Sherlock Holmes - Seine Abschiedsvorstellung - Arthur Conan Doyle - E-Book

Sherlock Holmes - Seine Abschiedsvorstellung E-Book

Arthur Conan Doyle

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Beschreibung

Das große Finale - Verpassen Sie nicht den vorletzten Band der »Sherlock Holmes-Reihe« in der Neuübersetzung von Henning Ahrens. In bewährter Manier lösen Sherlock Holmes und sein Freund Dr. Watson auch in den in diesem Band versammelten acht Kurzgeschichten die Geheimnisse um die Wisteria Lodge, den Tiger von San Pedro, abgeschnittene Ohren und ein teuflisches Gift. Und »Seine Abschiedsvorstellung« führt den Meisterdetektiv als Spion in Diensten der britischen Krone mitten hinein in den Ersten Weltkrieg.

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Seitenzahl: 309

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Arthur Conan Doyle

Sherlock Holmes - Seine Abschiedsvorstellung

Erzählungen

Aus dem Englischen von Henning Ahrens

FISCHER E-Books

Inhalt

VorwortDas Abenteuer der Wisteria LodgeEins – Das einzigartige Erlebnis von Mr John Scott EcclesZwei – Der Tiger von San PedroDas Abenteuer mit der PappschachtelDas Abenteuer mit dem Roten RingEinsZweiDas Abenteuer mit den Bruce-Partington-PlänenDas Abenteuer mit dem sterbenden DetektivDas Verschwinden von Lady Frances CarfaxDas Abenteuer mit der TeufelsfußwurzelSeine AbschiedsvorstellungEditorische NotizZur Neuübersetzung

Vorwort

Die Freunde von Mr Sherlock Holmes werden sicher mit Freude vernehmen, dass er gesund und munter ist, wenn auch geplagt von gelegentlichen Rheumaschüben. Er lebt seit vielen Jahren auf einem kleinen Hof in den Downs, fünf Meilen von Eastbourne, und beschäftigt sich abwechselnd mit Philosophie und mit Landwirtschaft. Während dieser Erholungsphase lehnte er sogar fürstlich honorierte Fälle ab, weil er beschlossen hatte, sich endgültig zur Ruhe zu setzen. Der drohende Krieg gegen Deutschland veranlasste ihn jedoch, seine bemerkenswerte Kombination aus intellektuellen und praktischen Fähigkeiten in den Dienst der Regierung zu stellen, dies mit historisch bedeutsamen Ergebnissen, wie in Seine Abschiedsvorstellung nachzulesen ist. Zur Abrundung habe ich diesen Band um einige frühere Fälle ergänzt, die schon lange in meinem Portfolio geschlummert haben.

John H. Watson, Dr. med.

Das Abenteuer der Wisteria Lodge

Eins – Das einzigartige Erlebnis von Mr John Scott Eccles

Laut meines Notizbuchs war es ein grauer, windiger Tag Ende März 1892. Wir waren gerade am Essen, als Holmes ein Telegramm bekam und sofort eine Antwort schrieb. Er sagte nichts weiter, aber die Sache schien ihn zu beschäftigen, denn nach dem Lunch stand er versonnen vor dem Kaminfeuer, rauchte seine Pfeife und schaute gelegentlich auf das Telegramm. Am Ende drehte er sich mit spitzbübisch funkelnden Augen zu mir um.

»Sie dürfen wohl als Mann des geschriebenen Wortes gelten, Watson«, sagte er. »Wie würden Sie den Begriff ›grotesk‹ umschreiben?«

»Als merkwürdig – bemerkenswert«, schlug ich vor.

Er verwarf meine Definition mit einem Kopfschütteln.

»Ich bin überzeugt, dass er mehr vermittelt«, sagte er, »nämlich einen unterschwelligen Hauch des Tragischen und Grausigen. Sie müssen sich nur einige der Erzählungen vergegenwärtigen, mit denen Sie die leidgeprüfte Leserschaft seit langem plagen, um zu erkennen, wie oft das Groteske in das Kriminelle umgeschlagen ist. Denken Sie an die harmlose Geschichte mit dem rothaarigen Mann – diese war anfangs ziemlich grotesk, endete aber mit einem dramatischen Bankraub. Ebenso der äußerst groteske Fall mit den fünf Orangenkernen, der uns auf die Spur eines Mordkomplotts führte. Das Wort lässt bei mir die Alarmglocken schrillen.«

»Steht es denn da?«, fragte ich.

Er las das Telegramm vor.

»Hatte gerade ein unfassbar groteskes Erlebnis. Darf ich Ihren Rat erbitten?

Scott Eccles,

Postamt Charing Cross«

»Mann oder Frau?«, fragte ich.

»Oh, natürlich ein Mann. Eine Frau hätte kein vorab bezahltes Antworttelegramm geschickt. Sie wäre sofort erschienen.«

»Empfangen Sie ihn?«

»Mein lieber Watson, Sie wissen doch, wie sehr ich mich langweile, seit wir Colonel Carruthers hinter Schloss und Riegel gebracht haben. Mein Geist gleicht einem rasenden Motor, den es zerlegt, weil er die Arbeit, für die er konstruiert wurde, nicht erledigen kann. Das Leben ist banal; die Zeitungen sind unergiebig; die Verbrecherwelt scheint Verwegenheit und Abenteuerlust endgültig eingebüßt zu haben. Und da fragen Sie, ob ich bereit wäre, mich mit einem neuen Problem zu befassen, auch wenn es sich am Ende vielleicht als banal erweist? Aber wenn mich nicht alles täuscht, ist unser Klient bereits im Anmarsch.«

Auf der Treppe ertönten gemessene Schritte, und kurz darauf wurde ein großer, untersetzter, rundum würdevoller Mann mit grauem Backenbart in unser Zimmer geführt. Seine wuchtigen Gesichtszüge und das selbstbewusste Auftreten sagten viel über seine Lebensgeschichte aus. Er war ein Konservativer, ein Kirchgänger, ein braver Bürger, ein von den Gamaschen bis zur Goldrandbrille durch und durch orthodoxer, konventioneller Mensch. Irgendein unerwartetes Erlebnis, das noch anhand der wirren Haare, der vor Ärger geröteten Wangen und der fahrigen, hektischen Art zu erahnen war, schien ihn jedoch aus dem üblichen seelischen Gleichgewicht gebracht zu haben. Er kam sofort zur Sache.

»Ich hatte ein extrem unangenehmes Erlebnis, Mr Holmes«, sagte er. »Ich wurde noch nie in eine solche Lage gebracht. Es war äußerst unhöflich – wirklich empörend. Ich bestehe auf einer Erklärung.« Er schnaufte und schnob vor Zorn.

»Bitte nehmen Sie Platz, Mr Scott Eccles«, sagte Holmes beruhigend. »Darf ich zunächst einmal fragen, warum Sie ausgerechnet mich aufgesucht haben?«

»Nun, Sir, die Angelegenheit schien mir nichts für die Polizei zu sein, aber sobald Sie alle Fakten kennen, werden Sie sicher zugeben, dass ich die Sache nicht auf sich beruhen lassen kann. Ich halte nicht viel vom Berufsstand der Privatdetektive, aber da mir Ihr Name zu Ohren gekommen war, bin ich …«

»Verstehe. Außerdem würde ich gern wissen, warum Sie mich nicht gleich aufgesucht haben.«

»Wie meinen Sie das?«

Holmes schaute auf seine Uhr.

»Jetzt ist es Viertel nach zwei«, sagte er. »Ihr Telegramm wurde gegen eins aufgegeben. Aber ein kurzer Blick auf Ihre Kleidung und Ihre Toilette verrät jedem, dass sich der belastende Vorfall gleich nach dem Erwachen zugetragen haben muss.«

Unser Klient strich sich die ungekämmten Haare glatt und betastete sein stoppelbärtiges Kinn.

»Richtig, Mr Holmes. Ich habe keinen Gedanken an meine Toilette verschwendet. Ich war einfach nur froh, aus dem Haus zu entkommen. Allerdings habe ich noch rasch Erkundigungen eingezogen, bevor ich zu Ihnen gefahren bin. Ich war bei der Hausverwaltung, und dort hieß es, Garcias Miete sei beglichen, und in der Wisteria Lodge sei alles in bester Ordnung.«

»Immer langsam, Sir«, sagte Holmes lachend. »Sie kommen mir vor wie mein Freund Dr. Watson, der auch die Unart hat, eine Geschichte am falschen Ende zu beginnen. Bitte besinnen Sie sich und schildern Sie die Vorfälle, die Sie ungekämmt und voller Fusseln, in Lackschuhen und mit verkehrt geknöpfter Weste auf die Straße getrieben haben, um mich um Rat und Hilfe zu bitten, anschließend detailliert und in der richtigen Reihenfolge.«

Unser Klient blickte verlegen auf seine ungepflegte Erscheinung hinab.

»Ja, ich sehe schlimm aus, Mr Holmes, und in einem solchen Aufzug bin ich sicher noch nie vor die Tür gegangen. Ich erzähle Ihnen alles von A bis Z, und danach erkennen Sie bestimmt, dass die Vorfälle Entschuldigung genug sind.«

Sein Bericht wurde jedoch im Keim erstickt. Draußen wurde es laut, und dann ließ Mrs Hudson zwei kräftige, amtlich wirkende Männer eintreten, einer davon der uns wohlbekannte Ermittler Gregson von Scotland Yard, ein energischer, mutiger und im Rahmen seiner Beschränkungen durchaus fähiger Beamter. Er schüttelte Holmes die Hand und stellte seinen Kollegen als Inspektor Baynes von der Surrey Constabulary vor.

»Wir sind zu zweit auf der Jagd, Mr Holmes, und die Fährte führte in diese Richtung.« Er nahm unseren Gast mit seinen Bulldoggenaugen ins Visier. »Sind Sie Mr John Scott Eccles, Popham House, Lee?«

»Der bin ich.«

»Wir sind Ihnen den ganzen Vormittag gefolgt.«

»Sie haben ihn sicher durch das Telegramm aufgespürt«, sagte Holmes.

»Richtig, Mr Holmes. Wir haben die Fährte im Postamt in der Charing Cross Street aufgenommen und sind ihm bis zu Ihnen gefolgt.«

»Aber warum folgen Sie mir? Was wollen Sie?«

»Was wir wollen, Mr Scott Eccles, ist eine Stellungnahme zu den Ereignissen, die gestern Nacht zum Tod von Mr Aloysius Garcia geführt haben, wohnhaft in der Wisteria Lodge bei Esher.«

Unser Klient hatte sich mit starrem Blick und verblüffter Miene aufgerichtet, aus seinem Gesicht war alles Blut gewichen.

»Tot? Haben Sie gesagt, er ist tot?«

»Ja, Sir, er ist tot.«

»Aber wie? War es ein Unfall?«

»Nein, ein Mord, wie er im Buche steht.«

»Guter Gott! Das ist ja furchtbar! Sie wollen doch nicht sagen – Sie wollen doch nicht sagen, dass ich unter Verdacht stehe?«

»In der Tasche des Toten wurde ein Brief von Ihnen gefunden, und deshalb wissen wir, dass Sie ihn gestern Abend zu Hause besuchen wollten.«

»Das habe ich auch getan.«

»Ach, ja, tatsächlich?«

Das amtliche Notizbuch wurde gezückt.

»Moment mal, Gregson«, sagte Sherlock Holmes. »Sie wollen nur eine klare Aussage, richtig?«

»Und ich bin verpflichtet, Mr Scott Eccles darauf hinzuweisen, dass sie gegen ihn verwendet werden kann.«

»Mr Eccles wollte uns bei Ihrer Ankunft gerade alles erzählen. Ich denke, ein Brandy mit Soda wäre nicht verkehrt, Watson. Und nun, Sir, schlage ich vor, dass sie den zusätzlichen Zuhörern keine Beachtung schenken und Ihren Bericht so beginnen, wie Sie es getan hätten, wenn Sie nicht gestört worden wären.«

Unser Gast hatte den Brandy hastig geleert, und sein Gesicht bekam wieder Farbe. Er stürzte sich umgehend in seinen außergewöhnlichen Bericht, wobei er einen unsicheren Blick auf das Notizbuch des Inspektors warf.

»Ich bin Junggeselle«, sagte er, »und weil ich gern unter Menschen bin, habe ich einen großen Freundeskreis. Dazu gehört auch ein ehemaliger Brauer namens Melville, der mit seiner Familie im Albermarle Mansion, Kensington, wohnt. Bei ihm zu Hause lernte ich vor einigen Wochen einen jungen Mann namens Garcia kennen. Wie ich erfuhr, ist er spanischer Abstammung und hat mit der Botschaft zu tun. Er spricht fließend Englisch und ist ein sehr angenehmer, fescher Typ.

Aus irgendeinem Grund schlossen wir gleich Freundschaft. Er schien mich auf Anhieb zu mögen und besuchte mich schon zwei Tage nach unserer ersten Begegnung in Lee. Eines kam zum anderen, und am Ende lud er mich ein, ein paar Tage in seinem Haus, Wisteria Lodge, zwischen Esher und Oxshott zu verbringen. Also bin ich gestern Abend dorthin gefahren.

Er hatte mir seinen Haushalt im Vorfeld beschrieben. Im Haus wohnte ein treuer Diener, ein Landsmann von ihm, der sich um alles kümmerte. Dieser Kerl sprach Englisch und erledigte alle häuslichen Aufgaben. Außerdem, so erzählte Garcia, gebe es noch einen wunderbaren Koch, einen Kreolen, den er auf seinen Reisen aufgegabelt habe und der ausgezeichnete Gerichte zuzubereiten verstehe. Ich weiß noch, dass er sagte, einen so verrückten Haushalt finde man wohl nirgendwo im Herzen Surreys, und ich stimmte ihm zu. Am Ende war er aber noch verrückter als gedacht.

Das Anwesen liegt etwa zwei Meilen südlich von Esher. Eine geschwungene, von hohen, immergrünen Sträuchern gesäumte Auffahrt führte von der Straße zu einem relativ großen, aber alten und sehr baufälligen Haus. Als die Kutsche auf der grasüberwucherten Einfahrt hielt, direkt vor der verwitterten, fleckigen Eingangstür, fragte ich mich, ob es klug war, einen Menschen zu besuchen, den ich genau genommen gar nicht kannte. Aber dann öffnete er mir persönlich die Tür und empfing mich mit überbordender Herzlichkeit. Ich wurde dem Diener übergeben, einem trübsinnigen, dunklen Burschen, der mit meiner Reisetasche zum Gästezimmer voranging. Der Ort war extrem bedrückend. Wir aßen zu zweit, und obwohl sich mein Gastgeber große Mühe gab, unterhaltsam zu sein, schienen seine Gedanken oft abzuschweifen, und er erzählte so wirr und so wild, dass ich ihm kaum folgen konnte. Er trommelte ständig mit den Fingern auf den Tisch, kaute an den Nägeln und zeigte weitere Anzeichen nervöser Ungeduld. Das Essen war weder gekonnt zubereitet, noch wurde es gekonnt serviert, und die Gegenwart des wortkargen Dieners hob die Stimmung auch nicht gerade. Ich wünschte mir im Laufe des Abends wiederholt, eine Ausrede für die Rückkehr nach Lee zu finden, glauben Sie mir.

Da fällt mir etwas ein, das vielleicht von Bedeutung für die Sache ist, in der die zwei Gentlemen von der Polizei ermitteln. Ich fand es zunächst nicht weiter wichtig. Gegen Ende des Dinners brachte der Diener einen Brief. Danach war mein Gastgeber noch fahriger und zugeknöpfter. Er gab nicht einmal mehr vor, ein Gespräch führen zu wollen, sondern saß tief in Gedanken versunken da, ohne etwas über den Inhalt des Briefes verlauten zu lassen, und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Ich war froh, als ich gegen elf Uhr zu Bett gehen konnte. Irgendwann stand Garcia in meiner Tür – im Zimmer war es dunkel – und wollte wissen, ob ich geläutet hätte. Ich verneinte. Er entschuldigte sich für die späte Störung, nannte auch die Stunde: ein Uhr früh. Danach dämmerte ich wieder ein und schlief durch.

Und nun folgt der verrückteste Teil meines Berichts. Als ich erwachte, war es heller Tag. Ich warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass es auf neun ging. Ich hatte ausdrücklich darum gebeten, um acht geweckt zu werden, und staunte über das Versäumnis. Ich sprang aus dem Bett und läutete nach dem Diener. Keine Reaktion. Ich läutete noch mehrmals, alles vergeblich. Irgendwann kam mir der Gedanke, die Klingel sei kaputt. Ich zog mich hastig an und eilte erbost nach unten, um heißes Wasser zu bestellen. Sie ahnen sicher, wie verblüfft ich war, als ich feststellte, dass niemand im Haus war. Ich rief in den Flur. Keine Antwort. Danach eilte ich von Zimmer zu Zimmer. Alle waren verwaist. Mein Gastgeber hatte mich am Vorabend auf sein Schlafzimmer hingewiesen, also klopfte ich an die Tür. Er reagierte nicht. Ich öffnete die Tür und trat ein. Das Zimmer war leer, das Bett unbenutzt. Er war ebenso verschwunden wie die anderen. Der ausländische Gastgeber, der ausländische Diener, der ausländische Koch – alle hatten sich über Nacht in Luft aufgelöst! So endete mein Besuch in Wisteria Lodge.«

Sherlock Holmes rieb sich leise lachend die Hände, während er seine Sammlung sonderbarer Fälle um diesen bizarren Vorfall ergänzte.

»Tatsächlich ein sehr einzigartiges Erlebnis«, sagte er. »Darf ich fragen, was Sie dann getan haben, Sir?«

»Ich platzte fast vor Wut. Zuerst glaubte ich, das Opfer eines albernen Streiches geworden zu sein. Ich packte meine Sachen, knallte die Haustür hinter mir zu und brach mit der Reisetasche in der Hand nach Esher auf. Dort suchte ich das Büro der Allan Brothers auf, vor Ort die größte Hausverwaltung. Als ich hörte, dass die Villa von dieser Firma vermietet worden war, dämmerte mir, dass man mich nicht zum Narren hatte halten wollen, sondern dass es vermutlich darum ging, die Miete zu prellen. Wir haben Ende März, und der Zahltag steht bevor. Aber auch das erwies sich als falsch. Der Hausverwalter bedankte sich für meine Warnung, wies mich aber darauf hin, dass man die Miete im Voraus bezahlt hatte. Also kehrte ich nach London zurück und begab mich zur spanischen Botschaft. Dort war Garcia unbekannt. Danach besuchte ich Melville, bei dem ich die Bekanntschaft Garcias gemacht hatte, stellte aber fest, dass er noch weniger über ihn wusste als ich. Dann erhielt ich Ihre Antwort auf mein Telegramm und fuhr zu Ihnen, weil Sie angeblich jemand sind, der in heiklen Fällen Rat weiß. Wenn ich bedenke, was Sie kurz nach Ihrem Eintreten erzählt haben, Herr Inspektor, scheint mir aber, dass Sie meinen Bericht um eine Tragödie ergänzen können. Meine Worte entsprechen der Wahrheit, das schwöre ich, und darüber hinaus weiß ich nichts über das Schicksal des Mannes. Ich habe nur den Wunsch, das Gesetz bestmöglich zu unterstützen.«

»Aber natürlich, Mr Scott Eccles – aber natürlich«, erwiderte Inspektor Gregson freundlich. »Ich muss zugeben, dass sich Ihr Bericht vollständig mit den uns bekannten Fakten deckt. Etwa der Brief, der während des Dinners eintraf. Haben sie zufällig bemerkt, was daraus geworden ist?«

»Ja. Garcia hat ihn zusammengerollt und ins Feuer geworfen.«

»Was meinen Sie dazu, Mr Baynes?«

Den Detective vom Land, einen stämmigen, rundlichen Mann mit gerötetem Gesicht, bewahrten nur seine ungewöhnlich strahlenden Augen, die von den dicken Wangen und den Brauen fast verschluckt wurden, vor der vollständigen Grobschlächtigkeit. Er zog träge lächelnd einen schmutzigen, gefalteten Zettel aus der Tasche.

»Der Kamin hat einen großen Feuerrost, Mr Holmes, und der Mann hat den Brief zu weit geworfen. Ich habe ihn unversehrt hinten aus dem Kamin gefischt.«

Holmes lächelte anerkennend.

»Sie können diesen Brief nur bei einer sehr gründlichen Hausdurchsuchung entdeckt haben.«

»Ja, ich war gründlich, Mr Holmes. Bin ich immer. Soll ich vorlesen, Mr Gregson?«

Der Londoner nickte.

»Der Brief wurde auf gewöhnlichem, cremefarbenem Papier ohne Wasserzeichen geschrieben. Es hat Postkartenformat und wurde mit einer kurzen Schere durch zwei Schnitte abgetrennt. Es wurde dreimal gefaltet und nachlässig mit purpurrotem Wachs versiegelt, das mit einem flachen, ovalen Gegenstand plattgedrückt wurde. Der Brief ist an Mr Garcia, Wisteria Lodge, adressiert. Der Inhalt lautet:

›Unsere eigenen Farben, Grün und Weiß. Grün auf, Weiß zu. Haupttreppe, erster Flur, siebte rechts, grüner Boi. Möge Gott Ihnen beistehen. D.‹

Es handelt sich um eine weibliche Handschrift, benutzt wurde ein spitzer Stift, aber die Adresse wurde entweder mit einem anderen Stift oder von einer anderen Person geschrieben. Wie Sie sehen, ist die Schrift dicker und energischer.«

»Bemerkenswerte Nachricht«, sagte Holmes, der sie überflog. »Sehr lobenswert, dass Sie auf die Details geachtet haben, Mr Baynes. Vielleicht kann man ein paar Kleinigkeiten ergänzen. Der ovale Abdruck stammt zweifellos von einem Manschettenknopf – welcher andere Gegenstand hätte eine solche Form? Geschnitten wurde mit einer Nagelschere. Die Schnitte sind zwar kurz, aber man kann in beiden Fällen die leicht gebogenen Klingen erkennen.«

Der Detective vom Land lachte leise.

»Ich dachte, ich hätte den Brunnen ausgeschöpft, aber wie ich sehe, war doch noch etwas Wasser darin«, sagte er. »Ich muss gestehen, der Nachricht nur entnehmen zu können, dass irgendetwas zu erledigen war und dass wie üblich eine Frau dahintersteckte.«

Mr Scott Eccles hatte während dieses Gesprächs unruhig auf seinem Platz gesessen.

»Ich bin froh, dass Sie den Brief gefunden haben, denn er stützt meinen Bericht«, sagte er. »Aber ich weise höflich darauf hin, dass Sie mich noch nicht über das Schicksal von Mr Garcia oder dessen Hausangestellten aufgeklärt haben.«

»Was Garcia angeht«, sagte Gregson, »so ist das leicht zu beantworten. Seine Leiche wurde heute Morgen auf dem Oxshott Common entdeckt, eine knappe Meile von seinem Haus entfernt. Sein Schädel wurde durch kräftige Hiebe mit einem schweren, stumpfen Gegenstand regelrecht zu Brei geschlagen. Eine solche Tatwaffe verletzt nicht, sie zertrümmert. Die Ecke ist einsam, das nächste Haus ist eine Viertelmeile entfernt. Er wurde wohl zunächst von hinten niedergeschlagen. Der Täter hat noch auf ihn eingedroschen, da war er längst tot. Ein extrem brutaler Überfall. Wir haben weder Fußspuren noch irgendwelche Hinweise auf den Täter entdeckt.«

»Wurde er beraubt?«

»Nein, es gibt keine Anzeichen für einen Raub.«

»Das schmerzt mich tief – das ist ebenso schmerzlich wie schrecklich«, klagte Mr Scott Eccles, »aber Sie tun mir unrecht. Ich hatte nichts damit zu tun, dass mein Gastgeber nachts zu einem Ausflug aufgebrochen ist und einen tragischen Tod gefunden hat. Warum werde ich in diesen Fall verwickelt?«

»Ganz einfach, Sir«, antwortete Inspektor Baynes. »Das einzige Dokument, das wir in den Taschen des Toten gefunden haben, war ein Brief von Ihnen, aus dem hervorging, dass Sie ihn am Vorabend seines Todes besuchen wollten. Der Umschlag Ihres Briefes hat uns Namen und Adresse des Opfers verraten. Wir sind heute Morgen gegen neun bei seinem Haus eingetroffen, haben aber weder Sie noch jemand anderen angetroffen. Ich habe Mr Gregson in einem Telegramm gebeten, Sie in London ausfindig zu machen, und währenddessen die Wisteria Lodge durchsucht. Dann bin ich in die Stadt gefahren, zu Mr Gregson gestoßen, und da sind wir.«

»Ich denke«, sagte Gregson, indem er sich erhob, »wir sollten jetzt alles amtlich festhalten. Am besten, Sie kommen mit auf die Wache und geben Ihre Aussage zu Protokoll, Mr Scott Eccles.«

»Sicher, ich komme gleich mit. Ich werde Ihre Dienste trotzdem weiter in Anspruch nehmen, Mr Holmes. Ich möchte, dass Sie weder Kosten noch Mühen scheuen, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen.«

Mein Freund wandte sich an den Inspektor vom Land.

»Ich nehme an, Sie haben nichts dagegen, wenn ich mit Ihnen zusammenarbeite, Mr Baynes?«

»Wäre mir eine große Ehre, Sir, wahrhaftig.«

»Sie scheinen in jeder Hinsicht sehr flott und professionell vorgegangen zu sein. Darf ich fragen, ob es einen Hinweis auf den genauen Todeszeitpunkt gibt?«

»Er muss seit ein Uhr früh dort gelegen haben. Um diese Zeit hat es geregnet, und er wurde zweifellos ermordet, bevor der Regen einsetzte.«

»Aber das ist vollkommen unmöglich, Mr Baynes«, rief unser Klient. »Seine Stimme ist unverkennbar. Ich könnte schwören, dass er es war, der um ein Uhr nachts in der Tür meines Schlafzimmers stand.«

»Bemerkenswert, ja, aber keinesfalls unmöglich«, erwiderte Holmes lächelnd.

»Durchschauen Sie die Sache?«, fragte Gregson.

»Auf den ersten Blick ist es kein besonders komplexer Fall, obwohl er einige neue, interessante Aspekte hat. Die Fakten müssen gründlicher durchleuchtet werden, bevor ich eine abschließende Meinung äußern kann. Haben Sie, von dem Brief abgesehen, im Rahmen der Hausdurchsuchung weitere Auffälligkeiten entdeckt, Mr Baynes?«

Der Detective sah meinen Freund vielsagend an.

»Ich habe«, sagte er, »ein oder zwei sehr auffällige Dinge entdeckt. Vielleicht möchten Sie mich begleiten, sobald ich auf der Wache alles geregelt habe. Dann könnten Sie mir sagen, was Sie davon halten.«

»Ich stehe Ihnen voll und ganz zur Verfügung«, sagte Sherlock Holmes und läutete. »Bitte führen Sie die Gentlemen hinaus, Mrs Hudson, und seien Sie so nett, den Burschen mit diesem Telegramm loszuschicken. Er soll für eine Antwort im Wert von fünf Schilling bezahlen.«

Nachdem unsere Besucher gegangen waren, saßen wir eine Weile schweigend da. Holmes rauchte verbissen, die Brauen tief über die stechenden Augen gezogen, den Kopf auf typisch energische Art nach vorn gereckt.

»Na, Watson«, fragte er, indem er sich unvermittelt zu mir umdrehte, »wie sehen Sie die Sache?«

»Ich finde den Bericht von Scott Eccles absolut rätselhaft.«

»Und das Verbrechen?«

»Tja, wenn ich das Verschwinden der Hausangestellten bedenke, würde ich meinen, dass sie irgendwie in den Mord verwickelt und vor dem Gesetz geflohen sind.«

»So kann man es sehen, sicher. Aber wie Sie zugeben müssen, ist es sonderbar, dass sich seine Angestellten ausgerechnet an einem Abend gegen ihn verschwören und ihn umbringen, an dem er Besuch hat. Er wäre ihnen an jedem anderen Abend der Woche ausgeliefert gewesen.«

»Warum sind sie dann geflohen?«

»Sehr richtig. Warum sind sie geflohen? Das ist eine wichtige Tatsache. Und das bemerkenswerte Erlebnis unseres Klienten, Scott Eccles, ist noch so eine bemerkenswerte Tatsache. Würde es den menschlichen Horizont übersteigen, eine Erklärung zu finden, die beide Tatsachen unter einen Hut bringt, mein lieber Watson? Würde sie dann auch noch den rätselhaften Brief abdecken, tja, dann wäre sie eine gute Arbeitshypothese. Und sollten neue, zum jetzigen Zeitpunkt noch unbekannte Fakten auch ihren Platz finden, dann könnte sich unsere Hypothese allmählich zu einer Lösung mausern.«

»Und wie lautet unsere Hypothese?«

Holmes lehnte sich mit halb geschlossenen Augen im Sessel zurück.

»Sie werden sicher zugeben, dass es wohl kein Streich sein wird, Watson. Die nachfolgenden Ereignisse zeigen, dass etwas Ernstes im Schwange war, und dass man Scott Eccles zur Wisteria Lodge gelockt hat, hängt damit zusammen.«

»Welchen Zusammenhang sollte es da geben?«

»Gehen wir alles Schritt für Schritt durch. Zunächst einmal ist es ungewöhnlich, dass der junge Spanier und Scott Eccles so rasant Freundschaft geschlossen haben. Garcia hat die Sache forciert. Er besucht Eccles, der am anderen Ende Londons wohnt, gleich am folgenden Tag und hält danach Kontakt, bis er den Mann zu einem Besuch in Esher überreden kann. Nur: Warum Eccles? Was hat Eccles zu bieten? In meinen Augen fehlt dem Mann jeder Charme. Er ist keine Intelligenzbestie – kann es mit einem blitzgescheiten Spanier nicht aufnehmen. Also: Warum wurde ausgerechnet er ausgewählt, obwohl es sicher weitere Personen gab, die Garcia im Hinblick auf seinen Plan für geeignet hielt? Besitzt er einen besonderen Vorzug? Ja, den besitzt er. Er ist die britische Ehrbarkeit in Person und genau der Zeuge, dem ein anderer Brite Glauben schenken würde. Sie haben ja selbst erlebt, dass beide Inspektoren nicht einmal im Traum daran dachten, seine Aussage in Zweifel zu ziehen, obwohl sie so ungewöhnlich war.«

»Aber was sollte er bezeugen?«

»Nichts, wie sich gezeigt hat, und doch alles, wenn sich die Dinge anders entwickelt hätten. So sehe ich die Sache.«

»Verstehe – er hätte für ein Alibi sorgen sollen.«

»Richtig, mein lieber Watson, für ein Alibi. Nehmen wir einfach mal an, alle Bewohner der Wisteria Lodge wären Komplizen gewesen. Ihr Vorhaben, was es auch sei, sollte vor ein Uhr nachts über die Bühne gehen. Gut möglich, dass man die Uhren verstellte, so dass Scott Eccles früher zu Bett ging, als er glaubte. Ich denke, wir können annehmen, dass es erst zwölf Uhr war, als Garcia ihm recht umständlich weismachte, es wäre eins. Hätte Garcia sein Vorhaben in die Tat umsetzen können, und wäre er zur betreffenden Stunde wieder daheim gewesen, dann hätte er jede Anklage abschmettern können. Denn da wäre ja dieser untadelige Engländer gewesen, der jederzeit und vor jedem Gericht beschworen hätte, dass der Angeklagte die ganze Zeit zu Hause gewesen war. Das war eine Notfallversicherung.«

»Ja, ja, das kann ich nachvollziehen. Aber warum haben sich die anderen aus dem Staub gemacht?«

»Ich kenne noch nicht alle Fakten, denke aber, dass die Hürden nicht unüberwindbar sind. Trotzdem ist es ein Fehler, Schlüsse zu ziehen, bevor alle Fakten auf dem Tisch liegen. Man biegt sie unweigerlich so hin, dass sie zur eigenen Theorie passen.«

»Und der Brief?«

»Wie lautet er? ›Unsere eigenen Farben, Grün und Weiß.‹ Klingt nach einem Rennen. ›Grün auf, Weiß zu.‹ Das ist ganz eindeutig ein Signal. ›Haupttreppe, erster Flur, siebte rechts, grüner Boi.‹ Das ist eine Wegbeschreibung. Vielleicht stellen wir am Ende fest, dass ein eifersüchtiger Ehemann hinter der Sache steckt. Es war auf jeden Fall ein riskantes Vorhaben. Andernfalls hätte die Frau ihren Brief nicht mit ›Möge Gott Ihnen beistehen‹ beschlossen. ›D.‹ – das könnte ein Hinweis sein.«

»Der Mann war Spanier. Ich nehme an, das ›D‹ steht für Dolores, in Spanien ein gängiger Frauenname.«

»Gut, Watson, sehr gut – wenn auch sehr unwahrscheinlich. Eine Spanierin hätte einem Landsmann auf Spanisch geschrieben. Die Verfasserin ist eindeutig Engländerin. Tja, uns bleibt nichts anderes übrig, als uns in Geduld zu fassen, bis dieser hervorragende Inspektor zurückkehrt. Und wir sollten unserem Glücksstern dafür danken, dass er uns für ein paar Stunden vor der unerträglichen Qual des Müßiggangs bewahrt hat.«

 

Die Antwort auf Holmes’ Telegramm traf vor dem Polizeibeamten aus Surrey ein. Holmes las die Nachricht und wollte sie schon in sein Notizbuch stecken, als er mein erwartungsvolles Gesicht sah. Er warf mir lachend das Telegramm zu.

»Wir bewegen uns in hochmögenden Kreisen«, sagte er.

Das Telegramm bestand in einer Liste von Namen und Adressen:

Lord Harringby, The Dingle; Sir George Ffolliott, Oxshott Towers; Mr Hynes Hynes, Friedensrichter, Purdey Place; Mr James Baker Williams, Forton Old Hall; Mr Henderson, High Gable; Pastor Joshua Stone, Nether Walsing.

»Eine naheliegende Methode, um uns die Arbeit zu erleichtern«, sagte Holmes. »Baynes verfolgt sicher eine ähnliche Strategie, denn er denkt methodisch.«

»Ich verstehe nicht ganz.«

»Tja, alter Knabe, wir sind ja schon zu dem Schluss gelangt, dass es sich bei der Nachricht, die Garcia während des Dinners erhielt, um eine Verabredung oder einen Auftrag handelt. Also: Träfe diese Deutung zu und müsste man, um die Verabredung einzuhalten, eine Haupttreppe hinaufgehen und die siebte Tür in einem Flur suchen, dann müsste es ein sehr großes Haus sein. Außerdem dürfte es nicht mehr als ein oder zwei Meilen von Oxshott entfernt sein, weil Garcia, laut meiner Lesart der Fakten, rechtzeitig wieder in der Wisteria Lodge sein wollte, um sich das Alibi zu sichern – und das war nur bis ein Uhr früh möglich. Und weil es in der Umgebung von Oxshott nur eine begrenzte Anzahl großer Häuser geben kann, habe ich die von Scott Eccles erwähnte Hausverwaltung per Telegramm um eine Liste dieser Häuser gebeten. In diesem Telegramm sind sie aufgeführt, und in einem von ihnen muss das andere Ende unseres verworrenen Strangs zu finden sein.«

 

Als wir in Begleitung von Inspektor Baynes das hübsche Dörfchen Esher in Surrey erreichten, war es fast achtzehn Uhr.

Wir hatten alles für eine Übernachtung eingepackt und fanden gemütliche Zimmer im Bull, dem lokalen Inn. Danach brachen wir mit dem Inspektor zur Wisteria Lodge auf. Es war ein kalter, dunkler Märzabend, der schneidende Wind peitschte uns feinen Regen ins Gesicht, ein passender Rahmen sowohl für das urtümliche Gemeindeland, das wir durchquerten, als auch für das tragische Ziel, zu dem uns die Straße führte.

Zwei – Der Tiger von San Pedro

Nachdem wir bei kaltem und tristem Wetter ein paar Meilen marschiert waren, erreichten wir ein hohes Holztor, das sich auf eine düstere Kastanienallee öffnete. Die geschwungene, verschattete Zufahrt führte uns zu einem niedrigen Haus, das sich pechschwarz vom schiefergrauen Himmel abhob. Im Fenster links von der Haustür glomm ein schwaches Licht.

»Ein Constable schiebt Wache«, sagte Baynes. »Ich klopfe ans Fenster.« Er ging über den Grasstreifen und pochte. Durch das beschlagene Glas war verschwommen zu erkennen, dass ein Mann von einem Stuhl am Feuer aufsprang, und ich hörte einen spitzen Schrei. Kurz darauf wurde die Tür von einem kreidebleichen, um Atem ringenden Polizisten geöffnet, der eine Kerze in der zitternden Hand hielt.

»Was ist denn los, Walters?«, fragte Baynes scharf.

Der Mann wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn und entließ einen tiefen Seufzer der Erleichterung.

»Wie gut, dass Sie da sind, Sir. War ein langer Abend, und ich glaube, meine Nerven sind nicht mehr das, was sie mal waren.«

»Ihre Nerven, Walters? Ich hätte nicht gedacht, dass Sie überhaupt welche haben.«

»Na ja, Sir, ist ein einsames, stilles Haus, dazu das komische Ding in der Küche. Und als Sie an das Fenster geklopft haben, glaubte ich, er wäre wieder da.«

»Wen meinen Sie?«

»Den Teufel, Sir, so jedenfalls sah er aus. Er stand vor dem Fenster.«

»Wer stand vor dem Fenster? Und wann?«

»Vor etwa zwei Stunden. Es dämmerte gerade. Ich saß auf dem Stuhl und las. Keine Ahnung, warum ich den Blick hob, aber da war jemand, der mich durch die untere Scheibe anstarrte. Guter Gott, Sir – was für ein grässliches Gesicht! Es wird mich bis in meine Träume verfolgen.«

»Na na, Walters. So redet doch kein Constable.«

»Ich weiß, Sir, ich weiß. Aber es hat mich nachhaltig erschüttert, Sir, das ist eine Tatsache. Das Gesicht war weder schwarz noch weiß, Sir. Es war von keiner mir bekannten Farbe, sondern sah aus wie Lehm mit einem Schuss Milch. Dazu die Größe – doppelt so groß wie Ihres, Sir. Und dieser Blick aus großen, glotzenden Froschaugen und weiße Zähne wie die eines hungrigen Raubtiers. Ganz ehrlich, Sir, ich war wie gelähmt, und mir stockte der Atem, bis das Wesen verschwand. Ich bin sofort hinausgerannt und habe das Gebüsch durchkämmt, aber Gott sei Dank war niemand da.«

»Wenn ich nicht wüsste, dass Sie ein guter Mann sind, Walters, würde ich Ihnen das ankreiden. Ein Constable im Dienst sollte dem lieben Gott niemals dafür danken, dass ihm jemand entwischt ist, und sei es der Teufel höchstpersönlich. Oder haben wir es hier mit einer Wahnvorstellung und schwachen Nerven zu tun?«

»Das ist leicht zu beantworten«, sagte Holmes, der seine kleine Taschenlaterne entfachte. »Ja«, berichtete er nach einer kurzen Untersuchung des Grasstreifens, »hier stand jemand mit Schuhgröße sechsundvierzig. Wenn seine Körpergröße der seiner Füße entspricht, muss er ein wahrer Riese sein.«

»Und wo ist er geblieben?«

»Er ist offenbar durch das Gebüsch zur Straße gestürmt.«

»Tja«, sagte der Inspektor mit ernster, nachdenklicher Miene, »wer auch immer er ist, und was immer er wollte, er ist weg, und uns brennt anderes auf den Nägeln. Wenn Sie erlauben, Mr Holmes, führe ich Sie nun durch das Haus.«

In den diversen Schlaf- und Wohnzimmern war trotz gründlicher Suche nichts gefunden worden. Das Haus war bis ins kleinste Detail möbliert, und die Mieter schienen wenig bis gar nichts Eigenes mitgebracht zu haben. Sie hatten viel Kleidung dagelassen, alles mit dem Etikett Marx & Co., High Holborn. Telegraphische Nachforschungen hatten bereits ergeben, dass die Firma Marx bis auf die Tatsache, dass prompt bezahlt wurde, nichts über den Kunden wusste. Zu den persönlichen Gegenständen gehörten diverser Krimskrams, ein paar Pfeifen, mehrere Romane, zwei davon auf Spanisch, ein altmodischer Stiftfeuerrevolver und eine Gitarre.

»Alles absolut unergiebig«, sagte Baynes, der mit einer Kerze in der Hand von einem Zimmer ins nächste ging. »Aber jetzt, Mr Holmes, möchte ich Sie bitten, Ihre Aufmerksamkeit der Küche zuzuwenden.«

Diese war ein hoher, düsterer Raum hinten im Haus. In einer Ecke befand sich ein Lager aus Stroh, offenbar die Schlafstätte des Kochs. Auf dem Tisch türmten sich Speisereste und dreckige Teller, die Überbleibsel vom Vorabend.

»Schauen Sie sich das mal an«, sagte Baynes. »Was halten Sie davon?«

Er hob die Kerze vor ein seltsames Objekt, das hinten auf der Kommode stand. Es war so verschrumpelt, dass kaum noch zu bestimmen war, worum es sich gehandelt hatte. Man konnte nur erkennen, dass es schwarz und lederig war und in gewisser Weise einer zwergenhaften menschlichen Gestalt glich. Als ich es untersuchte, hielt ich es zunächst für ein mumifiziertes Negerbaby, danach kam es mir vor wie ein stark verrenkter, uralter Affe. Am Ende hätte ich nicht mehr sagen können, ob es Mensch oder Tier war. Um die Mitte des Objekts hatte man eine doppelt gelegte Schnur mit weißen Muscheln gebunden.

»Sehr interessant – wirklich sehr interessant!«, sagte Holmes, der das unheimliche Relikt betrachtete. »Gibt es noch mehr?«

Baynes führte uns stumm zur Spüle und streckte die Kerze nach vorne. In der Spüle lagen die teils noch gefiederten Körperteile eines großen, weißen Vogels, den man brutal in Stücke gerissen hatte. Holmes zeigte auf den Kamm auf dem abgetrennten Kopf.

»Ein weißer Hahn«, sagte er. »Hochinteressant! Ein überaus merkwürdiger Fall, wirklich.«

Doch Mr Baynes hatte sich die unheimlichsten Funde bis zum Schluss aufgespart. Er zog eine Zinkwanne unter dem Tisch hervor, in der Blut schwappte. Dann griff er nach einem auf dem Tisch stehenden Tablett, auf dem sich kleine, verkohlte Knochenteile türmten.

»Irgendetwas wurde getötet, irgendetwas wurde verbrannt. Wir haben die Überreste aus der Asche geharkt. Heute früh war ein Arzt hier. Er meinte, es seien keine menschlichen Knochen.«

Holmes rieb sich lächelnd die Hände.

»Ich muss Ihnen zu Ihrem Vorgehen in diesem einmaligen und lehrreichen Fall gratulieren, Inspektor. Sie verfügen über Fähigkeiten, denen die hiesigen Fälle nicht gerecht werden, wenn ich das so sagen darf.«

Die kleinen Augen von Inspektor Baynes glitzerten vor Freude.

»Da haben Sie recht, Mr Holmes. In der Provinz gibt es kein Fortkommen. Ein solcher Fall ist eine Chance, und ich hoffe, sie nutzen zu können. Was meinen Sie zu diesen Knochen?«

»Ein Lamm, würde ich sagen. Oder ein Zicklein.«

»Und der weiße Hahn?«

»Eigenartig, Mr Baynes, sehr eigenartig. Einzigartig, würde ich fast meinen.«

»Ja, Sir, in diesem Haus scheinen extrem sonderbare Leute mit extrem sonderbaren Angewohnheiten gelebt zu haben. Einer von ihnen ist tot. Sind ihm seine Kumpane gefolgt und haben ihn dann ermordet? Wenn ja, werden wir sie bald schnappen, denn alle Häfen stehen unter Bewachung. Ich sehe die Sache aber anders. Ja, Sir, ich habe da eine ganz andere Sichtweise.«

»Sie haben also eine Theorie?«

»Und ich werde allein daran feilen, Mr Holmes. Ich muss das aus eigener Kraft schaffen. Sie haben sich schon einen Namen gemacht, aber ich muss mir die Sporen noch verdienen. Ich würde im Nachhinein gern sagen, dass ich den Fall ohne Ihre Hilfe gelöst habe.«

Holmes lachte gutmütig.

»Gut, gut, Inspektor«, sagte er. »Sie verfolgen Ihre Fährte und ich meine. Falls gewünscht, stelle ich Ihnen meine Erkenntnisse gern zur Verfügung. Ich denke, dass ich in diesem Haus alles gesehen habe und meine Zeit anderswo sinnvoller nutzen kann. Au revoir und viel Glück!«

Zahlreiche feine Anzeichen, die wohl niemand außer mir bemerkt hätte, verrieten mir, dass Holmes auf einer heißen Spur war. Auf einen flüchtigen Beobachter wirkte er wie üblich gleichmütig, aber seine noch intensiver funkelnden Augen und die gesteigerte Energie verrieten einen unterdrückten Eifer und eine Anspannung, und beides gab mir die Gewissheit, dass der Ball ins Rollen gekommen war. Er ließ wie gewohnt nichts verlauten, und wie gewohnt, hakte ich nicht nach. Mir genügte es, an der Jagd teilzunehmen und auf bescheidene Art zum Erfolg beizutragen, ohne sein intensives Denken durch überflüssige Fragen zu stören. Zu gegebener Zeit würde ich alles erfahren.

Also wartete ich – zu meiner wachsenden Enttäuschung aber umsonst. Die Tage verstrichen, ohne dass mein Freund in Aktion getreten wäre. Er verbrachte einen Vormittag in London, und ich entnahm einer hingeworfenen Bemerkung, dass er im Britischen Museum gewesen war. Von diesem Ausflug abgesehen, vertrieb er sich die Tage mit langen, oft einsamen Spaziergängen oder plauderte im Dorf mit diversen Klatschmäulern, deren Bekanntschaft er kultiviert hatte.

»Sie werden merken, dass eine Woche auf dem Land Wunder wirkt, Watson«, bemerkte er. »Sehr wohltuend, die ersten Triebe der Hecken und die Kätzchen der Haselnusssträucher zu sehen. Mit einem Spachtel, einer Blechdose und einem Grundlagenbuch der Botanik kann man lehrreiche Tage verbringen.« Er war mit einer entsprechenden Ausrüstung unterwegs, aber die Ausbeute, die er abends anschleppte, war mager.

Auf Spaziergängen begegneten wir manchmal Inspektor Baynes. Wenn er meinen Gefährten begrüßte, glitzerten seine kleinen Augen, und er lächelte so breit, dass sich sein rotes, speckiges Gesicht in dicke Falten legte. Er sprach selten über den Fall, aber den wenigen Worten, die er verlor, entnahmen wir, dass auch er mit dem Verlauf der Dinge nicht ganz unzufrieden war. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich ziemlich überrascht war, als mir fünf Tage nach dem Verbrechen beim Aufschlagen der Zeitung die folgende fette Überschrift ins Auge sprang:

DAS RÄTSEL VON OXSHOTT

EINE LÖSUNG

Mutmaßlicher Mörder verhaftet

Holmes sprang wie von der Tarantel gestochen von seinem Stuhl auf, als ich die Überschrift vorlas.

»Beim Jupiter!«, rief er. »Wollen Sie damit sagen, dass Baynes den Mann geschnappt hat?«

»Scheint so«, sagte ich und las den folgenden Artikel:

»Die Nachricht, dass im Zusammenhang mit dem Mord in Oxshott letzte Nacht eine Verhaftung erfolgte, sorgte in Esher und dessen Nachbarbezirk für große Aufregung. Man wird noch wissen, dass auf dem Oxshott Common die von brutaler Gewaltanwendung gezeichnete Leiche Mr Garcias aus der Wisteria Lodge entdeckt wurde und dass Diener und Koch noch in der gleichen Nacht die Flucht ergriffen, was ein Indiz für ihre mögliche Tatbeteiligung ist. Es wurde vermutet, wenn