte folgendes:

»Haben Sie zwei Tage frei? Werde soeben telegrafisch nach Westengland gerufen wegen des Mordes im Tal von Boscombe. Freute mich, wenn Sie mitkämen. Luft und Gegend köstlich. Ab Paddington 11 Uhr 15.«

»Was meinst du, lieber Mann, fährst du mit?«, fragte meine Frau, zu mir herüberblickend.

»Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll; meine Krankenliste ist eben jetzt ziemlich lang.«

»Ach was, Anstruther wird dich vertreten. Du siehst in letzter Zeit etwas angegriffen aus, und ein Ausspannen tut dir gut; überdies interessieren dich ja Sherlock Holmes’ Fälle stets ganz besonders.«

»Wie sollten sie auch nicht, da ich ja einem derselben deine Bekanntschaft verdanke. Soll ich aber wirklich mit, muss ich mich beeilen, es bleibt mir ja nur eine halbe Stunde.«

Das Lagerleben in Afghanistan hatte wenigstens den Vorteil gehabt, aus mir einen jederzeit fix und fertigen Reisenden zu machen. Ich brauchte nicht viel unterwegs, saß deshalb bald mit meiner Reisetasche im Wagen und rollte dem Bahnhof von Paddington zu. Sherlock Holmes schritt bereits dort auf und ab; seine hohe, hagere Gestalt erschien im langen, grauen Reisemantel und in der knappen Tuchmütze noch größer und abgemagerter als sonst.

»Das ist wirklich hübsch von Ihnen, dass Sie kommen, Watson«, sagte er. »Für mich ist’s ein großer Vorteil, einen ganz zuverlässigen Begleiter bei mir zu haben. Hilfe am Ort ist stets entweder wertlos oder parteiisch. Wollen Sie zwei Eckplätze belegen, dann hole ich die Fahrkarten.«

Wir blieben allein im Wagen mit einem ganzen Stoß Zeitungen und Papieren, die Holmes mitgebracht hatte.

Bis zur Station Reading blätterte er hin und her, las, schrieb Notizen auf und dachte dazwischen nach. Dann raffte er plötzlich alles zusammen und warf es oben in das Gepäcknetz.

»Haben Sie schon von dem Fall gehört?«, fragte er.

»Kein Wort; ich las in den letzten Tagen keine Zeitung.«

»Die Londoner Presse brachte wenig ausführliche Berichte. Ich sah soeben die neuesten Zeitungen durch, um die Einzelheiten zu überblicken. Wie mir scheint, ist es einer jener ganz einfachen Fälle, die so außerordentlich schwierig sind.«

»Das lautet etwas widersprüchlich.«

»Und doch liegt tiefe Wahrheit darin. Je weniger absonderlich, je gewöhnlicher ein Verbrechen ist, desto schwieriger lässt es sich entdecken. In diesem Fall liegt eine schwere Anklage gegen den Sohn des Ermordeten vor.«

»Also handelt es sich um einen Mord?«

»Wenigstens nimmt man einen solchen an. Ich aber nehme nichts an, ehe ich nicht die Sache persönlich geprüft habe. Ich will Ihnen in aller Kürze den Tatbestand mitteilen, soweit ich ihn selbst zu erkennen vermag.

Das Tal von Boscombe ist ein Landbezirk, nicht gar weit von Ross in Herefordshire gelegen. Der größte Landbesitzer dort ist ein Mr John Turner, der in Australien reich wurde und vor Jahren in die alte Heimat zurückkehrte. Eines seiner Güter, es heißt Hatherley, war an Mr Charles McCarthy verpachtet – gleichfalls ein ehemaliger Australier. Die beiden Männer hatten sich in den Kolonien kennengelernt, und so war es begreiflich, dass sie sich möglichst nahe beisammen niederließen. Turner war offenbar der reichere von beiden, deshalb wurde McCarthy sein Pächter, was ihn jedoch nicht abgehalten zu haben scheint, auf völlig gleichem Fuß mit jenem zu verkehren. McCarthy hatte einen Sohn von achtzehn Jahren, Turner eine Tochter in gleichem Alter, und beide waren Witwer. Sie scheinen jeden Verkehr mit den englischen Familien der Umgegend gemieden zu haben und lebten sehr zurückgezogen, obwohl Vater und Sohn McCarthy den Sport liebten und sich oft bei den Pferderennen der Nachbarschaft einfanden. McCarthy hielt zwei Dienstboten, einen Diener und eine Köchin, während Turner deren weit mehr, wenigstens ein halbes Dutzend, im Haus hatte. Das ist so ziemlich alles, was ich über die Familien zu erfahren vermochte. Und nun zu den Tatsachen, die mit dem Verbrechen selbst zusammenhängen.

Am 3. Juni – also vorigen Montag – verließ McCarthy sein Haus in Hatherley, ungefähr um 3 Uhr nachmittags, und ging hinab zum Boscombe-Teich, einem kleinen See, der durch die plötzliche Verbreiterung des Flusses unten im Tal entsteht. Am Morgen war er mit seinem Diener in Ross gewesen und hatte sich diesem gegenüber geäußert, er müsse sich beeilen, weil er um 3 Uhr eine wichtige Besprechung verabredet habe; von dieser kehrte er nicht mehr lebendig zurück.

Das Pachthaus Hatherley liegt eine Viertelmeile vom Teich entfernt, und auf dem Weg dahin wurde McCarthy von zwei Personen gesehen: von einer alten Frau, deren Name nicht genannt wird, und von William Crowder, einem Wildhüter im Dienst Mr Turners. Beide Zeugen sagen aus, dass McCarthy allein ging. Der Wildhüter fügt hinzu, er sei, wenige Minuten nachdem McCarthy vorübergegangen, auch dessen Sohn, John McCarthy, mit einer Flinte unterm Arm, auf demselben Weg begegnet, und er glaubt gewiss, der Vater müsse noch in Sicht gewesen sein, als ihm der Sohn folgte. Er habe nicht weiter an die Sache gedacht, bis er abends von dem schrecklichen Ereignis hörte.

Auch noch später wurden die beiden McCarthys gesehen, nachdem sie der Wildhüter aus den Augen verloren hatte. Der Boscombe-Teich ist rings von dichtem Wald umgeben, nur hart am Ufer wächst ein Streifen Gras und Rohr. Patience Moran, die Tochter des Gutsaufsehers von Boscombe, war gerade im Wald, um Blumen zu pflücken. Sie sagt aus, dass sie von dort Mr McCarthy und seinen Sohn dicht am Teich in augenscheinlich heftigem Streit gesehen habe; sie hörte, wie der Vater dem Sohn sehr harte Worte zurief, und sah auch, dass letzterer die Hand erhob, als wolle er den Vater schlagen. Über die Heftigkeit der beiden Männer erschrocken, rannte das junge Mädchen nach Hause, erzählte der Mutter, was sie bei dem Boscombe-Teich gesehen, und äußerte ihre Befürchtung, die beiden könnten zu Tätlichkeiten übergehen. Kaum hatte sie dies gesprochen, stürzte auch schon der junge McCarthy herbei. Er rief, er habe seinen Vater tot im Wald gefunden, und bat den Aufseher um Hilfe. Er war sehr aufgeregt, trug weder Hut noch Gewehr, und an seiner rechten Hand und am rechten Ärmel waren Blutspuren sichtbar. Die Leute folgten dem jungen Mann und fanden die Leiche des Vaters im Gras neben dem Teich ausgestreckt. Der Schädel war durch wiederholte Schläge mit einer stumpfen Waffe eingeschlagen worden. Die Verletzungen konnten sehr wohl vom Flintenkolben des Sohnes herrühren; die Flinte lag nur wenige Schritte von der Leiche entfernt im Gras. Unter diesen Umständen wurde der junge Mann sofort verhaftet, und da nach der Voruntersuchung am Dienstag die Anklage auf ›vorsätzliche Tötung‹ lautete, wurde er am Mittwoch der Staatsanwaltschaft von Ross zugeführt, die den Fall vor die nächste Schwurgerichtssession bringen wird. Das ist der einfache Hergang, wie er sich vor dem Untersuchungsrichter und auf dem Polizeiamt herausgestellt hat.«

»Ich kann mir kaum einen Fall denken«, bemerkte ich, »wo alle Umstände so bestimmt auf den Täter hinweisen wie hier.«

»Mit diesen Indizienbeweisen steht es oft misslich«, meinte Holmes nachdenklich. »Oft weisen sie sehr deutlich auf einen bestimmten Punkt hin, verändert man aber den eigenen Standpunkt nur ein klein wenig, ergibt sich leicht, dass sie in ebenso unzweideutiger Weise ganz woanders hinzielen. Hier freilich treten die Tatsachen sehr ernst gegen den jungen Mann auf, und es ist wohl möglich, dass er der Schuldige ist. Jedoch glauben einige in der Nachbarschaft – unter diesen auch Miss Turner, die Tochter des benachbarten Gutsherrn – an seine Unschuld; sie hat Lestrade, den Sie aus einer anderen Geschichte kennen, gebeten, den jungen Mann zu verteidigen. Lestrade, dem die Sache etwas rätselhaft erschien, übertrug sie mir, und darum fahren wir zwei gesetzte Herren jetzt eben mit dem Schnellzug nach Westen statt behaglich daheim unser Frühstück zu verdauen.«

»Ich fürchte, die Tatsachen sprechen hier so unverkennbar, dass für Sie bei dieser Geschichte wenig Ruhm zu holen ist.«

»Nichts täuscht leichter als eine ›unverkennbare Tatsache‹«, erwiderte Holmes lachend. »Außerdem haben wir vielleicht Glück und stoßen auf eine andere ›unverkennbare Tatsache‹, die Mr Lestrade trotzdem verkannte. Nun – ohne ruhmredig sein zu wollen, was ich nicht bin, wie Sie wissen – möchte ich doch behaupten, dass ich seine Theorie entweder bestätigen oder zunichte machen werde durch Mittel, zu deren Anwendung er nicht fähig ist und die er vielleicht nicht einmal begreift. Nehmen wir einmal das erste beste Beispiel: Ich weiß genau, wenn ich Sie ansehe, dass das Fenster in Ihrem Schlafzimmer auf der rechten Seite liegt, und doch bezweifle ich, ob Mr Lestrade selbst etwas so Unverkennbares bemerken würde.«

»Wie in aller Welt …?«

»Mein lieber Freund, ich kenne Sie genau, kenne Ihre ganz militärische Pünktlichkeit. Sie rasieren sich jeden Morgen, und zu dieser Jahreszeit rasieren Sie sich bei Tageslicht; da aber Ihre Rasur immer mangelhafter wird, je weiter es nach links kommt, ja an der Rundung der Kinnlade geradezu nachlässig ist, muss offenbar die linke Seite nicht so hell beleuchtet sein wie die rechte. Ich könnte mir nicht vorstellen, dass ein Mann wie Sie mit einem solchen Ergebnis zufrieden wäre, wenn er sich in gleichmäßigem Licht rasierte. Ich erwähne dies nur als ein geringfügiges Beispiel von Beobachtung und Folgerung. Darin eben liegt mein Handwerk, und möglicherweise wird es in der uns bevorstehenden Untersuchung von einigem Nutzen sein. Es sind einige nebensächliche Punkte in der Voruntersuchung zur Sprache gekommen, die der Betrachtung wert sind.«

»Und diese wären?«

»Wie es scheint, wurde der junge Mann nicht sofort verhaftet, sondern erst nach seiner Rückkehr im Pachthof von Hatherley. Als ihm seine Verhaftung angezeigt wurde, meinte er, das überrasche ihn nicht, er habe nichts anderes erwartet. Diese Bemerkung aus seinem Munde musste selbstverständlich jeden Zweifel, den die Gerichtsleute noch hegen konnten, beseitigen.«

»Es war ein Geständnis«, rief ich aus.

»Nein, denn es folgten ihm Unschuldsbeteuerungen.«

»Zum Schluss einer solchen Reihe belastender Umstände war es wenigstens eine höchst verdächtige Bemerkung.«