Shivas zweites Gesicht - Christine Barbara Philipp - E-Book

Shivas zweites Gesicht E-Book

Christine Barbara Philipp

4,9

Beschreibung

Carina von Wolfsberg, eine junge Studentin, liegt in einem Krankenhaus auf Bali - der Insel der Götter - im Koma. Sie war in einem Tempel unter mysteriösen Umständen zusammengebrochen. Die deutsche Detektivin Eva Larson wird gebeten, Licht ins Dunkle dieses seltsamen Falles zu bringen und wird in lebensgefährliche Situationen verstrickt. Nichts ist, wie es scheint auf dieser Insel, auf der Götter und Dämonen das Leben der Inselbewohner noch heute bestimmen.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel

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Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

1. Kapitel

Eva Larson öffnete im Schlafanzug und Morgenmantel die Wohnungstür und schaute irritiert auf ihren Schwiegervater, der vollkommen unerwartet vor ihr stand.

„Was für eine Überraschung!“

Nils Larson lächelte sie an.

„Darf ich eintreten?“

„Ja, natürlich.“

Eva trat einen Schritt zur Seite und winkte den grauhaarigen, schlanken Mann an sich vorbei in den schmalen Korridor ihrer Münchener Wohnung. Sie fuhr sich mit den Fingern durch ihre langen, dunkelblonden Haare, um einen ansatzweise gekämmten Eindruck zu machen.

„Opa!“ Raoul hatte wohl auch das Läuten gehört und kam aus seinem Zimmer. „Das finde ich ja toll, dass du uns besuchen kommst!“

„Ja, ganz toll“, murmelte Eva, die sich auf einen gemütlichen Sonntag mit einem guten Buch auf der Couch gefreut hatte.

„Seit wir hier wohnen warst du erst zweimal zu Besuch“, stellte sie fest. In ihrer Stimme schwang ein leichter Vorwurf. Sie musterte ihren Gast aufmerksam. „Das letzte Mal zum zwanzigsten Geburtstag deines Enkels. Und das ist nun auch schon wieder fünf Jahre her.“

Nils Larson hatte in einem breiten Sessel mit großem rosa Rosen-Muster Platz genommen und räusperte sich.

„Ja, das stimmt. Glaubst du mir, wenn ich sagen würde, ich habe Sehnsucht nach euch gehabt?“

Seine Schwiegertochter lachte auf. Sie wusste zwar, wie gerne er sie hatte und wie sehr er Raoul liebte, doch er bevorzugte es, sich auf seinem Landsitz, einem „Schlösschen“ im Dithmarscher Nordermarsch in der Nähe von Sankt Peter Ording, besuchen zu lassen.

Diese wunderschöne Jugendstilvilla, die umgeben war von einem zauberhaften Garten, war sein ganzer Stolz. Mit großer Begeisterung zelebrierte er Familienzusammenkünfte und wenn sie ehrlich war, gab es dafür auch keinen besseren Ort.

Eva erinnerte sich, wie sie zum ersten Mal mit ihrem Verlobten Peer durch das schmiedeeiserne Tor gefahren war. Ihre zukünftigen Schwiegereltern, Nils und Ylvie Larson, erwarteten sie auf der geschwungenen Treppe. Wie aus einem Buch von Jane Austen, hatte sie sich damals gedacht. Nur fehlten die Dienstboten – die Frauen mit gestärkten weißen Blusen und Schürzen, die Männer in Livree.

Nach der Hochzeit folgten schöne Jahre. Peer und sie hatten anspruchsvolle Stellen bei der Polizei. Als Raoul auf die Welt kam, schien das Glück perfekt.

Dann war Ylvie gestorben. Ein großer Schock für die Familie. Sie fehlte dem Haus, war sein guter Geist, der überall seine Handschrift hinterlassen hatte. Und fünf Jahre später kam die Trennung mit Peer. Fortan hatte Eva meist auf Familienfeiern verzichtet. Zu schmerzlich war für sie die Erinnerung an die schöne Zeit, die sie dort zusammen mit ihrem Mann verbracht hatte.

Eva hatte einen Tee aufgebrüht, eine starke und dunkle friesische Mischung. Sie reichte Nils Larson seine Tasse über den Tisch.

„Also, wie kommen wir zu dieser Ehre?“

Raoul hatte sich zu seiner Mutter auf die Couch gesetzt und hakte nach.

„Ja, das würde mich auch interessieren. Ist was passiert? Du bist doch nicht etwa krank?“

Sein Großvater ließ zwei Zuckerwürfel in die Tasse fallen und rührte um.

„Nein, ich bin nicht krank“, sagte er langsam. „Aber es ist etwas passiert.“

Er seufzte und fing an zu erzählen.

Wie Eva aus früheren Erzählungen bereits wusste, hatte Nils Schwester Marja seiner Zeit gegen den Widerstand ihrer vermögenden Eltern den verarmten Landadligen Wilhelm von Wolfsberg geheiratet und war zusammen mit ihm nach Amerika ausgewandert. Jahrelang hatte Funkstille geherrscht. Erst als der Sohn, Alexander, geboren wurde, gab es wieder eine Annäherung an die Familie. Nils Larson besuchte schließlich zur Feier der Taufe seines Neffen seine Schwester und deren Mann in Los Angeles und knüpfte die Familienbande wieder.

„Während sich mein Schwager Wilhelm, Gott hab ihn selig, gerade mal so über Wasser hielt, legte mein Neffe Alexander im Laufe der Zeit eine steile Karriere hin. Heute verkauft er Luxusimmobilien in Kalifornien und auf Hawai’i. Scheinbar so erfolgreich, dass er heute zu den oberen Zehntausend gehört. Behauptet er selbst zumindest.“

„Ich begreife immer noch nicht, worauf du hinaus willst“, unterbrach Eva ungeduldig.

„Ich versuche es ja zu erklären. Mein Neffe ist in zweiter Ehe mit Charlotte verheiratet, einer bekannten Modedesignerin. Seine erste Frau lebt nicht mehr. Überdosis Amphetamin, hieß es. Aus dieser ersten Ehe hat er aber eine Tochter. Sie heißt Carina. Und um die geht es. Meine Schwester rief gestern völlig aufgelöst an und erzählte mir, dass eben diese Enkelin auf Bali im Koma liegt.“

„Um Gottes Willen, was ist denn passiert?“

„Darum geht es ja. Marja weiß nicht, was passiert ist. Sie weiß nur, dass Carina ein Auslandssemester auf Bali absolviert hat und Charlotte und Alexander zu ihr geflogen waren, um noch zwei Wochen gemeinsam Urlaub mit ihr zu verbringen. Als sie auf der Insel landeten, bekamen sie die schreckliche Nachricht, ihre Tochter läge im Krankenhaus ohne Bewusstsein. Sie war unter dubiosen Umständen dort eingeliefert worden. Ihr Vater und ihre Stiefmutter sind vollkommen ratlos und wissen nicht, was geschehen ist. Es wird wohl eine polizeiliche Ermittlung geben. Es soll sogar ein Polizist vor ihrer Tür stehen. Und jetzt macht sie sich die größten Sorgen.“

„Kann ich mir vorstellen“, sagte Raoul. „Klingt alles etwas diffus.“

„Ja, allerdings.“

Nils Larson machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach.

„Eva, ich hatte bei einem meiner letzten Gespräche mit Marja erwähnt, dass du bei der Polizei aufgehört hast und nun deine eigene Privat-Detektei betreibst. Und nun bat sie mich, dich zu fragen, ob du nicht den Auftrag übernehmen und nachforschen willst, was mit Carina passiert ist. Die Bezahlung ist außerordentlich gut und du könntest morgen bereits 1. Klasse nach Bali fliegen. Der Flug ist gebucht und bezahlt. Kann ich auf dich zählen?“

„Natürlich kannst du das, Opa“, kam Raoul seiner Mutter zuvor. „Und ich komme mit.“

2. Kapitel

Auch wenn der Flug in der Ersten Klasse mit Singapore Airlines äußerst komfortabel gewesen war, so konnte Eva den Luxus des Liegesitzes und des Gourmet-Menüs nur schwer genießen. Zu viele Dinge gingen ihr durch den Kopf.

Wie konnte sie es zulassen, dass ihr Sohn sie begleitete? Wo sie doch besonders auf konzentriertes Arbeiten ohne jede Ablenkung Wert legte? Nur weil er Semesterferien hatte und sein Großvater den Flug bezahlte?

Und dann war da noch dieser Traum in der Nacht vor dem Abflug. Sie sah ihren Sohn vor einem großen Tempel stehen und er breitete die Arme aus, um sie zu begrüßen. Doch noch bevor sie ihn erreichte, senkte sich ein tiefschwarzer Schatten über ihn und löschte seinen Körper vor ihren Augen aus. Schweiß gebadet war Eva erwacht und hatte beim Frühstück versucht, Raoul davon zu überzeugen, zuhause zu bleiben. Doch er hatte nur gelacht.

Unangenehm war es gewesen, mit ihrem Mann Peer zu sprechen, der nach einem Bombenanschlag in einer Diskothek in Kuta drei Jahre zuvor zu einem Auslandseinsatz auf Bali gewesen war und ihr nun den Kontakt zur balinesischen Polizei knüpfte. Der es bei dem Telefonat wieder nicht lassen konnte, sie um eine persönliche Aussprache zu bitten. Die sie wie immer ablehnte. Was hatte sie einem Mann zu sagen, der sie mit einer Frau betrogen hatte, die locker seine Tochter sein konnte. Nichts. Das war ihre Art, die eigene Würde zu bewahren.

Die Maschine setzte zum Landeanflug an und Eva schaute aus dem kleinen Fenster hinunter auf das tiefblaue Meer. Dann tauchte die Insel auf. Zuerst ein schemenhafter Küstensaum, dann die Hauptstadt Denpasar und die Touristenhochburgen Kuta und Sanur, die mit nahezu flächendeckender Bebauung wenig Muttererde durchscheinen ließen. Nur im Süden konnte man das Grün des Garuda Wisnu Kencana Cultural Park ahnen, den sie das letzte Mal noch vor ihrem Abflug besucht hatte.

„Nun bin ich also wieder da,“ flüsterte sie leise. Ihr Herz verkrampfte sich. Sie erinnerte sich an ihren ersten Besuch auf Bali mit Peer vor so langer Zeit.

Es war ihre Hochzeitsreise gewesen. Sie wohnten damals in einem kleinen Homestay in Ubud und fühlten sich wie Kinder, die ein Märchenreich entdeckten. Ihr Zimmer war so groß wie eine Schuhschachtel, möbliert mit einem Bett, über dem ein Moskitonetz hing. Der Boden war weiß gefliest, so dass Eva zu ihrer Begeisterung alles entdecken konnte, was da kreuchte und fleuchte. Die verglaste Tür führte direkt in einen kleinen Garten, der von hohen Mauern umgeben war. Damals herrschte Regenzeit und wenn sie sich ins Bett kuschelten, konnten sie draußen beobachten, wie dicke Tropfen die tropischen Pflanzen duschten. Am Rande des Grundstücks lag der gepflegte Haustempel, der immer mit frischen Opfergaben geschmückt wurde, und der betörende Geruch der Räucherstäbchen wehte hinein bis in ihr Zimmer. Putu und Made, das Ehepaar, das sie bei sich aufgenommen hatte, kümmerten sich um sie wie um eigene Kinder.

Ein Zauber lag damals über der Insel, der sie sofort in ihren Bann gezogen hatte. Selbst Peer, der an sich vollkommen unempfänglich für Götter und Dämonen war, ließ sich mitreißen von den alles durchdringenden Klängen der Tempelglocken, von dem Rhythmus der Gamelan-Musik, der faszinierenden Tanzvorführung vor der Kulisse des alten Palastes.

Der Markt war laut und bunt, die Händler geschickt und freundlich. Eva besaß sogar noch einen der fünf Sarongs, die sie sich damals gekauft hatte. Er war in einem tiefen Lila gefärbt und mit goldenen Ornamenten bedruckt. Zuhause zierte er einen kleinen Tisch in ihrem Schlafzimmer.

Zwanzig Jahre später war sie das zweite Mal nach Bali gereist. Dieses Mal alleine nach der Trennung von ihrem Mann. Um sich die Wunden zu lecken. Sie wohnte in einem abgelegenen Yoga-Retreat hinter Amed im Osten der Insel und verließ ihre Rückzugsoase nur, um kurze Ausflüge mit einem gemieteten Motorroller zu machen. Ubud mied sie wie der Teufel das Weihwasser.

Und dennoch konnte sie auf ihren Exkursionen erahnen, wie sehr sich die Insel geändert hatte. Es schienen nun mehr Taxifahrer als Touristen zu geben. Die zurückhaltende Art der Bevölkerung war oft einem aggressiven Ansprechen gewichen. Es war nahezu unmöglich, sich irgendwo in Ruhe in einem kleinen Laden oder auf einem Markt umzusehen, ohne gleich von einer Traube von Dienstleistern umgeben zu sein, die ihr für ihren Geschmack zu nahe auf die Pelle rückten. Also besuchte sie lieber die Kurse des Retreats, aß vegetarisch und ließ sich die Gifte aus ihrem Körper massieren. Das tat gut. Ihre vergifteten Gedanken hingegen heilten nur langsam.

An der Passkontrolle traf sie Raoul wieder, der nach dem Flug in der Touristenklasse etwas unausgeschlafen aussah.

„Wurde ich eigentlich hier auf Bali gezeugt?“, fragte er beim Warten in der Schlange seine Mutter lauter, als ihr lieb war. Einige Mitreisende grinsten unverschämt, andere tuschelten und lachten.

Doch auch Eva konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

„Höchstwahrscheinlich.“

„Und wo genau?“

„Raoul! Das geht dich nichts an!“

Eva war froh, dass sie in diesem Moment von dem Beamten an den Schalter gewunken wurden.

Als sie aus dem Flughafengebäude hinaustraten, traf sie die ganze Wucht des feuchtheißen Klimas. Ein Schwarm von Fahrern bot feilschend seine Dienste an und vorwitzige Hände griffen nach ihrem Gepäck und wollten es zu ihren Fahrzeugen tragen.

„Das nervt etwas.“

Raoul sah seine Mutter ratlos an.

Eva Larson blickte sich kurz um. Dann rollte sie ihren Koffer an die Spitze der Wagenkolonne und blieb dort stehen. Es vergingen nur Sekunden, dann tauchte der Fahrer auf.

Wenig später saßen sie in einem blauen Taxi mit Taxameter, das sie direkt ins Krankenhaus bringen sollte. Das Bali International Medical Centre lag nur wenige Kilometer vom Flughafen entfernt und war eigentlich gut auf einer Art Schnellstraße zu erreichen. Doch der Verkehr war dicht und staute sich.

Eva schaute nachdenklich aus dem Fenster. Die Insel schien seit ihrem letzten Besuch noch voller geworden zu sein. Aus einem großen Reisebus, der ihnen entgegen kam, schauten chinesische Touristen. Hunderte von Moped- und Motorradfahrern schlängelten sich an den Autos vorbei, so knapp, dass sie manchmal die Luft anhielt. Gerade überholten sie eine Droschke, in der zwei äußerst beleibte Männer saßen. Ihre ehemals weißen Gesichter waren von der Sonne krebsrot gefärbt. Das zierliche Pferd, dem man eine bestickte Kappe als Scheuklappe übergestülpt hatte, wurde mit leichten Peitschenschlägen von dem Kutscher angetrieben, die menschliche Last durch die abgasgeschwängerte Stadt zu ziehen.

Raoul hatte sich nach vorne zum Fahrer gesetzt und Eva hörte von der Rückbank aus die übliche Konversation: Wie heißt du, wo kommst du her, bist du das erste Mal auf Bali, bist du verheiratet, brauchst du die nächsten Tage einen Fahrer, ich mache dir einen guten Preis …

Doch noch bevor Raoul all diese Fragen beantworten konnte, hielt der Wagen vor dem Hospital.

An der Rezeption saß ganz in weiß gekleidet ein älterer Balinese. Eva steuerte geradewegs auf ihn zu. Ihren Sohn hatte sie angewiesen, im Empfangsbereich mit den Koffern auf sie zu warten.

„Ich komme aus Deutschland. Ich möchte zu Carina von Wolfsberg,“ sagte sie auf Englisch.

Der Mann zuckte nur mit den Schultern.

„Aku datang dari Jerman. Saya mencari pasien Carina von Wolfsberg.“

Nun blickte der Mann auf. Er schaute sofort in seine Liste.

„Stasiun 4, kamar 145.“

„Terima kasih. Danke“.

Der kleine Sprachkurs, den sie vor fünf Jahren gemacht hatte, zeigte Wirkung.

Eva Larson sah einen uniformierten Polizisten und wusste, dass sie das richtige Zimmer erreicht hatte. Sie zeigte ihm ihre Papiere, die sie vorab per Fax von der balinesischen Polizei bekommen hatte.

Nach dem Anklopfen betrat sie das Zimmer 145 und ging auf eine schlanke Frau mit kurzen blonden Haaren zu, die auf einem Stuhl neben dem Krankenbett saß. Sie machte einen sehr gepflegten Eindruck, trug ein legeres, hellblaues Seidenkostüm und hohe Schuhe in der passenden Farbe. Alles vom Feinsten, stellte Eva auf den ersten Blick fest. Aber geschmackvoll.

„Frau von Wolfsberg?“

„Ja. Sie sind sicher Eva Larson,“ antwortete sie leise und stand auf, um der Detektivin die Hand zu reichen. „Und das hier ist unsere Carina.“

Sie deutete auf das Bett, in dem eine junge Frau lag. Viel war nicht von ihr zu erkennen. Schwarze, halblange Haare lugten unter einem großen Kopfverband hervor. Ihre Augen waren geschlossen. Sie war intubiert und wurde künstlich beatmet. Aus einem Tropf, der neben dem Bett stand, ging ein Schlauch in eine Kanüle, die an ihrer Hand befestigt war. Die Ausbuchtung unter der dünnen Decke an ihrem Bauch ließ Eva schließen, dass man ihr auch einen Blasenkatheter gesetzt hatte. Die gleichmäßigen Herztöne der Patientin waren über ein Gerät zu hören, das neben dem Bett stand.

Das volle Programm also, dachte sich Eva und seufzte. Carina von Wolfsberg war nicht der erste junge Mensch, den Eva in ihrer langen Laufbahn als Kommissarin in diesem Zustand nach dem Konsum von Liquid Ecstacy so gesehen hatte.

Koma durch GHB – so stand es unmissverständlich im medizinischen Bericht, den Eva noch kurz vor ihrem Abflug per Email zugeschickt bekommen hatte.

Gamma-Hydroxy-Buttersäure, kurz GHB, war die wissenschaftliche Bezeichnung für das Mittel, das früher als Narkosemittel eingesetzt worden war. Später dann sorgte es als sogenannte K.O.-Tropfen und als Vergewaltigungsdroge für Schlagzeilen.

Seltsamerweise wurde in dem Bericht aber auch erwähnt, dass auch THC, also Tetrahydrocannabinol, die bekannte psychoaktive Substanz in Marihuana, im Blut von Carina von Wolfsberg nachgewiesen worden war. Die Einnahme von zwei so unterschiedlichen Rauschmitteln war ungewöhnlich. Und Alkohol spielte wohl auch eine Rolle.

Eva Larson trat an das Bett und betrachtete die junge Frau, deren Seele irgendwo in einem Reich zwischen Leben und Tod schwebte. Dann schaute sie auf, wobei ihr Blick auf das große Gemälde fiel, das über dem Kopfende hing.

Es zeigte die Gottheit Shiva. Sein Körper war in bläulicher Aschefarbe gemalt, aus seinem Kopf entsprang der heilige Fluss Ganges und um seinen Hals schlang sich eine Kobra. Im Hintergrund lag sein Göttersitz, der heilige Berg Kailash. Die Augen hatte er halb geöffnet, in zwei seiner vier Hände hielt er eine Trommel und einen Dreizack. In den beiden anderen erkannte Eva Mudras, Handgesten, die Schutz und Wunscherfüllung symbolisierten.

Die Tür öffnete sich und ein Arzt und eine Krankenschwester betraten den Raum.

„Ich warte draußen“, sagte Eva.

„Ich komme mit Ihnen.“

Am hellen Gang, der von Neonröhren beleuchtet war, standen mehrere Stühle und die beiden Frauen setzten sich.

„Ich bin noch nicht ganz im Bilde über die Vorkommnisse, die zum Zustand Ihrer Stieftochter führten, Frau von Wolfsberg.“

„Bitte nennen Sie mich Charlotte,“ sagte die blonde Frau.

„Ich heiße Eva.“

Es entstand eine kurze Pause.

Gerade wollte Eva Larson damit beginnen, Charlotte zu befragen, da ertönte vom anderen Ende des Ganges die Stimme ihres Sohnes.

„Da bist du ja, Mama.“

Er hatte seinen kleinen Rucksack am Rücken und zog ihre beiden Rollenkoffer hinter sich her. Sie machten einen Lärm, als würde ein Güterzug durch das Krankenhaus fahren.

„Das ist mein Sohn Raoul.“ Sie schaute Charlotte von Wolfsberg an. „Er wird mir bei diesem Fall assistieren.“

„Ach so? Ich dachte, Sie würden alleine kommen.“

„Nein, ich hielt es für eine gute Idee, ihn zu meiner Unterstützung mitzunehmen. Er ist so ziemlich im gleichen Alter wie Ihre Stieftochter und dieser Umstand kann sicherlich hilfreich sein, die Kommilitonen von Carina zu befragen.“

Innerlich schüttelte Eva den Kopf. Was für einen Unsinn hatte sie da gerade erzählt.

„Wegen der Kosten machen Sie sich keine Gedanken. Er ist in meinem Honorar inbegriffen.“

Sie stand auf und ging einige Schritte auf ihren Sohn zu.

„Sagte ich nicht, du solltest unten warten?“ zischte sie ihn an.

„Ja, schon. Aber Papa hat angerufen und mit dem hiesigen Superintendant – ich habe den Namen vergessen – gleich nachher einen Termin ausgemacht.“

„Ach, hat er?“

„Er kommt ins Krankenhaus und holt dich ab.“

Eva Larson hatte zwar gehofft, schnell mit dem ermittelnden Superintendant Kontakt aufnehmen zu können – aber so ganz über ihren Kopf hinweg gefiel es ihr nicht so gut.

Sie wollte gerade noch etwas zu ihrem Sohn sagen, da kam der Arzt zusammen mit der Schwester aus dem Krankenzimmer.

Er sprach einige Worte zu Charlotte von Wolfsberg, als Eva herantrat und sich vorstellte.

„Angenehm. Wie ich schon Frau von Wolfsberg sagte, gibt es keine Fortschritte“, sagte er in bestem Deutsch. „Ich bin Dr. Verhofen, Neurologe aus Hamburg. Herr von Wolfsberg hat mich einfliegen lassen, um den Gesundheitszustand seiner Tochter zu beurteilen und sie hier zu betreuen. Bitte folgen Sie mir.“

Die kleine Gruppe bewegte sich den Gang entlang hin zu einem Besprechungsraum. Rund um einen kleinen Tisch, auf dem verstreut Zeitschriften lagen, nahmen sie auf weißen Stühlen Platz.

„Ich kann vorläufig feststellen, dass die Droge GHB in einer Überdosis eingenommen oder verabreicht wurde. Ob die junge Frau das freiwillig getan hat, dazu kann ich nichts sagen. Leider muss ich Ihnen mitteilen“, und mit diesem Satz drehte er seinen Kopf Charlotte zu, „dass wir es hier meiner Einschätzung nach mit einem Komagrad der 4. Stufe zu tun haben. Ich befürchte, dass durch die Überdosis der Droge die Großhirnfunktion schwer geschädigt sein könnte. Es tut mir leid.“

„Sie glauben also, dass Carina nicht mehr zu retten ist?“

Tränenerstickt kamen Charlotte nur mühsam die Worte über die Lippen.

„Natürlich gibt es immer Hoffnung und manchmal geschehen auch Wunder. Aber ich bin in diesem Fall nicht sehr optimistisch.“

Der Arzt war aufgestanden und verabschiedete sich.

„Ich hatte vor, morgen nach Deutschland zurückzufliegen. Herr von Wolfsberg bat mich allerdings, meinen Aufenthalt noch zu verlängern, bis wir zu einer abschließenden Beurteilung gelangen. Sie können mich also jederzeit kontaktieren. Ich wünsche Ihnen aufrichtig das Beste.“

Das klang in Evas Ohren fast wie ein ‘aufrichtiges Beileid‘. „Danke, Doktor.“

Charlotte von Wolfsberg kramte umständlich in ihrer Handtasche und fischte schließlich ein Taschentuch heraus, um ihre Tränen zu trocknen.

Eva Larson sah ihren Sohn an, der blass am Ende des Tisches saß und schwer schluckte. Er fuhr mit einer Hand durch seine lockigen Haare, so als wolle er die Traurigkeit, die über dem Raum lag, einfach wegwischen.

Eva hatte nicht gewollt, dass er in diese Sache hineingezogen wurde. Sie wünschte, dass er ein frohes, unbeschwertes Leben eines jungen Menschen lebte.

„Warum ist niemand bei Carina?“

Eine herrische und scharfe Stimme durchschnitt die Stille, die Eva, Raoul und Charlotte für einen Moment umgeben hatte.

Alexander von Wolfsberg war in den Besprechungsraum getreten und knallte seine Aktentasche auf den Tisch.

„Ist das deine Art, dich um meine Tochter zu kümmern?“

„Wir waren nur kurz zu einer Besprechung mit Dr. Verhofen hier …“

Doch weiter kam sie nicht. Er schnitt ihr das Wort ab.

„Und Sie sind also Frau Larson? Die Schwiegertochter meines Onkels? Privat-Detektivin. Nun, wenn das auch ein Beruf ist. Aber sie waren einmal Kommissarin, habe ich recht?“

Eva konnte nur mit dem Kopf nicken. Der Auftritt dieses großen Mannes mit kurz geschnittenen, graumelierten Haaren hatte ihr die Sprache verschlagen. Die Härte seiner Gesichtszüge, die Augen, die sich zu Schlitzen verengten und der zusammengepresste Mund, der nur schmale Lippen erahnen ließ, passte zu der sicherlich gut durchtrainierten, aber ausgezehrt wirkenden Gestalt, die in einem silbergrauen Anzug steckte, der besser in ein Meeting mit seinen Luxuskunden als zu dem Outfit eines Krankenhausbesuchers passte.

„Die Bezahlungsmodalitäten habe ich ja bereits vorab geklärt. Sie können bei mir wohnen. Ich habe eine große Villa gemietet. Besser gesagt, Carina hat sie für das Auslandssemester gemietet. Und wer ist das?“

Mit dem Kopf deutete er auf Raoul.

„Das ist mein Sohn. Er wird mich bei dem Fall unterstützen.“

„Gut. Aber sobald ich merke, dass er hier Urlaub auf meine Kosten macht, verschwindet er von der Bildfläche. Haben wir uns verstanden?“

Eva Larson war aufgestanden und stellte sich vor Alexander von Wolfsberg. Ihr Kopf reichte gerade bis zu seinem Hals. Das war keine günstige Ausgangslage für eine verbale Konfrontation. Also plusterte sie sich auf, indem sie ihre Arme in die Hüften stemmte und ihn aus zornigen Augen anfunkelte.

„Ich habe das verstanden. Und damit wir uns auch beiderseits verstehen, Herr von und zu. Wenn Sie wollen, dass ich für Sie arbeite, werden Sie sich mir und meinem Sohn gegenüber wenn nicht freundlich, dann wenigstens sachlich verhalten. Wenn Ihnen das nicht möglich sein sollte, dann sagen Sie es mir jetzt und hier. Es gibt einen Flug gleich morgen zurück nach Deutschland für uns. Ich bin kein Dienstbote von Ihnen. Ich tue der Schwester meines Schwiegervaters, also Ihrer Frau Mutter, einen Gefallen. Was ist nun? Können wir uns auf respektvollen Umgang miteinander verständigen?“

Eva Larson atmete tief durch.

Der Immobilienmakler schnappte nach Luft. Eine Zornesader trat deutlich auf seiner Stirn zutage. Doch er antwortete nicht sofort.

Ein Balinese in Uniform hatte den Raum betreten und sprach sie auf Englisch an.

„Eva Larson?“

„Ja, das bin ich. Sind Sie der Superintendant?“

„Ja. Mein Name ist Nyoman Sedeng. Peer hat mir gesagt, dass ich Sie hier finde. Ich würde Sie bitten, mich auf die Polizeistation zu begleiten. Ist das möglich?“

„Ja, gerne. Das ist übrigens unser Sohn Raoul. Kann er mitkommen?“

„Natürlich.“

An Alexander von Wolfsberg gerichtet, fragte Eva: „Und, wie lautet Ihre Antwort?“

„Ich bin einverstanden“, knirschte es zwischen seinen künstlich gebleichten Zähnen hervor.

„Würden Sie unser Gepäck bitte mitnehmen?“ fragte Eva Charlotte.

„Aber gerne.“

Sie lächelte unsicher.

3. Kapitel

„Das ist wirklich seltsam!“

Eva Larson hatte die Tatortfotos vor sich auf einem großen Tisch in Nyoman Sedengs Büro ausgebreitet. Sie stützte sich mit den Händen auf und ihr Blick schweifte über die Bilder.

„Wer macht denn so was?“

Auch Raoul hatte die Aufnahmen betrachtet und zeigte sich betroffen. Zwei junge Leute in seinem Alter in so einer merkwürdigen Situation.

Superintendant Nyoman Sedeng zuckte ratlos mit den Schultern.

„Ich bin seit über zwanzig Jahren hier bei der Polizei. Aber in all dieser Zeit ist mir nichts Vergleichbares untergekommen.“

Das erste Foto zeigte Carina bekleidet mit einem kurzen Jeans-Rock und einer Rüschenbluse auf einem Lehmboden liegen. Auf dem zweiten war ein junger Mann zu sehen, dessen nackter Oberkörper mit Tätowierungen überzogen war. Er war an Händen und Füßen gefesselt. Auf einem weiteren Bild sah Eva, dass sein Kopf eine große Wunde aufwies.

„Wer ist das?“

„Das ist Brian Seldrigde, ein australischer Student. Er wurde zusammen mit Carina von Wolfsberg gefunden. In seiner Hosentasche befand sich ein Fläschchen Liquid Ecstacy.“

„Und wo hat man die beiden entdeckt?“

„Im Pura Panca Mahabuta, einem unserer heiligsten Tempel.“

„Bitte?“

„Ein Pemangku, ein Tempelpriester, hatte sie morgens so vorgefunden und sofort die Polizei benachrichtigt.“

„Hat der Australier überlebt?“

„O ja. Brian Seldridge war nicht schwer verwundet, obwohl er niedergeschlagen worden war. Man hat ihn im Krankenhaus versorgt und anschließend sofort ins Gefängnis gesperrt. Mit Rauschgift-Händlern macht die balinesische Justiz kurzen Prozess.“

„Wie kommen Sie darauf, dass der junge Mann ein Rauschgift-Händler ist?“

„Sein Wagen parkte in einem kleinen Fischerdorf, von dem aus die beiden den Weg zum Tempel genommen haben. Im Kofferraum wurden zwei Kilo Marihuana in einer Sporttasche sichergestellt.“

„Ja. Das klingt tatsächlich nicht nach kleiner Dosis für den Eigengebrauch.“

Außerdem lag wohl schon eine etwas ältere Anzeige wegen Drogenhandels gegen den Australier vor. Doch nachweisen konnte man ihm damals nichts.

„Gibt es Zeugen für den Tathergang?“

„Nein, leider nicht. Es scheint alles etwas seltsam. Zunächst hatten wir angenommen, dass vielleicht Carina von Wolfsberg Brian Seldridge niedergeschlagen hatte. Doch er bestreitet das. Hätte ehrlich gesagt auch nicht viel Sinn ergeben, denn sie hätte ihn auch noch fesseln müssen, bevor sie zusammengebrochen ist.“

„Hat er etwas darüber ausgesagt, warum er nur mit einer Hose bekleidet in einem Tempel war?“

„Ja, er hatte sein T-Shirt ausgezogen, weil es klitschnass war. Wir haben es vor dem Tempel gefunden. Zusammen mit einer Jacke, die Carina gehört. In der Tatnacht hatte es stark geregnet. So viel steht jedenfalls fest.“

„Also gibt es keine Hinweise darauf, von wem der Australier niedergeschlagen wurde.“

„Nein, keine. Er leugnet zudem vehement, Carina von Wolfsberg mit einer Überdosis GHB betäubt zu haben. Genau mit dem Mittel, das wir in seiner Hosentasche fanden. Aber an dem Fläschchen sind nur seine Fingerabdrücke. Er bestreitet auch den Besitz des Marihuanas in seinem Auto, sagt, das sei ihm alles untergeschoben worden. Die Sporttasche kenne er nicht. Doch auf den Päckchen mit dem Rauschgift waren eindeutig seine Fingerabdrücke. Und noch weitere, die wir allerdings noch nicht identifiziert haben.“

„Wie schnell wirkt Liquid Ecstacy eigentlich?“ Raoul betrachtete das Foto, auf dem die kleine sichergestellte Flasche zu sehen war.

„Gute Frage. Aber schwer zu beantworten. Die Wirkung setzt nach 15 Minuten und bis zu einer Stunde ein. Kommt auch darauf an, ob Alkohol oder andere Drogen mit im Spiel sind.“

„Und?“

„Im Fall von Carina von Wolfsberg wurden sowohl Marihuana als auch Alkohol nachgewiesen. Wir gehen davon aus, dass ihr die Tropfen in einem Cocktail, Bier oder Wein verabreicht worden sind.“

„Cocktail, Bier oder Wein?“ Eva Larson sah den balinesischen Superintendant ungläubig an. „Klingt eher nach dem Besuch einer Party als nach dem Besuch eines Tempels.“

„Stimmt. Bislang konnten wir ermitteln, dass die beiden auf einer Strandparty gewesen waren. Semesterabschluss, wie man uns sagte. Von dort aus sah man sie zusammen weggehen. Das war so eine Stunde vor Mitternacht. Allerdings sind die Aussagen der anderen Studenten relativ verworren. Ich habe Ihnen eine Kopie davon gemacht, die Sie gerne mitnehmen können.“

„Danke, Superintendant.“

„Nennen Sie mich bitte Nyoman. Ich bin mit Ihrem Mann befreundet.“

„Aha. Ja, dann also, Nyoman“, sie streckte ihm die Hand hin, „ich heiße Eva.“

Der balinesische Ermittlungsbeamte hatte noch zu tun und schlug Eva und Raoul vor, sie in der Jalan Kartika vor dem Discovery Shopping Centre abzusetzen und nach zwei Stunden dort wieder abzuholen.

Raoul sah es als vergnügliche Abwechslung an, Eva wäre lieber gleich in die Ferien-Villa der von Wolfsbergs gefahren und hätte sich zurückgezogen, um in Ruhe über diesen seltsamen Fall nachzudenken.

Stattdessen fand sie sich vor einem riesigen Gebäudekomplex wieder, der sie alles andere als zum Shopping einlud.

„Du kannst da gerne reingehen“, sagte sie zu ihrem Sohn, „ich werde ein wenig am Strand entlang schlendern und versuchen, etwas bessere Luft zu inhalieren.“

„Strand? Das klingt gut.“

Er hakte sich bei seiner Mutter unter und gemeinsam bogen sie hinter dem Einkaufszentrum Richtung Strand ab. Ein kleiner Weg verlief geradewegs zum Meer und sie folgten ihm, bis er im Sand endete. Straßenhändler hatten ihre Zeltplanen zwischen großen Bäumen aufgespannt und verkauften Getränke, Gürtel, Sarongs oder vermieteten Plastikstühle, von denen aus man mehr oder weniger gemütlich den Surfern bei ihrem Ritt über die Wellen zuschauen konnte.

Eine Schulklasse mit bunt gekleideten Kindern versperrte ihnen den Weg. Lachend schauten sie in ihre Handys und machten ‚Selfies‘ ohne Ende. Ein paar Mädchen hatten Raoul entdeckt und ließen sich der Reihe nach mit ihm unter großem Gekichere fotografieren.

Eva kaufte an einem Stand zwei Kokosnüsse. Sie setzten sich in den warmen Sand und tranken den Saft mit Strohhalmen.

„So voll habe ich es mir ehrlich gesagt nicht vorgestellt“, gestand Raoul. „Und dieses Angequatsche kann ich auch nicht leiden.“

Wie aufs Stichwort hatte sich ein Balinese zu ihnen gesetzt und bot von „Taksi“ bis hin zu Übernachtung oder einen Ausflug in den Safari-Park praktisch alles an, was seiner Meinung nach ein Tourist dringend brauchte. Er ließ sich nicht abwimmeln.

„Deutschland gut. Bayern Munchen, Tommas Muller, olé, olé …“

Eva und ihr Sohn mussten lachen.

An der Segara Beach gingen sie durch ein prachtvolles, steinernes Tor zurück zur Straße. Der Verkehr war höllisch. Selbst über einen Zebrastreifen konnten sie die Fahrbahn nur nach mehreren vergeblichen Versuchen und einem Hupkonzert anhaltender Fahrzeuge überqueren. Eine schmalere Gasse bot eine Alternative und sie bogen optimistisch ein.

Sie waren vom Regen in die Traufe gekommen, fanden sie sich doch wieder in einem Hexenkessel aus Mopedfahrern, die einander überholten, als seien sie auf einer Rennstrecke, und Autos, die eigentlich viel zu breit für die Fahrbahn schienen. Eine Heerschar Touristen flanierten an Geschäften entlang, die sich nahezu nahtlos aneinander reihten. Tiefe Pfützen zogen sich über die gesamte Fahrbahnbreite und schon bald hatten sie nasse Schuhe an den Füßen. Von einem Händler zum anderen zu gehen, glich einem Spießrutenlauf.

„Massage, Madam?“

„Taksi, Boss?“

„Good Sarong, best price.“

„Transport?“

„Maniküre?“

„Pediküre?“

„Massage?“

Ein Autospiegel streifte Evas Oberarm. Sie hörte Raoul mit der flachen Hand auf das Dach patschen.

„Geht’s noch?“

Genervt zog sie ihren Sohn in einen Warung. Das kleine Esslokal lag wie eine Oase in der Wüste des Kommerzes.

„Lass uns hier mal in Ruhe einen Kaffee trinken. Wir sind ein bisschen übermüdet.“

Es war noch ein Platz frei am Fenster, von dem aus sie gut das Treiben auf der Straße in sicherem Abstand beobachten konnten. Neben ihnen saßen drei junge Männer, die gebannt auf ihre Handys starrten.

Raoul gähnte und streckte die Arme nach oben, um sich zu dehnen. Dabei drehte er seinen Kopf von links nach rechts. Mitten in der Bewegung hielt er plötzlich inne.

„Mama, schau mal.“

Er deutete mit seinen Augen auf den Boden neben sich.

„Ist das nicht genau dieselbe Tasche, die man im Auto von Brian Seldridge gefunden hat?“

„Wie kommst du denn darauf?“

„Ja, schau doch mal genau hin!“

Eva Larson musste zugeben, dass sie auf den Fotos, die sie im Kommissariat gesehen hatten, der Tasche keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Vage konnte sie sich an die Farben erinnern. Oben Rot, unten weiß. Die Nationalfarben Indonesiens. Allerdings hatte sie kurz überlegt, warum man eine Sporttasche, die man oft auf den Boden stellte, ausgerechnet unten hell machte.

„Siehst du das kreisrunde Ding da? Das ist mir gleich aufgefallen.“

Eva entdeckte ein Emblem in blau und goldgelb, das aufgestickt war und wie ein Mandala aussah.

„Und das war auf der Tasche, in dem das Rauschgift gefunden wurde, auch drauf? Bist du dir da ganz sicher?“

„Hundert Prozent!“

Eva überlegte kurz. Dann stand sie auf und ging zum Nachbartisch.

„Selemat sore“, begrüßte sie die drei jungen Leute, die erstaunt von ihren Smartphones aufschauten. „Darf ich euch etwas fragen?“

Auch Raoul war dazugekommen. Er wollte sich die Unterhaltung nicht entgehen lassen.

„Ja, bitte“, sagte einer von ihnen, „wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich interessiere mich für diese Tasche hier. Gerade vorhin habe ich genau so eine gesehen und würde gerne wissen, woher sie kommt und ob das Emblem eine Bedeutung hat.“

„Das ist meine Tasche“, meldete sich der offenbar Älteste der drei und fuhr sich mit der Hand durch seine langen, schwarzen Haare. „Das Emblem gehört zu unserer Universität, der Udayana University, in Denpasar. Ich habe sie von unserem Direktor persönlich geschenkt bekommen.“

„Gibt es diese Art von Sporttasche auch zu kaufen?“

„Nein, ganz sicherlich nicht. Diese Tasche ließ unser Direktor extra nur für unser Football-Team anfertigen, das letztes Jahr die indonesische Meisterschaft der Universitäten in Jakarta gewonnen hat.“

„Und wie viele dieser Taschen wurden verschenkt?“ Raoul meldete sich aufgeregt zu Wort.

„Kann ich nicht genau sagen. So um die zwanzig oder fünfundzwanzig schätze ich. Neben den Spielern haben die Taschen auch die Ersatzspieler, der Trainer und einige Betreuer bekommen. Warum fragen Sie?“

„Mmh“, die Detektivin zögerte mit einer Antwort. „Eine dieser Taschen ist bei einer polizeilichen Untersuchung aufgetaucht. Würdest du mir bitte deinen Namen und deine Telefonnummer aufschreiben. Ich denke, in den nächsten Tagen wird sich Superintendant Nyoman Sedeng bei dir melden. Du könntest der Polizei sicherlich mit deiner Aussage sehr behilflich sein.“

Eva Larson kramte in ihrer Tasche und fischte ein kleines, blaues Notizbuch heraus, an dem ein Kugelschreiber klemmte.

„Ganjar Kristanto?“ Eva wiederholte vorsichtshalber den Namen und las auch noch einmal die Telefonnummer vor.

„Noch eine letzte Frage: Kennst du einen Brian Seldridge? War der im Team?“

„Habe den Namen noch nie gehört.“

4. Kapitel

Die Sonne war bereits untergegangen, als der Superintendant mit seinen beiden Fahrgästen vor einem riesigen, schmiedeeisernen Tor hielt. Er schob seinen Arm durch das Autofenster und drückte einen Knopf in einem weißen Sockel. Wie von Geisterhand schob sich das Tor zur Seite und vor ihnen tauchte ein Wachmann auf, der die Wagennummer aufschrieb und Nyoman Sedeng Fragen stellte. Dann erst durften sie passieren. Der Weg ging in einen grün umsäumten, terracottafarbenen, gepflasterten Weg über. Er führte durch eine Palmenallee in einem Halbkreis zu einem großen Haus. Fackeln brannten vor dem Eingang.

„Das nenn‘ ich mal eine Hütte!“ Raoul hatte das Fenster heruntergelassen und streckte seinen Kopf in den Abendwind, der gleich seine Locken zerzauste.

Wie aus dem Nichts waren drei weiß gekleidete Männer erschienen, die die Autotüren aufrissen.

„Selamat malam“ begrüßte Nyoman Sedeng die drei, die sogleich ihre Köpfe, auf denen ein Udeng, eine weiße Kopfbedeckung saß, verneigten.

„Selamat datang“, sagte einer von ihnen.

„Das heißt ‘herzlich willkommen‘“, flüsterte Eva Larson beim Aussteigen ihrem Sohn zu.

„Ah, da sind Sie ja endlich. Wir warten bereits mit dem Abendessen auf Sie.“

Alexander von Wolfsberg schritt die Eingangsstufen hinab und ging auf Superintendant Sedeng zu, ohne Eva und Raoul zu beachten.

„Das heißt wohl nicht gerade ‘herzlich willkommen‘,“ raunte Raoul nicht gerade leise seiner Mutter zurück.

„Gibt es endlich etwas Neues?“ Die Stimme von Alexander von Wolfsberg klang unfreundlich genervt.

„Wie ich schon Frau Larson sagte, sind die Verhöre mit den anderen Studenten auf der Strandparty nun abgeschlossen.“

Eva und Raoul Larson waren den drei Bediensteten gefolgt, die ihr Gepäck trugen.