Wunderheilung - Christine Barbara Philipp - E-Book

Wunderheilung E-Book

Christine Barbara Philipp

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Beschreibung

Dem deutschen Unternehmer Hagen Stern wird eine unheilbare Krankheit diagnostiziert. Als letzten Ausweg sieht er den Besuch bei einem Heiler in Ecuador. Das Wunder geschieht und er kehrt vollkommen gesund zu seiner Familie zurück. Diese reagiert über die Heilung nicht gerade erfreut, fährt mit ihm aber noch einmal nach Ecuador, da sich Stern dort bei seinem Retter bedanken möchte. Wenige Tage später ist er tot. Erschlagen. Die Detektivin Eva Larson erhält den Auftrag, in den Regenwald des Amazonasbecken zu reisen und die seltsamen Umstände aufzuklären. Dort trifft sie auf ein Gespinst aus alten Familiengeheimnissen und kirchlichen Verstrickungen. Und gerät dabei selber in höchste Gefahr.

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Zur Autorin:

Christine Barbara Philipp lebt und arbeitet als

Schriftstellerin, Fotografin und Künstlerin in Bernried am Starnberger See.

Seit frühester Jugend reist sie um die Welt und

verarbeitet ihre Erlebnisse und Erkenntnisse in

Reisebüchern, Romanen, Fotografien und Bildern.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

1. Kapitel

Aus dunklen Gewitterwolken über der Stadt klatschten dicke Regentropfen an die Fenster. Eva Larson saß in ihrem Wohnzimmer in München und beobachtete, wie sie langsam, der Schwerkraft folgend, die Scheibe hinab rannen.

„Mama, hast du mir mein Jeanshemd gebügelt oder muss ich es selbst machen?“

Raoul war in das Zimmer gestürmt und riss sie aus ihren düsteren Gedanken. Eva saß wie versteinert da und rührte sich nicht. Vielleicht würde ihr Sohn ja wieder so schnell den Raum verlassen, wie er gekommen war, so, wie er es oftmals tat, ohne eine Antwort abzuwarten.

Doch dieses Mal schien er zu spüren, dass etwas nicht stimmte. Verzweiflung hing wie eine zähe Masse in dem Zimmer, das Eva ‚meine Idylle‘ getauft hatte, als sie nach der Trennung von Peer die Wohnung in Schwabing zusammen mit ihrem Sohn bezogen hatte. Normalerweise strahlte der Raum mit seinen vielen Pflanzen, den Wänden, die in der unteren Hälfte in einem Sonnengelb gestrichen waren und von der oberen weißen Hälfte mit einem schmalen Tapetenband aus roten Rosen getrennt wurde, eine mediterrane, heitere Atmosphäre aus. Normalerweise. Heute fühlte sie sich wie in einem dunklen Loch gefangen.

„Hallo, Raumschiff an Erde“, sagte Raoul scherzhaft und legte seiner Mutter eine Hand auf die Schulter. Eine vertraute Geste, bei der sie ihm sonst ihr lächelndes Gesicht zuwandte und Dinge sagte wie ‚Schatz, was würdest du bloß ohne mich machen’. Doch heute drehte sie ihren Kopf weg und ihr Körper wurde von einem Schluchzen erschüttert.

Raoul wusste nicht, was er machen sollte. Das letzte Mal, dass er seine Mutter so weinen sah, war, als sie erfahren hatte, dass sein Vater sie mit einer Arbeitskollegin über längere Zeit betrogen hatte und sie ihn aus dem Haus geworfen hatte.

Angst beschlich sein Herz. Er rückte einen kleinen Schemel an die Seite seiner Mutter und nahm ihre Hand, die sich verkrampft um ein nasses Taschentuch geballt hatte. Sanft öffnete er ihre Faust, holte den durchnässte Zellstoff heraus und warf ihn auf den Holzfußboden.

„Mama, bitte sprich mit mir“, beschwor er sie und streichelte ihr mit seiner freien Hand über die tränennasse Wange.

„Gab es auf der weiblichen Seite in deiner Familie Fälle von Brustkrebs?“

Dieser Satz hatte die Detektivin heute morgen getroffen wie eine ihrer Pistolenkugeln die Schießscheibe: Präzise ins Herz.

Marlene Ostar, ihre Frauenärztin und Freundin, stand an einer Lichttafel und schaute auf die Bilder der Mammografie, die Eva Larson kurz zuvor über sich ergehen lassen musste. Bevor die Aufnahme gemacht wurde, war ihre rechte Brust zu einer vertikalen Masse verformt, gequetscht worden. Eva verfolgte die Prozedur wie in Trance.

Dabei hatte der Tag so gut angefangen. Endlich gönnte sie sich drei Tage Urlaub und bereitete sich auf ihre Wandertour in die Berge vor. Schon immer einmal wollte sie das Königshaus am Schachen besuchen, jenes Kleinod von König Ludwig II. von Bayern, hoch oben am Rande des Wettersteingebirges. Und den herrlichen alpinen Felsengarten, der gleich in der Nähe war. Sie hatte in der Schachen-Hütte angerufen und zu ihrer Freude festgestellt, dass es unter der Woche keine Probleme mit der Übernachtung gab.

Noch am Morgen strotzte sie vor lauter guter Laune und küsste ihren Sohn jedes Mal, wenn sie ihm auf ihrem Weg, etwas in ihren Rucksack für die morgige Wanderung zu packen, begegnete. Die Hausregel lautete: Wer frei hat, ist letzter beim Duschen. Sie genoss es, mit Raoul zu frühstücken, bevor er in die Uni ging, denn meist war sie diejenige, die frühmorgens aufstehen musste, während er Vorlesungen hatte, die seltsamerweise immer nach ihren Bürostunden anzufangen schienen.

Durch die Badezimmertür hörte sie Radio Bayern 3. Nach der Dusche verwöhnte sie sich mit einer wohlriechenden Lotion. Genüsslich cremte sie Beine und die Arme ein, dann folgten Po und Rücken und zuletzt schaute sie schelmisch in den großen Spiegelschrank vor dem sie stand und sagte zu sich selbst: ‚Nun seid ihr zwei Hübschen dran’.

„I shot the Sheriff, but I did not shoot the Deputy“, sang sie gerade mit, als sie plötzlich mitten in der kreisenden Bewegung ihrer Hände inne hielt. Das, was sie unter der straffen Haut ihrer rechten Brust spürte, gehörte da nicht hin. Es war ihr fremd.

Sie zögerte, die Stelle, die sie gerade entdeckt hatte, erneut zu berühren. Vorsichtig tastete sie mit dem Zeigefinger über ihre Brust und erstarrte. Einer Panikattacke gleich empfand sie das Aufspüren eines kleinen Knotens, der wie ein Fremdkörper in ihrem Gewebe lagerte.

„Bitte, lieber Gott, lass das nicht wahr sein“, flüsterte sie.

Nahezu paralysiert raffte Eva sich auf und rief ihre Freundin Marlene an, die in der Uniklinik in München arbeitete. Endlos schien ihr das Tippen der Nummer und dann die Weile, die die Dame an der Rezeption brauchte, um ihre Vertraute ans Telefon zu bekommen.

„Eva, Schätzchen“, hörte sie die Stimme ihrer Freundin. „Was ist los, habe ich irgendwas vergessen?“

Normalerweise hätte Eva gelacht, denn sie wusste, dass ihre Freundin ein Musterbeispiel an Vergesslichkeit in puncto Zeit und Terminen war.

Doch heute brachte sie nur mit erstickter Stimme hervor: „Marlene, ich habe einen Knoten in meiner Brust entdeckt. Ich komme um vor Angst. Kannst du das heute noch für mich untersuchen?“

Für einen kurzen Moment herrschte eine unerträgliche Stille in der Leitung, dann hörte Eva das Rascheln von Papier. Marlene blätterte in ihrem Terminkalender.

„Mmh, mmh, mmh“, murmelte die Ärztin in den Hörer, „ich hätte heute einen Termin um 15 Uhr. Würde es da passen?“

Eva Larson wusste, dass Marlene in ihrer Privatpraxis auf Wochen ausgebucht war und nun versuchte, das Unmögliche möglich zu machen. Sie würde ihr zuliebe einer anderen Frau absagen. Das war klar.

Sie zögerte einen kurzen Moment. Eigentlich mochte sie ja die ‚Spezlwirtschaft‘ nicht. Doch dieses Mal sagte etwas tief in ihr, dass sie den Termin annehmen sollte.

„Nein“, hatte sie zu Marlene gesagt, als sie zusammen die Bilder betrachteten. „Ich kenne keine Frau aus meiner Familie, die Brustkrebs hatte.“

Allein dieses Wort auszusprechen verursachte in ihr Brechreiz. Sie setzte sich auf den kleinen, weißen Hocker in Marlenes Praxis, der eigentlich nur zur Zierde oder Kleiderablage diente. Aber er war der nächst liegende Anker vor dem Sturm, der sich gerade über ihr zusammenbraute.

„Schatz“, sagte Marlene, die ihrer Freundin zur Hilfe geeilt war und nun den Arm um sie legte. „Wir müssen eine Biopsie machen, um heraus zu bekommen, ob es sich um einen gutartigen oder bösartigen Tumor handelt. Ich kann das aufgrund des Bildes nicht sehen. Bleib optimistisch. Ich werde gleich mit meinen Kollegen an der Uniklinik reden und einen Termin ausmachen. Noch die nächsten Tage.“

Marlenes Worte hämmerten in Evas Hirn, als ihr Handy klingelte. Der Macht der Gewohnheit folgend, drückte sie auf die grüne Taste und meldete sich. Es war Alfons Jablonski, ihr früherer Polizei-Kollege, mit dem sie seit einiger Zeit eine Detektei betrieb, die vorwiegend ungeklärte Todesfälle deutscher Staatsbürger im Ausland für Versicherungen bearbeitete. Na, ja. Genau genommen bearbeiteten sie Fälle, die ihnen ihr Schwiegervater, Nils Larson, der große Boss bei einer internationalen Versicherungsgesellschaft, zuschanzte.

„Eva“, hörte sie seine vertraute Stimme, „ich bin untröstlich, dich an deinem ersten Urlaubstag stören zu müssen, aber du weißt ja, der Chef ist unerbittlich, wenn er einen Fall wittert, der nach Publicity riecht. Könntest du bitte ins Büro kommen?“

„Der Chef? Welcher Chef?

„Hugo Hartwig.“

„Wie bitte?“

Hugo Hartwig war Polizeichef von München und jahrelang ihr direkter Vorgesetzter bei der Kriminalpolizei gewesen. Was um alles in der Welt wollte er von ihr? Für einen kurzen Moment hatte Eva ihre Situation vergessen und wunderte sich nur.

„Und ich soll jetzt ins Büro kommen?“

„Ja, jetzt. Wir warten auf dich.“

„Gut, ich bin in einer halben Stunde da“, sagte Eva, schaltete das Telefon ab und sah ihre Freundin an.

„Habe ich mich da gerade verhört?“, fragte die Ärztin. „Bist du eigentlich noch zu retten?“

„Sag du es mir.“ Eva Larson knöpfte ihre Bluse zu und stand auf. „Ich muss nachdenken.“

„Ja, genau das solltest du.“

Marlenes Stimme klang schroff. Selbst erschrocken über diesen Ton, entschuldigte sie sich gleich bei ihrer Freundin.

„Tut mir leid, ich wollte nicht unfreundlich sein. Ich mache mir nur Sorgen um dich. Wir sollten den Befund so schnell wie möglich abklären. Meinst du nicht auch?“

„Ich habe gehört“, sagte Eva langsam, „einige Menschen sterben an der Diagnose, nicht an der eigentlichen Krankheit. Vielleicht will ich es gar nicht wissen.“

„Und warum bist du dann zu mir gekommen?“

„Vielleicht, um zu hören, dass ich mir keine Sorgen machen muss und alles halb so schlimm ist.“

„Eva, ich bin Ärztin. Ich darf dir so etwas nicht sagen, wenn ich nicht selbst der Meinung bin, dass dem so ist.“

„Du glaubst also, ich muss sterben?“

„Du meine Güte, natürlich nicht. Wir wissen ja noch nicht einmal, ob es bösartig ist. Steigere dich da jetzt bitte nicht hinein. Nachher stirbst du noch an einer Diagnose, die noch nicht einmal gestellt wurde.“

Marlene versuchte zu lächeln.

Eva presste die Lippen aufeinander und sagte nichts darauf. Sie nahm ihre Handtasche und machte sich auf den Weg zur Tür.

„Eva“, Marlene war ihr nachgeeilt, „wir müssen noch den nächsten Termin abklären.“

„Ich sag dir Bescheid, wann und ob ich kann. Jetzt muss ich erst einmal sehen, was mein früherer Chef und Alfons von mir wollen.“

Marlene kannte Evas Arbeit und runzelte die Stirn.

„Du wirst doch jetzt nicht einen Fall übernehmen und womöglich ins Ausland fahren?“

Eva ging nicht auf die Frage ihrer Freundin ein. Stattdessen sagte sie: „Vielen Dank, dass du dir Zeit genommen hast. Ich melde mich bei dir.“

Schon hatte sie die Tür geöffnet und war aus dem Zimmer geschlüpft.

„Eva, sprich mit jemanden darüber“, hörte sie noch Marlenes Stimme, bevor sie die Praxistür hinter sich schloss.

Als sie die Rolltreppe von der S-Bahn-Station hinauffuhr, traf sie die sommerliche Schwüle der Großstadt, die sich nach Abkühlung sehnte. Ihr Büro lag nur wenige Schritte entfernt in einer Seitenstraße.

Eva trat aus dem Fahrstuhl im dritten Stock, in dem ihre Detektei untergebracht war. Automatisch tippte sie ihren Zahlencode in das Kästchen neben dem Eingang. Ein Piepton, ein grünes Lämpchen und schon schwang die große Glastür auf. Stickige Luft füllte die Räume und nahm ihr fast den Atem.

„Na, Urlauberin“, neckte sie Alfons Jablonski, als sie das Büro betrat. Die Fenster hatte er weit aufgerissen, ein kleiner Ventilator blies ihrem Kollegen die Illusion einer Abkühlung ins Gesicht.

Eva stellte ihre Tasche auf den Schreibtisch und versuchte ein Lächeln.

„Nun, Alfons, was gibt es denn, das keine drei Tage warten kann?“

Sie konnte die Gereiztheit in ihrer Stimme nicht verhindern.

Alfons zuckte nur mit den Achseln.

„Ja, da sind Sie ja endlich!“

Eva drehte sich zu der bekannten Stimme um. Hugo Hartwig, ihr früherer Dienstherr, hatte sich noch nie in ihrem Münchener Büro blicken lassen.

„Scheint ja wirklich was Wichtiges zu sein“, seufzte Eva.

Ihr ehemaliger Chef kam auf sie zu und drückte ihr herzlich die Hand.

„Geht es Ihnen gut?“, fragte er rein rhetorisch, steuerte zielstrebig, ohne eine Antwort abzuwarten, auf Evas Schreibtischstuhl zu und nahm Platz.

„Nun, dann werde ich mich wohl auf die Fensterbank setzen“, sagte Eva. Doch Hugo Hartwig überhörte diese spitze Bemerkung, stellte seinen Laptop auf Evas Schreibtisch und klappte ihn auf.

‚Ding’ machte es, als er den Einschaltknopf betätigte.

„Um was geht es denn, Chef?“

Sie redete ihn automatisch so an, bemerkte es und musste lächeln. Manche Dinge schienen in neuronalen Bahnen im Gehirn zu laufen, ohne dass man direkten Zugang dazu hatte.

„Sie wissen sicherlich bereits, dass ich eigentlich im Urlaub bin, oder? Gibt es etwas so Wichtiges, dass es a) nicht warten oder b) nicht vom Kollegen Jablonski bearbeitet werden kann?“

Der Polizeichef schaute kurz auf.

„Also, Frau Larson“, fing er an und setzte sein charmantestes Lächeln auf, „ich muss schon bitten. Sie glauben doch nicht wirklich, dass ich Sie aus Ihrem verdienten Urlaub hole, ohne einen triftigen Grund?“

Eva atmete geräuschvoll durch die Nase aus. Das sollte als Antwort genügen, dachte sie dabei.

„Jetzt sagen Sie uns endlich, um was es geht!“

Hugo Hartwig nickte und gab seinem Laptop einen letzten Befehl.

„Hagen Stern“, sagte er, „einer der größten Spediteure in Europa, ist auf seltsame Weise in Ecuador gestorben.“

„Kann das die dortige Polizei nicht klären?“

Eva schüttelte missmutig den Kopf. Sie hatten die letzte Zeit immer wieder Aufträge auf dem Tisch, in denen deutsche Staatsbürger letztendlich eines natürlichen Todes im Ausland gestorben waren, und die Fälle nur bei ihnen landeten, weil es Übersetzungsfehler gab oder ungenaue Angaben ausländischer Gerichtsmediziner, die klargestellt werden mussten.

„Nein. Das glaube ich nicht. Wir sprechen hier über eine bislang ungeklärte Todesursache und eine Versicherungssumme von zwei Millionen. Das möchte ich schon ganz genau wissen.“

„Hatte sein Tod etwas mit illegalen Geschäften zu tun?“ Eva fragte sehr vorsichtig.

„Nein, ich glaube nicht. Hagen Stern ist im Regenwald von Ecuador gestorben. Was für Geschäfte sollte ein Spediteur da wohl gemacht haben?“

„Ja, aber etwas musste ihn ja in dieses Land gebracht haben“, warf Alfons ein und schaute Hugo Hartwig erwartungsvoll an.

Eva Larson hatte nicht mehr richtig zugehört. Für sie stand eine ganz andere Frage im Raum.

„Herr Hartwig, Sie kommen doch nicht eigens in unser bescheidenes Büro, um einen Todes- und Versicherungsfall zu besprechen, wenn Sie das eigentlich auch telefonisch erledigen könnten. Was verschweigen Sie uns?“

„Erwischt. Hagen Stern war ein alter Schulfreund von mir“, gab der Polizeichef zu. „Das letzte Mal, dass ich mit ihm sprach, war vor zwei Wochen. Er wollte nur nach Ecuador, um etwas zu erledigen. Er tat ganz geheimnisvoll, war aber außerordentlich gut gelaunt. Er hätte mit seinem alten Leben gründlich aufgeräumt und freue sich auf eine neue Herausforderung. Was es war, wollte er mir nach seiner Rückkehr mitteilen. Ich finde es mehr als verdächtig, dass er jetzt unter so seltsamen Umständen gestorben ist.“

„Sie holen mich aus meinem Kurzurlaub, den ich mir mehr als verdient habe, um private Ermittlungen anzustellen? Weil Ihnen etwas komisch vorkommt?“

Es gab einen kleinen Moment der Stille.

„Ja, irgendwie schon“, antwortete Hugo Hartwig zögernd. „Ich möchte allerdings betonen, dass es ein offizieller Fall unserer Auslandsabteilung ist. Außerdem habe ich bereits mit Ihrem Schwiegervater, Nils Larson, gesprochen, der ebenfalls die Ansicht vertritt, dass die Todesumstände unzureichend geklärt sind. Durch die hohe Versicherung ist die Auftragssumme nicht von schlechten Eltern. Zusätzlich zu dem Versicherungshonorar biete ich ein Beraterhonorar von Seiten der Polizei an.“

Er schrieb eine Zahl auf einen Notizzettel, den er auf Evas Schreibtisch gefunden hatte, und reichte ihn an Alfons. Der pfiff durch die Zähne und gab ihn an seine Kollegin weiter.

„Du liebe Güte, das ist in der Tat ein interessanter Auftrag.“

„Ich habe uns zwei Flüge für morgen früh gebucht. Ab München um sechs Uhr. Hier ist Ihr Ticket.“

„Uns? Sie kommen mit?“

Eva starrte auf den länglichen Umschlag, den er aus seinem Aktenkoffer geholt und ihr auf den Tisch gelegt hatte.

Eigentlich wäre jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen, ihrem ehemaligen Chef mitzuteilen, dass sie sich krankschreiben lassen musste. Doch ein tiefes Gefühl in ihr sagte, sie sollte lieber darüber schweigen.

„Kann Jablonski Sie nicht begleiten?“, fragte sie stattdessen und erntete einen erschrockenen Gesichtsausdruck ihres Kollegen.

„Ich brauche jemanden mit Mut für das Ungewöhnliche“, kam die unerwartete Antwort. „Jemand, der vorurteilsfrei ungewohntes Terrain betritt und den Überblick behält. Und das haben Sie ja unlängst auf Bali bewiesen. Ja, ich verfolge Ihre Fälle mit großem Interesse!“

Der Polizeibeamte hatte wieder begonnen, auf seiner Tastatur zu schreiben und langsam baute sich eine Zeitungsseite mit einem Foto von einem älteren Mann auf dem Bildschirm auf.

„Ach herjeh“, entfuhr es Eva, als sie sie las. „Das ist doch nicht etwa die Schlagzeile der Abendzeitung von gestern?“

Alfons Jablonski war aufgestanden, um ebenfalls einen Blick auf den Laptop zu erhaschen.

„Münchner Millionär stirbt bei Wunderheiler“, las er die Überschrift laut vor. „War die Genesung bei Dom Inacio ein riesiger Schwindel?“

Eva atmete tief durch. Sie ergriff die Hand ihres Sohnes und drückte sie. Dann schaute sie ihn an.

Sprich mit jemanden, hatte Marlene gesagt. Doch, was konnte sie ihm zumuten?

„Ich war heute bei Marlene“, begann sie zögernd.

„Ja, und? Geht es ihr nicht gut?“, fragte er besorgt.

„Ich war bei Marlene in ihrer Funktion als Frauenärztin“, versuchte sie es noch einmal.

„Du bist doch nicht etwa schwanger?“

Die Frage ihres Sohnes ließ sie kurz auflachen. Erstaunt stellte sie fest, dass ihr Sohn sie offensichtlich nicht nur als seine Mutter, sondern auch als eine Frau wahrnahm.

„Nein“, sagte sie und streichelte ihm zärtlich über das gelockte Haar. „Ich habe heute morgen einen Knoten in meiner Brust festgestellt und sie hat mich untersucht.“

„Du meinst, du hast…?“ Raoul sprach seinen Satz nicht zu Ende und starrte seine Mutter erschrocken an.

„Wir wissen nicht, was es ist“, seufzte Eva und wurde sich jetzt erst der Tatsache bewusst, dass dies der Wahrheit entsprach. Es war die Annahme, es könnte Krebs sein, die ihr diese große Angst einjagte. Nicht die Gewissheit.

„Und, was hast du vor?“, fragte er besorgt.

„Ich fliege morgen nach Ecuador.“

2. Kapitel

Eva Larson schaute auf die geschlossene Wolkendecke. Ihr Blick verlor sich allmählich in Gedanken und das Gesicht ihres Sohnes tauchte auf.

„Ich glaub es einfach nicht.“ Raoul war fassungslos, als sie ihm von ihrer Dienstreise mit ihrem früheren Chef nach Südamerika erzählte und hatte den restlichen Abend nur den Kopf geschüttelt.

Am nächsten Morgen brachte er sie zum Flugplatz.

„Du denkst nur an dich.“

Seine Abschiedsworte klangen hart. Dann war er in das Auto gestiegen und einfach davon gefahren. So wie sie einfach davon geflogen war. Ihr Herz tat weh und sie seufzte tief.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“ Die Stimme Hugo Hartwigs riss sie aus ihren Gedanken.

„Ja. Ich …“

Sie beendete ihren Satz nicht und blätterte dagegen zerstreut in den Akten, die vor ihr auf dem Tischchen lagen.

Was war das wieder für ein merkwürdiger Fall, überlegte sie. Hagen Stern, ein erfolgreicher Spediteur aus München, war aus bislang ungeklärter Ursache in einem kleinen Dorf inmitten des Regenwaldes von Ecuador tot aufgefunden worden.

Daran war zunächst nichts Ungewöhnliches, gäbe es da nicht zwei ungereimte Fakten.

Vor sechs Monaten hatte man bei Hagen Stern einen Gehirntumor diagnostiziert. Schulmedizinisch gesehen in einem unheilbaren Stadium. Der Unternehmer war daraufhin nach Ecuador gereist und in ein kleines Zentrum eines Heilers gegangen und nach zwei Monaten als vollkommen genesener Mann nach Deutschland zurückgekehrt.

Der Unternehmer richtete eine große Party aus und feierte zusammen mit vielen Freunden die ganze Nacht.

„Er fühlte sich wie ein neuer Mensch“, hatte der Polizeichef Eva vorhin erzählt. „Voller Lebensfreude. Mit neuen Plänen. Was er genau damit meinte, verriet er nicht. Nur dass er sich noch einmal für seine Heilung bei dem Mann in Ecuador bedanken wolle, der ihm diese zweite Chance gegeben hatte.“

Letzte Woche dann war Hagen Stern zusammen mit seiner Frau, seiner Tochter, seinem Sohn und dessen Ehefrau nach Ecuador geflogen. Der Polizeichef hatte sich kurz vor der Abreise persönlich von ihm verabschiedet. Dann wurde sein Freund von einem Ast eines großen Baumes erschlagen. Seltsam.

Nach ihrer Zwischenlandung in Miami hatten die beiden Ermittler bald die stahlblaue Weite des Atlantiks überflogen. Dann tauchte ein grünes, wogendes Meer unter ihnen auf: Der Regenwald Südamerikas. Auch aus zehntausend Metern Höhe konnte man mit bloßem Augen die fortschreitende Zerstörung des wichtigsten Sauerstofflieferanten der Erde entdecken, der seit über sechzig Millionen Jahren vierzig Prozent unserer Atemluft produziert. Eva hatte irgendwo einmal gelesen, dass jedes Jahr weltweit etwa die dreifache Fläche der Schweiz abgeholzt wird.

Auch wenn in manchen Schriften die Menschheit als Krönung der Schöpfung bezeichnet wird, ist sie im Grunde genommen dumm. Von der Artenvielfalt einmal abgesehen, die samt und sonders mit der Apotheke aus der Natur den legalen und illegalen Holzkonzernen zum Opfer fällt, so sägt man sich im Grunde genommen genau den Ast ab, auf dem man sitzt. Und schaut dabei fröhlich zu und zählt seine Taler. Eva Larson schüttelte bei diesen Gedanken den Kopf.

Das Flugzeug befand sich nun im Sinkflug. Aus dem Lautsprecher krächzte die Stimme des Stewarts. Sie verstand so etwas wie ‚Quito‘ und ‚Fangen Sie schon einmal an zu beten‘, was in Wirklichkeit sicherlich ‚schalten Sie Ihre elektronischen Geräte aus‘ heißen sollte. Die auf zweitausendachthundertfünfzig Metern höchst gelegene Hauptstadt der Welt mit ihren über zwei Millionen Einwohnern wirkte von der Luft aus gesehen wie ein Geschwür, das in einem lang gestreckten Tal zwischen Vulkanen wucherte.

Gegen Mittag setzte die Maschine auf der Rollbahn des Flughafens Mariscal Sucre von Ecuadors Hauptstadt auf.

Eva hatte bereits vom Fenster aus gesehen, dass ein Polizeiauto auf dem Rollfeld wartete.

„Unser Empfangskomitee ist schon da“, teilte sie ihrem Ex-Chef mit und deutete mit dem Kopf nach draußen zu den beiden Beamten, die vor dem Auto standen und erwartungsvoll schauten, als die Gangway angedockt wurde.

Es war immer wieder erstaunlich, wie die internationalen Verbindungen der Polizei funktionierten. Obwohl sie nicht zu Interpol gehörten, wurden sie in allen Ehren empfangen. Eva hegte den leisen Verdacht, dass ihr Noch-Ehemann Peer seine Finger mit im Spiel hatte. Als Leiter des BKA für Internationale Kriminalität hatte er gewiss seine Verbindungen in Südamerika. Auch ihr Schwiegervater, Nils Larson, hatte sich sicherlich eingemischt und seine ‚Connections‘ spielen lassen. Internationale Versicherungsgesellschaften verfügten über ein globales Netzwerk, das Eva manchmal zu denken gab.

Als sie die Stufen der Gangway hinunter gingen, schlug ihnen eine unerwartet kühle, feuchte Luft entgegen. Hier am Äquator lagen die Temperaturen spürbar unter 20 Grad. Graue Gewitterwolken hingen über der majestätischen Bergwelt wie pralle Säcke.

„Herzlich willkommen in Ecuador“, sagte der ältere Beamte in gutem Englisch zu den beiden Neuankömmlingen. „Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug.“

Er schüttelte erst Eva, dann Hugo Hartwig die Hand.

„Mein Name ist Felipe Martinez, ich bin der Polizeikommandant von Quito und Leiter der Sonderkommission, die den Tod von Señor Stern untersucht. Dies hier ist mein Kollege, Leutnant Carlos Mantegna.“

Der etwas jüngere Beamte salutierte, ignorierte Evas ausgestreckte Hand und stand stramm, den Blick starr nach vorne auf ein gefügiges Nichts gerichtet.

Eva nahm mit ihrem Begleiter auf dem Rücksitz Platz. Das Gepäck würde von einem anderen Wagen nachgebracht, erklärte man ihnen. Eine Passkontrolle entfiel offensichtlich.

Die erste Fahrt führte sie in das Polizeipräsidium, die Comandancia de la Policía Nacional in der Avenida Río Amazonas.

Neugierig schaute die Detektivin aus dem Autofenster.

Hugo Hartwig hatte vor dem Abflug einen Reiseführer gekauft und ihn Eva überlassen, die ihn während des Fluges interessiert studierte. So wusste sie aus ihrer Lektüre, dass der internationale Flughafen zwanzig Kilometer nordöstlich der Stadt lag und sie bis ins Zentrum fast zwei Stunden brauchen würden. Das kam ihr etwas lang vor, doch als sie sich im ersten Stau befanden, wusste sie warum.

Auf einer modernen, sechsspurigen Schnellstraße passierten sie bäuerliche Landschaft mit kleinen Feldern und modern wirkenden Vororten der Großstadt. Doch schnell nahm die Besiedlung zu. Die südamerikanische Metropole glitt mit ihren Häusern und Straßenzügen an ihnen vorbei. Im Randgebiet dominierten flache, einfache Häuser und ebenso flache, triste Industriegebäude, in denen scheinbar das gleiche hergestellt wurde: Eintönigkeit. Staubgrau führte die Straße sie allmählich dem Zentrum entgegen. Plötzlich wuchsen höhere Gebäude aus dem Boden, Alleen und weiß getünchte Kolonialbauten verliehen dem Stadtkern ein heiteres Antlitz.

Das Präsidium war ein moderner Bau mit einer Glasfassade, die in den oberen Stockwerken die Berge widerspiegelten, über denen immer noch dunkle Regenwolken hingen. Doch innen sah es genauso aus, wie Eva es sich vorgestellt hatte. Nicht, dass sie jemals zuvor in einem südamerikanischen Land gewesen wäre, aber etliche Filme hatten ihr ein Klischee suggeriert, das sich zu bestätigen schien. Von einem weiten Flur zweigten Büros ab, in denen Ventilatoren brummten und Männer mit pomadigen Haaren an hölzernen Schreibtischen saßen, die sich unter der Last von Akten bogen.

Carlos Mantegna begleitete sie bis zu einem etwas eleganterem Büro, blieb aber vor der Tür stehen, während sie zusammen mit dem Commandante hinein gingen und sich setzten.

Eva schaute sich um. Ein großes Kruzifix hing in einer Ecke und der leidende Jesus blickte auf ein Zimmer voller glänzender Mahagonimöbel. Der Schreibtisch des Commandante dominierte den Raum, nicht etwa, weil er so voll, sondern weil er mächtig groß war und sich die getäfelte Zimmerdecke in der polierten Platte spiegelte. Zwei silberne Bilderrahmen zeigten Eva Larson und Hugo Hartwig ihren kostbaren Rücken, aber die Detektivin war sich sicher, dass in dem einen die gepflegte Frau des Commandante, in dem anderen seine gestriegelten Kinder ihm vorschriftsmäßig zulächelten.

Eva merkte sehr schnell, dass sie weder dem Commandante noch seinem gefügigen Leutnant gegenüber Sympathie verspürte. Vielleicht lag das ja daran, überlegte sie, dass die Polizei hier so militärisch wirkte. Nun gut, sie würde ihre Arbeit machen, sie wollte ja schließlich nicht in dieses Land, von dem sie gerade einmal eine Autofahrt lang etwas gesehen hatte, auswandern.

„Ich habe Sie in einem angemessenen Hotel in der Nähe untergebracht. Wenn es Ihnen recht ist, würde ich Sie heute noch in die Gerichtsmedizin begleiten. Morgen in der Früh fahren wir mit dem Auto nach Lago Agrio und dann bringt uns ein Motorkanu in die Casa de la Esperanza“, unterbrach der Commandante ihre Überlegungen.

Casa de la Esperanza. Eva konnte kaum Spanisch, verstand aber die Bedeutung der Worte: Haus der Hoffnung. Welch schöner Name.

„Die Familie des Verstorbenen ist auch in der Casa“, hörte sie Felipe Martinez weiter sagen. „Wollen Sie erst einmal in das Hotel, oder sollen wir gleich in die Pathologie?“

Eva schaute ihren Ex-Chef fragend an. Sollte doch er entscheiden.

„Lassen Sie uns gleich in die Gerichtsmedizin gehen und anschließend ins Hotel“, schlug er vor und Eva nickte zustimmend.

Die Pathologie war in einem Rückgebäude untergebracht, das sie zu Fuß durch einen kleinen Park erreichten. Eva genoss die frische Luft, als sie unter schattigen Bäumen auf ein großes Portal zusteuerten. Der Leutnant ging voraus und öffnete ihnen die Tür. Dabei schlug er die Hacken zusammen.

„Hier riecht es wie bei uns“, flüsterte Eva.

Der Commandante drehte sich um und musterte die beiden Besucher wie ein Lehrer, der in die Klasse schaute, um herauszufinden, wer heimlich geschwätzt hatte. Eva musste lachen, doch unterdrückte es zu einem Lächeln, das den Commandante zu versöhnen schien.

Im Stechschritt ging er voran und eine breite Treppe hinunter in das Kellergeschoss. Vor einer Eisentür blieb er stehen und drückte auf eine Klingel. Wenig später öffnete sich die Tür automatisch. Eva hatte eine Kamera in der linken Ecke über dem Türrahmen entdeckt, als der Commandante in diese Richtung blickte.

„Bitte folgen Sie mir“, sagte ein Mann in einem weißen Kittel, der wie der Polizeichef gut Englisch sprach.

Sie gingen einen langen, von Neonbändern beleuchteten Gang entlang. Schließlich bogen sie in einen Raum ab, der Eva sehr bekannt vorkam. Stählerne Schubladen waren in die Wände eingelassen und die ehemalige Beamtin wusste, was sie enthielten.

Felipe Martinez gab dem Gerichtsmediziner eine spanische Anweisung und wurde zu einer der Schubladen geführt. Eva bemerkte, wie Hugo Hartwig Haltung annahm. Sein Körper war angespannt, das Gesicht zwanghaft unter Kontrolle. Leise glitt die silberne Tür auf und eine Bahre, die mit einem weißen Tuch bedeckt war, kam zum Vorschein. Der Commandante hob ungerührt das Leinen hoch und enthüllte den Körper von Hagen Stern.

„Oh mein Gott“, entfuhr es dem Münchner Polizeichef, der das Tuch nahm und die untere Körperhälfte seines Freundes wieder bedeckte. Er funkelte Martinez böse an. Der Commandante hatte ein Sakrileg an dem Leichnam begangen, als er ihn vor Eva Larson entblößte.

Martinez ignorierte seinen deutschen Besucher und wandte sich an den Pathologen, der in Papieren blätterte. Nach einem kurzen Wortwechsel, der mit einem ärgerlichen Blick des Commandante endete, sagte er: „Mein Kollege hat bislang nur die Todesursache herausgefunden. Tod durch einen heftigen Schlag auf den Kopf. Alles weitere müssen wir vor Ort noch ermitteln.“

Er wirkte unzufrieden, hätte er seinen ausländischen Gästen doch am liebsten einen abgeschlossenen Fall geboten und sie mit der Leiche auf die Heimreise nach Deutschland geschickt.

Eva stellte dem Pathologen eine Frage: „Ist dieser Mann hier an einem Gehirntumor oder einer gesundheitlichen Folge davon gestorben, die vielleicht durch den Schlag verursacht worden ist?“

„No, Señora“, kam die spontane Antwort. „Nach unserer ersten Untersuchung gehen wir von einem Schädelbasisbruch aus. Einen Tumor konnten wir auf den ersten Röntgenbildern nicht entdecken.“

Der Commandante runzelte die Stirn.

„Es könnte also ein Unfall gewesen sein?“, tastete sie sich vorsichtig weiter vor.

„Vielleicht, Señora“, war erneut die knappe Antwort. „Erschlagen durch eine dritte Person ist jedoch wahrscheinlicher“, fügte er hinzu. „Sehen Sie, die Wunde ist hier am unteren Hinterkopf größer. Wäre der Ast von oben auf ihn herab gefallen, sähe der Wundverlauf anders aus.“

„Gibt es eine Tatwaffe, oder etwas, was zu dieser schweren Schädelverletzung geführt haben konnte?“

„Oh, ja, sicher.“

Der Pathologe winkte Eva hinüber zu einem großen, weißen Tisch und öffnete eine riesige Plastiktüte. Bevor er den Inhalt hervorholte, zog er sich Gummihandschuhe an.

„Wegen der Spurensicherung“, sagte er. „Die Untersuchung ist ja noch nicht abgeschlossen.“

Eva Larson sah, wie er einen großen, schweren Ast hervorholte und vorsichtig auf den Tisch legte. Sie entdeckte dunkle Verfärbungen auf dem Holz, die auf den ersten Blick wie Harz aussahen, doch sie wusste sofort, was es war: Hagen Sterns Blut. Der Gerichtsmediziner reichte ihr eine Lupe und sie trat nah an das Corpus delicti heran. Durch die Vergrößerung waren deutlich Haare zu erkennen, die sich in der Rinde verfangen hatten.

Sie trat zwei Schritte zurück und betrachtete die vermeintliche Tatwaffe als Ganzes. Der große Ast war auf der einen Seite abgebrochen, die andere verjüngte sich zu einem dünnen Ast, an dem grüne Blätter hingen. Fingerabdrücke waren wohl bei der rauen Struktur der Oberfläche nicht zu erwarten.

„Sicher ist, dass Herr Stern durch dieses Holz zu Tode gekommen ist“, hörte die Detektivin den Commandante feststellen.

„Darf ich?“, fragte Eva und deutete mit den Augen auf die Schachtel, aus der der Pathologe vorher die Handschuhe genommen hatte.

„Selbstverständlich“, sagte der Mediziner und reichte sie ihr. Eva zupfte zwei heraus und streifte sie sich über. Dann nahm sie behutsam das Holz auf.

„Junge, Junge“, entfuhr es ihr auf deutsch. Dann fügte sie in Englisch hinzu: „Der Ast ist schwerer, als ich erwartet hatte.“

„Das ist Pechiche“, klärte sie Martinez auf, „eine Baumart, die im Regenwald vorkommt. Sie hat eine weiche Rinde aber ein besonders hartes Holz.“

Die Detektivin hob den Ast über ihren Kopf und machte eine schlagende Bewegung über den Tisch.

„Das Holz ist zwar schwer“, sagte sie, „aber es könnte sowohl von einem Mann als auch von einer kräftigen Frau verwendet worden sein.“

Hugo Hartwig hatte sich an der Unterhaltung nicht beteiligt und schaute seinen verstorbenen Freund mit einer Mischung aus Trauer und Unverständnis an.

„Da feiert er seine Wiedergeburt und findet dabei den Tod“, flüsterte er in den Raum hinein. Eva fröstelte es. Erst jetzt bemerkte sie, wie kalt es in diesem unwirtlichen Keller war.

Die Detektivin zögerte einen Augenblick. Sie sagte aus einem Gefühl heraus: „Commandante Martinez, ich bitte Sie, die Leiche nicht freizugeben und zu warten, bis wir unsere eigenen Untersuchungen abgeschlossen haben.“

„Dieser verfluchte Dom Inacio hat ihn umgebracht“, entfuhr es ihm und Eva sah, wie sich der Pathologe bekreuzigte.

„Dom Inacio?“ Eva stellte diese Frage halblaut mehr rhetorisch. Das konnte nur der ‚Wunderheiler’ sein, von dem die Zeitungen geschrieben hatten.

„Dieser verdammte Hexer“, zischte Felipe Martinez. „Dieses Mal werde ich ihn zur Strecke bringen, das schwöre ich bei Jesus Christus, unserem Herrn!“

Eva wunderte sich über diesen emotionalen Ausbruch.

Sie verabschiedeten sich von dem Gerichtsmediziner. Der Polizeichef begleitete sie zu dem Wagen, der sie vom Flughafen abgeholt hatte.

„Leutnant Mantegna bringt Sie nun ins Hotel“, informierte er die beiden Deutschen. „Wir sehen uns morgen früh um acht Uhr. Ich werde Sie abholen und dann gemeinsam in die Casa de la Esperanza fahren.“

Er schlug die Wagentür hinter ihnen zu. Eva bemerkte auf dem Beifahrersitz vorne ihre Reisetasche und war erleichtert, dachte sie an das Wollkleid, das sich darin befand und das sie gerne gegen ihren Hosenanzug tauschen wollte, den sie nun seit dem Abflug aus München trug.

Carlos Mantegna fuhr sie einige Straßenzüge weiter zu einem Hotel-Prachtbau aus der spanischen Kolonialzeit. Der Leutnant stieg aus und öffnete beiden die Wagentür.

Eva wusste nicht, ob sie das für höflich oder devot halten sollte. Das Gepäck lud er zusammen mit einem rotlivrierten Pagen auf einen Gepäckwagen, der damit sofort in der Hotelhalle verschwand.

„Haben Sie alles, Eva?“, fragte Hugo Hartwig. So viel Vertraulichkeit war die Detektivin zwischen ihnen nicht gewohnt. Sie nickte kurz und wollte sich gerade auf den Weg in das Hotel machen, da versperrte ihr Carlos Mantegna den Weg.

Er beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: „Dom Inacio ist ein heiliger Mann. Retten Sie ihn!“