Sie ist so viel allein - Gert Rothberg - E-Book

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Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. »Fein, dass du pünktlich bist, Rudi«, begrüßte der sechzehnjährige Dominik von Wellentin-Schoenecker seinen Schulfreund. Seit Jahren besuchten die beiden Buben dieselbe Klasse des Maibacher Gymnasiums. Nick strich sich eine Strähne seines schwarzen Haares zurück, bevor er Rudolf Hagen die Hand reichte. »Fast hätte es nicht geklappt, Nick«, sagte Rudolf. »Ausgerechnet heute Morgen musste ich verschlafen. Dadurch habe ich den Bus verpasst. Hätte mich mein Vater nicht mitgenommen, so wäre ich erst in einer Stunde hier gewesen.« »Dann hätten wir den Radausflug ohne dich machen müssen«, meinte Irmela Groote, eines der Dauerkinder von Sophienlust. »Lass dir von Irmela keine Angst einjagen«, warf Nick ein. »Irmela liebt es nun einmal, andere zu necken.« Er drehte sich zu dem ehemaligen Herrenhaus um. »Da kommt ja auch Pünktchen.« Er zeigte auf ein hübsches blondhaariges Mädchen, das gerade die Freitreppe herabkam. Es trug blaue Jeans und einen hellen Pullover. »Guten Morgen, Rudi!« Lachend begrüßte Pünktchen Nicks Freund.

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Seitenzahl: 149

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sophienlust Extra – 160 –Sie ist so viel allein

Gert Rothberg

»Fein, dass du pünktlich bist, Rudi«, begrüßte der sechzehnjährige Dominik von Wellentin-Schoenecker seinen Schulfreund.

Seit Jahren besuchten die beiden Buben dieselbe Klasse des Maibacher Gymnasiums. Nick strich sich eine Strähne seines schwarzen Haares zurück, bevor er Rudolf Hagen die Hand reichte.

»Fast hätte es nicht geklappt, Nick«, sagte Rudolf. »Ausgerechnet heute Morgen musste ich verschlafen. Dadurch habe ich den Bus verpasst. Hätte mich mein Vater nicht mitgenommen, so wäre ich erst in einer Stunde hier gewesen.«

»Dann hätten wir den Radausflug ohne dich machen müssen«, meinte Irmela Groote, eines der Dauerkinder von Sophienlust.

»Lass dir von Irmela keine Angst einjagen«, warf Nick ein. »Irmela liebt es nun einmal, andere zu necken.« Er drehte sich zu dem ehemaligen Herrenhaus um. »Da kommt ja auch Pünktchen.« Er zeigte auf ein hübsches blondhaariges Mädchen, das gerade die Freitreppe herabkam. Es trug blaue Jeans und einen hellen Pullover.

»Guten Morgen, Rudi!« Lachend begrüßte Pünktchen Nicks Freund. »Von mir aus könnten wir aufbrechen. Ist das nicht ein herrlicher Tag? Wie geschaffen für einen Radausflug. Henriks Prophezeihung, dass es regnen würde, ist Gott sei Dank nicht in Erfüllung gegangen.«

»Seit wann ist Henrik denn unter die Propheten gegangen?«, fragte Rudolf.

»Seit er sich wieder einmal den Fuß verstaucht hat«, antwortete Nick. »Nicht, dass uns mein kleiner Bruder den Ausflug nicht gönnen würde, nein, so ist Henrik nicht, aber er wäre eben gern mitgekommen.«

»Die Ferien sind lang«, sagte Pünktchen. »Ich habe Henrik gesagt, dass wir noch viele Radausflüge machen werden, aber nicht einmal das konnte ihn trösten.«

»Wie alt ist dein Bruder jetzt eigentlich, Nick?«, fragte Rudolf, der selbst einen kleinen Bruder hatte.

»Neun Jahre«, erwiderte Nick. »Klein, aber oho!« Er lachte. »Henrik ist schon in Ordnung.«

»Ich würde sagen, wir brechen so bald wie möglich auf«, schlug Irmela vor. »Magda, unsere Köchin, hat riesige Fresspakete für uns zurechtgemacht. Ich sehe schon kommen, dass uns, wenn wir auf dem Heimweg sind, das Radeln schwerfällt.«

Die vier Kinder rannten die Freitreppe empor und betraten die riesige Halle des Kinderheims Sophienlust. Wie immer blieb Rudolf hier etwas stehen und schaute sich um. Der Junge wünschte sich heftig, eine ebensolche Halle zu besitzen. Er blickte zu dem offenen Kamin, vor dem Holz aufgestapelt war. Obwohl es jetzt Juli war, wurde ab und zu der Kinder wegen an den Abenden Feuer im Kamin angezündet. Einmal war Rudolf an einem solchen Abend im Kinderheim gewesen. Er erinnerte sich noch gut daran, wie sie vor dem Feuer gesessen hatten, um den Märchen der Huber-Mutter zu lauschen.

»Träumst du, Rudi?«, fragte Irmela etwas spöttisch. »Oder willst du dich nur vor dem Tragen der Fresspakete drücken?«

»Ich habe nur eure Halle bewundert«, gestand der Junge. »Schade, dass es im Einfamilienhaus meiner Eltern keine Halle mit einem Kamin gibt.«

»Dafür hast du aber Eltern«, sagte Pünktchen leise. Ihre eigenen Eltern waren vor Jahren bei einem Zirkusbrand ums Leben gekommen.

»Stimmt, dafür habe ich Eltern.« Rudolf fragte sich nicht zum ersten Mal, wie es wohl sein mochte, wenn man keine Eltern mehr hätte, die einen mit ihrer Liebe und Fürsorge umgeben. Um nichts in der Welt hätte er seine Eltern gegen diese Halle und den Kamin eingetauscht.

Gerade als die Kinder zur Küche des Kinderheims gehen wollten, trat eine noch jugendlich aussehende hübsche Frau aus einem der anschließenden Räume in die Halle. Sie ging auf Rudolf zu, um ihn zu begrüßen. »Es ist schön, dich wieder einmal in Sophienlust zu sehen, Rudi«, sagte sie mit wohlklingender Stimme.

»Guten Morgen, Frau von Schoenecker.« Rudolf reichte Denise seine nicht ganz saubere Hand.

»Wie geht es deinen Eltern, Rudi? War deine Mutter nicht vor Kurzem im Krankenhaus?«, fragte Denise von Schoenecker.

»Mutter geht es schon wieder gut. Ich soll Ihnen von meinem Vater und von ihr einen schönen Gruß bestellen, Frau von Schoenecker.«

»Danke, Rudi.«

»Tante Isi! Tante Isi!« Ganz atemlos lief Heidi Holsten, das jüngste der Dauerkinder, auf Denise zu. »Tante Isi, ich möchte auch mit. Bitte, sag Nick und Pünktchen, sie sollen mich mitnehmen, bitte, bitte.«

»Haben wir nicht schon heute beim Frühstück darüber gesprochen, Heidi?«, fragte Denise und strich dem fünfjährigen Mädchen über die blonden Haare. »Du bist noch zu klein, um einen so weiten Radausflug zu unternehmen. Erst musst du noch etwas wachsen.«

»Zu allem ist man zu klein«, maulte Heidi. »Tante Isi, warum kann ich nicht schneller wachsen?«

»Du bist genauso groß, wie es sich für ein fünfjähriges Mädchen gehört«, tröstete Denise die Kleine. »Aber wenn du willst, dann kannst du mit mir nach Schoeneich fahren und Henrik trösten. Er ist genauso traurig wie du, weil er nicht am Ausflug teilnehmen kann.«

»Au fein, Tante Isi!« Heidi warf einen triumphierenden Blick auf die vier anderen Kinder. »Ich will gar nicht auf euren Ausflug mitkommen.«

»Unsere Heidi!« Pünktchen lachte und hielt für die anderen die Küchentür auf. »Hallo, Magda, da sind wir.«

»Ich dachte schon, ihr hättet es euch anders überlegt«, meinte die Köchin Magda, eine ältere, etwas beleibte Frau. Sie wies schmunzelnd auf die vorbereiteten Picknickpäckchen. »Ich nehme an, ihr kommt damit aus, wenn nicht, dann mache ich euch gern noch etwas zurecht.«

»Nein, danke, Magda«, sagte Nick lachend, »das ist mehr als genug. Damit könnten wir ja zusätzlich eine ganze Kompanie verpflegen.«

»Wenn wir dich nicht hätten, Magda!« Spontan umarmte Irmela die verblüffte Köchin und drehte sich mit ihr im Kreis.

Die vier Kinder trugen die Päckchen zu den Fahrrädern, die bereits hinter dem Haus bereitstanden. Nachdem sie alles auf den Gepäckträgern verstaut hatten, schoben sie die Räder an.

»Wir fahren jetzt, Mutti«, sagte Nick zu Denise, die mit einigen der anderen Kinder auf der Freitreppe stand.

»Passt gut auf«, bat Denise.

»Du kannst dich auf mich verlassen, Mutti«, versprach Nick. »Grüß den alten Henrik von mir und sag ihm, ich werde ihm etwas von der Burg mitbringen.«

»Das werde ich, Nick.«

»Auf Wiedersehen, Tante Isi! Auf Wiedersehen!«, riefen die Kinder. Sie schwangen sich auf ihre Fahrräder und radelten dann die Auffahrt entlang.

*

Es ging schon auf elf Uhr zu, als die Kinder vor sich die gewaltige Burg Ravenseck aufragen sahen. Am Fuß des Berges sprangen sie von ihren Fahrrädern und schauten empor.

»Tolle Baumeister waren die Ritter damals«, meinte Rudolf. »Seht nur, wie mächtig selbst von hier aus noch der Bergfried wirkt. Ritter müsste man gewesen sein.«

»Jedenfalls mussten die Ritter ihre Fahrräder nicht den Berg hinaufschieben«, meinte Pünktchen lachend. »Ich nehme an, dass wir ganz schön ins Keuchen kommen werden.«

»Stimmt, die Ritter sind hinaufgeritten«, sagte Irmela. Sie kämmte ihre vom Wind zerzausten Haare und band sie sorgsam im Nacken zusammen.

»Wenn ich nur reiten könnte«, meinte Rudolf. »Ihr könnt alle reiten.«

»Wenn du willst, dann gebe ich dir Unterricht, Rudi«, bot Nick dem Schulfreund an. »Die Ferien sind lang. Bis zu ihrem Ende kannst du dann bestimmt schon einigermaßen sicher im Sattel sitzen.«

»Toll, dann können wir auch einmal einen Reitausflug machen«, sagte Rudolf begeistert.

Der einstige, jetzt zu einer schmalen Straße ausgebaute Reitweg zog sich in Serpentinen den Berg hinauf. Trotz des Schattens, den die beiderseits der Straße stehenden Bäume spendeten, kamen die vier Kinder ins Schwitzen. Als sie etwa die Hälfte der Strecke bewältigt hatten, sahen sie einen winzigen Wasserfall, der sich in einen schmalen, am Felsen entlangfließenden Bach ergoss.

»Dieser Platz ist wie geschaffen für eine kurze Pause.« Pünktchen ließ ihr Rad zu Boden gleiten.

»Einverstanden!«, rief Nick.

Rudolf öffnete die große Flasche mit Waldmeisterlimonade, die Magda den Kindern mitgegeben hatte.

»Am schönsten ist immer der Ferienbeginn«, meinte Irmela und lehnte sich zufrieden an die Felswand. »Jetzt glaubt man noch, die Ferien würden eine halbe Ewigkeit dauern, aber mit jeder Woche, die vergeht, wird auch die Ewigkeit kürzer, bis sie sich in nichts auflöst.«

»Ich dachte, du gingest gern zur Schule, Irmela«, sagte Pünktchen etwas verblüfft.

»Ich gehe auch gern zur Schule«, antwortete Irmela, »doch die Ferien habe ich auch sehr gern.«

»Also, ich mag die Schule ganz und gar nicht«, erklärte Rudolf. Er schaute auf seine Armbanduhr. »Es wäre besser, wir würden jetzt wieder aufbrechen, sonst sitzen wir heute Abend noch hier.«

Die vier Kinder schoben ihre Fahrräder weiter den Berg hinauf. Ab und zu fuhr ein Auto an ihnen vorbei. Etwas neidisch blickten sie ihm nach. Doch dann erreichten sie einen großen, fast viereckigen Platz. Vor ihnen ragte die graue Burgmauer empor. Ein großes Tor öffnete sich zum Vorhof. Vor dem Tor überspannte eine Zugbrücke aus dicken Bohlen einen schmalen, tiefen Graben.

Nick wollte gerade sein Rad über die Zugbrücke schieben, als er hinter sich einen lauten Aufschrei hörte. Er und die anderen wandten sich um. Sie sahen ein Mädchen aus dem Wald laufen, das etwa acht Jahre alt sein mochte.

»Nein! Nein!«, schrie es und streckte die Arme wie Hilfe suchend aus.

»Sofort bleibst du stehen! Hörst du, sofort!«, rief eine barsche Stimme. Sie gehörte einem älteren Mann, der eben aus dem Wald heraustrat.

Jetzt stolperte das Mädchen über einen Stein, und der Mann begann zu rennen.

Nick überlegte nicht lange. Er ließ das Fahrrad fallen, lief dem Mann entgegen und stellte sich ihm in den Weg. Das Mädchen sprang auf, lief an Pünktchen, Irmela und Rudolf vorbei und verschwand im Vorhof der Burg.

»Was fällt dir denn ein!«, schimpfte der Fremde und wollte Nick an den Schultern fassen, doch der Junge wich aus. »Denkst du, ich laufe zu meinem Vergnügen hinter dieser Göre her? Was bildest du dir eigentlich ein?«

»Was hat das Kind Ihnen denn getan?«, fragte Nick, ungerührt vom Geschimpfe des Mannes. Erst jetzt bemerkte er, dass dieser eine Art Uniform trug.

»Was sie getan hat!«, wiederholte der Mann. »Was geht das dich an?«

»Es interessiert mich eben.«

»Werde nicht auch noch frech! Ich sag’s ja, die heutige Jugend. Zu meiner Zeit hatte man noch Respekt vor dem Alter.« Der Mann wandte sich schimpfend um und stapfte in den Wald zurück.

»Ich glaube, das war ein Aufseher«, meinte Irmela. »Ausgesehen hat er jedenfalls so.«

»Was mag das Mädchen wohl getan haben?«, fragte Pünktchen mitleidig.

»Vielleicht hat sie unten am Aufgang keinen Eintritt bezahlt«, vermutete Nick. »Sie sah reichlich abgerissen aus.«

»Wenn wir sie noch einmal sehen, sollten wir sie fragen, ob wir ihr helfen können«, schlug Irmela vor.

»Ja, das werden wir tun«, bestimmte Pünktchen. »Falls sie Hunger hat, wir haben genug dabei. Gut, dass Magda eine solche Menge eingepackt hat.«

Sie schoben die Fahrräder durch das Burgtor in den schmalen Vorhof und stellten sie dort ab. Nick überzeugte sich, dass alle Räder gut abgeschlossen waren.

»Hier könnten wir später essen«, schlug Rudolf vor, nachdem sie den Torturm passiert hatten und sich im Wirtschaftshof mit dem Burggarten befanden. Von der Mauer und den Gebäuden gab es zwar nur noch Ruinen, aber der Garten war mit dichten Sträuchern, einigen Bäumen und Blumen bepflanzt. Zwischen zwei Eichen standen ein runder Holztisch und Bänke. Etwas weiter weg war eine Feuerstelle.

Über eine zweite Zugbrücke kamen die Kinder in den Haupthof mit dem Bergfried, dem Wohnhaus und mehreren kleineren Gebäuden. Auch hier standen meistens nur noch Ruinen, aber den Kindern machte das nichts aus. Über zwei Stunden strolchten sie in den Ruinen herum. Nick, der sich an der Kasse einen Plan gekauft hatte, konnte den anderen erklären, wo sie sich gerade befanden. Der Rittersaal im Palast war restauriert worden und machte besonders auf Pünktchen Eindruck.

»Jetzt spiele ich Burgfräulein«, verkündete sie.

»Dann bin ich dein Ritter«, sagte Nick und lächelte ihr zu.

Pünktchens Augen begannen vor Freude zu strahlen. »Ich wette, du wärst ein ganz fantastischer Ritter«, meinte sie.

»Und ich habe jetzt gewaltigen Hunger«, verkündete Rudolf. »Lass uns zuerst etwas essen. Dann können wir ja noch einmal in den Haupthof gehen.«

»Wir waren noch nicht auf dem Bergfried«, sagte Irmela. Sie blickte Rudolf an. »Wie können Buben bloß immer so hungrig sein?«

»Besonders ich«, meinte Rudolf gutmütig. »Meine Mutter behauptet, ich hätte ein Loch im Magen.«

»Das erinnert mich an das Mädchen«, warf Nick ein. »Seltsam, dass wir es nicht mehr gesehen haben. Wo mag es stecken?«

»Verstecke gibt es hier genug«, antwortete Pünktchen. »Mal sehen, vielleicht kommt es, wenn es uns essen sieht. Magda hat doch Würstchen für uns eingepackt. Wenn wir die Würstchen über einem offenen Feuer braten, müsste der Duft eigentlich jedes hungrige Wesen aus seinem Versteck locken.«

»Du sagst es, Pünktchen!« Rudolf klopfte Angelina Dommin anerkennend auf die Schulter. »Man sollte nicht glauben, dass du jünger bist als wir, beinahe noch ein Baby.«

»Das Baby wird dir gleich seine Krallen zeigen«, drohte Pünktchen lachend.

In bester Laune packten die Kinder im Burggarten ihre Picknickpäckchen aus. Nick und Rudolf sorgten für das Feuer. Dann saßen sie davor und hielten die Würstchen an langen Holzstäben in die Flammen. Bald erfüllte der Duft der gebratenen Würstchen die Luft. Rudolf lief das Wasser im Mund zusammen. Am liebsten hätte er sofort in sein Würstchen gebissen.

»Dreht euch nicht um«, befahl Nick plötzlich leise.

»Ist sie da?«, flüsterte Irmela.

»Ja«, antwortete Nick. Er griff nach einem neuen Würstchen, spießte es auf den Holzstab und drehte es in den Flammen.

»Was machen wir?«, fragte Pünktchen. »Wir können doch nicht ewig so vor den Flammen sitzen bleiben. Sämtliche Würstchen sind schon gebraten.«

»Dann gehen wir jetzt an den Tisch«, bestimmte Nick.

Die Kinder standen auf und deckten so ruhig den Tisch, als würden sie das Mädchen, das neben dem ehemaligen Speicher stand, überhaupt nicht bemerken. Ruhig begannen sie zu essen. Als Nick leicht seinen Kopf zur Seite drehte, um nach hinten zu blicken, bemerkte er, dass das Mädchen näher gekommen war. »Wisst ihr was?«, raunte er seinen Kameraden zu. »Ich fordere sie jetzt einfach auf, mit uns zu essen.«

»Ich glaube, das wird das Beste sein«, pflichtete Pünktchen ihm bei.

Nick wandte sich ganz um, und das Mädchen machte erschrocken einen Schritt zurück. Als Nick aufstand, wollte es davonlaufen. »Warte!«, rief Nick.

Das Mädchen blieb stehen und schaute Nick unverwandt an.

»Du hast Hunger, nicht wahr?«, fragte der Junge. »Wir haben genug dabei. Komm, iss mit uns!«

Das Mädchen schaute ihn unschlüssig an. Es hatte lange dunkelblonde Haare, die sich unordentlich auf seinen Schultern ringelten. Sein Gesicht war schmal. Ein breiter Schmutzstreifen zog sich quer über die rechte Wange. Die blauen Hosen starrten genauso vor Schmutz, wie die einstmals weiße Bluse.

»Möchtest du kein Würstchen?«, fragte Pünktchen und stand nun ebenfalls auf. »Riech nur, wie herrlich sie duften!« Langsam ging sie auf das kleine Mädchen zu. Als sie dieses fast erreicht hatte, streckte sie ihre rechte Hand aus.

Zögernd machte das fremde Mädchen einen Schritt auf Pünktchen zu. Spontan hob es dann ebenfalls seine rechte Hand und berührte Pünktchens Hand. »Ich habe großen Hunger«, gestand es.

»Na also, dann komm«, sagte Pünktchen burschikos. Sie hakte das Mädchen unter und führte es an den Tisch. »Ich bin Pünktchen«, erklärte sie. »Das heißt, eigentlich heiße ich Angelina Dommin, aber wegen meiner Sommersprossen nennen mich alle Pünktchen. Dort sitzt Irmela Groote, dies ist Rudolf Hagen und das Dominik von Wellentin-Schoenecker, genannt Nick.« Erwartungsvoll sah Pünktchen die Fremde an. »Und wie heißt du?«

»Ich?«

»Ja, du«, sagte Nick. »Jeder Mensch hat einen Namen. Ganz sicher hat man nicht vergessen, dir einen zu geben.« Er zeigte auf einen leeren Bankplatz. »Bitte, setz dich doch!«

Das Mädchen kam seiner Aufforderung nach. Mit hungrigen Augen starrte es auf die Picknickpäckchen.

»Komm, iss!« Irmela schob ihm Brot, Würstchen und einen Becher voll Limonade zu.

Ohne sich zu bedanken, biss das Mädchen in ein belegtes Brot. »Ich heiße Ria«, sagte es zwischen zwei Bissen.

Nick, Pünktchen, Rudolf und Irmela unterhielten sich über die Burg, um Ria Gelegenheit zu geben, erst einmal ihren größten Hunger zu stillen. Es war ihnen peinlich, dem Mädchen beim Essen zuzusehen.

»Oh, war das gut!« Ria stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie griff nach der Limonade und trank sie mit hastigen Schlucken aus.

»Wohnst du hier in der Nähe, Ria?«, fragte Nick.

»Nein, das heißt doch!«

»Unten im Dorf?«, forschte Nick weiter.

Ria wollte aufstehen. »Ich muss jetzt wieder gehen«, sagte sie.

»Bleib doch noch etwas«, schlug Irmela vor. »Sicher bekommst du später wieder Hunger. Es ist noch genug da.«

Ria zögerte. »Na gut«, meinte sie schließlich und fügte hinzu: »Ich komme aus einem Wanderzirkus. Er gastiert unten im Dorf.«

Pünktchen schaute Ria mit gerunzelter Stirn an. Sie selbst war in einem Zirkus aufgewachsen. »Trittst du auch auf, Ria?«, fragte sie. Als Ria nickte, forschte sie weiter: »Mit den Pferden oder mit den Löwen?« Dabei schaute sie rasch zu Nick hin und bemerkte, dass dieser sich kaum das Lachen verkneifen konnte.

»Mit den Löwen«, behauptete Ria. »Ja, ich trete mit den Löwen auf.«

»Mit richtigen Löwen? Uiih!«, machte Irmela und blinzelte Pünktchen unbemerkt zu.

»Wir haben aber im Dorf keinen Zirkus gesehen«, sagte Nick.

»Man kann ihn auch nicht sehen. Er ist …, er ist …« Ria schlug die Hände vor das Gesicht und begann bitterlich zu weinen. »Es ist alles nicht wahr«, schluchzte sie. »Ich bin fortgelaufen!« Sie hob den Kopf. »Aber ich gehe nicht wieder zurück. Nie mehr!«

»Warum bist du denn vorhin ausgerissen?«, fragte Rudolf fasziniert.

»Ich wohne schon seit über einer Woche hier«, begann Ria zu erzählen. »Im Anfang war es ganz lustig, denn keiner hat es bemerkt. Wenn man ein Stück durch den Wald geht, dann kommt man zu einem kleinen Gasthaus mit einem Andenkenladen. Sicher habt ihr schon die hier überall aufgestellten Schilder gesehen. Ich habe mir dort jeden Tag etwas zu essen gekauft. Doch jetzt habe ich kein Geld mehr. Ich habe im Gasthaus gefragt, ob ich arbeiten könnte, aber die haben nur gelacht. Und heute … Nun, ich hatte Hunger. Ich habe versucht, mir etwas zu stehlen.« Sie schaute ein Kind nach dem anderen an. »Ihr wollt jetzt sicher nichts mehr mit mir zu tun haben«, meinte sie zaghaft.

»Wenn ich Hunger hätte, dann würde ich auch versuchen, etwas zum Essen zu organisieren«, bekannte Rudolf. »Und ihr doch sicher auch?«

Nick, Irmela und Pünktchen nickten.

»Isst du gern Schokolade?«, fragte Nick.