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In "Sherlock Holmes: Gesammelte Romane & Detektivgeschichten" präsentiert Arthur Conan Doyle die unsterblichen Abenteuer des brillanten Detektivs und seines treuen Gefährten Dr. Watson. Die Geschichten sind nicht nur von scharfer Intelligenz und spannender Handlung geprägt, sondern auch von einem einzigartigen literarischen Stil, der zwischen analytischer Präzision und atmosphärischer Beschreibung wechselt. Als Teil des viktorianischen literarischen Erbes spiegelt der Text die sozialen und kulturellen Gegebenheiten der Zeit wider und bietet damit einen spannenden Einblick in die britische Gesellschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die zweisprachige Edition bereichert das Leseerlebnis, indem sie sowohl deutsche als auch englische Textversionen bietet, was das Verständnis und die Wertschätzung der sprachlichen Nuancen fördert. Arthur Conan Doyle, ein Schotte und ausgebildeter Arzt, ließ sich bei der Schaffung von Sherlock Holmes von realen Entwicklungen in der Kriminalistik und seiner eigenen Leidenschaft für Detektivgeschichten inspirieren. Seine Erfahrungen im medizinischen Bereich fließen stimmungsvoll in die psychologischen Analysen der Charaktere und die akribische Untersuchung von Tatorten ein. Doyles Werk ist von einem tiefen Verständnis für das menschliche Verhalten geprägt, was Holmes zu einer der faszinierendsten Figuren der Literaturgeschichte macht. Dieses Buch ist eine unverzichtbare Lektüre für Liebhaber von Kriminalgeschichten, Sprachenthusiasten und alle, die sich für die Meisterwerke der klassischen Literatur interessieren. Die Kombination aus packender Handlung und sprachlicher Vielfalt ermöglicht es dem Leser, die komplexe Welt von Sherlock Holmes auf neue Weise zu erkunden und gleichzeitig die Schönheit der deutschen und englischen Sprache zu genießen. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Eine umfassende Einführung skizziert die verbindenden Merkmale, Themen oder stilistischen Entwicklungen dieser ausgewählten Werke. - Die Autorenbiografie hebt persönliche Meilensteine und literarische Einflüsse hervor, die das gesamte Schaffen prägen. - Ein Abschnitt zum historischen Kontext verortet die Werke in ihrer Epoche – soziale Strömungen, kulturelle Trends und Schlüsselerlebnisse, die ihrer Entstehung zugrunde liegen. - Eine knappe Synopsis (Auswahl) gibt einen zugänglichen Überblick über die enthaltenen Texte und hilft dabei, Handlungsverläufe und Hauptideen zu erfassen, ohne wichtige Wendepunkte zu verraten. - Eine vereinheitlichende Analyse untersucht wiederkehrende Motive und charakteristische Stilmittel in der Sammlung, verbindet die Erzählungen miteinander und beleuchtet zugleich die individuellen Stärken der einzelnen Werke. - Reflexionsfragen regen zu einer tieferen Auseinandersetzung mit der übergreifenden Botschaft des Autors an und laden dazu ein, Bezüge zwischen den verschiedenen Texten herzustellen sowie sie in einen modernen Kontext zu setzen. - Abschließend fassen unsere handverlesenen unvergesslichen Zitate zentrale Aussagen und Wendepunkte zusammen und verdeutlichen so die Kernthemen der gesamten Sammlung.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Diese zweisprachige Ausgabe versammelt zentrale Werke von Arthur Conan Doyle rund um Sherlock Holmes und bietet sie parallel in deutscher und englischer Sprache. Enthalten sind die Romane Späte Rache, Das Zeichen der Vier und Das Tal des Grauens sowie vierzig Detektivgeschichten. Ziel der Sammlung ist es, das erzählerische Spektrum und die stilistische Entwicklung des Holmes-Kosmos in kompakter Form zugänglich zu machen. Sie richtet sich an Leserinnen und Leser, die die klassischen Fälle neu oder vertieft entdecken möchten, und an Sprachinteressierte, die das Original und die deutsche Fassung vergleichend lesen und so Sprachgefühl, Erzählhaltung und Tonlage präziser erfassen wollen.
Die Sammlung versteht sich nicht als Gesamtwerk Arthur Conan Doyles, sondern als gezielte Zusammenstellung von Romanen und Kurzgeschichten um die Figur Sherlock Holmes. Der Fokus liegt auf erprobten, prägenden Texten, die die Arbeitsweise des Detektivs, seine Partnerschaft mit Dr. Watson und die literarische Form des Kriminalfalls exemplarisch sichtbar machen. Indem die Ausgabe substanzielle Romane mit einer großen Anzahl kürzerer Fälle verbindet, entsteht ein ausgewogener Überblick über das Lang- und Kurzformat. So zeigt sich, wie der Holmes-Zyklus Spannung, Milieuzeichnung und Rätselstruktur über verschiedene Erzählumfänge hinweg entfaltet und variiert.
Als zweisprachige Edition verfolgt diese Sammlung eine doppelte Zielsetzung: Sie möchte den Genuss der Originalprosa bewahren und zugleich die Zugänglichkeit durch eine deutsche Fassung erhöhen. Das Nebeneinander beider Sprachen erlaubt es, Wortwahl, Rhythmus und semantische Nuancen nachzuverfolgen, insbesondere bei fachsprachlichen Wendungen, Beobachtungsdetails und den für Holmes typischen Schlussfolgerungen. Lesende können Unterschiede der Erzählregister erkennen, Feinheiten der Figurenrede prüfen und stilistische Entscheidungen bewusst nachvollziehen. Zugleich dient die Anlage als Lern- und Referenzinstrument für alle, die sich für literarische Übersetzung, historische Ausdrucksweisen und die spezifische Terminologie des klassischen Detektivromans interessieren.
Die enthaltenen Texte lassen sich zwei Hauptformen zuordnen: Roman und Kurzgeschichte. Die Romane entfalten komplexe Fälle mit erweitertem sozialen und geografischen Horizont, geben Nebenfiguren Raum und weiten das psychologische Profil der Hauptfiguren. Die Kurzgeschichten sind konzentrierter, oft auf ein prägnantes Rätsel fokussiert und in der Dramaturgie straffer. Beide Formen nutzen die Erzählökonomie des Kriminalgenres, unterscheiden sich jedoch in Tempo, Auslassungen und Grad der Hintergrundausleuchtung. Essays, Gedichte, Dramen, Briefe oder Tagebücher sind nicht Bestandteil dieser Ausgabe; der Schwerpunkt liegt konsequent auf erzählender Prosa, die den Kern des Holmes-Kanons bildet.
Die Romane dieser Ausgabe markieren den weiten Bogen der Holmes’schen Erzählkunst. Späte Rache führt die Konstellation von Holmes und Watson ein und etabliert den Ton zwischen nüchterner Beobachtung und urbaner Atmosphäre. Das Zeichen der Vier verdichtet das Zusammenspiel aus deduktiver Methode, persönlicher Dynamik und Spuren, die über London hinausweisen. Das Tal des Grauens erweitert die Perspektive, indem es einen Fall mit geschichtlichen Tiefenschichten verknüpft und damit die Reichweite der Detektivprosa zeigt. Ohne Lösungen vorwegzunehmen, veranschaulichen die Romane, wie längere Formen Ermittlungen mit Milieu- und Zeitbeobachtung kunstvoll verbinden.
Die vierzig Detektivgeschichten präsentieren die Serie in ihrer prägnantesten Gestalt. Sie zeigen Holmes als Berater in Fällen unterschiedlichster gesellschaftlicher Herkunft und Komplexität, von scheinbar banalen Irritationen bis zu raffiniert konstruierten Täuschungen. Das Kurzformat schärft den Blick für Anfangssituationen, Indizien und Wendepunkte; es lässt die methodische Klarheit des Detektivs und Watsons ordnende Erzählstimme besonders deutlich hervortreten. Zugleich bieten die Geschichten Variationen bekannter Motive wie Verkleidung, Beobachtung kleinster Abweichungen oder den produktiven Einsatz von Presse und Kommunikation. So entsteht ein Kaleidoskop städtischer Moderne, verdichtet zur literarischen Versuchsanordnung.
Verbindend wirken Themen, die das Genre bis heute prägen: die Spannung zwischen rationaler Analyse und scheinbarem Unheimlichen, die Lesbarkeit der Welt über Spuren und Muster sowie das Wechselspiel von Zufall und Notwendigkeit. Die Texte erkunden eine Gesellschaft im Umbruch, in der Technik, Verkehr und Medien neue Tatgelegenheiten, aber auch neue Ermittlungswege eröffnen. Ethos und Methode des Detektivs stehen für Vertrauen in prüfbare Evidenz und saubere Argumentation. Zugleich bleibt Raum für menschliche Irrtümer, moralische Ambivalenzen und die Grenzen reiner Logik. Diese Balance hält die Geschichten lebendig und anschlussfähig für unterschiedliche Lesererwartungen.
Stilistisch werden die Fälle überwiegend aus der Perspektive Dr. Watsons vermittelt. Sein Blick strukturiert die Ereignisse, rahmt sie erinnernd und schafft jene kontrollierte Distanz, die Spannung erzeugt, ohne die Fairness des Rätsels preiszugeben. Das vertraute Dreischrittmuster aus Anfrage, Untersuchung und Auflösung gibt Orientierung, während gelegentliche Perspektivwechsel und Rückblenden die historische oder soziale Tiefe der Fälle ausfalten. Diese erzählerische Ökonomie erlaubt Tempo, verweigert aber Willkür: Hinweise sind gesetzt, Tonlagen kalibriert, Details funktional. So entsteht ein erzählerischer Vertrag, der Lesende beteiligt und die Plausibilität der Lösungen absichert, ohne die Überraschung zu mindern.
Charakteristisch ist die Verbindung aus präziser Beobachtung, dialogischer Zuspitzung und atmosphärischer Verdichtung. Doyle arbeitet mit klaren, wirkungsorientierten Sätzen, die Handlungen voranbringen und Figurenkonturen durch kleine, einprägsame Züge zeichnen. Die Beschreibungen urbaner Räume, Arbeitsmittel und Körperhaltung sind nicht ornamentales Beiwerk, sondern Bestandteil eines Argumentierens mit Dingen. Humor und lakonische Einwürfe lockern das analytische Gefüge, ohne den Ernst der Lage zu verwässern. Das Ergebnis ist eine prosaartige Transparenz, die die Lesenden an der geistigen Arbeit beteiligt und zugleich das Vergnügen am Rätsel – und seiner sorgfältig vorbereiteten Auflösung – kultiviert.
Als Gesamtheit zeigt diese Sammlung, warum Sherlock Holmes weit über die Literaturgeschichte hinauswirkt. Sie veranschaulicht die Herausbildung erzählerischer Standards des Detektivgenres, von der beratenden Figur über die Indizienlogik bis zur ikonischen Arbeitsumgebung. Zugleich öffnet sie ein historisches Fenster auf die Kultur einer Metropole, in der Mobilität, Kommunikation und soziale Verdichtung neue Formen von Risiko und Kontrolle hervorbringen. Holmes steht dabei für das Ideal einer prüfbaren Vernunft, die dennoch die menschliche Dimension nicht ausblendet. Diese Verknüpfung von intellektueller Eleganz und erzählerischer Eingängigkeit erklärt die anhaltende Gegenwart dieser Texte.
Die zweisprachige Anlage vertieft das Verständnis dieser Qualitäten. Wer im Original liest, erkennt Klang, Idiomatik und Nuancen der Erzählhaltung; wer die deutsche Fassung heranzieht, erhält eine verlässliche Orientierung im Stoff und eine terminologische Leitspur durch die Fälle. Im Vergleich werden Unterschiede der Register, feine Bedeutungsverschiebungen und stilistische Entscheidungen sichtbar. Das fördert nicht nur Sprachkompetenz, sondern schärft den Blick für erzählerische Technik: Welche Details tragen Bedeutung, wie wird Spannung dosiert, wo verdichtet die Prosa Tempo oder verweilt bewusst. So wird das Lesen selbst zu einer kleinen Schule der Aufmerksamkeit.
Diese Ausgabe lädt dazu ein, den Holmes-Kosmos fokussiert und zugleich vielseitig zu erkunden. Man kann mit dem ersten Roman beginnen, um die Konstellation zu etablieren, oder in die Kurzgeschichten eintauchen, um die Methode in variierenden Situationen zu erleben. In beiden Zugängen zeigt sich das gleiche Versprechen: sorgfältig komponierte Rätsel, sprachliche Klarheit und eine Welt, die über ihre Spuren erzählbar wird. Als Sammlung bietet das Buch Breite ohne Zerstreuung, Tiefgang ohne Überfrachtung. Es ist auf Lesefreude und Erkenntnisgewinn gleichermaßen ausgerichtet und möchte den Blick für die Kunst des Beweisens in erzählerischer Form schärfen.
Arthur Conan Doyle (1859–1930) war Arzt und Schriftsteller schottischer Herkunft, dessen Erfindung des Detektivs Sherlock Holmes die moderne Kriminalliteratur prägte. Mit Werken wie Studie in Scharlachrot, Der Hund von Baskerville und den späteren Kurzgeschichtenzyklen prägte er eine Prosa, die Logik, Beobachtung und klare Sprache vereinte. Neben den Holmes-Erzählungen veröffentlichte er historische Romane, Reportagen über Kriege, Essays und Science-Fiction, darunter die Professor‑Challenger‑Geschichten wie Die verlorene Welt. Seine Figuren wurden zu globalen Ikonen, vielfach adaptiert für Bühne, Film und Radio. Doyle verband literarischen Erfolg mit öffentlichem Engagement und prägte Vorstellungen von Beweis, Vernunft und Abenteuer weit über seine Epoche hinaus.
Doyle wuchs in Edinburgh auf und besuchte jesuitische Schulen, bevor er in den späten 1870er- und frühen 1880er‑Jahren Medizin an der Universität Edinburgh studierte. Während der Ausbildung heuerte er als Schiffsarzt an und reiste in arktische Regionen und nach Westafrika, Erfahrungen, die seinen Blick für Umwelt, Disziplin und Gefahr schärften. Besonders prägend war der Chirurg Joseph Bell, dessen messerscharfe Beobachtung, inferentielles Denken und demonstrative Diagnostik zum Vorbild für Sherlock Holmes wurden. Bereits als Student publizierte Doyle Kurztexte in Zeitschriften und trainierte dort Stilbewusstsein und Ökonomie. Diese doppelte Sozialisation – Klinik und Redaktion – legte das Fundament für seinen nüchternen, wirkungsorientierten Erzählton.
Zu Doyles literarischen Einflüssen zählen Edgar Allan Poes Dupin‑Geschichten und Émile Gaboriaus Fallanalysen um Lecoq, die ihm zeigten, wie Spannung mit „fairen“ Hinweisen aufgebaut wird. Für seine historischen Romane orientierte er sich an der weit ausholenden, anschaulichen Erzähltradition eines Sir Walter Scott. Von naturwissenschaftlicher Ausbildung geprägt, bevorzugte Doyle empirische Haltung, klare Kausalität und anschauliche Details. Reiseberichte und Abenteuerliteratur stärkten seine Vorliebe für Expeditionsmotive, Grenzerfahrungen und technische Überraschungen. Philosophisch dominierte ein praktischer Rationalismus, der sich weniger in theoretischen Abhandlungen als in Handlung, Dialog und strukturierter Beweisführung ausdrückt. So verband sich in seinem Werk Sinn für Dramaturgie mit prüfbarer Beobachtung.
Nach frühen Versuchen gelang Doyle 1887 mit Studie in Scharlachrot der erste Auftritt von Holmes und Watson; zunächst war die Resonanz begrenzt. Der Durchbruch kam, als er ab 1891 regelmäßig im Strand Magazine publizierte. Die Abenteuer des Sherlock Holmes etablierten ein Format aus pointierten Rätseln, urbanen Schauplätzen und deduktiver Auflösung, das Leser an die Serie band. Doyles Prosastil blieb ökonomisch, anschaulich und dialoggetragen; Kriminalfälle wurden durch nachvollziehbare Indizienketten gelöst. Gleichzeitig experimentierte er mit Perspektivenwechseln und überraschenden Wendungen. Der kommerzielle Erfolg hob die Auflagen des Magazins deutlich und machte den Autor über Großbritannien hinaus rasch bekannt.
Doyle strebte an, nicht auf Holmes reduziert zu werden, und veröffentlichte mit Nachdruck historische Romane wie Micah Clarke und The White Company, die er persönlich hoch einschätzte. Kritik und Publikum nahmen diese Arbeiten respektvoll auf, doch die Popularität der Detektivgeschichten überstrahlte vieles. Mit der Figur des Professors Challenger eröffnete er ab den 1910er‑Jahren eine wissenschaftlich‑fantastische Linie; Die verlorene Welt verband Expedition, prähistorisches Setting und satirische Spitzen. Bühnenbearbeitungen machten die Holmes‑Figur zugleich zum Theaterereignis und verankerten ikonische Gesten im kulturellen Gedächtnis. Doyles Vielseitigkeit zeigte sich in Genresprüngen, ohne die Grundzüge seiner klaren, handlungsbezogenen Prosa aufzugeben.
1893 versuchte Doyle, die Serie mit der Erzählung Das letzte Problem zu beenden, was einen Sturm der Entrüstung auslöste. Der literarische Tod des Detektivs führte zu Leserprotesten und zu wirtschaftlichen Einbußen für das Magazin. Doyle reagierte einige Jahre später mit einer Erzählstrategie, die Holmes zunächst in einem rückdatierten Roman – Der Hund von Baskerville – und anschließend in neuen Geschichten zurückführte. Die Rückkehr festigte den Kultstatus der Figur. Zugleich verfeinerte Doyle Verfahren der „fairen“ Detektion, indem er Hinweise früh platzierte und psychologische Motive exakt gewichtete. Seine Erzählungen verbanden Rätselspannung mit alltäglicher Londoner Topografie.
Neben der Fiktion profilierte sich Doyle als Sachbuchautor. In Schriften zum Burenkrieg erläuterte er britische Perspektiven, diskutierte Taktik, Epidemien und Logistik und suchte internationale Kritik zu entkräften. Für diese publizistische und medizinisch geprägte Tätigkeit wurde er 1902 geadelt. Später fasste er Erfahrungen und Quellenstudien zum Ersten Weltkrieg in mehrbändigen Darstellungen zusammen. In den 1910er- und 1920er‑Jahren erschienen weitere Holmes‑Sammlungen, die schließlich im Band The Case‑Book of Sherlock Holmes mündeten. Die Spannung zwischen populärer Serie und ambitionierten Nebenprojekten blieb produktiv: Sie hielt Doyle in der Öffentlichkeit präsent und erlaubte ihm, Themen von Recht, Krieg und Wissenschaft literarisch zu verhandeln.
Doyle verstand Autorschaft als bürgerliche Verantwortung. Er kandidierte in den frühen 1900er‑Jahren erfolglos für das britische Parlament und vertrat eine gemäßigt konservative, imperial orientierte Linie. Wiederkehrendes Motiv war Reformbereitschaft dort, wo Praxis und Recht versagten. Berühmt wurden seine Beiträge zur Aufklärung zweier Justizaffären: Er setzte sich mit Hartnäckigkeit für George Edalji und später für Oscar Slater ein, analysierte Akten, prüfte Indizien und mobilisierte Öffentlichkeit. Diese Interventionen, getragen von methodischer Skepsis und moralischem Druck, trugen zur Korrektur von Fehlurteilen bei und zeigten, wie literarische Reputation konkrete Verbesserungen in Polizei‑ und Gerichtsverfahren anstoßen kann.
Während des Burenkriegs und des Ersten Weltkriegs stellte Doyle seine Schreib- und Analysefähigkeit in den Dienst der nationalen Sache. Er bereiste Kriegsschauplätze als Beobachter, sichtete medizinische und militärische Berichte und vermittelte Laien komplexe Zusammenhänge. Seine Texte suchten Loyalität und Kritik zu balancieren: taktische Rechtfertigung ja, zugleich Sorge um Zivilisten und um die ethische Dimension moderner Kriegsführung. Auch in Berufs- und Sportkreisen – etwa im Cricket – pflegte er eine Vorstellung von Fairness, Regelbindung und Leistung. Diese Haltung prägte seine öffentliche Stimme: rational, zielgerichtet, dabei empathisch gegenüber den Belastungen einer sich rasant verändernden Industrie‑ und Imperiumszeit.
Nach den Erschütterungen des Kriegszeitalters wandte sich Doyle intensiv dem Spiritualismus zu. Er vertrat die Überzeugung, dass Persönlichkeit den physischen Tod überdauern könne, und hielt umfangreiche Vortragsreisen in Großbritannien und Übersee. Er verteidigte Medien, veröffentlichte Abhandlungen wie The New Revelation und The Vital Message und entwarf eine Geschichte des Spiritualismus. Diese Aktivitäten stießen auf Skepsis von Wissenschaftlern und Bühnenkünstlern, die Betrug witterten. Doyle beharrte auf aufrichtigem Prüfverfahren und sah im Thema Trost und metaphysischen Ernst. Die Debatten um umstrittene Phänomene – bis hin zu den berühmten Feenfotografien – machten ihn zu einer polarisierenden, aber konsequenten öffentlichen Stimme.
In den späten 1920er‑Jahren bündelte Doyle seine Interessen: Er publizierte eine Autobiografie, schrieb weitere Abhandlungen zum Glaubensthema und führte die Challenger‑Linie mit The Land of Mist fort. Zugleich bereitete er die letzten Holmes‑Erzählungen vor, die 1927 gesammelt erschienen. Er unternahm Vortragsreisen, hielt Kontakt zu Lesern und unterstützte Initiativen, die er als gerechtfertigt ansah. Gesundheitliche Beschwerden nahmen zu, doch seine Produktivität blieb beachtlich. Stilistisch vertraute er weiterhin auf Klarheit und Struktur; thematisch wechselte er zwischen Unterhaltung, Dokumentation und Apologie. So präsentierte er sich bis zuletzt als Autor, der Publikumsnähe mit Prinzipientreue zu verbinden suchte.
Arthur Conan Doyle starb 1930 in England. Zeitungen weltweit würdigten ihn mit ausführlichen Nachrufen; Leser, Kollegen und Bühnenhäuser ehrten den Schöpfer eines der dauerhaftesten Mythoi der Populärkultur. Langfristig prägte er Gattung und Praxis der Detektion: die Idee „fairer“ Hinweise, die Figur des genialen, aber menschlich geerdeten Ermittlers, das Zusammenspiel von Logik, Forensik und Erzählrhythmus. Seine historischen und phantastischen Werke erweiterten das Spektrum britischer Unterhaltungsliteratur; sein bürgerliches Engagement zeigte, wie literarisches Prestige politische und juristische Prozesse beeinflussen kann. Holmes bleibt ein globales Bezugssystem, unerschöpflich adaptiert, während Doyles Name Maßstab für erzählerische Präzision und populäre Reichweite ist.
Die Entstehung und Entwicklung des Holmes-Kanons fällt in die Spätphase des Viktorianischen Zeitalters (1837–1901) und die frühe Edwardianische Ära (1901–1910), als London zur größten Metropole der Welt anwuchs. Um 1901 lebten über 6,5 Millionen Menschen in der Hauptstadt; Nebel, Gaslicht und dichte Bebauung prägten die Stadtlandschaft. Industrialisierung, Migration und eine dynamische Mittelschicht schufen neue soziale Räume, in denen Kriminalität als modernes Großstadtphänomen verhandelt wurde. Die Literatur reagierte mit Formen, die Ordnung und Erkenntnis versprachen. Vor diesem Hintergrund erhielt die Figur des rationalen Ermittlers eine exemplarische Bedeutung, die über einzelne Fälle hinaus den Zeitgeist einer technik- und wissensorientierten Gesellschaft spiegelte.
Arthur Conan Doyle wurde 1859 in Edinburgh geboren und studierte Medizin an der University of Edinburgh, wo ihn der Chirurg Joseph Bell (1837–1911) durch seine diagnostische Kunst prägte. Bells Methode, aus kleinsten Beobachtungen wahrscheinliche Schlüsse zu ziehen, lieferte ein nachprüfbares Modell für literarische Deduktion. Doyle praktizierte ab 1882 in Southsea bei Portsmouth und schrieb zunächst neben dem Arztberuf. Die schulmedizinische Ausbildung, die klinische Fallbesprechung und das Labor als Ort der Erkenntnis prägten dauerhaft die Darstellung von Spurensicherung, chemischer Analyse und Beweisführung. Mehrere Erzählungen und Romane greifen auf dieses medizinisch-empirische Ethos zurück und verknüpfen ärztliche Anamnese mit kriminalistischer Logik.
Die Professionalisierung der Polizeiarbeit bildete eine zentrale historische Folie. Die Metropolitan Police wurde 1829 gegründet, der Detective Branch 1842, die Criminal Investigation Department (CID) 1878. Öffentliche Debatten über Ermittlungskompetenzen erschütterten das Vertrauen, insbesondere nach den Whitechapel-Morden von 1888. Zugleich modernisierte sich die Forensik: Die Anthropometrie nach Alphonse Bertillon gewann in den 1890er Jahren Einfluss; unter Sir Edward Henry richtete Scotland Yard 1901 ein Fingerabdruckbüro ein. Chemische Toxikologie, Fotografie und Gipsabdrücke etablierten sich als Werkzeuge. Diese Entwicklungen spiegeln den Übergang von Intuition zu systematischer Evidenz, der in zahlreichen Fällen des Kanons als Maßstab professioneller Ermittlungsarbeit erscheint.
Die Entfaltung der Holmes-Geschichten ist untrennbar mit der Massenpresse verbunden. Nach einem frühen Abdruck 1887 in Beeton’s Christmas Annual fand die Reihe ab 1891 im Strand Magazine unter Herausgeber H. Greenhough Smith ein breites Publikum. Die Illustrationen von Sidney Paget, ab 1891, prägten die Ikonographie des Detektivs nachhaltig. Hohe Auflagen wurden durch steigende Alphabetisierung begünstigt, die der Education Act von 1870 beschleunigte. Internationale Verlagskontakte – etwa das Londoner Gastmahl des US-Magazins Lippincott’s 1889 – förderten transatlantische Sichtbarkeit. Die seriellen Erscheinungsformen strukturierten Spannung und Figurenentwicklung und verliehen wiederkehrenden Motiven und Schauplätzen eine zeitübergreifende Kohärenz.
Die Handlungsmöglichkeiten der Figuren wurzeln in einer Infrastrukturrevolution. Das Eisenbahnnetz verband seit den 1840er Jahren Stadt und Land; die London Underground existierte seit 1863, tiefgelegene elektrifizierte Linien folgten ab 1890. Der elektrische Telegraph und später das Telefon ermöglichten rasche Nachrichtenübermittlung; die britische Standardzeit wurde 1880 gesetzlich festgelegt und koordinierte Abläufe. Hansom Cabs, Omnibusse und Dampfschiffe erweiterten die Mobilität und gaben Alibis und Fluchten eine neue Plausibilität. Diese technischen Rahmenbedingungen betreffen zahlreiche Fälle, in denen präzise Zeitmessung, Fahrpläne und Kommunikationswege zentrale Indizien liefern und die Metropole als Knotenpunkt von Personen-, Waren- und Informationsströmen sichtbar wird.
Das Britische Empire bildete den geopolitischen Horizont des späten 19. Jahrhunderts. Die Eröffnung des Sueskanals 1869 verkürzte Routen nach Indien und Ostafrika; Militär- und Handelskontakte intensivierten sich. Heimkehrende Offiziere und Ärzte, Kolonialwaren, exotische Pflanzen und Substanzen, aber auch traumatische Kriegserfahrungen gelangten nach Großbritannien. Der Zweite Anglo-Afghanische Krieg (1878–1880), Feldzüge im Sudan und die Aushandlung imperialer Loyalitäten standen im öffentlichen Diskurs. Mehrere Erzählungen verknüpfen Verbrechen mit kolonialen Biografien, transozeanischen Netzwerken oder rechtlichen Grauzonen im imperialen Raum. So wird die Hauptstadt zur Bühne globaler Verflechtungen, deren Konsequenzen sich in Londoner Wohnungen, Banken und Docks niederschlagen.
Die Geschichten nehmen eine stark stratifizierte Gesellschaft in den Blick. Aristokratie, Landadel und neureiche Industrielle existieren neben einer großen Dienstbotenklasse und einer prekären städtischen Unterschicht. Die Married Women’s Property Acts von 1870 und 1882 veränderten eheliche Vermögensverhältnisse; das Matrimonial Causes Act von 1857 brachte zivilrechtliche Scheidungen. Solche Rechtslagen sind für Motive wie Erpressung, Erbschaft, Vormundschaft und Reputation bedeutsam. Gentlemen-Clubkultur, Kanzleien, Banken und Verlagshäuser fungieren als soziale Knotenpunkte. Verbrechen überschreiten Klassenlinien, doch die Ermittlungsarbeit offenbart, wie Etikette, Besitz und sozialer Status Handlungsspielräume bestimmen, und wie Privatsphäre zu einem umkämpften Rechtsgut wird.
Die Stellung der Frau wandelte sich im fin de siècle spürbar. Höhere Bildungseinrichtungen öffneten sich schrittweise, Schreibmaschinen und Büroarbeit ermöglichten Erwerbstätigkeit als Stenotypistin oder Gouvernante. Der Begriff der New Woman bezeichnete in den 1890er Jahren Selbstständigkeit und Mobilität, wofür das Fahrrad zum Symbol wurde. Gleichzeitig blieb das Wahlrecht in Großbritannien erst mit dem Representation of the People Act 1918 teilweise und 1928 vollständig erreichbar; radikale Aktivistinnen gründeten 1903 die Women’s Social and Political Union. In den Texten spiegeln sich diese Spannungen in Figuren, deren Vulnerabilität und Handlungsfähigkeit die ambivalente Modernität weiblicher Lebenswege beleuchten.
Die wissenschaftliche Kultur der Epoche beruht auf Labor, Messung und Skepsis. Bakteriologie (Louis Pasteur, Robert Koch), moderne Pathologie und forensische Chemie erweiterten Beweisführung. Fotografie und Mikroskopie etablierten neue Evidenzen, während Karl Landsteiners Entdeckung der Blutgruppen 1901 die serologische Identifikation revolutionierte. Medizinische Handbücher, Gerichtsmedizin und naturwissenschaftliche Zeitschriften zirkulierten in Fach- und Laienöffentlichkeit. Dieses Umfeld formte eine kulturelle Erwartung, dass akribische Beobachtung zu objektiven Urteilen führe. Der Detektiv verkörpert diesen Rationalismus, indem er Hypothesen prüft, Experimente anstellt und Alltagsgegenstände als Träger latenter Information begreift, lange bevor kriminaltechnische Routinen vollständig institutionell verankert waren.
Der urbane Alltag unterlag tiefgreifenden technischen Umbrüchen. Die Umstellung von Gas- auf elektrisches Licht begann in den 1880er Jahren; Straßenbeleuchtung, Schaufenster und Theater veränderten nächtliche Wahrnehmung. Adresssysteme, Hausnummern und ein effizienter Postdienst ermöglichten gezielte Zustellungen, während Zeitungen und Plakate öffentliche Räume strukturierten. Suburbanisierung entlang der Bahnlinien schuf neue Kriminalschauplätze zwischen Stadt und Land. Waffen- und Sicherheitstechnik – Revolver, Schlösser, Tresore – forderten immer raffiniertere Einbruchsmethoden heraus. In vielen Fällen ist die Stadt nicht bloß Kulisse, sondern ein technisches System, dessen Taktung, Geräusche und Verkehrslogiken Spuren produzieren, die eine methodische Lektüre erfordern.
Das englische Rechtssystem bildete eine Bühne der Dramatisierung. Schwurgerichte, die Verhandlungen am Old Bailey, ein an Präzedenzfällen orientiertes Common Law und scharfe Pressereportagen beeinflussten die Wahrnehmung von Schuld und Beweis. Die Todesstrafe durch den Strang blieb im 19. Jahrhundert in Kraft, Gefängnisreformen professionalisierten Haftbedingungen. Private Ermittler füllten Lücken zwischen Polizei und Mandanteninteressen, während international tätige Agenturen wie Pinkerton (gegründet 1850 in Chicago) das Bild des Detektivberufs prägten. Zugleich begrenzten Verleumdungs- und Geheimhaltungsgesetze den Informationsaustausch. Diese juristische Umwelt durchzieht die Geschichten als ständige Aushandlung zwischen individueller Gerechtigkeit und institutioneller Ordnung.
Die atlantische Welt war durch Handel, Migration und Kabeltelegraphie eng vernetzt. Seit 1866 verband ein dauerhaftes Transatlantikkabel Europa und Nordamerika; Nachrichten reisten binnen Minuten. Der Zustrom amerikanischer Unternehmer, Künstler und Touristen nach London sowie britischer Emigranten in die Vereinigten Staaten schuf gemeinsame Milieus. Industrielle Konflikte, Grenzmythen und Privatdetekteien jenseits des Atlantiks beeinflussten die Vorstellung von Verbrechensorganisation. Britische Häfen wie Liverpool und London fungierten als Umschlagplätze für Personen und Güter, aber auch für Ideen und Ermittlungspraktiken. Dadurch erscheinen transkontinentale Hintergründe plausibel, ohne die die Motivlagen und Netzwerke vieler Fälle nicht zu verstehen wären.
Die 1880er und 1890er Jahre waren von politischer Gewalt begleitet. Die fenianische Dynamitkampagne (1881–1885) erschütterte London; anarchistische Attentate in Europa schürten Angst vor Verschwörungen. Vor dem Ersten Weltkrieg wuchs eine Spionagefurcht, die 1911 im Official Secrets Act gesetzlich gerahmt wurde. Zeitungen spekulierten über Sabotage, Geheimdiplomatie und den Schutz kritischer Infrastruktur. Diese Atmosphäre prägte die Vorstellung, dass kriminalistische Aufklärung zugleich Staatsraison dienen könne. In späteren Texten verstärkt sich der Ton des Dienstes an der Nation, während frühere Erzählungen bereits die Schnittstellen von privater Erpressung, politischer Intrige und internationaler Verschwörung ausloten.
Das fin de siècle war auch das Zeitalter der Séance. Die Society for Psychical Research wurde 1882 in London gegründet, und Debatten über Telepathie, Geisterfotografie und Medien füllten Kolumnen. Arthur Conan Doyle wandte sich nach 1916 entschieden dem Spiritualismus zu, insbesondere nach persönlichen Kriegsverlusten; seine Traktate und Vorträge machten ihn zu einer prominenten Stimme. Diese kulturelle Lage schärft den Kontrast zwischen der rationalen Methode des Detektivs und einer Gesellschaft, die nach metaphysischen Sicherheiten sucht. Die Spannung zwischen Glauben und empirischer Prüfung durchzieht die Rezeption, ohne die leitende Rolle von Beobachtung, Experiment und Beweis in den Erzählungen zu mindern.
Die medizinische und rechtliche Lage psychoaktiver Substanzen unterschied sich stark von heutigen Regimen. Kokain und Morphin waren im späten 19. Jahrhundert legal erhältlich; der Pharmacy Act von 1868 regulierte den Verkauf, kriminalisierte ihn jedoch nicht grundsätzlich. Opiumhöhlen in Hafenvierteln wie Limehouse standen im Fokus moralischer Debatten, während Ärzte über therapeutische und süchtigmachende Effekte stritten. In diesem Rahmen erscheinen Konsum, Abhängigkeit und medizinische Verschreibung als Teil gebildeter Lebenswelten ebenso wie als Randphänomene. Die Darstellung von Drogengebrauch, Entzug und ärztlicher Aufsicht verknüpft Fragen individueller Disziplin mit zeitgenössischen Diskursen über Willenskraft, Degeneration und urbane Modernität.
Imperiale Kriege prägten Öffentlichkeit und Autor. Der Zweite Burenkrieg (1899–1902) mobilisierte Presse und Propaganda; Doyle verteidigte britische Kriegsführung in seiner Schrift The War in South Africa: Its Cause and Conduct (1902) und wurde im selben Jahr geadelt. Der Erste Weltkrieg (1914–1918) verschob Wertehorizonte, indem Loyalität, Geheimhaltung und Technikfetisch neue Dringlichkeit erhielten. Späte Texte situieren Ermittlungsarbeit im Kontext nationaler Sicherheit und militärischer Vorbereitung. Damit wandelt sich der Detektiv stellenweise vom privaten Problemlöser zum Akteur im Dienst des Staates, während analytische Strenge und moralischer Pragmatismus als Kontinuitäten bestehen bleiben.
Die Holmes-Erzählungen wurden früh zu einem transmedialen Phänomen. William Gillette etablierte 1899 in New York und London eine Bühnenfigur, die bis ins frühe Kino fortwirkte; spätere Verfilmungen festigten die Ikone. Die Adresse Baker Street, seit dem 19. Jahrhundert real existierend, wurde zum Topos touristischer Imagination; Musealisierungen und Fankulturen verankerten die Figur im kollektiven Gedächtnis. Literarisch beeinflusste der Kanon Erzählökonomien, Ermittlerpsychologien und forensische Detailfreude des 20. Jahrhunderts. Gleichzeitig reagiert die fortgesetzte Rezeption auf historische Schichten der Texte – Urbanisierung, Empire, Wissenschaft – und macht die Sammlung zu einem Archiv der Moderne.
Holmes und Watsons erster gemeinsamer Fall: ein rätselhafter Tod in einem leerstehenden Haus und eine blutige Botschaft führen zu einem weit zurückliegenden Motiv. Der Roman zeigt Holmes’ Methode und die Dynamik des Duos und enthält einen erzählerischen Rückblick, der die Hintergründe des Verbrechens beleuchtet.
Eine junge Frau, ein verschollener Schatz und ein geheimer Bund treiben eine atemlose Ermittlung durch London voran. Chiffren, Verfolgungen und moralische Grauzonen stellen Holmes’ Scharfsinn und Watsons Loyalität auf die Probe.
Der Mord an einem Landhausbewohner erweist sich als Teil einer größeren Verschwörung mit Wurzeln in einer gewalttätigen Bruderschaft. Im Hintergrund deutet sich die Gefahr durch einen überragenden Gegenspieler an.
Kurze, präzise Rätsel zu Erpressung, verschwundenen Personen, Chiffren und bizarren häuslichen Geheimnissen. Sie etablieren Holmes’ Beobachtungskunst, deduktive Methode und Watsons Rolle als Chronist.
Vielschichtige Täuschungen, internationale Verwicklungen und höhere persönliche Risiken prägen die Fälle. Recht, Gerechtigkeit und Moral geraten stärker in Spannung.
Reifere, häufig düsterere Ermittlungen mit stärkerem Fokus auf Forensik, Psychologie und technische Hilfsmittel. Gegner agieren subtiler, Motive werden komplexer.
Episoden mit Spionage- und Staatsgeheimnissen vor geopolitischem Hintergrund. Holmes agiert teils jenseits klassischer Kriminalfälle und stellt seine Fähigkeiten in den Dienst des Landes.
Inhalt
Im Jahre 1878 hatte ich mein Doktorexamen an der Londoner Universität bestanden und in Nelley den für Militärärzte vorgeschriebenen medizinischen Kursus durchgemacht. Bald darauf ward ich dem fünften Füsilierregiment Northumberland zugeteilt, welches damals in Indien stand. Bevor ich jedoch an den Ort meiner Bestimmung gelangte, brach der zweite afghanische Krieg aus, und bei meiner Landung in Bombay erfuhr ich, mein Regiment sei bereits durch die Gebirgspässe marschiert und weit in Feindesland vorgedrungen. In Gesellschaft mehrerer Offiziere, die sich in gleicher Lage befanden, folgte ich meinem Corps, erreichte dasselbe glücklich in Kandahar und trat in meine neue Stellung ein.
Der Feldzug, in welchem andere Ehre und Auszeichnungen fanden, brachte mir indessen nur Unglück und Mißerfolg. Gleich in der ersten Schlacht zerschmetterte mir eine Kugel das Schulterblatt und ich wäre sicherlich den grausamen Ghazia in die Hände gefallen, hätte mich nicht Murray, mein treuer Bursche, rasch auf ein Packpferd geworfen und mit eigener Lebensgefahr mit sich geführt, bis wir die britische Schlachtlinie erreichten.
Lange lag ich krank, und erst nachdem ich mit einer großen Anzahl verwundeter Offiziere in das Hospital von Peshawar geschafft worden war, erholte ich mich allmählich von den ausgestandenen Leiden; ich war bereits wieder so weit, daß ich in den Krankensälen umhergehen und auf der Veranda frische Luft schöpfen durfte. Da befiel mich unglücklicherweise ein Entzündungsfieber und zwar mit solcher Heftigkeit, daß man monatelang an meinem Wiederaufkommen zweifelte. Als endlich die Macht der Krankheit gebrochen war und mein Bewußtsein zurückkehrte, befand ich mich in solchem Zustand der Kraftlosigkeit, daß die Aerzte beschlossen, mich ohne Zeitverlust wieder nach England zu schicken. Einen Monat später landete ich mit dem Truppenschiff ›Orontes‹ in Portsmouth; meine Gesundheit war völlig zerrüttet, doch erlaubte mir eine fürsorgliche Regierung, während der nächsten neun Monate den Versuch zu machen, sie wiederherzustellen.
Verwandte besaß ich in England nicht; ich beschloß daher, mich in einem Privathotel einzuquartieren. Mein tägliches Einkommen belief sich auf elf und einen halben Schilling und da ich zuerst nicht sehr haushälterisch damit umging, machten mir meine Finanzen bald große Sorge. Ich sah ein, daß ich entweder aufs Land ziehen oder meine Lebensweise in der Hauptstadt völlig ändern müsse.
Da ich letzteres vorzog, sah ich mich genötigt, das Hotel zu verlassen und mir eine anspruchslosere und weniger kostspielige Wohnung zu suchen.
Während ich noch hiermit beschäftigt war, begegnete ich eines Tages auf der Straße einem mir bekannten Gesicht, ein höchst erfreulicher Anblick für einen einsamen Menschen wie mich in der Riesenstadt London. Ich hatte mit dem jungen Stamford während meiner Studienzeit verkehrt, ohne daß wir einander besonders nahe getreten waren, jetzt aber begrüßte ich ihn mit Entzücken, und auch er schien sich über das Wiedersehen zu freuen. Bald saßen wir in einer nahen Restauration zusammen bei einem Glase Wein und tauschten unsere Erlebnisse aus.
»Was in aller Welt ist denn mit dir geschehen, Watson?« fragte Stamford verwundert, »du siehst braun aus wie eine Nuß und bist so dürr wie eine Bohnenstange.«
Ich gab ihm einen kurzen Abriß meiner Abenteuer und er hörte mir teilnehmend zu.
»Armer Kerl,« sagte er mitleidig, »und was gedenkst du jetzt zu thun?«
»Ich bin auf der Wohnungssuche,« versetzte ich; »es gilt die Aufgabe zu lösen, mir um billigen Preis ein behagliches Quartier zu verschaffen.«
»Wie sonderbar,« rief Stamford; »du bist der zweite Mensch, der heute gegen mich diese Aeußerung thut.«
»Und wer war der erste?«
»Ein Bekannter von mir, der in dem chemischen Laboratorium des Hospitals arbeitet. Er klagte mir diesen Morgen sein Leid, daß er niemand finden könne, um mit ihm gemeinsam ein sehr preiswürdiges, hübsches Quartier zu mieten, das für seinen Beutel allein zu kostspielig sei.«
»Meiner Treu,« rief ich, »wenn er Lust hat, die Kosten der Wohnung zu teilen, so bin ich sein Mann. Ich würde weit lieber mit einem Gefährten zusammenziehen, statt ganz allein zu hausen.«
Stamford sah mich über sein Weinglas hinweg mit bedeutsamen Blicken an. »Wer weiß, ob du Sherlock Holmes zum Stubengenossen wählen würdest, wenn du ihn kenntest,« sagte er.
»Ist denn irgend etwas an ihm auszusetzen?«
»Das will ich nicht behaupten. Er hat in mancher Hinsicht eigentümliche Anschauungen und schwärmt für die Wissenschaft. Im übrigen ist er ein höchst anständiger Mensch, soviel ich weiß.«
»Ein Mediziner vermutlich?«
»Nein – ich habe keine Ahnung, was er eigentlich treibt. In der Anatomie ist er gut bewandert und ein vorzüglicher Chemiker. Aber meines Wissens hat er nie regelrecht Medizin studiert. Er ist überhaupt ziemlich überspannt und unmethodisch in seinen Studien, doch besitzt er auf verschiedenen Gebieten eine Menge ungewöhnlicher Kenntnisse, um die ihn mancher Professor beneiden könnte.«
»Hast du ihn nie nach seinem Beruf gefragt?«
»Nein – er ist kein Mensch, der sich leicht ausfragen läßt; doch kann er zuweilen sehr mitteilsam sein, wenn ihm gerade danach zu Mute ist.«
»Ich möchte ihn doch kennen lernen,« sagte ich; »ein Mensch, der sich mit Vorliebe in seine Studien vertieft, wäre für mich der angenehmste Gefährte. Bei meinem schwachen Gesundheitszustand kann ich weder Lärm noch Aufregung vertragen. Ich habe beides in Afghanistan so reichlich genossen, daß ich für meine Lebenszeit genug daran habe. Bitte, sage mir, wo ich deinen Freund treffen kann.«
»Vermutlich ist er jetzt noch im Laboratorium. Manchmal läßt er sich dort wochenlang nicht sehen und zu anderen Zeiten bleibt er wieder von früh bis spät bei der Arbeit. Wenn es dir recht ist, suchen wir ihn zusammen auf.«
Ich willigte mit Freuden ein und wir machten uns sogleich auf den Weg nach dem Hospital.
»Du darfst mir aber keine Vorwürfe machen, wenn ihr nicht miteinander auskommt,« sagte Stamford, als wir in die Droschke stiegen; »ich möchte dir weder zu-noch abraten.«
»Wenn wir nicht zu einander passen, können wir uns ja leicht wieder trennen. Deine Vorsicht scheint mir fast übertrieben, es muß noch etwas anderes dahinter stecken. Heraus mit der Sprache, was hast du gegen den Menschen einzuwenden?«
»Nichts, gar nichts; er ist nur nach meinem Geschmack seiner Wissenschaft allzusehr ergeben. – Das grenzt schon an Gefühllosigkeit. Ich halte es nicht für undenkbar, daß er einem guten Freunde eine Priese des neuesten vegetabilischen Alkaloids eingeben würde – nicht etwa aus Bosheit, nein, aus Forschungstrieb – um die Wirkung genau zu beobachten. Ebenso gern würde er freilich die Probe an sich selber machen, die Gerechtigkeit muß man ihm widerfahren lassen. Ueberhaupt ist Klarheit und Genauigkeit des Wissens seine größte Leidenschaft; aber zu welchem Zweck er alle seine Studien betreibt, weiß der liebe Himmel.«
Vor dem Hospital angekommen, stiegen wir aus, gingen ein Gäßchen hinunter und traten durch eine Thür in den Nebenflügel des weitläufigen Gebäudes. Hier war mir alles wohl bekannt und ich brauchte keinen Führer mehr. Es ging die kahle Steintreppe hinauf, durch den langen, weißgetünchten Korridor, mit den Thüren auf beiden Seiten, an den sich der niedrige Bogengang anschloß, welcher nach dem chemischen Laboratorium führte.
In dem großen Saal, den wir betraten, waren sämtliche Tische mit Retorten, Reagensgläsern und kleinen Weingeistlampen besetzt, während rings an den Wänden und überhaupt, wohin man blickte, Flaschen von allen Größen und Formen umherstanden. Wir dachten zuerst, der Raum sei leer, bis wir an dem andern Ende einen jungen Mann gewahrten, der, in seine Beobachtungen versunken, über einen Tisch gebeugt dasaß. Beim Schall unserer Fußtritte blickte er von seinem Experiment aus und sprang mit einem Freudenruf in die Höhe. »Viktoria, Viktoria,« jubelte er, und kam uns, mit der Retorte in der Hand, entgegen. »Ich habe das Reagens gefunden, das sich mit Hämoglobin zu einem Niederschlag verbindet und sonst mit keinem Stoff.«
Er sah so glückstrahlend aus, als hätte er eine Goldmine entdeckt.
»Mein Freund, Doktor Watson – Herr Sherlock Holmes,« sagte Stamford uns einander vorstellend.
»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen,« erwiderte Holmes in herzlichem Ton und mit kräftigem Händedruck. »Sie kommen aus Afghanistan, wie ich sehe.«
Ich blickte ihn verwundert an. »Wieso wissen Sie denn das?«
»O, das thut nichts zur Sache,« rief er, sich vergnügt die Hände reibend; »ich denke jetzt nur an Hämoglobin. Sicherlich werden Sie die Tragweite meiner Erfindung begreifen.«
»Es mag wohl als chemisches Experiment sehr interessant sein, aber für die Praxis –«
»Gerade in der Praxis ist es von größter Wichtigkeit für die Gerichtschemie, weil es dazu dient, das etwaige Vorhandensein von Blutflecken zu beweisen. – Bitte, kommen Sie doch einmal her.« In seinem Eifer ergriff er meinen Rockärmel und zog mich nach dem Tische hin, an welchem er experimentiert hatte. »Wir müssen etwas frisches Blut haben,« sagte er und stach sich mit einer großen Stopfnadel in den Finger, worauf er das herabtropfende Blut in einem Saugröhrchen auffing. »Jetzt mische ich diese kleine Blutmenge mit einem Liter Wasser – das Verhältnis ist etwa wie eins zu einer Million – und die Flüssigkeit sieht ganz aus wie reines Wasser. Trotzdem wird sich, denke ich, die gewünschte Reaktion herstellen lassen.« Er hatte, während er sprach, einige weiße Kristalle in das Gefäß geworfen und goß jetzt noch mehrere Tropfen einer durchsichtigen Flüssigkeit hinzu. Sofort nahm das Wasser eine dunkle Färbung an und ein bräunlicher Niederschlag erschien auf dem Boden des Glases.
»Sehen Sie,« rief er und klatschte in die Hände, wie ein Kind vor Freude über ein neues Spielzeug. »Was sagen Sie dazu?«
»Es scheint mir ein sehr gelungenes Experiment.«
»Wundervoll, wundervoll! Die alte Methode, die Probe mit Guajacum anzustellen, war sehr umständlich und unsicher, die mikroskopische Untersuchung der Blutkügelchen aber ist wertlos, sobald die Flecken ein paar Stunden alt sind. Meine Erfindung wird sich dagegen ebenso gut bei altem wie bei frischem Blut bewähren. Wäre sie schon früher gemacht worden, so hätte man Hunderte von Verbrechern zur Rechenschaft ziehen können, die straflos davongekommen sind.«
»Meinen Sie wirklich?«
»Ohne Frage. Bei der Kriminaljustiz dreht sich ja meist alles um diesen einen Punkt. Vielleicht Monate, nachdem die Missethat begangen ist, fällt der Verdacht auf einen Menschen, man untersucht seine Kleider und findet braune Flecke am Rock oder in der Wäsche. Das können Blutspuren sein, aber auch Rostflecke, Obstflecke oder Schmutzflecke. Mancher Sachverständige hat sich darüber schon den Kopf zerbrochen und zwar bloß, weil es an einer zuverlässigen Beweismethode fehlte. Nun man aber das Sherlock Holmessche Mittel besitzt, ist jede Schwierigkeit beseitigt.«
Seine Augen funkelten, während er sprach, er legte die Hand aufs Herz und machte eine feierliche Verbeugung, als sähe er sich im Geist einer Beifall klatschenden Menge gegenüber.
»Da kann man Ihnen ja Glück wünschen,« sagte ich, verwundert über seinen Feuereifer.
»Hätte man die Probe schon letztes Jahr anstellen können,« fuhr er fort, »es wäre dem Mason aus Bradford sicherlich an den Hals gegangen; auch der berüchtigte Müller, sowie Lefevre aus Montpellier und Samson aus New-Orleans wären überführt worden. Ich könnte Ihnen Dutzende von Fällen nennen, bei denen meine Erfindung den Ausschlag gegeben hätte.«
»Sie scheinen ja ein wandelnder Verbrecheralmanach zu sein,« meinte Stamford lachend; »schreiben Sie doch ein Buch über Kriminalstatistik.«
»Das möchte wohl des Lesens wert sein,« erwiderte Holmes, der sich eben ein Pflaster auf den verwundeten Finger klebte. »Ich muß sehr vorsichtig sein,« fügte er erklärend hinzu, »denn ich mache mir viel mit Giften zu schaffen.« Als er die Hand in die Höhe hielt, sah ich, daß sie an vielen Stellen bepflastert war und von scharfen Säuren gefärbt.
»Wir kommen in Geschäften,« sagte Stamford, und schob mir einen dreibeinigen Schemel zum Sitzen hin, während er ebenfalls Platz nahm. »Mein Freund hier sucht eine Wohnung, und da Sie gern mit jemand zusammenziehen möchten, dachte ich, es wäre Ihnen vielleicht beiden geholfen.« Sherlock Holmes ging mit Freuden auf den Vorschlag ein. »Ich habe ein Auge des Wohlgefallens auf ein Quartier in der Baker-Straße geworfen, das vortrefflich für uns passen würde,« sagte er. »Sie haben doch nicht etwa eine Abneigung gegen Tabaksdampf?«
»O nein, ich bin selbst ein starker Raucher.«
»Das trifft sich gut. Ferner habe ich häufig Chemikalien bei mir herumstehen, die ich zu meinen Experimenten brauche. Würde Sie das belästigen?«
»Durchaus nicht.«
»Warten Sie – was habe ich sonst noch für Fehler? Manchmal bekomme ich Anfälle von Schwermut und thue dann tagelang den Mund nicht auf. Sie müssen mir das nicht übel nehmen. Kümmern Sie sich nur dann gar nicht um mich, und die Anwandlung wird bald vorüber sein. So – nun ist die Reihe an Ihnen, mir Bekenntnisse zu machen. Wenn zwei Menschen zusammen leben wollen, ist es gut, wenn sie im voraus wissen, was sie von einander zu erwarten haben.«
Ich mußte über diese Generalbeichte lachen. »Ich halte mir einen jungen Bullenbeißer,« gestand ich, »und kann keinen Lärm vertragen, weil meine Nerven angegriffen sind; auch schlafe ich oft in den Tag hinein und bin überhaupt sehr träge. In gesunden Zeiten fröhne ich noch Lastern anderer Art, aber für jetzt sind dies die hauptsächlichsten.«
»Würden Sie unter ›Lärm‹ auch das Spielen auf einer Violine verstehen?« fragte er besorgt.
»Das kommt auf den Musiker an. Gutes Violinspiel ist ein Genuß für Götter – aber schlechtes –«
»Freilich, freilich,« rief er vergnügt. »Nun, ich denke, die Sache ist abgemacht – das heißt, wenn Ihnen das Quartier gefällt.«
»Wann können wir es besichtigen?«
»Holen Sie mich morgen mittag hier ab, dann gehen wir zusammen hin und bringen gleich alles ins reine.«
»Sehr wohl, also Punkt zwölf Uhr,« sagte ich, ihm zum Abschied die Hand schüttelnd.
Wir ließen ihn dort bei seinen Chemikalien und gingen nach meinem Hotel zurück. »Erklären Sie mir nur,« wandte ich mich, plötzlich stehend bleibend, an Stamford, »was ihn auf die Idee gebracht haben kann, daß ich aus Afghanistan komme?«
Mein Gefährte lachte geheimnisvoll. »Schon mancher hat gern wissen wollen, wie Sherlock Holmes gewisse Dinge ausfindig macht. Er besitzt eben eine besondere Gabe.«
»Aha, es steckt ein Rätsel dahinter,« rief ich belustigt; »das ist ja höchst interessant. Ich bin dir sehr verbunden für die neue Bekanntschaft. Das beste Studium für den Menschen bleibt ja doch immer der Mensch.«
»Studiere ihn nur,« entgegnete Stamford. »Du wirst dabei manche Nuß zu knacken finden. Ich wette darauf, er kennt dich bald besser als du ihn.«
An der nächsten Straßenecke verabschiedeten wir uns und ich schlenderte allein nach Hause.
Unsere verabredete Besichtigung des Quartiers in der Bakerstraße Nr. 221b fand am nächsten Tage statt. Es gefiel mir außerordentlich; das große, luftige Wohnzimmer, welches sich an zwei behagliche Schlafstuben anschloß, war freundlich möbliert und sehr hell, da es sein Licht durch zwei große Fenster erhielt. Unter uns beide geteilt, erschien auch der Preis der Wohnung so gering, daß wir sie auf der Stelle mieteten und sogleich einzuziehen beschlossen. Noch am selben Abend ließ ich meine Besitztümer vom Hotel hinüberschaffen und Sherlock Holmes folgte bald darauf mit verschiedenen Koffern und Reisetaschen. In den ersten Tagen waren wir eifrig beschäftigt, auszupacken und unsere Sachen auf das vorteilhafteste unterzubringen. Als dann die Einrichtung fertig war, begannen wir uns in Ruhe an unsere neue Umgebung zu gewöhnen.
Holmes war ein Mensch, mit dem sich leicht leben ließ, von stillem Wesen und regelmäßig in seinen Gewohnheiten. Selten blieb er abends nach zehn Uhr auf, und wenn ich morgens zum Vorschein kam, hatte er immer schon gefrühstückt und war ausgegangen. Den Tag über war er meist im chemischen Laboratorium oder im Seziersaal, zuweilen machte er auch weite Ausflüge, welche ihn bis in die verrufensten Gegenden der Stadt zu führen schienen. Seine Thatkraft war unverwüstlich, so lange die Arbeitswut bei ihm dauerte; von Zeit zu Zeit trat jedoch ein Rückschlag ein, dann lag er den ganzen Tag im Wohnzimmer auf dem Sofa, fast ohne ein Glied zu rühren oder ein Wort zu reden. Dabei nahmen seine Augen einen so traumhaften, verschwommenen Ausdruck an, daß sicher der Verdacht in mir aufgestiegen wäre, er müsse irgend ein Betäubungsmittel gebrauchen, hätte nicht seine Mäßigkeit und Nüchternheit im gewöhnlichen Leben diese Annahme völlig ausgeschlossen.
Nach den ersten Wochen unseres Beisammenseins war mein Interesse für ihn und der Wunsch zu ergründen, welche Zwecke er eigentlich verfolgte, in hohem Maße gestiegen. Schon seine äußere Erscheinung fiel ungemein auf. Er war über sechs Fuß groß und sehr hager; sein scharfkantig vorstehendes Kinn drückte Festigkeit des Charakters aus, der Blick seiner Augen war lebhaft und durchdringend, außer in den schon erwähnten Zeiten völliger Erschlaffung, und eine spitze Habichtsnase gab seinem Gesicht etwas Aufgewecktes und Entschlossenes. Die Hände schonte er nicht, sie trugen fortwährend Spuren von Tinten und Chemikalien, auch hatte ich oft Gelegenheit, seine große Geschicklichkeit bei allen Handgriffen zu bewundern, wenn er mit seinen feinen physikalischen Instrumenten experimentierte.
Kein Wunder, daß meine Neugier in hohem Grade rege war und ich immer wieder versuchte, die strenge Zurückhaltung zu durchbrechen, die er in allem beobachtete, was ihn selbst betraf. Das Geheimnis, welches meinen Gefährten umgab, beschäftigte mich um so mehr, als mein eigenes Leben damals völlig zweck-und ziellos war und wenige Zerstreuungen bot. Mein Gesundheitszustand erlaubte mir nur bei besonders günstiger Witterung auszugehen, und Freunde, die mich hätten besuchen können, um etwas Abwechslung in mein einförmiges Dasein zu bringen, besaß ich nicht.
Daß Holmes nicht Medizin studiere, wußte ich aus seinem eigenen Munde. Auch schien er keinen bestimmten Kursus in irgend einer andern Wissenschaft durchgemacht zu haben, der ihm auf herkömmliche Weise die Eingangspforte in die Gelehrtenwelt geöffnet hätte. Trotzdem verfolgte er gewisse Studien mit wahrem Feuereifer und besaß innerhalb ihrer Grenzen ein so ausgedehntes und umfassendes Wissen, daß er mich oft höchlich dadurch überraschte. – War es denkbar, daß ein Mensch so angestrengt arbeitete, sich so genau zu unterrichten suchte, ohne einen bestimmten Zweck vor Augen zu haben? – Ein planloses Studium ist meist auch oberflächlich, und wer sich den Kopf mit hunderterlei Einzelheiten anfüllt, thut dies schwerlich ohne einen triftigen Grund.
Merkwürdigerweise war seine Unwissenheit auf manchen Gebieten ebenso erstaunlich, als seine Kenntnisse in anderen Fächern. Von Astronomie und Philosophie z.B. wußte er so viel wie gar nichts. Mußte es mir schon auffallen, als er sagte, er habe noch nie etwas von Thomas Carlyle gelesen, so erreichte meine Verwunderung doch den Gipfelpunkt, als sich zufällig herausstellte, daß er sich über unser Sonnensystem ganz falsche Vorstellungen machte. Wie in unserem neunzehnten Jahrhundert irgend ein zivilisiertes menschliches Wesen darüber im unklaren sein kann, daß die Erde sich um die Sonne dreht, war mir völlig unbegreiflich.
»Setzt Sie das in Erstaunen?« fragte er lächelnd. »Nun Sie es mir gesagt haben, werde ich suchen, es so schnell wie möglich wieder zu vergessen.«
»Es zu vergessen?!«
»Ja. – Sehen Sie, meiner Ansicht nach gleicht ein Menschenhirn ursprünglich einer leeren Dachkammer, die man nach eigener Wahl mit Möbeln und Geräten ausstatten kann. Nur ein Thor füllt sie mit allerlei Gerümpel an, wie es ihm gerade in den Weg kommt und versperrt sich damit den Raum, welchen er für die Dinge braucht, die ihm nützlich sind. Ein Verständiger giebt wohl acht, was er in seine Hirnkammer einschachtelt. Er beschränkt sich auf die Werkzeuge, deren er bei der Arbeit bedarf, aber von diesen schafft er sich eine große Auswahl an und hält sie in bester Ordnung. Es ist ein Irrtum, wenn man denkt, die kleine Kammer habe dehnbare Wände und könne sich nach Belieben ausweiten. Glauben Sie mir, es kommt eine Zeit, da wir für alles Neuhinzugelernte etwas von dem vergessen, was wir früher gewußt haben. Daher ist es von höchster Wichtigkeit, daß unsere nützlichen Kenntnisse nicht durch unnützen Ballast verdrängt werden.«
»Aber das Sonnensystem –« warf ich ein.
»Was zum Kuckuck kümmert mich das?« unterbrach er mich ungeduldig. »Sie sagen, die Erde dreht sich um die Sonne. Wenn sie sich um den Mond drehte, so würde das für meine Zwecke nicht den geringsten Unterschied machen.«
Mir schwebte schon die Frage auf der Zunge, was denn eigentlich seine Zwecke wären, doch behielt ich sie für mich, um ihn nicht zu verdrießen. Unser Gespräch gab mir indessen viel zu denken, und ich begann meine Schlüsse daraus zu ziehen. Wenn er sich nur Kenntnisse aneignete, die ihm für seine Arbeit Nutzen brachten, so mußte man ja aus den Zweigen des Wissens, mit denen er am vertrautesten war, auf den Beruf schließen können, dem er sich gewidmet hatte. Ich zählte mir nun alles auf, was er mit besonderer Gründlichkeit studierte, ja, ich machte mir ein Verzeichnis von den einzelnen Fächern. Lächelnd überlas ich, das Schriftstück noch einmal, es lautete:
Geistiger Horizont und Kenntnisse von Sherlock Holmes.
Literatur – Mit Unterschied.
Philosophie – Null.
Astronomie – Null.
Politik – Schwach.
Botanik – Mit Unterschied. Wohl bewandert in allen vegetabilischen Giften, Belladona, Opium u. drgl. Eigentliche Pflanzenkunde – Null.
Geologie – Viel praktische Erfahrung, aber nur auf beschränktem Gebiet. Er unterscheidet sämtliche Erdarten auf den ersten Blick. Von Ausgängen zurückgekehrt, weiß er nach Stoff und Farbe der Schmutzflecke auf seinen bespritzten Beinkleidern die Stadtgegend von London anzugeben, aus welcher die Flecken stammen.
Chemie – Sehr gründlich.
Anatomie – Genau, aber unmethodisch.
Kriminalstatistik – Erstaunlich umfassend. Er scheint alle Einzelheiten jeder Greuelthat, die in unserem Jahrhundert verübt worden ist, zu kennen.
Ist ein guter Violinspieler.
Ein gewandter Boxer und Fechter.
Ein gründlicher Kenner der britischen Gesetze.
Weiter las ich nicht; ich zerriß meine Liste und warf sie ärgerlich ins Feuer, »Wie kann der Mensch behaupten, daß es einen Beruf giebt, in dem sich alle diese verschiedenartigen Kenntnisse verwerten und unter einen Hut bringen lassen,« rief ich. »Es ist vergebliche Mühe, dies Rätsel lösen zu wollen.«
Holmes’ Fertigkeit auf der Violine war groß, aber ganz eigener Art, wie alles bei diesem ungewöhnlichen Menschen. Gelegentlich spielte er mir wohl des Abends von meinen Lieblingsstücken vor, was ich verlangte; war er aber sich selbst überlassen, so ließ er selten eine bekannte Melodie hören. Er lehnte sich dann in den Armstuhl zurück, schloß die Augen und fuhr mechanisch mit dem Bogen über das Instrument, welches auf seinen Knieen lag. Die Töne, die er dann den Saiten entlockte, waren stets der Ausdruck seiner augenblicklichen Empfindung, bald leise und klagend, bald heiter, bald schwärmerisch. Ob er dabei nur den wechselnden Launen seiner Einbildung folgte oder durch die Musik die Gedanken, welche ihn gerade beschäftigten, besser in Fluß bringen wollte, vermochte ich nicht zu sagen. Ich hätte sicherlich gegen seine herzzerreißenden Solovorträge Einspruch erhoben, allein, um mich einigermaßen für die Geduldsprobe zu entschädigen, die er mir auferlegte, endigte er gewöhnlich damit, daß er rasch hintereinander eine ganze Reihe meiner Lieblingsmelodien spielte und das versöhnte mich wieder.
In der ersten Woche bekamen wir keinen Besuch, und ich fing schon an zu glauben, mein Gefährte stehe ebenso allein in der Welt, wie ich selber. Bald stellte sich jedoch heraus, daß er viele Bekannte hatte und zwar in allen Schichten der Gesellschaft. Der kleine Mensch mit dem blaßgelben Gesicht, der einer Ratte ähnelte und mir als Herr Lestrade vorgestellt wurde, kam im Lauf von acht Tagen mindestens drei-oder viermal. Eines Morgens erschien ein elegant gekleidetes junges Mädchen, das über eine halbe Stunde dablieb. Am Nachmittag desselben Tages fand sich ein schäbiger Graubart ein, der wie ein jüdischer Hausierer aussah und hinter dem ein häßliches, altes Weib hereinschlürfte. Bei einer späteren Gelegenheit hatte ein ehrwürdiger Greis eine längere Unterredung mit Holmes und dann wieder ein Eisenbahnbeamter in Uniform. Jedesmal, wenn sich einer dieser merkwürdigen Besucher einstellte, bat mich Holmes, ihm das Wohnzimmer zu überlassen, und ich zog mich in meine Schlafstube zurück. Er entschuldigte sich vielmals, daß er mir diese Unbequemlichkeit auferlege. »Ich muß das Zimmer als Geschäftslokal benützen, die Leute sind meine Klienten.«
Auch diese Gelegenheit, mir Aufschluß über sein Thun zu verschaffen, ließ ich aus Zartgefühl ungenützt vorübergehen. Mir widerstand es, ein Vertrauen zu erzwingen, das er mir nicht von selbst entgegenbrachte, und schließlich bildete ich mir ein, er habe einen bestimmten Grund, mir sein Geschäft zu verheimlichen. Daß ich mich hierin getäuscht hatte, sollte ich indessen bald erfahren.
Am vierten März – der Tag ist mir im Gedächtnis geblieben – war ich früher als gewöhnlich aufgestanden und fand Sherlock Holmes beim Frühstück. Mein Kaffee war noch nicht fertig, und ärgerlich, daß ich warten mußte, nahm ich ein Journal vom Tisch, um mir die Zeit zu vertreiben, während mein Gefährte schweigend seine gerösteten Brotschnitten verzehrte.
Mein Blick fiel zuerst auf einen Artikel, der mit Blaustift angestrichen und ›Das Buch des Lebens‹ betitelt war. Der Verfasser versuchte darin auseinanderzusetzen, daß es für einen aufmerksamen Beobachter von Menschen und Dingen im alltäglichen Leben unendlich viel zu lernen gäbe, wenn er sich nur gewöhnen wollte, alles, was ihm in den Weg käme, genau und eingehend zu prüfen. Die Beweisführung war kurz und bündig, aber die Schlußfolgerungen schienen mir weit hergeholt und ungereimt, das Ganze eine Mischung von scharfsinnigen und abgeschmackten Behauptungen. Ein Mensch, der zu beobachten und zu analysieren verstand, mußte danach befähigt sein, die innersten Gedanken eines jeden zu lesen und zwar mit solcher Sicherheit, daß es dem Uneingeweihten förmlich wie Zauberei vorkam.
»Das Leben ist eine große, gegliederte Kette von Ursachen und Wirkungen,« hieß es weiter; »an einem einzigen Gliede läßt sich das Wesen des Ganzen erkennen. Wie jede andere Wissenschaft, so fordert auch das Studium der Deduktion und Analyse viel Ausdauer und Geduld; ein kurzes Menschendasein genügt nicht, um es darin zur höchsten Vollkommenheit zu bringen. Der Anfänger wird immer gut thun, ehe er sich an die Lösung hoher geistiger und sittlicher Probleme wagt, welche die größten Schwierigkeiten bieten, sich auf einfachere Aufgaben zu beschränken. Zur Hebung möge er zum Beispiel bei der flüchtigen Begegnung mit einem Unbekannten den Versuch machen, auf den ersten Blick die Lebensgeschichte und Berufsart des Menschen zu bestimmen. Das schärft die Beobachtungsgabe und man lernt dabei richtig sehen und unterscheiden. An den Fingernägeln, dem Rockärmel, den Manschetten, den Stiefeln, den Hosenknieen, der Hornhaut an Daumen und Zeigefinger, dem Gesichtsausdruck und vielem andern, läßt sich die tägliche Beschäftigung eines Menschen deutlich erkennen. Daß ein urteilsfähiger Forscher, der die verschiedenen Anzeichen zu vereinigen weiß, nicht zu einem richtigen Schluß gelangen sollte, ist einfach undenkbar.«
»Was für ein thörichtes Gewäsch,« rief ich, und warf das Journal auf den Tisch; »meiner Lebtag ist mir dergleichen nicht vorgekommen.«
Sherlock Holmes sah mich fragend an.
»Sie haben den Artikel angestrichen,« fuhr ich fort, »und müssen ihn also gelesen haben. Daß er geschickt abgefaßt ist, will ich nicht bestreiten. Mich ärgern aber solche widersinnige Theorien, die daheim im Lehnstuhl aufgestellt werden und dann an der Wirklichkeit elend scheitern. Der Herr Verfasser sollte nur einmal in einem Eisenbahnwagen dritter Klasse fahren und probieren, das Geschäft eines jeden seiner Mitreisenden an den Fingern herzuzählen. Ich wette tausend gegen eins, er wäre dazu nicht imstande.«
»Sie würden Ihr Geld verlieren,« erwiderte Holmes ruhig. »Was übrigens den Artikel betrifft, so ist er von mir.«
»Von Ihnen?«
»Ja; ich habe ein besonderes Talent zur Beobachtung und Schlußfolgerung. Die Theorien, welche ich hier auseinandersetze und die Ihnen so ungereimt erscheinen, finden in der Praxis ihre volle Bestätigung, ja, was noch mehr ist – ich verdiene mir damit mein tägliches Brot.«
»Wie ist das möglich?« fragte ich unwillkürlich.
»Mein Handwerk beruht darauf. Ich bin beratender Geheimpolizist – wenn Sie verstehen, was das heißt – vielleicht bin ich der einzige meiner Art. Es giebt hier in London Detektivs die Menge, welche teils im Dienst der Regierung stehen, teils von Privatpersonen gebraucht werden. Wenn diese Herren nicht mehr aus noch ein wissen, kommen sie zu mir, und ich helfe ihnen auf die richtige Fährte. Sie bringen mir das ganze Beweismaterial, und ich bin meist imstande, ihnen mit Hilfe meiner Kenntnis der Geschichte des Verbrechens den rechten Weg zu weisen. Die Missethaten der Menschen haben im allgemeinen eine starke Familienähnlichkeit unter einander und wenn man alle Einzelheiten von tausend Verbrechen im Kopfe hat, so müßte es wunderbar zugehen, vermöchte man das tausend und erste nicht zu enträtseln. Lestrade ist ein bekannter Detektiv. Er hat sich kürzlich mit einer Falschmünzergeschichte herumgequält und mich deshalb so häufig aufgesucht.«
»Und die andern Leute?«
»Sie kamen meist auf Veranlassung von Privatleuten. Jeder von ihnen hat irgend eine Sorge auf dem Herzen und holt sich Rat bei mir. Sie erzählen mir ihre Geschichte und hören auf meine erklärenden Bemerkungen und dann streiche ich mein Honorar ein.«
»Können Sie wirklich, während Sie ruhig auf Ihrem Zimmer bleiben, die verwickelten Knoten lösen, welche die andern nicht zu entwirren vermögen, selbst, wenn sie mit eigenen Augen gesehen haben, wo sich alles zugetragen hat?«
»Das habe ich oft gethan; es ist bei mir eine Art innerer Eingebung. Liegt ein besonders schwieriger Fall vor, so besehe ich mir den Schauplatz der That wohl auch einmal selbst. Ich habe so mancherlei Kenntnisse, die mir die Arbeit wesentlich erleichtern. Meine große Uebung in der Schlußfolgerung, wie sie jener Artikel darlegt, ist für mich zum Beispiel von hohem praktischem Wert. Mir ist die Beobachtung zur zweiten Natur geworden. Als ich Ihnen bei unserer ersten Begegnung sagte, Sie kämen aus Afghanistan, schienen Sie sich darüber zu verwundern.«
»Irgend jemand muß es Ihnen gesagt haben.«
»Bewahre; ich wußte es ganz von selbst. Da mein Gedankengang meist sehr schnell ist, kommen mir die Schlüsse in ihrer Reihenfolge kaum zum Bewußtsein. Und doch steht alles in logischem Zusammenhang. Ich folgerte etwa so: Der Herr sieht aus wie ein Mediziner und hat dabei eine soldatische Haltung. Er muß Militärarzt sein. Die dunkle Gesichtsfarbe hat er nicht von Natur, denn am Handgelenk ist seine Haut weiß, also kommt er geradeswegs aus den Tropen. Daß er allerlei Beschwerden durchgemacht hat, zeigen seine abgezehrten Wangen; sein linker Arm muß verwundet gewesen sein, er hält ihn unnatürlich steif. In welcher Gegend der Tropen kann ein englischer Militärarzt sich Wunden und Krankheit geholt haben? – Versteht sich in Afghanistan. – In weniger als einer Sekunde war ich zu dem Schluß gelangt, der Sie in Erstaunen setzte.«
»Wie Sie die Sache erklären, scheint sie sehr einfach. In Büchern liest man wohl von solchen Dingen, aber daß sie in Wirklichkeit vorkämen, hätte ich nicht gedacht.«
»Wenn es nur noch Verbrechen gäbe, zu deren Entdeckung man besonderen Scharfsinn braucht,« fuhr Holmes mißmutig fort. »Ich weiß, es fehlt mir nicht an Begabung, um meinen Namen berühmt zu machen. Kein Mensch auf Erden hat jemals so viel natürliche Anlage für mein Fach besessen oder ein so tiefes Studium darauf verwendet. Aber was nützt mir das alles? Die Missethäter sind sämtlich solche Stümper und ihre Zwecke so durchsichtig, daß der gewöhnliche Polizeibeamte sie mit Leichtigkeit zu ergründen vermag.«
Es verdroß mich, ihn mit solcher Selbstüberschätzung reden zu hören. Um der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben, trat ich ans Fenster.
»Was mag wohl der Mann da drüben suchen?« fragte ich, auf einen einfach gekleideten, stämmigen Menschen deutend, welcher sämtliche Häusernummern auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu mustern schien. Er hielt einen großen, blauen Umschlag in der Hand und hatte offenbar eine Botschaft auszurichten.
»Sie meinen den verabschiedeten Marinesergeanten?« fragte Sherlock Holmes.
Ich machte große Augen. »Er hat gut mit seiner Weisheit prahlen,« dachte ich bei mir; »wer will ihm denn beweisen, daß er falsch geraten hat?«
In dem Augenblick hatte der Mann, den wir beobachteten, unsere Nummer erblickt, und kam rasch quer über die Straße gegangen. Gleich darauf klopfte es laut an der Haustüre unten, man vernahm eine tiefe Stimme und dann schwere Schritte auf der Treppe.
Der Mann trat ein.
»Für Herrn Sherlock Holmes,« sagte er, meinem Gefährten den Brief einhändigend.
Ich ergriff die günstige Gelegenheit, um Holmes von seiner Einbildung zu heilen. An die Möglichkeit hatte er wohl nicht gedacht, als er den raschen Schuß ins Blaue that. »Darf ich Sie wohl fragen, was Sie für ein Geschäft betreiben?« redete ich den Boten freundlich an.
»Dienstmann,« lautete die kurze Antwort. »Uniform gerade beim Schneider zum Ausbessern.«
»Und früher waren Sie –« fuhr ich mit einem schlauen Blick auf Holmes fort.
»Sergeant bei der leichten Infanterie der königlichen Marine. – Keine Rückantwort? – Sehr wohl. Zu Befehl.«
Er schlug die Fersen aneinander, erhob die Hand zum militärischen Gruß und fort war er.
Dieses neue Beispiel von der praktischen Anwendbarkeit der Theorien meines Freundes überraschte mich höchlich und flößte mir großen Respekt vor seiner Beobachtungsgabe ein. Zwar wollte mich ein leiser Argwohn beschleichen, ob die Sache nicht doch am Ende ein zwischen den beiden abgekartetes Spiel sei, aber welchen möglichen Zweck hätte das haben können? – Als ich mich nach Holmes umwandte, hatte er eben den Brief durchgelesen und starrte mit ausdruckslosem Blick, wie geistesabwesend, vor sich hin.
»Wie in aller Welt haben Sie denn das wieder erraten?« fragte ich.
»Erraten – was?« rief er gereizt auffahrend.
»Nun, daß der Mann ein abgedankter Marinesergeant war.«
»Jetzt ist keine Zeit zu Spielereien,« stieß er in rauhem Ton hervor, fuhr aber gleich darauf lächelnd fort: »Entschuldigen Sie meine Grobheit, Sie haben meinen Gedankengang unterbrochen; doch, das schadet vielleicht nichts. – Also Sie haben wirklich nicht sehen können, daß der Mann Sergeant in der Marine gewesen ist?«
»Wie sollte ich?«
»Es scheint mir doch sehr einfach. Freilich ist es nicht leicht zu erklären, wie ich zur Kenntnis solcher Thatsachen komme. Daß zweimal zwei vier ist, leuchtet jedem ein, forderte man Sie aber auf, es zu beweisen, so würden Sie es schwierig finden. Schon über die Straße hatte ich den blauen tätowierten Anker auf der Hand des Mannes gesehen und die See gewittert; zudem bemerkte ich seine militärische Haltung und das verriet mir den Marinesoldaten. Er trug den Kopf hoch und schwang seinen Stock mit Selbstbewußtsein und einer gewissen Befehlshabermiene; dabei trat er fest und würdevoll auf und war ein Mann in mittleren Jahren – natürlich mußte er Sergeant gewesen sein.«
»Wunderbar!« rief ich.
»Höchst alltäglich,« versetzte Holmes, doch sah ich ihm am Gesicht an, daß er sich geschmeichelt fühlte. »Eben noch behauptete ich,« fuhr er fort, »es gäbe keine geheimnisvollen Verbrechen mehr zu enträtseln. Das scheint ein Irrtum gewesen zu sein – hiernach zu urteilen.« Er schob mir den Brief hin, welchen der Dienstmann gebracht hatte.
»Wie schrecklich,« rief ich, ihn überfliegend.
»Es klingt allerdings etwas ungewöhnlich; wären Sie so gut, mir den Brief noch einmal vorzulesen?«
Der Brief lautete wie folgt:
»Lieber Herr Holmes!
