SIE - Henry Rider Haggard - E-Book

SIE E-Book

Henry Rider Haggard

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Rache-Auftrag einer zweitausend Jahre zurückliegenden Bluttat führt Leo Vincey, den letzten Spross eines alten griechischen Geschlechts, zusammen mit Horace Holly, seinem väterlichen Freund und Erzieher, nach einer gefahrvollen Reise in die geheimnisvolle Totenstadt Kôr, wo ein uralter Kampf überirdischer Mächte seinen Höhepunkt erreicht und wo SIE herrscht: SIE, die wiedergeborene Göttin, erfüllt vom Reichtum des alten Ägyptens, von der Weisheit des antiken Griechenlands und von der Macht des imperialen Roms. SIE - von ewiger Jugend und tödlicher Schönheit... Der Roman SIE von Henry Rider Haggard wurde erstmals 1886 veröffentlicht und gehört mit über 83 Millionen Exemplaren in über 44 Sprachen zu den meistverkauften Büchern aller Zeiten. Das Buch wurde seit 1908 vielfach verfilmt, die wohl bekanntesten Leinwandversionen sind SHE – HERRSCHERIN EINER VERSUNKENEN WELT aus dem Jahr 1935 (mit Helen Gahagan in der Titelrolle) und HERRSCHERIN DER WÜSTE von 1965 (mit Peter Cushing und Ursula Andress). Der Apex-Verlag veröffentlicht SIE als durchgesehene Neuausgabe.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 473

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


 

 

 

 

 

HENRY RIDER HAGGARD

 

Sie

 

 

 

 

Roman

 

 

Apex-Verlag

Impressum

 

 

Der Roman She - A History Of Adventure von H. R. Haggard ist gemeinfrei.

Copyright © dieser Ausgabe by Apex-Verlag.

 

Übersetzung: Helmut Degner (bearbeitet von Christian Dörge).

Original-Titel: She - A History Of Adventure.

Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.

Cover: Christian Dörge/123rf/Apex-Graphixx.

Satz: Apex-Verlag.

 

Verlag: Apex-Verlag, Winthirstraße 11, 80639 München.

Verlags-Homepage: www.apex-verlag.de

E-Mail: [email protected]

 

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

 

SIE 

Einleitung 

1. Ein Besucher 

2. Die Jahre vergehen 

3. Die Amenartas-Scherbe 

4. Die Bö 

5. Der Kopf des Äthiopiers 

6. Ein frühchristlicher Brauch 

7. Ustane singt 

8. Das Fest und was danach geschah 

9. Ein kleiner Fuß 

10. Betrachtungen 

11. Die Ebene von Kôr 

12. Sie 

13. Ayesha entschleiert sich 

14. Eine Seele in der Hölle 

15. Ayesha hält Gericht 

16. Die Gräber von Kôr 

17. Eine Wendung 

18. »Hinweg mit dir, Weib!« 

19. »Bringt mir eine schwarze Ziege!« 

20. Triumph 

21. Der Tote und der Lebende begegnen sich 

22. Job hat eine Vorahnung 

23. Der Tempel der Wahrheit 

24. Über die Schlucht 

25. Der Geist des Lebens 

26. Was wir sahen 

27. Wir springen 

28. Über den Berg 

 

Das Buch

 

 

Der Rache-Auftrag einer zweitausend Jahre zurückliegenden Bluttat führt Leo Vincey, den letzten Spross eines alten griechischen Geschlechts, zusammen mit Horace Holly, seinem väterlichen Freund und Erzieher, nach einer gefahrvollen Reise in die geheimnisvolle Totenstadt Kôr, wo ein uralter Kampf überirdischer Mächte seinen Höhepunkt erreicht und wo SIE herrscht: SIE, die wiedergeborene Göttin, erfüllt vom Reichtum des alten Ägyptens, von der Weisheit des antiken Griechenlands und von der Macht des imperialen Roms. SIE - von ewiger Jugend und tödlicher Schönheit... 

 

Der Roman Sie von Henry Rider Haggard wurde erstmals 1886 veröffentlicht und gehört mit über 83 Millionen Exemplaren in über 44 Sprachen zu den meistverkauften Büchern aller Zeiten. Das Buch wurde seit 1908 vielfach verfilmt, die wohl bekanntesten Leinwandversionen sind She – Herrscherin einer versunkenen Welt aus dem Jahr 1935 (mit Helen Gahagan in der Titelrolle) und Herrscherin der Wüste von 1965 (mit Peter Cushing und Ursula Andress).

Der Apex-Verlag veröffentlicht Sie als durchgesehene Neuausgabe. 

SIE

 

  

 

 

 

 

  Einleitung

 

 

Bevor ich der Welt von einem der seltsamsten und geheimnisvollsten Abenteuer berichte, die je von Menschen erlebt worden sind, halte ich es für meine Pflicht, zu erklären, in welcher Beziehung ich dazu stehe. Vor allem möchte ich darauf hinweisen, dass ich nicht der Erzähler, sondern nur der Herausgeber dieser ungewöhnlichen Geschichte bin, und kurz schildern, auf welche Weise sie in meine Hände gelangte.

Als ich vor einigen Jahren in einer Universitätsstadt, die ich für den Zweck dieser Geschichte Cambridge nennen will, bei einem mir befreundeten Professor zu Besuch weilte, fielen mir eines Tages auf der Straße zwei Herren auf, die Arm in Arm gingen. Der eine war, ohne Übertreibung, der hübscheste junge Mann, den ich je gesehen habe: hochgewachsen und stattlich, kraftvoll und anmutig. Hinzu kam, dass sein Gesicht nicht nur schön, sondern auch edel war, und als er vor einer vorübergehenden Dame den Hut zog, sah ich, dass dichte goldene Locken seinen Kopf bedeckten.

»Du meine Güte!«, sagte ich zu meinem Freund. »Dieser Mann sieht ja aus wie eine zum Leben erwachte Apollostatue. Welch herrliche Erscheinung!«

»Ja«, erwiderte er, »er ist der schönste Mann von Cambridge und zugleich einer der liebenswürdigsten. Man nennt ihn den Griechengott. Doch sieh dir auch den anderen an; er ist Vinceys - so heißt der Gott - Vormund und angeblich ein sehr gescheiter Kopf. Er wird Charon genannt - ob seines Äußeren wegen oder weil er seinen Schützling über die tiefen Wasser der Examen geleitet hat, weiß ich nicht.«

Als ich ihn betrachtete, fand ich ihn auf seine Art nicht weniger interessant als den jungen Apoll an seiner Seite. Er war etwa vierzig Jahre alt und ebenso hässlich wie sein Begleiter schön. Er war ziemlich klein, hatte krumme Beine, eine breite, kräftige Brust und ungewöhnlich lange Arme, dunkles Haar und kleine Augen. Das Haar wuchs ihm tief in die Stirn hinein, und sein Bart reichte bis zum Haar hinauf, so dass von seinem Gesicht nicht viel zu sehen war. Alles in allem erinnerte er mich stark an einen Gorilla, und dennoch wirkte er überaus sympathisch und anziehend auf mich. Ich bat meinen Freund, mich ihm bekannt zu machen.

»Aber gern«, erwiderte mein Freund, »nichts leichter als das. Ich kenne Vincey und will dich ihm gern vorstellen.« Er tat es, und wir standen eine Weile beisammen und unterhielten uns – so viel ich mich entsinne, über die Zulus, denn ich war vor kurzem erst aus Südafrika zurückgekommen. Kurz darauf näherte sich uns jedoch eine korpulente, von einem hübschen jungen Mädchen begleitete Dame, und Mr. Vincey, der die beiden anscheinend gut kannte, schloss sich ihnen an und entfernte sich mit ihnen. Bereits beim Nahen der Damen änderte sich in auffallender Weise die Miene des älteren Herrn, der, wie ich indessen erfahren hatte, Holly hieß. Er verstummte plötzlich, warf seinem Begleiter einen vorwurfsvollen Blick zu, wandte sich, mir kurz zunickend, ab und ging hinüber auf die andere Straßenseite. Wie ich später hörte, stand er in dem Ruf, Frauen ebenso zu fürchten wie andere Leute einen tollwütigen Hund, was seinen hastigen Rückzug zu erklären schien. Vincey hingegen schien dem weiblichen Geschlecht durchaus nicht abgeneigt; jedenfalls erinnere ich mich, dass ich damals lachend zu meinem Freund sagte, er sei nicht gerade ein Mann, den ich der Dame meines Herzens gern vorstellen würde, denn die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihre Zuneigung ihm zuwenden könnte, sei doch überaus groß. Er sah einfach gar zu gut aus, und dabei fehlten ihm gänzlich jene Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit, welche die meisten hübschen Männer bei ihren Geschlechtsgenossen mit Recht unbeliebt machen.

Mein Besuch endete an diesem Abend, und ich habe danach lange Zeit nichts von Charon und dem Griechengott gesehen oder gehört. Genauer gesagt, ich habe bis zu dieser Stunde keinen der beiden wiedergesehen und werde es wohl auch kaum. Vor einem Monat jedoch erhielt ich einen Brief und zwei Pakete, deren eines ein Manuskript enthielt, und als ich den Brief öffnete, sah ich, dass er die Unterschrift Horace Holly trug - ein Name, der mir im ersten Augenblick nichts sagte. Der Brief hatte folgenden Wortlaut:

 

 

»...College, Cambridge, 1. Mai 18..

 

Sehr geehrter Herr!

Sie werden, da wir uns nur so flüchtig kennengelernt haben, überrascht sein, einen Brief von mir zu erhalten. Wie Sie sich vielleicht erinnern, wurden mein Mündel Leo Vincey und ich Ihnen vor einigen Jahren in Cambridge auf der Straße vorgestellt. Doch ich will mich kurz fassen und sogleich mein Anliegen vorbringen. Ich las vor kurzem mit großem Interesse ein Buch, in dem Sie ein Abenteuer im Inneren Afrikas schildern. Wie ich wohl annehmen darf, ist dieses Buch aus Dichtung und Wahrheit gemischt. Wie dem auch sei - es hat mich auf eine Idee gebracht. Aus dem beiliegenden Manuskript (welches ich Ihnen zusammen mit dem Skarabäus Königlicher Sohn der Sonne und der Tonscherbe übersende) werden Sie ersehen, dass mein Mündel oder, besser gesagt, mein Adoptivsohn Leo Vincey und ich ebenfalls ein Abenteuer in Afrika erlebt haben, welches so viel wunderbarer als das von Ihnen erzählte ist, dass ich mich - offen gestanden - aus Furcht, Sie könnten mir nicht glauben, fast scheue, Sie damit vertraut zu machen. Wie Sie in dem Manuskript lesen werden, hatten wir eigentlich beschlossen, diese Geschichte nicht der Öffentlichkeit zu übergeben, solange wir noch am Leben sind. Ganz sicher wären wir diesem Entschluss auch treu geblieben, hätte sich nicht ein besonderer Umstand ergeben. Aus Gründen, die Sie nach Lektüre des Manuskriptes erraten werden, werden wir uns wieder auf eine Reise begeben, diesmal nach Zentralasien, wo, wenn überhaupt auf dieser Welt, wahre Weisheit zu finden ist, und wir nehmen an, dass unser Aufenthalt dort von sehr langer Dauer sein wird. Möglicherweise werden wir überhaupt nicht mehr zurückkehren. Unter diesen veränderten Umständen erhebt sich die Frage, ob wir berechtigt sind, einfach aus der Befürchtung heraus, wir könnten uns lächerlich machen oder auf Unglauben stoßen, der Menschheit einen Bericht über ein rätselhaftes Phänomen vorzuenthalten, welches nach unserer Überzeugung von unvergleichlicher Bedeutung ist. Leo und ich sind in dieser Beziehung verschiedener Ansicht, doch nach langen Diskussionen sind wir übereingekommen, Ihnen die Geschichte zu übersenden und die Entscheidung, ob sie veröffentlicht werden soll oder nicht, Ihnen zu überlassen, wobei nur ein einziger Vorbehalt gemacht sei: dass Sie unsere wirklichen Namen verschweigen und von unserer Identität nur so viel mitteilen, als die Glaubwürdigkeit der Erzählung erfordert. 

Was ist dem noch hinzuzufügen? Ich glaube, lediglich die nochmalige Versicherung, dass in beiliegendem Manuskript alles so geschildert ist, wie es sich tatsächlich zugetragen hat. Auch was Sie betrifft, habe ich nichts weiter zu sagen. Von Tag zu Tag bedauern wir mehr, dass wir die Gelegenheit, unser Wissen durch diese wunderbare Frau bereichern zu lassen, nicht besser genützt haben. Wer mag sie gewesen sein? Wie kam sie wohl in die Höhlen von Kôr, und was war ihre wirkliche Religion? Wir haben keine Antwort darauf gefunden, und leider werden wir wohl auch keine mehr finden; zumindest nicht so bald. Diese und viele andere Fragen lassen mir keine Ruhe, doch was nützt es, sich darüber den Kopf zu zerbrechen? 

Wollen Sie also diese Aufgabe übernehmen? Wir lassen Ihnen völlige Freiheit, und Ihr Lohn wird das Verdienst sein, der Menschheit die phantastischste - und dennoch wahre - Geschichte dargeboten zu haben, die sich auf Erden je zugetragen hat. Lesen Sie das Manuskript (von dem ich eine gute Abschrift für Sie angefertigt habe) und geben Sie mir bald Nachricht.

Hochachtungsvoll Ihr sehr ergebener

L. Horace Holly

 

P.S. Sollten Sie sich zur Veröffentlichung entschließen und der Verkauf des Buches Gewinn abwerfen, so verfügen Sie nach Belieben; falls Ihnen jedoch ein Verlust entsteht, so sind meine Anwälte, die Herren Geoffrey und Jordan, angewiesen, Ihnen diesen zu ersetzen. Wir vertrauen die Scherbe, den Skarabäus und die Pergamente Ihrer Obhut an und werden sie vielleicht einmal zurückverlangen.

L. H. H.«

 

 

Dieser Brief setzte mich, wie man sich wohl denken kann, in nicht geringes Erstaunen, doch noch erstaunter war ich, als ich nach vierzehn Tagen, in denen andere dringende Arbeiten mich daran hinderten, das Manuskript endlich las. Ich beschloss sofort, mich der Sache anzunehmen, und teilte dies Mr. Holly mit, erhielt jedoch eine Woche später meinen Brief mit einem Begleitschreiben seiner Anwälte zurück, in dem mir diese mitteilten, dass ihr Klient und Mr. Leo Vincey bereits nach Tibet abgereist seien und keine Adresse hinterlassen hätten.

Dies ist alles, was ich zu sagen habe. Über die Geschichte mag der Leser sich selbst ein Urteil bilden. Ich übergebe sie ihm, wie ich sie erhalten habe - abgesehen von einigen wenigen Änderungen, die ich vornahm, um die Identität der Akteure der Öffentlichkeit zu verbergen. Jeglichen persönlichen Kommentars will ich mich enthalten. Anfangs neigte ich zu der Ansicht, diese Geschichte einer in die Majestät ihrer ungezählten Jahre gehüllten Frau, auf welcher der Schatten der Ewigkeit ruht wie der dunkle Fittich der Nacht, sei eine gewaltige Allegorie, deren Sinn ich nicht zu enträtseln vermöge. Dann wieder glaubte ich, es sei vielleicht ein kühner Versuch, die Folgen faktischer Unsterblichkeit an einem sterblichen Wesen zu demonstrieren, das seine Kraft aus der Erde zieht, in dessen Brust jedoch Leidenschaften auflodern und erlöschen, wie sich in der unvergänglichen Welt, die es umgibt, die Winde und Fluten unaufhörlich erheben und senken. Doch später ließ ich auch diesen Gedanken fallen. Mir scheint diese Geschichte den Stempel der Wahrheit zu tragen: Ich muss es anderen überlassen, sie zu enträtseln, und so übergebe ich denn nach dieser kurzen, durch die Umstände gebotenen Einleitung der Welt den Bericht über Ayesha und die Höhlen von Kôr.

 

Der Herausgeber

 

 

P.S. Bei nochmaligem Durchlesen der Geschichte ist mir ein, wie ich glaube, sehr wesentlicher Punkt aufgefallen, auf den ich die Aufmerksamkeit des Lesers lenken möchte. Er wird bemerken, dass nichts an Leo Vinceys Charakter, soweit wir ihn kennenlernen, dazu angetan scheint, einen so mächtigen Geist wie den Ayeshas zu fesseln. Er ist nicht einmal - jedenfalls in meinen Augen - besonders interessant. Man sollte sogar meinen, dass es Mr. Holly unschwer hätte gelingen müssen, ihn auszustechen. Könnte es sein, dass auch in diesem Fall die Gegensätze sich anzogen, dass gerade die Fülle und der Reichtum ihres Geistes eine seltsame physische Reaktion auslösten, die sie der rein äußerlichen Schönheit eines Mannes verfallen ließ? Oder ist die wahre Erklärung die, dass Ayesha, die weiter und tiefer zu blicken vermochte als wir, den in der Seele ihres Geliebten verborgenen Keim und Funken der Größe entdeckte und erkannte, dass er, genährt durch ihre Lebenskraft, befruchtet durch ihr Wissen und bestrahlt von der Sonne ihres Wesens, aufblühen würde wie eine Blume und auf strahlen wie ein Stern, um die Welt mit Duft und Licht zu erfüllen?

Auch hierauf weiß ich keine Antwort, sondern muss es dem Leser überlassen, sich anhand der von Mr. Holly nachstehend geschilderten Tatsachen sein eigenes Urteil zu bilden.

 

 

 

 

  1. Ein Besucher

 

 

Es gibt Ereignisse, die sich in allen Einzelheiten so tief dem Gedächtnis einprägen, dass man sie nie vergisst. Mir ergeht es so mit dem folgenden, das mir so klar vor Augen steht, als hätte es sich erst gestern zugetragen.

Es ist in diesem Monat etwas über zwanzig Jahre her, dass ich, Ludwig Horace Holly, eines Abends in meinem Zimmer in Cambridge saß und mir über eine mathematische Aufgabe den Kopf zerbrach. Ich wollte in einer Woche mein Fellowship-Examen ablegen, und mein Tutor und meine Kollegen waren überzeugt, dass ich es glänzend bestehen würde. Müde und erschöpft schob ich schließlich mein Buch beiseite, ging zum Kamin und stopfte mir eine Pfeife. Auf dem Kaminsims stand eine brennende Kerze, hinter der ein langer schmaler Spiegel hing, und als ich mir die Pfeife anzünden wollte, fiel mein Blick auf mein Bild darin. Ich hielt inne und betrachtete es nachdenklich. Das Streichholz brannte weiter, bis es mir die Finger versengte und ich es wegwerfen musste; doch ich blieb stehen und starrte, tief in Gedanken versunken, auf mein Spiegelbild.

»Hoffentlich«, sagte ich schließlich laut, »werde ich es einmal mit dem, was in meinem Kopf drin ist, zu etwas bringen, denn mit seinem Äußeren wird wohl kaum viel auszurichten sein.«

Diese Bemerkung dürfte dem Leser ziemlich unverständlich sein, und deshalb möchte ich hinzufügen, dass ich damit auf meine körperlichen Mängel anspielte. Die meisten Männer im Alter von zweiundzwanzig Jahren besitzen wenigstens in mehr oder weniger starkem Grad die Anmut der Jugend, doch mir war selbst diese versagt. Klein und untersetzt, mit einer unförmig breiten Brust, langen mageren Armen, plumpen Gesichtszügen, tiefliegenden grauen Augen, einer niedrigen, halb von dichtem schwarzen Haar überwucherten Stirn - so sah ich vor einem Vierteljahrhundert aus, und daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Ich war gebrandmarkt wie Kain - von der Natur gebrandmarkt mit einer ungewöhnlichen Hässlichkeit; doch die Natur hatte mich auch mit einer stählernen Kraft und ansehnlichen geistigen Fähigkeiten ausgestattet. So hässlich war ich, dass meine stets peinlich auf ihr Äußeres bedachten Studienkollegen, so stolz sie auf meine körperliche Kraft und Gewandtheit und meine sportlichen Leistungen waren, sich nur ungern mit mir zusammen sehen ließen. War es ein Wunder, dass ich menschenscheu und schwermütig wurde, dass ich mich zurückzog, am liebsten allein arbeitete und keine Freunde hatte - oder zumindest nur einen? Die Natur hatte mich dazu bestimmt, einsam zu leben und nur an ihrer Brust Trost suchen zu dürfen. Frauen stieß mein Anblick ab. Erst eine Woche zuvor hatte mich eine, als sie glaubte, ich könne es nicht hören, ein Scheusal genannt und geäußert, ich hätte sie davon überzeugt, dass der Mensch vom Affen abstamme. Nur einmal hatte eine Frau Neigung zu mir geheuchelt, und ich hatte sie mit meiner ganzen aufgestauten Zärtlichkeit überschüttet. Doch dann erhielt ein anderer eine kleine Erbschaft, auf die ich gerechnet hatte, und sie wandte sich von mir ab. Ich flehte sie an wie nie zuvor oder danach einen anderen Menschen, mich nicht zu verlassen, denn ich war vernarrt in ihr süßes Gesicht und liebte sie von ganzem Herzen; und zur Antwort führte sie mich schließlich vor einen Spiegel, stellte sich neben mich und schaute hinein.

»Nun«, sagte sie, »wenn ich schön bin, was sind dann wohl Sie?«

Und damals war ich erst zwanzig Jahre alt.

So stand ich also da und starrte mich an, und eine irgendwie grimmige Genugtuung über meine Einsamkeit erfüllte mich, hatte ich doch weder Vater noch Mutter, noch Geschwister; und plötzlich klopfte es an der Tür.

Ich lauschte einen Augenblick, bevor ich öffnete, denn es war fast schon Mitternacht, und ich hatte keine Lust, noch jemanden zu empfangen. Ich hatte nur einen einzigen Freund auf dem College, ja auf der ganzen Welt - vielleicht war er es.

Da hörte ich den Betreffenden vor der Tür husten, und weil ich diesen Husten kannte, öffnete ich sogleich.

Ein großer schlanker Mann von etwa dreißig Jahren, dessen Gesicht die Spuren einstiger großer Schönheit trug, stürzte herein, keuchend unter der Last eines eisernen Kastens, den er an einem Griff in der rechten Hand trug. Er stellte den Kasten auf den Tisch und bekam einen so schrecklichen Hustenanfall, dass er ganz purpurrot im Gesicht wurde. Schließlich sank er auf einen Sessel und begann Blut zu speien. Ich schenkte etwas Whisky in ein Glas und reichte es ihm. Er trank und schien sich ein wenig zu erholen.

»Wie kannst du mich nur so lange draußen in der Kälte stehen lassen?«, sagte er vorwurfsvoll. »Du weißt doch, Zugluft kann der Tod für mich sein.«

»Ich hatte doch keine Ahnung, dass du es bist«, erwiderte ich. »Du kommst sehr spät.«

»Ja, und es wird wohl mein letzter Besuch sein«, sagte er mit einem unheimlichen Lächeln. »Mit mir geht's zu Ende, Holly. Den morgigen Tag werde ich nicht mehr erleben.«

»Unsinn!«, sagte ich. »Ich werde gleich einen Arzt holen.«

Er winkte ungehalten ab. »Es ist kein Unsinn; doch ich will keinen Arzt. Ich habe Medizin studiert und weiß, wie es mit mir steht. Mir kann kein Arzt mehr helfen. Meine letzte Stunde ist gekommen! Seit einem Jahr schon lebe ich nur noch durch ein Wunder. Jetzt höre mir einmal zu - so aufmerksam, wie du noch nie jemandem zugehört hast, denn ich werde meine Worte nicht wiederholen können. Wir sind seit zwei Jahren Freunde; sage mir, was du von mir weißt.«

»Ich weiß, dass du reich bist und dass du aus einer Laune heraus dein Studium in einem Alter begonnen hast, in dem die meisten anderen damit fertig sind. Ich weiß, dass du verheiratet warst und deine Frau gestorben ist und dass du mein bester, ja mein einziger Freund bist.«

»Weißt du, dass ich einen Sohn habe?«

»Nein.«

»Er ist fünf Jahre alt. Meine Frau ist bei seiner Geburt gestorben, und deshalb habe ich seinen Anblick nie ertragen können. Holly, wenn du zustimmst, möchte ich dich zu seinem Vormund machen.«

Ich sprang vor Überraschung fast von meinem Stuhl auf. »Mich?«, rief ich.

»Ja, dich. Ich habe dich nicht zwei Jahre lang vergeblich studiert. Seit ich weiß, dass ich nicht mehr lange leben werde, habe ich jemanden gesucht, dem ich den Jungen und dies hier« - er klopfte auf den eisernen Kasten - »anvertrauen kann. Du bist genau der Richtige, Holly; denn du bist wie ein starker Baum - im Innern kräftig und kerngesund. Hör zu: Der Junge ist der letzte Sproß einer der ältesten Familien der Welt. Vielleicht kommt dir das unglaubwürdig vor, doch eines Tages wirst du den über jeden Zweifel erhabenen Beweis dafür in Händen haben, dass mein fünfundsechzigster oder sechsundsechzigster direkter Vorfahre, ein gebürtiger Grieche namens Kallikrates, ein ägyptischer Isis-Priester war. Sein Vater war einer der von Hak-Hor, einem mendesischen Pharao der neunundzwanzigsten Dynastie, angeworbenen griechischen Söldner; sein Großvater oder Urgroßvater der von Herodot erwähnte Kallikrates. Um das Jahr 339 v. Chr., als das Pharaonenreich unterging, brach dieser Kallikrates sein Priestergelübde und floh mit einer Prinzessin königlichen Blutes, die ihn liebte, aus Ägypten. Ihr Schiff strandete an der afrikanischen Küste, in der Gegend der heutigen Delagoa-Bucht oder etwas nördlich davon. Die ganze Besatzung kam ums Leben; nur er und seine Frau wurden gerettet. Sie erlitten viel Ungemach, wurden aber schließlich von der mächtigen Königin eines wilden Volkes auf genommen, einer weißen Frau von ungewöhnlicher Schönheit, die unter Umständen, auf die ich jetzt nicht näher eingehen kann, über welche dich jedoch eines Tages der Inhalt dieses Kastens in Kenntnis setzen wird, schließlich meinen Vorfahren Kallikrates ermordete. Seine Frau konnte jedoch - wie, weiß ich nicht - nach Athen entkommen, und sie gebar bald darauf ein Kind, dem sie den Namen Tisisthenes gab, das heißt der mächtige Rächer. Aus unbekannten Gründen übersiedelte die Familie fünfhundert oder mehr Jahre später nach Rom, wo die meisten ihrer Mitglieder, wahrscheinlich um den im Namen Tisisthenes ausgedrückten Rachegedanken zu erhalten, den Beinamen Vindex, der Rächer, annahmen. Dort blieben sie weitere fünfhundert Jahre bis um das Jahr 770, in dem Karl der Große in die Lombardei einfiel, wo sie damals ansässig waren. Das Oberhaupt der Familie scheint sich dem großen Kaiser angeschlossen zu haben; es folgte ihm über die Alpen und ließ sich schließlich in der Bretagne nieder. Acht Generationen später kam sein direkter Nachkomme unter der Regentschaft Edwards des Bekenners nach England und brachte es dort unter Wilhelm dem Eroberer zu Macht und Ansehen. Von damals bis zum heutigen Tage kann ich meine Herkunft lückenlos zurückverfolgen. Die Vinceys - dazu wurde der Name verstümmelt, nachdem die Familie sich in England niedergelassen hatten - haben sich übrigens in keiner Weise besonders ausgezeichnet oder hervorgetan. Teils waren sie Soldaten, teils Kaufleute - im Großen und Ganzen angesehene, doch durchaus unbedeutende Bürger. Von der Zeit Karls II. bis zum Beginn dieses Jahrhunderts waren sie Kaufleute. Um 1790 setzte sich mein Großvater, der eine Brauerei besaß und damit ein ansehnliches Vermögen erwarb, zur Ruhe. Er starb 1821, und mein Vater, der ihm folgte, brachte den größten Teil des Geldes durch. Als er vor zehn Jahren starb, hinterließ er mir eine jährliche Rente von etwa zweitausend Pfund. Ich unternahm damals in Zusammenhang damit« - er deutete auf den eisernen Kasten - »eine Expedition, die leider erfolglos blieb. Auf dem Rückweg bereiste ich Südeuropa und kam auch nach Athen. Dort lernte ich meine geliebte Frau kennen, die wohl, genau wie mein alter griechischer Vorfahre, den Beinamen die Schöne verdient hätte. Ich heiratete sie, und ein Jahr später, bei der Geburt meines Sohnes, ist sie gestorben.«

Er schwieg eine Weile, den Kopf in die Hand gestützt. Dann fuhr er fort:

»Meine Heirat hatte mich von einem Plan abgelenkt, auf den ich jetzt nicht näher eingehen kann. Ich habe keine Zeit, Holly - keine Zeit! Wenn du die Vormundschaft übernimmst, wirst du eines Tages alles darüber erfahren. Nach dem Tod meiner Frau beschäftigte ich mich wieder mit diesem Plan. Doch zuerst schien es mir notwendig, mir eine genaue Kenntnis der orientalischen Sprachen anzueignen, vor allem des Arabischen. Zu diesem Zweck kam ich hierher, doch bald bin ich erkrankt, und nun ist es aus mit mir.« Und als wollte er diese Worte bekräftigen, verfiel er in einen neuen schrecklichen Hustenanfall.

Ich gab ihm noch einen Schluck Whisky, und nachdem er sich ein wenig erholt hatte, fuhr er fort:

»Ich habe meinen Sohn Leo nicht gesehen, seit er ein ganz kleines Kind war. Ich konnte seinen Anblick nicht ertragen. Er soll ein hübscher, aufgeweckter Junge sein. In diesem Brief« - er zog ein an mich adressiertes Kuvert aus der Tasche - »habe ich dargelegt, wie ich mir seine Erziehung denke. Ich habe in dieser Hinsicht ein wenig eigenartige Vorstellungen und möchte deshalb keinen Fremden damit betrauen. Ich frage dich noch einmal: Willst du diese Aufgabe übernehmen?«

»Dazu müsste ich erst wissen, worin sie besteht«, erwiderte ich.

»Du sollst den Jungen zu dir nehmen, bis er fünfundzwanzig Jahre alt ist, und ihn keinesfalls auf eine Schule schicken. An seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag endet deine Vormundschaft. Dann wirst du mit diesen Schlüsseln, die ich dir hiermit übergebe« - er legte sie auf den Tisch »den eisernen Kasten öffnen und ihn den Inhalt lesen lassen. Er soll dann entscheiden, ob er die Reise unternehmen will oder nicht. Wohlgemerkt, er ist in keiner Weise dazu verpflichtet. Und nun zu den Bedingungen. Mein gegenwärtiges Einkommen beträgt zweitausendzweihundert Pfund im Jahr. Die Hälfte davon habe ich dir - vorausgesetzt, du übernimmst die Vormundschaft - auf Lebenszeit vermacht. Das heißt, tausend Pfund davon sind für dich selbst als Entschädigung für deine Bemühungen bestimmt und hundert Pfund jährlich für den Unterhalt des Jungen. Der Rest soll liegenbleiben und sich verzinsen, damit Leo, wenn er sich mit fünfundzwanzig Jahren entschließen sollte, die Reise zu unternehmen, das dafür nötige Geld zur Verfügung steht.«

»Und wenn ich früher sterben sollte?«, fragte ich.

»Dann muss das Vormundschaftsgericht sich seiner annehmen. Du darfst nur nicht vergessen, ihm den Kasten testamentarisch zu vermachen. Ich bitte dich nochmals, Holly - schlage es mir nicht ab. Glaube mir, es wird nicht zu deinem Schaden sein. Du bist dieser Welt nicht gewachsen, mein Lieber. In ein paar Wochen wirst du dein Fellowship-Examen machen, und das Einkommen, das du dann erhalten wirst, wird es dir, zusammen mit dem Geld, das ich dir vermache, ermöglichen, ganz der Wissenschaft zu leben und dich deinem geliebten Sport zu widmen.«

Er hielt inne und sah mich erwartungsvoll an, doch ich zögerte noch immer. Sein Ersuchen schien mir doch gar zu seltsam. »Tu's mir zuliebe, Holly. Wir sind doch gute Freunde, und ich habe keine Zeit mehr, andere Vorkehrungen zu treffen.«

»Also schön«, sagte ich. »Ich bin einverstanden - vorausgesetzt, dass in diesem Brief nichts steht, was mich umstimmen könnte.«

»Ich danke dir von ganzem Herzen, Holly. Mache dir deshalb keine Sorgen. Schwöre mir bei Gott, dass du dem Jungen ein guter Vater sein und die darin niedergelegten Anweisungen befolgen wirst.«

»Ich schwöre es«, sagte ich feierlich.

»Gut. Aber denke daran, dass ich eines Tages vielleicht Rechenschaft von dir fordern werde, denn wenn ich auch tot und vergessen sein werde, so werde ich dennoch leben. Glaube mir, Holly, es gibt keinen Tod, nur eine Wandlung, und ich bin überzeugt, dass sich auch hier auf Erden diese Wandlung unter gewissen Umständen unendlich weit hinausschieben lässt.« Und wieder bekam er einen furchtbaren Hustenanfall.

»Ich muss jetzt gehen«, sagte er. »Den Kasten habe ich dir ausgehändigt, und das Testament, demzufolge man dir den Jungen übergeben wird, befindet sich unter meinen Papieren. Du wirst reich entschädigt, Holly, und ich weiß, du bist ein Ehrenmann - solltest du jedoch deinen Eid brechen, bei Gott, so wird mein Geist dich heimsuchen.«

Ich schwieg, denn ich war zu bestürzt, um ein Wort hervorzubringen.

Er nahm die Kerze, hob sie hoch und betrachtete sich im Spiegel. Sein Gesicht war einst schön gewesen, doch die Krankheit hatte es entstellt. »Futter für die Würmer«, sagte er. »Ein merkwürdiger Gedanke, dass ich in wenigen Stunden steif und kalt sein werde. Ach, Holly, das Leben ist all die Mühsal nicht wert, es sei denn, man liebt - das meine wenigstens war es nicht. Vielleicht wird mein Sohn Leo, wenn er genügend Glauben und Mut hat, das Glück finden. Leb wohl, mein Freund!« Und in einem plötzlichen Anfall von Zärtlichkeit umarmte er mich und küsste mich auf die Stirn, bevor er zur Tür ging.

»Nun warte doch, Vincey«, rief ich. »Wenn du wirklich so krank bist, wie du glaubst, solltest du mich doch lieber einen Arzt holen lassen.«

»Nein, nein«, sagte er ernst. »Versprich mir, dass du das nicht tun wirst. Ich werde sterben, und wie eine vergiftete Ratte will ich allein sterben.«

»Was für ein Unsinn«, erwiderte ich. Er sagte lächelnd: »Vergiss nichts«, und ging hinaus. Ich setzte mich, rieb mir die Augen und fragte mich, ob ich dies alles nur geträumt habe. Doch da diese Annahme absurd war, verwarf ich sie und erwog, ob Vincey vielleicht betrunken gewesen war. Ich wusste, er war sehr krank; dennoch schien es mir ausgeschlossen, dass sein Befinden so schlecht war, dass er mit solcher Bestimmtheit annehmen konnte, er werde die Nacht nicht überleben. Wenn er dem Tode so nahe war, dann hätte er wohl kaum so herumgehen und den schweren Eisenkasten tragen können. Und auch seine Geschichte schien mir, als ich darüber nachdachte, gänzlich unglaublich, denn ich war damals noch nicht alt genug, um zu wissen, dass auf dieser Welt viele Dinge geschehen, die der Mensch mit seinem begrenzten Verstand nicht fassen kann und deshalb für unmöglich hält. Zu dieser Einsicht bin ich erst vor kurzem gelangt. War es möglich, dass ein Mann einen fünfjährigen Sohn besaß, den er seit seiner frühesten Kindheit nicht gesehen hatte? Nein. War es möglich, dass er seinen eigenen Tod mit solcher Bestimmtheit vorhersehen konnte? Nein. War es möglich, dass er seinen Stammbaum bis auf mehr als drei Jahrhunderte vor Christus zurückverfolgen konnte, dass er einem Studienkollegen plötzlich die unumschränkte Vormundschaft über sein Kind anvertraute und ihm sein halbes Vermögen vermachte? Ganz gewiss nicht. Doch wenn dem so war, was hatte dann das Ganze zu bedeuten? Und was befand sich in dem versiegelten eisernen Kasten?

Die ganze Sache verwirrte und beunruhigte mich dermaßen, dass ich es schließlich nicht länger aushielt und beschloss, eine Nacht darüber zu schlafen. Ich sprang also auf, verwahrte die von Vincey mir übergebenen Schlüssel und den Brief in meiner Dokumentenmappe, sperrte den eisernen Kasten in einen Reisekoffer, ging zu Bett und schlief rasch ein.

Mir schien, als hätte ich erst wenige Minuten geschlafen, als mich jemand weckte, indem er meinen Namen rief. Ich fuhr auf und rieb mir die Augen - es war heller Tag, acht Uhr schon.

»Was ist denn mit dir los, John?«, fragte ich den Collegediener, der für Vincey und mich die Aufwartung besorgte. »Du blickst ja drein, als hättest du ein Gespenst gesehen!«

»Ja, Sir, das habe ich«, erwiderte er, »...noch viel schlimmer, ich habe einen Toten gesehen. Soeben wollte ich Mr. Vincey wie immer wecken, und er liegt kalt und tot in seinem Bett!«

 

 

 

 

  2. Die Jahre vergehen

 

 

Der Tod des armen Vincey rief auf dem College natürlich große Aufregung hervor; doch da man wusste, dass er sehr krank gewesen war, und der Arzt ohne Bedenken den Totenschein ausstellte, leitete man keine weitere Untersuchung ein. Man war damals in dieser Hinsicht nicht so genau wie heute; ja man empfand allgemein eine gewisse Abneigung dagegen, da sie meistens einen Skandal hervorrief. Unter diesen Umständen und vor allem, da niemand Fragen an mich stellte, fühlte ich mich nicht verpflichtet, über die Unterredung in der Nacht vor Vinceys Tod nähere Angaben zu machen, und sagte lediglich, er habe mich - wie so oft - nur kurz besucht. Am Tage der Beerdigung erschien ein Anwalt aus London, folgte den sterblichen Überresten meines Freundes zum Grab und reiste dann mit seinen sämtlichen Papieren und Habseligkeiten wieder ab - ausgenommen natürlich den Eisenkasten, den Vincey mir übergeben hatte. Eine Woche lang hörte ich nichts von der Sache, was mir ganz recht war, denn ich stand ja vor meinem Examen, ein Umstand, der mich auch daran gehindert hatte, am Begräbnis teilzunehmen oder mit dem Anwalt zu sprechen.

Endlich war das Examen überstanden, und ich ging nach Hause und sank mit dem befriedigenden Gefühl, recht gut abgeschnitten zu haben, in einen Sessel.

Doch bald schon wandten sich meine Gedanken, befreit von dem Druck der letzten Tage, den Geschehnissen in der Nacht vor Vinceys Tod zu, und wieder fragte ich mich, was das alles wohl zu bedeuten hatte, ob ich wohl noch irgendetwas von dieser Angelegenheit hören würde, und wenn nicht, was ich dann mit diesem merkwürdigen Eisenkasten anfangen sollte. So saß ich da und sinnierte und grübelte, bis mir von alldem ganz wirr im Kopf wurde: der geheimnisvolle mitternächtliche Besuch, die so schnell bewahrheitete Todesprophezeiung, der feierliche Eid, den ich geleistet hatte, und Vinceys Andeutung, er werde in einer anderen Welt Rechenschaft von mir verlangen. Hatte er womöglich Selbstmord begangen? Es sah fast so aus. Und von welcher Reise hatte er gesprochen? Das Ganze war so unheimlich, dass ich, ansonsten keineswegs nervös oder allzu leicht durch Dinge, welche die Grenzen des Natürlichen zu überschreiten scheinen, aus der Fassung zu bringen, beinahe Angst bekam und zu wünschen begann, ich hätte nichts damit zu tun. Und wieviel mehr wünsche ich mir dies heute, mehr als zwanzig Jahre danach!

Wie ich so saß und grübelte, klopfte es an der Tür, und ein Brief in einem großen blauen Kuvert wurde mir übergeben. Ich sah auf den ersten Blick, dass der Brief von einem Anwalt stammte, und eine innere Stimme sagte mir, dass er mit meiner Vormundschaft zusammenhing. Der Brief, der heute noch in meinem Besitz ist, lautete wie folgt:

 

»Sehr geehrter Herr!

Unser Klient, der am 9. d. M. in Cambridge verstorbene Mr. L. Vincey, hat ein Testament hinterlassen, dessen Vollstrecker wir sind und von dem wir eine Abschrift beifügen. Auf Grund dieses Testamentes erhalten Sie auf Lebenszeit die Hälfte des von dem Verstorbenen hinterlassenen und in Staatsanleihen angelegten Vermögens unter der Voraussetzung, dass Sie die Vormundschaft über seinen einzigen, derzeit fünf Jahre alten Sohn Leo Vincey übernehmen. Hätten wir nicht selbst entsprechend Mr. Vinceys klaren und präzisen Anweisungen das fragliche Dokument aufgesetzt und hätte er uns nicht erklärt, für seinen Entschluss sehr gute Gründe zu haben, so erschienen uns die darin enthaltenen Bestimmungen derart ungewöhnlich, dass wir uns verpflichtet fühlen würden, das Vormundschaftsgericht darauf aufmerksam zu machen, um eventuell die Zurechnungsfähigkeit des Erblassers nachprüfen zu lassen. Da uns jedoch der Erblasser als eine Persönlichkeit von klarstem Verstand und Scharfsinn bekannt war und wir wissen, dass er keine Verwandten besitzt, die er mit der Vormundschaft über das Kind hätte betrauen können, nehmen wir von diesem Schritt Abstand.

In Erwartung Ihrer Instruktionen bezüglich der Übergabe des Kindes und der Zahlung der Ihnen zustehenden Dividenden zeichnen wir

hochachtungsvoll Geoffrey und Jordan.«

 

Ich legte den Brief hin und überflog das Testament, welches, nach seiner völligen Unverständlichkeit zu schließen, gemäß striktesten juristischen Prinzipien abgefasst schien. Immerhin konnte ich daraus entnehmen, dass es genau das enthielt, was mir mein Freund vor seinem Tode gesagt hatte. Also war es doch wahr. Ich musste den Jungen zu mir nehmen. Plötzlich fiel mir der Brief ein, den mir Vincey zusammen mit dem Kasten übergeben hatte. Ich holte und öffnete ihn. Er enthielt lediglich die mir bereits mündlich gegebene Anweisung, den Kasten an Leos fünfundzwanzigstem Geburtstag zu öffnen, sowie Richtlinien für die Erziehung des Jungen, die Griechisch, höhere Mathematik und Arabisch umfassen sollte. Am Schluss stand eine Nachschrift des Inhalts, dass ich, falls der Junge vor seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr starb, den Kasten öffnen und entsprechend den darin enthaltenen Informationen handeln solle, falls ich dies für richtig hielte. Wenn nicht, sollte ich den Inhalt vernichten, ihn jedoch auf keinen Fall in fremde Hände gelangen lassen.

Da dieser Brief mir nichts Neues sagte und keinerlei Anlass bot, das meinem Freund gegebene Versprechen nicht zu erfüllen, blieb mir nur eins übrig - den Herren Geoffrey und Jordan zu schreiben, dass ich zur Übernahme der Vormundschaft bereit sei, und zwar in zehn Tagen. Darauf begab ich mich ins Sekretariat des Colleges, erzählte den Herren dort von der Geschichte so viel, wie ich für nötig hielt, und konnte sie mit einiger Mühe dazu überreden, ein Auge zuzudrücken und mir, falls ich eine Fellowship erhielt, zu gestatten, das Kind zu mir zu nehmen. Dies wurde mir unter der Bedingung bewilligt, dass ich mein Logis im College aufgab und mir anderweitig eine Wohnung suchte. Dies tat ich, und es gelang mir, ganz in der Nähe des Colleges eine meinen Vorstellungen entsprechende Wohnung zu finden. Nun hieß es, sich nach einer Bedienung umzusehen, und ich fasste in dieser Hinsicht sogleich einen festen Entschluss - nämlich keine weibliche Person zu engagieren, die mich tyrannisieren und mir die Zuneigung des Jungen stehlen würde. Schließlich war er alt genug, um ohne weibliche Betreuung auszukommen. Ich begab mich deshalb auf die Suche nach einem geeigneten Diener und machte schließlich einen sehr ordentlichen, kräftigen jungen Mann ausfindig, der Knecht in einem Reitstall war. Er erklärte mir, dass er zusammen mit sechzehn Geschwistern aufgewachsen sei, deshalb mit Kindern gut umzugehen verstünde und gern bereit sei, Leo in seine Obhut zu nehmen, sobald er einträfe. Nachdem ich sodann den Eisenkasten in die Stadt gebracht und in meiner Bank deponiert hatte, kaufte ich einige Bücher über die Pflege und Erziehung von Kindern, die ich zuerst allein studierte und dann Job - so hieß der junge Mann - vorlas, und wartete.

Endlich traf das Kind in Begleitung einer älteren Person ein, die beim Abschied von ihm bitterlich weinte. Es war in der Tat ein schöner Junge! Seine Augen waren grau, seine Stirne breit und sein Gesicht, schon in diesem frühen Alter, fein geschnitten wie eine Kamee. Das reizendste an ihm jedoch war sein Haar, das in dichten, golden schimmernden Locken seinen wohlgeformten Kopf bedeckte. Als die Bonne sich schließlich von ihm losriss, weinte auch er ein wenig. Nie werde ich dieses Bild vergessen. Die Sonnenstrahlen fielen durchs Fenster herein auf seine goldenen Locken, während er so dastand, die kleine Faust auf das eine Auge gepresst und mit dem anderen uns musternd. Ich streckte ihm, in meinem Sessel sitzend, die Hand entgegen, während Job in seiner Ecke einen gackernden Laut von sich gab, von dem er aus Erfahrung wusste, dass er auf Kinder beruhigend und Vertrauen einflößend wirkte, und dazu schob er ein überaus scheußliches Holzpferd auf und ab. Dies dauerte ein paar Minuten; dann streckte der kleine Bursche plötzlich seine Ärmchen aus und lief zu mir.

»Dich hab' ich lieb«, sagte er, »du bist hässlich, aber gut.«

Zehn Minuten später aß er mit sichtlichem Behagen ein dickes Butterbrot; Job wollte Marmelade darauf tun, doch ich erinnerte ihn ungehalten an die ausgezeichneten Bücher, die wir gelesen hatten, und verbot es ihm.

In ganz kurzer Zeit (ich hatte inzwischen meine Fellowship erhalten) wurde der Junge zum Liebling des ganzen Colleges, wo er allen Vorschriften und Verboten zum Trotz ständig aus- und einging. Alle verwöhnten ihn durch Geschenke, und mit einem inzwischen verstorbenen Professor, der als großer Griesgram und Kinderfeind galt, hatte ich seinetwegen eine ernste Auseinandersetzung. Da Leo nämlich häufig einen verdorbenen Magen hatte, wies ich Job an, genau auf ihn aufzupassen, und so stellte sich heraus, dass dieser gewissenlose alte Mann den Kleinen in seine Wohnung zu locken und mit ungeheuren Mengen Likörbonbons zu füttern pflegte. Job sagte ihm, er solle sich schämen, so etwas zu tun, »noch dazu in seinem Alter, in dem er längst Großvater sein könnte, wenn er seine Pflicht getan hätte« - womit Job meinte, wenn er sich verehelicht hätte. Daraus bestand unser Streit.

Leider ist es mir nicht vergönnt, noch länger bei diesen köstlichen Jahren zu verweilen, an die ich mich so gerne erinnere. Eines nach dem anderen verging, und mit ihnen wuchs unsere gegenseitige Zuneigung. Nur wenige Söhne wurden wohl so geliebt, wie ich Leo liebe, und nur wenige Väter kennen die tiefe, unerschütterliche Zuneigung, die Leo für mich empfindet.

Das Kind wuchs zum Knaben heran und der Knabe zum Jüngling, während erbarmungslos die Jahre entschwanden, und mit ihm wuchsen seine körperlichen und geistigen Vorzüge. Als er etwa fünfzehn Jahre alt war, nannte man ihn auf dem College den Schönen, während man mich als das Scheusal bezeichnete. Der Schöne und das Scheusal wurden wir genannt, wenn wir zusammen spazieren gingen, was wir täglich taten. Einmal stürzte sich Leo wütend auf einen großen kräftigen Metzgergesellen, der uns diese Spitznamen nachrief, und verprügelte ihn. Ich ging weiter und tat, als ob ich nichts sehe, und erst als der Kampf gar zu hitzig wurde, drehte ich mich um und spornte Leo an. Das ganze College zerriss sich damals über uns den Mund, doch ich konnte einfach nicht anders. Später erfanden die Studenten andere Namen für uns. Sie nannten mich Charon und Leo den Griechengott! Über meinen Namen will ich bescheiden hinweggehen, denn ich muss zugeben, dass ich nie hübsch war und mit zunehmendem Alter auch nicht wurde. Was Leo betrifft, so gab es wohl keinen treffenderen Namen für ihn. Mit einundzwanzig Jahren hätte er zu einer Statue des jungen Apoll Modell stehen können. Ich habe nie jemanden gesehen, der ihm an Schönheit gleichkam, und dabei war er sich dieser Schönheit gänzlich unbewusst. Er hatte einen brillanten, scharfen Verstand, doch zum Gelehrten fehlte es ihm an Ausdauer und Verbohrtheit. Ich sorgte gewissenhaft dafür, dass er entsprechend den Anweisungen seines Vaters erzogen wurde, und das Ergebnis war alles in allem, besonders im Griechischen und Arabischen, befriedigend. Um ihm beim Studium des Arabischen helfen zu können, lernte ich diese Sprache ebenfalls, doch nach fünf Jahren kannte er sie ebenso gut wie ich - und fast so gut wie der Professor, der uns darin unterrichtete. Da ich ein begeisterter Sportler war - es war meine einzige Leidenschaft -, fuhren wir jeden Herbst zum Jagen und Fischen, manchmal nach Schottland, manchmal nach Norwegen, einmal sogar nach Rußland. Ich bin ein guter Schütze, doch auch auf diesem Gebiet war er mir bald überlegen.                                                

Als Leo achtzehn war, zog ich wieder in meine frühere Wohnung und ließ ihn auf meinem College immatrikulieren, und mit einundzwanzig errang er seinen akademischen Titel - einen recht respektablen, wenn auch nicht sehr hohen. Damals erzählte ich ihm zum ersten Mal von seiner Geschichte und dem auf ihn harrenden Geheimnis. Er war natürlich sehr neugierig, doch ich erklärte ihm, seine Neugier noch nicht befriedigen zu können. Damit ihm die Zeit schneller verging, schlug ich ihm vor, die Rechte zu studieren. Er war damit einverstanden und hörte die Vorlesungen in Cambridge.

Ich hatte seinetwegen nur eine Sorge: Fast jedes junge Mädchen, das ihm über den Weg lief, verliebte sich in ihn, und daraus entstanden allerlei Schwierigkeiten, auf die ich hier jedoch nicht näher eingehen möchte. Ich muss sagen, dass er sich im Allgemeinen sehr korrekt benahm.

So verging die Zeit, und schließlich erreichte er seinen fünfundzwanzigsten Geburtstag, an dem diese seltsame und in mancher Hinsicht unheimliche Geschichte beginnt.

 

 

 

 

  3. Die Amenartas-Scherbe

 

 

Am Tag vor Leos fünfundzwanzigstem Geburtstag fuhren wir nach London und holten von der Bank den vor zwanzig Jahren deponierten Kasten ab. Der gleiche Angestellte, dem ich ihn damals übergeben hatte, händigte ihn mir aus. Er erinnerte sich genau, wo er ihn untergestellt hatte. Hätte er das nicht mehr gewusst, so wäre es ihm schwergefallen, ihn zu finden, denn er war über und über mit Spinnweben bedeckt.

Am Abend kehrten wir mit unserer kostbaren Last nach Cambridge zurück. Wir taten beide in dieser Nacht vor Aufregung kaum ein Auge zu, und schon in aller Frühe erschien Leo im Schlafrock in meinem Zimmer und bat mich, sofort ans Werk zu gehen. Ich fand diese Neugier unziemlich und sagte ihm, der Kasten habe zwanzig Jahre lang gewartet, und so könne er wohl jetzt auch noch bis nach dem Frühstück warten. Um Punkt neun Uhr setzten wir uns an den Frühstückstisch, und ich war so in Gedanken versunken, dass ich statt seines Zuckerwürfels ein Stück Schinken in Leos Tee warf. Auch Job wurde von der Erregung angesteckt und zerbrach den Henkel meiner wertvollen Teetasse aus Sevres-Porzellan, aus der Marat seinen Tee getrunken haben soll, bevor er im Bad erstochen wurde.

Endlich war abgeräumt. Job holte auf meine Anweisung den Kasten, stellte ihn behutsam, als traue er der ganzen Sache nicht recht, auf den Tisch und wollte das Zimmer verlassen.

»Warte, Job«, sagte ich. »Wenn Mr. Leo nichts dagegen hat, so hätte ich gern einen unparteiischen Zeugen dabei, der den Mund halten kann.«

»Einverstanden, Onkel Horace«, erwiderte Leo, der mich seit seiner Kindheit Onkel zu nennen pflegte.

Job salutierte scherzhaft, indem er sich mit der Hand an die Schläfe tippte.

»Verschließe die Tür, Job«, sagte ich, »und hole meine Dokumentenmappe.«

Er brachte sie, und ich entnahm ihr die Schlüssel, die mir Vincey, Leos armer Vater, in der Nacht vor seinem Tode übergeben hatte. Es waren drei - der größte ein verhältnismäßig moderner Schlüssel, der zweite uralt und der dritte ein ganz merkwürdiges Ding, wie ich es nie zuvor gesehen hatte: er bestand aus massivem Silber, hatte eine als Griff dienende Querstange, in die mehrere Kerben eingeschnitten waren, und ähnelte so einem vorsintflutlichen Schraubenschlüssel.

»Seid ihr bereit?«, fragte ich, als wollte ich eine Mine sprengen. Da beide schwiegen, nahm ich den großen Schlüssel, strich etwas Salatöl auf den Bart, steckte ihn, nachdem meine zitternde Hand zweimal danebengetroffen hatte, ins Schloss und drehte ihn herum. Leo beugte sich vor, packte mit beiden Händen den Deckel und klappte ihn auf, was ihn einige Mühe kostete, da offenbar die Scharniere eingerostet waren. Ein zweiter, ebenfalls dick mit Staub bedeckter Kasten stand darin. Wir nahmen ihn ohne Schwierigkeiten heraus und säuberten ihn mit einer Kleiderbürste.

Er schien aus Ebenholz oder einem anderen ähnlich festen schwarzen Holz zu bestehen und war auf allen Seiten von schmalen Eisenbändern umschlossen. Da das schwere Holz an manchen Stellen schon ganz morsch und bröcklig war, musste er ungeheuer alt sein.

»Nun diesen«, sagte ich und führte den zweiten Schlüssel ein.

Job und Leo beugten sich in atemloser Spannung vor. Der Schlüssel drehte sich, ich hob den Deckel und stieß einen Schrei aus - kein Wunder, denn in dem Ebenholzkasten stand ein wunderbares Silberkästchen, etwa zwölf Zoll breit und acht Zoll hoch. Es schien eine ägyptische Arbeit zu sein, denn die vier Füße stellten Sphinxe dar, und auch der gewölbte Deckel trug eine Sphinx. Das Kästchen war natürlich infolge seines hohen Alters voller Flecken und Beulen, doch ansonsten recht gut erhalten.

Ich hob es heraus, stellte es auf den Tisch, steckte unter tiefem Schweigen den merkwürdigen Silberschlüssel hinein und drehte ihn vorsichtig hin und her, bis das Schloss endlich nachgab und das Kästchen offen vor uns stand. Es war bis zum Rand mit Schnitzeln aus irgendeinem braunen Material gefüllt, das eher Pflanzenfasern als Papier glich. Als ich eine etwa drei Zoll dicke Schicht entfernte, stieß ich auf einen Brief in einem gewöhnlichen modernen Umschlag, auf dem in der Schrift meines Freundes Vincey stand:

 

»An meinen Sohn Leo, falls er dieses Kästchen öffnet.«

 

Ich gab den Brief Leo, der einen Blick auf den Umschlag warf, ihn auf den Tisch legte und mir bedeutete fortzufahren.

Als nächstes kam ein sorgfältig zusammengerolltes Pergament zum Vorschein. Ich rollte es auf und sah, dass es ebenfalls von Vincey beschrieben war und die Überschrift trug: Übersetzung der griechischen Unzialschrift auf der Scherbe. Nachdem ich es neben den Brief gelegt hatte, nahm ich eine zweite, stark vergilbte und zerknitterte Pergamentrolle heraus. Als ich sie aufrollte, stellte ich fest, dass es gleichfalls eine Übersetzung der griechischen Unzialschrift war, jedoch in Mönchslatein; Stil und Form der Lettern deuteten darauf hin, dass sie aus dem Anfang des sechzehnten Jahrhunderts stammten. Unter dieser Rolle lag auf einer zweiten Schicht des faserigen Materials ein harter, schwerer, in gelbe Leinwand gehüllter Gegenstand. Langsam und behutsam entfernten wir das Leinen und fanden darunter eine sehr große, ohne Zweifel überaus alte Scherbe von schmutzig-gelber Farbe. Sie schien von einer mittelgroßen Amphora zu stammen und war zehneinhalb Zoll lang, sieben Zoll breit, etwa einen viertel Zoll dick und auf der Außenseite dicht mit einer stellenweise verblichenen, doch größtenteils gut lesbaren griechischen Unzialschrift bedeckt, die mit größter Sorgfalt ausgeführt war, offenbar mittels einer Rohrfeder, deren sich die Alten häufig zu bedienen pflegten. Irgendwann vor langer Zeit war dieses wunderbare Fragment einmal in zwei Stücke zerbrochen und mit Zement und acht langen Nieten wieder zusammengefügt worden. Auch auf der Innenseite befanden sich zahlreiche Inschriften, die jedoch von der verschiedensten Art waren, also anscheinend von verschiedenen Händen und aus verschiedenen Zeiten stammten.

»Ist noch mehr drin?«, flüsterte Leo aufgeregt.

Ich tastete herum und holte etwas Hartes hervor, das in einen kleinen Leinenbeutel eingenäht war. Darin befanden sich ein hübsches Miniaturbild aus Elfenbein und ein kleiner schockoladenbrauner, mit Symbolen verzierter Skarabäus.

Wie wir später feststellten, bedeuteten die Symbole Suten se Ra, dass heißt: Königlicher Sohn Ras oder der Sonne. Das Miniaturbild stellte Leos Mutter dar - eine hübsche dunkeläugige Griechin. Auf der Rückseite stand in Vinceys Handschrift: »Mein geliebtes Weib.« 

»Das ist alles«, sagte ich.

»Gut«, erwiderte Leo und legte das Bild, das er zärtlich betrachtet hatte, hin. »Nun lass uns den Brief lesen.« Ohne Zögern erbrach er das Siegel und las uns folgendes vor:

 

»Mein Sohn Leo!

Wenn Du diesen Brief öffnest, hast Du das Mannesalter erreicht, und ich bin schon so lange tot, dass fast alle, die mich kannten, mich vergessen haben werden. Bedenke jedoch, wenn Du dies liest, dass ich gewesen bin und - wer weiß? - vielleicht noch bin, dass ich Dir durch diesen Brief über den Abgrund des Todes die Hand reiche und aus der Stille des Grabes zu Dir spreche. Obwohl ich tot bin und Du Dich meiner nicht erinnerst, bin ich in der Stunde, da Du dieses liest, dennoch bei Dir. Seit Deiner Geburt bis zum heutigen Tage habe ich Dein Gesicht kaum gesehen. Vergib mir das, mein Sohn. Dein Leben kostete das Leben einer Frau, die ich von ganzem Herzen liebte, und der Schmerz darüber erfüllt mich heute noch. Wäre ich am Leben geblieben, so hätte ich dieses törichte Gefühl gewiss überwunden; doch es ist mir nicht beschieden weiterzuleben. Meine Leiden, körperlich und geistig, übersteigen meine Kraft, und sobald ich alle Vorkehrungen für Dein künftiges Wohlergehen getroffen habe, gedenke ich ihnen ein Ende zu bereiten. Möge Gott mir verzeihen, falls ich unrecht handle. Doch mir ist ohnedies bestenfalls nur noch ein Jahr beschieden.«

 

»Er hat also Selbstmord begangen«, rief ich aus. »Dacht' ich's mir doch!«

 

»Doch nun genug von mir«, las Leo, ohne darauf einzugehen, weiter. »Was ich noch zu sagen habe, soll Dir, dem Lebenden, gelten - nicht mir, dem Toten, der schon so vergessen ist, als hätte er niemals gelebt. Mein Freund Holly (dem ich Dich, wenn er damit einverstanden ist, anvertrauen werde) wird Dir wohl von dem ungewöhnlich hohen Alter Deines Geschlechts erzählt haben. In diesem Kästchen findest Du genügend Beweise dafür. Die Scherbe mit der von Deiner fernen Ahne niedergeschriebenen Legende hat mir mein Vater auf seinem Totenbett übergeben, und seither hat sie unablässig meine Phantasie beschäftigt. Schon mit neunzehn Jahren beschloss ich, gleich einem unserer Vorfahren zur Zeit der Königin Elisabeth, den dieser Entschluss ins Unglück stürzte, ihr Geheimnis zu ergründen. Was ich dabei erlebte, kann ich hier nicht näher schildern, doch dies habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen: An der Küste Afrikas, in einer bisher unerforschten Gegend nördlich der Sambesi-Mündung, befindet sich ein Vorgebirge, an dessen äußerster Spitze ein Fels aufragt, der, ganz wie ihn die Inschrift schildert, die Form eines Negerkopfes hat. Als ich dort landete, erfuhr ich von einem umherziehenden Eingeborenen, der wegen eines Verbrechens von seinem Stamm ausgestoßen worden war, dass es tief im Landesinnern große becherförmige Gebirge und von endlosen Sümpfen umgebene Höhlen gibt. Er berichtete mir weiter, dass die Leute dort eine arabische Mundart sprechen und von einer schönen weißen Frau beherrscht werden, die sie nur selten zu Gesicht bekommen, die aber über alle Lebende und Tote Macht haben soll. Zwei Tage, nachdem er mir dies erzählt hatte, starb dieser Mann an einem Fieber, welches er sich beim Durchqueren der Sümpfe zugezogen hatte, und Mangel an Lebensmitteln und die Symptome einer Krankheit, die mich später aufs Lager warf, zwangen mich, zu meiner Dhau zurückzukehren. 

Von den Abenteuern, die ich danach erlebte, will ich hier nicht sprechen. An der Küste Madagaskars erlitt ich Schiffbruch und wurde nach einigen Monaten von einem englischen Schiff gerettet, das mich nach Aden brachte. Von dort begab ich mich in der Absicht, nach gründlichen Vorbereitungen meine Expedition fortzusetzen, nach England. Unterwegs machte ich in Griechenland Station, wo ich - omnia vincit amor - Deine geliebte Mutter kennenlernte und heiratete, wo Du geboren wurdest und sie starb. Damals befiel mich meine jetzige Krankheit, und ich kehrte nach England zurück, um zu sterben. Trotz allem gab ich die Hoffnung jedoch nicht auf und begann Arabisch zu lernen, um, falls ich doch wieder gesunden sollte, wieder nach Afrika zu gehen und das Rätsel, das so viele Jahrhunderte in unserer Familie überliefert wurde, zu lösen. Ich bin jedoch nicht gesund geworden, und damit ist die Geschichte für mich zu Ende. 

Nun liegt alles an Dir, mein Sohn, und so übergebe ich Dir die Ergebnisse meiner Arbeit und die ererbten Beweise für ihren Ursprung. Ich werde Vorsorge treffen, dass sie erst in Deine Hände gelangen, wenn Du ein Alter erreicht hast, in dem Du imstande sein wirst zu entscheiden, ob Du das größte Rätsel der Welt entschleiern oder das Ganze als eine dumme Fabel, entsprungen dem zerrütteten Gehirn einer Frau, abtun willst. 

Ich glaube nicht, dass es eine Fabel ist; ich glaube, dass es einen Ort gibt, wo die Lebenskräfte der Welt sichtbar existieren, und dass dieser Ort aufzuspüren ist. Das Leben gibt es; warum sollte es nicht auch Mittel geben, es unendlich zu verlängern? Ich möchte Dich jedoch keineswegs beeinflussen. Lies und urteile selbst. Entschließest Du Dich, das Rätsel zu lösen, so habe ich dafür gesorgt, dass Dir die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen. Solltest Du jedoch zu der Überzeugung gelangen, dass das Ganze eine Schimäre ist, so beschwöre ich Dich, vernichte die Scherbe und die Schriften und erlöse dadurch unser Geschlecht für immer von diesem unseligen Erbe. Vielleicht wäre es das klügste. Das Unbekannte gilt stets als schrecklich, nicht weil die Menschen von Geburt abergläubisch sind, sondern weil es oft in der Tat schrecklich ist. Wer sich mit den ungeheuren geheimen Kräften, welche die Welt beleben, befasst, kann ihnen leicht zum Opfer fallen. Und wenn Du das Ziel erreichen solltest, wenn Du aus dieser Prüfung in ewiger Jugend und Schönheit, gefeit gegen Zeit und Leid, enthoben dem natürlichen Verfall von Fleisch und Geist, hervorgehen solltest - wer vermag zu sagen, ob Dir dies zum Glück gereichen würde? Wähle, mein Sohn, und möge die Macht, die alle Dinge lenkt und die da sagt: Bis hierher und nicht weiter! Deine Wahl zum Glück für Dich und die Welt lenken, die Du, falls Du Erfolg hast, eines Tages gewiss allein durch die Kraft Deiner ungeheuren Erfahrung beherrschen würdest. - Lebe wohl!« 

 

So endete jäh der Brief, der keine Unterschrift und kein Datum trug.

»Was hältst du davon, Onkel Holly?«, sagte Leo mit bebender Stimme, als er ihn auf den Tisch legte. »Wir haben ein

Geheimnis erwartet; nun haben wir, scheint's, eins gefunden!«

»Was ich davon halte? Offen gesagt - dass dein armer Vater nicht ganz bei Verstand war«, erwiderte ich gereizt. »Ich dachte mir das schon an jenem Abend vor zwanzig Jahren, als er in mein Zimmer trat. Du siehst ja selbst, der Arme hat sein Ende selbst beschleunigt. Es ist der reinste Unsinn.«

»Ganz recht, Sir«, sagte feierlich Job, der ein höchst nüchterner Wirklichkeitsmensch war.

»Nun, immerhin sollten wir nachsehen, was auf der Scherbe steht«, sagte Leo, nahm die von seinem Vater stammende Übersetzung und las vor: