Sie kamen nach Bagdad - Agatha Christie - E-Book

Sie kamen nach Bagdad E-Book

Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Vom Lieben und Sterben in Ägypten  Eigentlich sucht die abenteuerlustige Victoria Jones in Bagdad nur nach ihrem Liebhaber. Sie ahnt nicht, dass in der Stadt gerade ein geheimes Treffen der Supermächte stattfindet. Doch eine faschistische Untergrundorganisation hat Wind davon bekommen und versucht die Gespräche zu sabotieren. Als dann ein niedergeschossener Agent in Victorias Hotelzimmer torkelt, findet sie sich plötzlich in einem Netz von Verschwörungen, Geheimdienstaktivitäten und heimtückischen Morden wieder. Sie genießt es, ihre vielen Talente einzusetzen, doch ihre Gegner sind gefährlich … 

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Agatha Christie

Sie kamen nach Bagdad

Kriminalroman

Roman

Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini

Atlantik

Allen meinen Freunden in Bagdad

Erstes Kapitel

I

Captain Crosbie verließ die Bank mit der zufriedenen Miene eines Mannes, der gerade einen Scheck eingelöst und dabei festgestellt hat, dass auf seinem Konto ein kleines bisschen mehr liegt, als er angenommen hatte.

Captain Crosbie sah häufig mit sich und der Welt zufrieden aus. Er war so ein Mensch. Er war kurz und stämmig gebaut, mit einem ziemlich roten Gesicht und einem borstigen Militärschnauzer. Sein Gang hatte etwas leicht Zackiges. Seine Kleidung war möglicherweise eine Spur zu auffällig, und für eine gute Geschichte war er jederzeit zu haben. Er war bei anderen Männern beliebt. Ein lustiger Bursche, nichtssagend, aber gutartig, und unverheiratet. Nicht weiter der Rede wert. Im Orient gibt es Crosbies zuhauf.

Die Straße, auf die Captain Crosbie hinaustrat, hieß Bank Street, und zwar aus dem einleuchtenden Grund, dass sich dort der größte Teil der Banken der Stadt konzentrierte. Im Bankgebäude war es kühl und dunkel gewesen und hatte es recht muffig gerochen. Das vorherrschende Geräusch war ein Geklapper zahlloser Schreibmaschinen gewesen.

Draußen auf der Bank Street strahlte die Sonne und wirbelte der Staub und herrschte ein unglaublicher, vielfältiger Lärm. Zum beharrlichen Hupkonzert gesellten sich die Schreie von allerlei Straßenhändlern. Überall ertönten hitzige Dispute zwischen Leuten, die kurz davor schienen, sich an die Gurgel zu gehen, tatsächlich aber die dicksten Freunde waren; Männer, Jungen und Kinder boten die verschiedensten Waren an: Süßigkeiten, Orangen und Bananen, Handtücher, Kämme, Rasierklingen und zahllose weitere Handelsgüter, die auf Tabletts im Laufschritt durch die Straßen getragen wurden. Des weiteren war ein fortwährendes, sich ständig erneuerndes Räuspern und Ausspucken zu vernehmen, und zu diesem Grundbass ertönten die dünnen melancholischen Rufe von Männern, die Esel und Pferde durch den Strom von Kraftfahrzeugen und Fußgängern führten: »Balek – balek!«

Es war elf Uhr Vormittag im Zentrum von Bagdad.

Captain Crosbie hielt einen Jungen an, der mit einem Armvoll Zeitungen vorüberhastete, und kaufte ihm eine ab. Dann bog er von der Bank Street in die Rashid Street, die Hauptverkehrsader von Bagdad, die über fast vier Meilen dem Lauf des Tigris folgt.

Nach einem kurzen Blick auf die Schlagzeilen klemmte sich Captain Crosbie die Zeitung unter den Arm, ging knapp zweihundert Yards weiter und bog dann in eine schmale Gasse, die in einen großen khan oder Hof mündete. Er öffnete an der gegenüberliegenden Seite eine Tür, an der ein Messingschild prangte, und trat in ein Büro.

Ein adretter junger Iraker hörte auf zu tippen, stand auf und kam ihm mit einem freundlichen Lächeln entgegen.

»Guten Morgen, Captain Crosbie. Was kann ich für Sie tun?«

»Mr Dakin im Haus? Gut, ich gehe dann gleich durch.«

Er ging durch eine Tür, eine sehr steile Treppe hinauf und einen ziemlich schmutzigen Gang entlang. An dessen Ende klopfte er an die Tür, und eine Stimme sagte: »Herein.«

Es war ein hoher, spärlich eingerichteter Raum. Es gab einen Ölofen, auf dem ein Napf voll Wasser stand, eine lange, niedrige Polsterbank mit einem kleinen Sofatisch davor und einen wuchtigen, ziemlich ramponierten Schreibtisch. Das elektrische Licht war eingeschaltet und das Tageslicht sorgsam ausgesperrt. Am ramponierten Schreibtisch saß ein ziemlich ramponiert aussehender Mann mit einem müden, unschlüssigen Gesicht – dem Gesicht eines Menschen, der es im Leben zu nichts gebracht hat, weiß, dass dem so ist, und aufgehört hat, sich darum zu scheren.

Die zwei Männer, der muntere, selbstbewusste Crosbie und der trübsinnige, kraftlose Dakin, sahen sich an.

Dakin sagte: »Hallo, Crosbie. Gerade aus Kirkuk zurück?«

Der andere nickte. Er schloss die Tür sorgfältig hinter sich zu. Es war eine scheinbar ramponierte, schlampig gestrichene Tür, aber sie hatte einen unerwarteten Vorzug: Sie schloss gut, fugenlos und ohne den kleinsten Ritz an der Unterseite.

Tatsächlich war sie schalldicht.

Mit dem Schließen der Tür erfuhr die Persönlichkeit der zwei Männer schlagartig eine subtile Veränderung. Captain Crosbie wurde weniger angriffslustig und forsch. Mr Dakins hängende Schultern strafften sich leicht, und er wirkte mit einem Mal weniger zögerlich. Wäre ein Beobachter im Zimmer gewesen, hätte er zu seiner Verwunderung erkannt, dass es tatsächlich Dakin war, der das Sagen hatte.

»Irgendwelche Neuigkeiten, Sir?«, fragte Crosbie.

»Ja.« Dakin seufzte. Er hatte ein Schreiben vor sich liegen, mit dessen Dechiffrierung er gerade beschäftigt gewesen war. Er notierte sich zwei weitere Buchstaben und sagte dann:

»Es soll in Bagdad stattfinden.«

Dann zündete er ein Streichholz an und hielt es an das Blatt Papier, bis dieses Feuer fing. Als das Papier zu Asche verbrannt war, pustete er leicht darauf. Die Asche wirbelte auf und verwehte.

»Ja«, sagte er. »Sie haben sich auf Bagdad geeinigt. Am 20. des kommenden Monats. Wir sollen für absolute Geheimhaltung sorgen.«

»Im Suk habe ich davon läuten hören – schon vor drei Tagen«, sagte Crosbie trocken.

Der großgewachsene Mann produzierte sein müdes Lächeln.

»Streng geheim! Im Orient ist nichts streng geheim, was, Crosbie?«

»Nein, Sir. Und wenn Sie mich fragen, ist nirgendwo irgendetwas streng geheim. Während des Krieges habe ich häufig die Beobachtung gemacht, dass ein Londoner Barbier mehr wusste als das Oberkommando.«

»In diesem Fall spielt’s keine allzu große Rolle. Wenn das Treffen in Bagdad stattfinden soll, wird es ohnehin bald bekannt gemacht werden müssen. Und dann geht der Spaß – unser spezieller Spaß – erst richtig los.«

»Glauben Sie, dass das Treffen überhaupt zustande kommt, Sir?«, fragte Crosbie skeptisch. »Hat Onkel Joe« – so respektlos titulierte Captain Crosbie tatsächlich das Staatsoberhaupt einer europäischen Großmacht – »wirklich vor zu kommen?«

»Diesmal, glaube ich, ja, Crosbie«, sagte Dakin nachdenklich. »Ja, ich glaube schon. Und wenn das Treffen tatsächlich klappt – und ohne Pannen über die Bühne geht –, dann könnte es die Rettung bedeuten, in jeglicher Hinsicht. Wenn es nur gelänge, eine Art Verständigung zu erzielen …« Er sprach den Satz nicht zu Ende.

Crosbie sah nach wie vor etwas skeptisch aus. »Ist – verzeihen Sie, Sir – Verständigung gleich welcher Art denn überhaupt möglich?«

»In dem Sinn, der Ihnen vorschwebt, Crosbie, wahrscheinlich nicht! Ginge es lediglich darum, zwei Verfechter vollkommen gegensätzlicher Ideologien an einen Tisch zu bringen, würde die ganze Chose wahrscheinlich wie üblich ausgehen – mit noch größerem wechselseitigem Misstrauen und Unverständnis. Aber es kommt ja noch ein drittes Element ins Spiel. Wenn Carmichaels phantastische Geschichte wahr ist …« Auch diesen Satz vollendete er nicht.

»Aber sie kann doch unmöglich wahr sein, Sir. Dafür ist sie wirklich zu phantastisch!«

Der andere blieb zunächst stumm. Er sah ganz deutlich ein ernstes, besorgtes Gesicht vor seinem inneren Auge, hörte eine leise, unauffällige Stimme phantastische, unglaubliche Dinge erzählen. Dabei wiederholte er im Geiste, was er damals gesagt hatte: »Entweder ist mein bester, mein bewährtester Mann übergeschnappt; oder aber – diese Geschichte stimmt …«

Dann sagte er mit seiner dünnen, melancholischen Stimme:

»Carmichael glaubte daran. Alles, was er herausfinden konnte, bestätigte seine Hypothese. Er hoffte, dort mehr in Erfahrung zu bringen – Beweise zu finden. Ob es klug von mir war, ihn ziehen zu lassen, weiß ich nicht. Wenn er nicht zurückkommt, ist das Ganze lediglich meine Wiedergabe dessen, was Carmichael mir erzählt hat – was wiederum die Wiedergabe dessen ist, was irgendjemand ihm erzählt hat. Genügt das? Ich glaube nicht. Es ist, wie Sie selbst sagen, eine dermaßen phantastische Geschichte … Aber wenn der Mann am 20. selbst hier, in Bagdad, ist und seine Geschichte erzählt, die Geschichte eines Augenzeugen, und sie durch Beweise untermauert …«

»Beweise?«, stieß Crosbie hervor.

Der andere nickte.

»Ja, er hat Beweise.«

»Woher wissen Sie das?«

»Die vereinbarte Formel. Die Mitteilung kam durch Salah Hassan.« Er zitierte bedächtig: »Ein weißes Kamel kommt mit Hafer beladen über den Pass.«

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort:

»Carmichael hat also bekommen, was er sich erhofft hatte, aber es ist ihm nicht gelungen, unerkannt zu bleiben. Sie sind ihm auf der Spur. Welchen Weg er auch nimmt, sie werden ihn beobachten, und was weit gefährlicher ist: Sie werden ihn erwarten, und zwar hier. Zuerst an der Grenze. Und wenn es ihm gelingt, über die Grenze zu kommen, wird um die Botschaften und die Konsulate ein Kordon gezogen werden. Hören Sie sich das an …«

Er fischte aus den Papieren, die seinen Schreibtisch bedeckten, ein Blatt heraus und las vor:

»Ein Engländer, der mit dem eigenen Auto von Persien in den Irak unterwegs war, erschossen – mutmaßlich von Banditen. Ein kurdischer Kaufmann, der aus den Bergen herunterkam, überfallen und getötet. Ein anderer Kurde, Abdul Hassan, des Zigarettenschmuggels verdächtigt und von der Polizei erschossen. Auf dem Rawanduz-Pass die Leiche eines Mannes aufgefunden, der später als ein armenischer Lastwagenfahrer identifiziert wurde. Und wohlgemerkt, was sie alle verbindet, ist eine gewisse Ähnlichkeit. Größe, Gewicht, Haarfarbe und Körperbau entsprechen durchweg dem Steckbrief Carmichaels. Sie gehen auf Nummer sicher. Sie haben es auf ihn abgesehen. Und ist er erst mal im Irak, wird die Gefahr nur noch größer. Ein Gärtner an der Botschaft, ein Diener auf dem Konsulat, ein Flughafenbediensteter, ein Beamter beim Zoll oder auf einem Bahnhof … alle Hotels überwacht … Ein Kordon, nahezu undurchdringlich.«

Crosbie hob die Augenbrauen.

»Sie glauben, ihr Netz reicht wirklich so weit, Sir?«

»Daran habe ich keinen Zweifel. Selbst in unserer Truppe hat es undichte Stellen gegeben. Das ist überhaupt das Schlimmste. Wie kann ich mir sicher sein, dass die Maßnahmen, die wir ergreifen, um Carmichael unversehrt nach Bagdad zu schleusen, der Gegenseite nicht schon bekannt sind? Wie Sie wissen, gehört es zum Einmaleins unserer Branche, jemand vom anderen Lager auf seiner Lohnliste zu haben.«

»Haben Sie – jemand Bestimmtes in Verdacht?«

Dakin schüttelte langsam den Kopf.

Crosbie seufzte.

»Wir machen also weiter wie gehabt?«, fragte er.

»Ja.«

»Wie steht’s mit Crofton Lee?«

»Er hat zugesagt, nach Bagdad zu kommen.«

»Alle kommen nach Bagdad«, sagte Crosbie. »Sogar Onkel Joe, wie Sie sagen, Sir. Sollte aber dem Präsidenten – während er hier ist – irgendetwas zustoßen, kämen wir alle in Teufels Küche.«

»Es darf ihm eben nichts zustoßen«, sagte Dakin. »Das ist unser Job. Dafür zu sorgen, dass nichts passiert.«

Nachdem Crosbie gegangen war, beugte sich Dakin über seinen Schreibtisch. Er murmelte leise:

»Sie kamen nach Bagdad …«

Er zeichnete auf der Schreibunterlage einen Kreis und schrieb darunter Bagdad – dann skizzierte er ringsum ein Kamel, ein Flugzeug, einen Dampfer und einen kleinen schnaufenden Zug, die alle zum Kreis hinstrebten. In eine Ecke der Unterlage zeichnete er dann ein Spinnennetz. In die Mitte des Spinnennetzes schrieb er einen Namen: Anna Scheele. Darunter setzte er ein großes Fragezeichen.

Dann nahm er seinen Hut und verließ das Büro. Als er in die Rashid Street einbog, fragte ein Mann einen anderen, wer der Europäer sei.

»Der da? Ach, das ist Dakin. Gehört zu einer Erdölfirma. Netter Bursche, aber kommt einfach auf keinen grünen Zweig. Zu träge. Man munkelt, dass er trinkt. Der bringt es nie zu etwas. Man braucht schon Initiative, wenn man es hierzulande zu etwas bringen will.«

II

 

»Haben Sie die Zahlen zum Krugendorf-Besitz, Miss Scheele?«

»Ja, Mr Morganthal.«

Kühl und tüchtig, legte Miss Scheele ihrem Chef die Unterlagen vor.

Er las und brummte:

»Zufriedenstellend, würde ich sagen.«

»Unbedingt, Mr Morganthal.«

»Ist Schwartz im Haus?«

»Er wartet im Vorzimmer.«

»Er möchte sofort hereinkommen.«

Miss Scheele betätigte einen Summer – einen von sechs.

»Brauchen Sie mich noch, Mr Morganthal?«

»Nein, ich glaube nicht, Miss Scheele.

Anna Scheele glitt lautlos aus dem Zimmer.

Sie war platinblond – aber bestimmt kein Starlet-Typ. Ihr helles, flachsfarbenes Haar war straff aus der Stirn gekämmt und im Nacken zu einem sauberen Dutt geknotet. Ihre intelligenten blassblauen Augen blickten durch starke Brillengläser in die Welt. Sie hatte ein kleines Gesicht mit regelmäßigen Zügen, die aber keinerlei Regung verrieten. Ihre berufliche Stellung hatte sie sich nicht durch Charme, sondern ausschließlich durch Tüchtigkeit verdient. Sie konnte sich alles merken, wie kompliziert es auch sein mochte, und Namen, Daten und Uhrzeiten angeben, ohne auf irgendwelche Notizen zurückgreifen zu müssen. Sie konnte ein großes Büro so organisieren, dass es wie eine gut geölte Maschine funktionierte. Sie war die Verschwiegenheit in Person und besaß eine zwar beherrschte und disziplinierte, aber nie erlahmende Energie.

Otto Morganthal, Direktor der international tätigen Privatbank Morganthal, Brown & Shipperke, war sich vollauf bewusst, dass er Anna Scheele mehr verdankte, als sich in Dollar und Cent beziffern ließ. Er vertraute ihr vorbehaltlos. Ihr Gedächtnis, ihre Erfahrung, ihr Urteilsvermögen, ihre Besonnenheit und Vernunft waren unschätzbar. Er zahlte ihr ein hohes Gehalt und hätte es noch erhöht, wenn sie es verlangt hätte.

Sie kannte nicht nur die Details seines Geschäfts, sondern auch die seines Privatlebens. Als er sie in Sachen der zweiten Mrs Morganthal konsultiert hatte, hatte sie zur Scheidung geraten und gleich die Höhe der Alimente vorgeschlagen. Sie hatte weder Mitgefühl noch Neugier bekundet. Dazu, hätte er gesagt, war sie auch gar nicht der Typ. Er nahm nicht an, dass sie irgendwelche Gefühlsregungen kannte, und es war ihm noch nie in den Sinn gekommen, sich zu fragen, woran sie wohl denken mochte. Ja, er wäre verblüfft gewesen zu erfahren, dass sie sich überhaupt irgendwelche Gedanken machte – die nicht die Interessen von Morganthal, Brown & Shipperke betrafen, heißt das, oder die Probleme Otto Morganthals.

Und so traf es ihn vollkommen unvorbereitet, als sie, kurz vor Verlassen seines Büros, erklärte:

»Wenn möglich, würde ich gern drei Wochen Urlaub nehmen, Mr Morganthal. Ab kommendem Dienstag.«

Er riss die Augen auf und sagte beunruhigt:

»Das kommt ungelegen – äußerst ungelegen.«

»Ich glaube nicht, dass es große Probleme verursachen wird, Mr Morganthal. Miss Wygate ist den Anforderungen vollauf gewachsen. Ich werde ihr meine Notizen dalassen und sie hinlänglich instruieren. Um die Ascher-Fusion kann sich Mr Cornwall kümmern.«

Noch immer beunruhigt, fragte er:

»Aber Sie sind doch nicht etwa krank oder so?«

Krank konnte er sich Miss Scheele überhaupt nicht vorstellen. Selbst Bazillen hatten vor Anna Scheele Respekt und machten einen großen Bogen um sie.

»Durchaus nicht, Mr Morganthal. Ich möchte meine Schwester in London besuchen.«

»Ihre Schwester?« Er hatte gar nicht gewusst, dass sie eine Schwester hatte. Er hatte Miss Scheele noch nie als im Besitz einer Familie oder sonstiger Verwandtschaft betrachtet. Sie hatte noch nie etwas in der Richtung angedeutet. Und jetzt kam sie an und erwähnte, einfach so, eine Schwester in London! Letzten Herbst war sie mit ihm in London gewesen, hatte aber kein Wort davon gesagt, dass sie dort eine Schwester hatte.

Leicht eingeschnappt, sagte er:

»Ich wusste ja gar nicht, dass Sie eine Schwester in England haben.«

Miss Scheele lächelte sparsam.

»Oh, doch, Mr Morganthal. Sie ist mit einem Engländer verheiratet, der am British Museum arbeitet. Sie muss sich einer sehr schweren Operation unterziehen. Sie möchte mich bei sich haben. Ich würde ihr den Wunsch gern erfüllen.«

Ihre Pläne, begriff Otto Morganthal, standen, mit anderen Worten, schon fest.

»Also schön, also schön«, sagte er mürrisch. »Aber Sie sind bitte so schnell wie möglich wieder zurück. So sprunghaft habe ich den Markt noch nie erlebt. Alles dieser verdammte Kommunismus! Jeden Augenblick könnte ein Krieg ausbrechen. Manchmal glaube ich, das wäre die einzige Lösung. Das ganze Land ist damit verseucht – völlig verseucht. Und jetzt ist der Präsident auch noch entschlossen, an dieser idiotischen Konferenz in Bagdad teilzunehmen! Das ist eine Falle, wenn Sie mich fragen. Sie haben es auf ihn abgesehen. Bagdad! Noch abwegiger ging’s ja wohl nicht!«

»Oh, ich bin sicher, er wird bestens bewacht werden«, sagte Miss Scheele beschwichtigend.

»Letztes Jahr haben sie den Schah von Persien erwischt, oder etwa nicht? Sie haben Bernadotte in Palästina erschossen. Es ist Irrsinn, nichts anderes, der pure Irrsinn. Aber schließlich«, fügte Mr Morganthal mit einem tiefen Seufzer hinzu, »ist ja die ganze Welt irre.«

Zweites Kapitel

I

Victoria Jones saß schlecht gelaunt auf einer Parkbank in den FitzJames Gardens. Sie erging sich gerade in philosophischen – ja geradezu moralisierenden – Betrachtungen über die Nachteile, die der Einsatz besonderer Talente im falschen Augenblick mit sich brachte.

Victoria war wie die meisten von uns: ein Mädchen, das Tugenden und Fehler in sich vereinte. Auf der Habenseite waren ihre Großzügigkeit, ihre Warmherzigkeit und ihr Mut zu erwähnen. Ihr angeborener Hang zum Abenteuer konnte in dieser unserer heutigen Zeit, die den Wert der Sicherheit so hoch veranschlagt, ebenso gut als verdienstvoll wie als das Gegenteil dessen betrachtet werden. Ihr Hauptfehler aber war eine Neigung, in passenden wie in unpassenden Augenblicken Märchen zu erzählen. Dichtung übte auf Victoria stets einen stärkeren Reiz als die Wahrheit aus. Sie log mit Geläufigkeit, Unbefangenheit und künstlerischer Begeisterung. Wenn Victoria nicht ganz pünktlich zu einer Verabredung kam (was häufig der Fall war), genügte es ihr nicht, sich damit zu entschuldigen, ihre Uhr sei stehen geblieben (was tatsächlich recht häufig der Fall war) oder der Bus habe sich aus unbekannten Gründen verspätet. Vielmehr zog Victoria es vor, die erstunkene und erlogene Erklärung vorzubringen, sie sei durch einen entflohenen Elefanten aufgehalten worden, der, der Länge nach auf der Straße liegend, den gesamten Busverkehr blockierte, oder durch einen verwegenen Schaufenstereinbruch, bei dessen Aufklärung sie der Polizei behilflich sein konnte. Für Victoria wäre die beste aller möglichen Welten eine gewesen, wo auf dem Piccadilly Tiger lauerten und blutdürstige Briganten Tooting unsicher machten.

Einerseits ein schlankes Mädchen mit einer ansprechenden Figur und erstklassigen Beinen, hatte Victoria andererseits ein eher unscheinbares kleines Gesicht mit regelmäßigen Zügen. Doch tatsächlich besaß ihre Fadheit eine überraschende Würze, denn »Gummifrätzchen«, wie einer ihrer Verehrer sie getauft hatte, konnte diese Gesichtszüge nach Belieben verziehen und dadurch nahezu jedermann täuschend echt imitieren.

Gerade letztgenanntes Talent aber hatte sie in ihre gegenwärtige missliche Lage gebracht. Als Stenotypistin bei Mr Greenholtz von Greenholtz, Simmons & Lederbetter, Graysholme Street, WC2, angestellt, hatte Victoria einen öden Vormittag zum Anlass genommen, die drei übrigen Tippfräulein und den Laufjungen mit einer überzeugenden Imitation Mrs Greenholtz’ zu unterhalten, wie sie ihrem Gatten einen Besuch im Büro abstattete. Im beruhigenden Bewusstsein, dass Mr Greenholtz gerade bei seinem Anwalt war, hatte Victoria alle Zurückhaltung fahren lassen.

»Warum sagst du, wir keennen dieses Stilsofa nicht haben, Tate?«, fragte sie mit hoher, quengelnder Stimme. »Mrs Dievtakis, sie hat ejns in Atlas stahlblau. Du sagst, Geld ist sich knapp? Aber warum du dann fiehrst diese blonde Schickse zum Essen und Tanzen aus – ha! Du hast gedacht, ich wejß es nicht? Und wenn du diese Schickse ausfiehrst – dann krieg ich ejn Sofa, und ganz in Pflaume bezogen und mit Kissen aus Gold! Und wenn du sagst, ist sich ejn Geschäftsessen, du bist ein verdammter Dummkopf – ja – und kommst mit Lippenstift am Kragen vom Hemd zurück! Also krieg ich das Stilsofa, und bestell ich ein Pelzcape – ist sich sehr hiebsch, ganz wie Nerz, aber nicht richtig Nerz, und ich krieg es sehr billig, und ist sich ejn gutes Geschäft …«

Die plötzliche Fahnenflucht ihres Publikums, das zunächst wie gebannt zugehört hatte, jetzt aber jäh, in spontaner Eintracht, die Arbeit wiederaufnahm, veranlasste Victoria, zu verstummen und kehrtzumachen – um sich Mr Greenholtz gegenüberzusehen, der in der Tür stand und sie musterte.

Da ihr auf die Schnelle nichts Sachdienliches einfallen wollte, sagte Victoria lediglich: »Oh!«

Mr Greenholtz stieß einen Grunzlaut aus.

Dann warf er seinen Mantel von sich, marschierte in sein Büro und knallte die Tür hinter sich zu. Fast unmittelbar danach ertönte sein Summer, zweimal kurz, einmal lang. Das war das vereinbarte Signal für Victoria.

»Ist für dich, Jonesey«, bemerkte ganz unnötigerweise eine Kollegin, in deren Augen die Freude leuchtete, die seines Nächsten Unglück bei einem auszulösen pflegt. Im gleichen Geiste äußerten die übrigen Tippfräulein Dinge wie: »Jetzt bist du dran, Jones«, und »Zum Rapport, Jonesey!« Der Laufjunge, ein unangenehmes Bürschlein, begnügte sich damit, den Zeigefinger über seine Kehle zu ziehen und dazu ein unheilverkündendes Geräusch auszustoßen.

Victoria schnappte sich Stenoblock und Bleistift und rauschte mit so viel Selbstsicherheit, wie sie aufbringen konnte, in Mr Greenholtz’ Büro.

»Sie haben nach mir gesummt, Mr Greenholtz?«, flötete sie und sah ihn mit arglosem Blick an.

Mr Greenholtz raschelte mit drei Pfundnoten und kramte in seinen Taschen nach Münzgeld.

»Da sind Sie also«, stellte er fest. »Jetzt habe ich endgültig von Ihnen genug, junge Dame. Wissen Sie einen einzigen Grund, warum ich Ihnen nicht einfach einen Wochenlohn auszahlen und Sie fristlos vor die Tür setzen sollte?«

Victoria (eine Vollwaise) hatte gerade den Mund aufgemacht, um zu erklären, dass die Sorge um eine Mutter, die sich gerade einer schweren Operation unterziehen musste, sie nervlich zerrüttet und ihrer Urteilskraft gänzlich beraubt habe und dass ihr kleines Gehalt alles sei, wovon besagte Mutter ihren Lebensunterhalt bestreite, als ein Blick auf Mr Greenholtz’ ungesunde Gesichtsfarbe sie eines Besseren belehrte und den Mund wieder zuklappen ließ.

»Da bin ich ganz Ihrer Meinung!«, sagte sie also stattdessen in herzlichem, leutseligem Ton. »Ich finde, Sie haben absolut recht, wenn Sie wissen, was ich meine.«

Mr Greenholtz stutzte. Er war es nicht gewohnt, dass seine Kündigungen so beifällig, ja begeistert aufgenommen wurden. Um ein leichtes Unbehagen zu bemänteln, zählte er einen Stapel Münzen durch, der vor ihm auf dem Schreibtisch stand.

»Fehlen noch neun Pence«, murmelte er missmutig.

»Schon gut«, sagte Victoria zuvorkommend. »Gönnen Sie sich einen Kinobesuch, oder investieren Sie die in Süßigkeiten.«

»Briefmarken habe ich anscheinend auch keine da.«

»Macht nichts. Ich schreibe eh keine Briefe.«

»Ich könnte sie Ihnen nachsenden«, sagte Mr Greenholtz, klang aber nicht sehr überzeugt.

»Nicht nötig. Wie wär’s mit einem Arbeitszeugnis?«, sagte Victoria.

Prompt kam Mr Greenholtz die Galle wieder hoch.

»Warum zum Teufel sollte ich Ihnen wohl ein Arbeitszeugnis ausstellen?«, fragte er wutentbrannt.

»Ist so üblich«, sagte Victoria.

Mr Greenholtz zog ein Blatt Papier zu sich heran und kritzelte ein paar Zeilen darauf. Dann schob er es ihr zu.

»Recht so?«

Miss Jones war zwei Monate lang als Stenotypistin bei mir beschäftigt. Ihr Steno ist mangelhaft, und sie beherrscht keine Rechtschreibung. Sie verlässt uns wegen Zeitverschwendung am Arbeitsplatz.

 

Victoria verzog das Gesicht.

»Kaum eine Empfehlung«, bemerkte sie.

»War auch nicht als solche gemeint«, sagte Mr Greenholtz.

»Ich finde«, sagte Victoria, »Sie sollten wenigstens noch sagen, dass ich ehrlich bin, nüchtern und anständig. Das bin ich nämlich, wissen Sie. Und vielleicht könnten Sie noch hinzufügen, dass ich diskret bin.«

»Diskret?«, bellte Mr Greenholtz.

Victoria begegnete seinem Blick mit unschuldig aufgerissenen Augen.

»Diskret«, wiederholte sie sanft.

Als ihm allerlei Briefe erinnerlich wurden, die Victoria nach Diktat aufgenommen und ins Reine getippt hatte, entschied Mr Greenholtz, dass Vorsicht die Gouvernante des Grolls war.

Er riss das Schreiben wieder an sich, zerriss es und fasste ein neues ab.

Miss Jones war zwei Monate lang als Stenotypistin bei mir beschäftigt. Sie verlässt uns aufgrund von notwendigen Personaleinsparungen.

 

»Wie ist es damit?«

»Könnte besser sein«, sagte Victoria, »aber zur Not wird’s reichen.«

II

Und so kam es, dass Victoria, mit einem Wochenlohn (minus neun Pence) in der Handtasche, sinnend auf einer Bank in den FitzJames Gardens saß, bei welchen es sich um eine keilförmige Anpflanzung von mitleiderregenden Sträuchern handelt, die eine Kirche flankiert und von einem hohen Lagerhaus überragt wird.

Es war Victorias Gewohnheit, an jedem Tag, an dem es nicht direkt regnete, sich in einer Milchbar ein Käse- und ein Salat-Tomaten-Sandwich zu kaufen und diesen schlichten Lunch in dieser pseudoländlichen Umgebung zu verzehren.

Während sie meditativ vor sich hin mampfte, sagte sie sich, heute nicht zum ersten Mal, dass alles seine Zeit und seinen Ort hatte – und dass das Büro definitiv nicht der Ort für Imitationen der Gattin des Chefs war. Künftig musste sie ihren angeborenen Überschwang zügeln, der sie veranlasst hatte, die stumpfsinnige Ausführung eines öden Jobs ein bisschen aufzulockern. Einstweilen aber hatte sie Greenholtz, Simmons & Lederbetter vom Hals, und die Aussicht darauf, anderswo eine Anstellung zu bekommen, erfüllte sie mit freudiger Erwartung. Victoria war jedes Mal ganz aus dem Häuschen, wenn sie im Begriff stand, eine neue Stelle anzutreten. Man konnte nie wissen, fand sie immer, was alles passieren mochte.

Sie hatte gerade das letzte Bröckchen Brot an drei aufmerksame Spatzen gespendet, die sich sofort mit Geschrei darum zu balgen begannen, als sie einen jungen Mann bemerkte, der am anderen Ende der Parkbank saß. Vage mitbekommen hatte Victoria ihn schon vorher, aber mit einem Kopf voll guter Vorsätze für die Zukunft, hatte sie ihn bis zu diesem Augenblick nicht näher betrachtet. Was sie jetzt (aus dem Augenwinkel) sah, gefiel ihr ungemein. Es war ein gut aussehender junger Mann von cherubinischer Blondheit, aber mit einem energischen Kinn und extrem blauen Augen, die sie, wie sie fast beschworen hätte, seit geraumer Zeit mit kaum verhohlener Bewunderung gemustert hatten.

Victoria hatte keinerlei Probleme damit, sich mit fremden jungen Männern an öffentlichen Plätzen anzufreunden. Sie hielt sich für eine hervorragende Menschenkennerin und im Übrigen für vollauf imstande, jeglichen Ungezogenheiten vonseiten alleinstehender Mannsleute Paroli zu bieten.

Also lächelte sie ihn offen an, und der junge Mann reagierte wie eine Marionette, wenn man an der Strippe zieht.

»Hallo«, sagte der junge Mann. »Hübsches Plätzchen hier. Kommen Sie häufig hierher?«

»So gut wie täglich.«

»Unverzeihlich, dass ich noch nie da war. War das eben Ihr Lunch?«

»Ja.«

»Ich finde, Sie essen nicht genug. Ich wäre am Verhungern mit nichts als zwei Sandwiches im Magen. Was hielten Sie davon, mich auf ein Würstchen ins SPO auf der Tottenham Court Road zu begleiten?«

»Nein danke. Ich bin satt. Im Moment könnte ich nichts mehr essen.«

Sie erwartete halb, dass er sagen würde: »Ein andermal dann«, doch er tat’s nicht. Er seufzte lediglich – und sagte:

»Ich heiße Edward, und Sie?«

»Victoria.«

»Wie sind Ihre Eltern denn auf die Schnapsidee gekommen, Sie nach einem Bahnhof zu nennen?«

»Victoria ist nicht nur ein Bahnhof«, gab Miss Jones zu bedenken. »Es gibt ja auch noch die Königin Victoria.«

»Ah ja. Und wie heißen Sie weiter?«

»Jones.«

»Victoria Jones«, sagte Edward, so als ginge es ihm nicht leicht von der Zunge. Er schüttelte den Kopf. »Passt nicht zusammen.«

»Völlig richtig!«, sagte Victoria im Brustton der Überzeugung. »Wäre ich eine Jenny, würde es ja ganz hübsch klingen – Jenny Jones. Aber Victoria erfordert etwas ein bisschen Vornehmeres. Victoria Sackville-West, zum Beispiel. So was braucht man. Da hat man ordentlich was im Mund.«

»Sie könnten dem Jones ja vorneweg etwas anheften«, schlug Edward mitfühlend vor.

»Bedford Jones.«

»Carisbrooke Jones.«

»St Clair Jones.«

»Lonsdale Jones.«

Dieses unterhaltsame Spiel fand ein jähes Ende, als Edward einen Blick auf seine Uhr warf und einen entsetzten Ausruf ausstieß.

»Ich muss zu meinem verflixten Boss zurückdüsen – äh –, wie steht’s mit Ihnen?«

»Ich bin arbeitslos. Ich bin just heute Vormittag gefeuert worden.«

»Ach herrje, das tut mir leid«, sagte Edward aufrichtig betroffen.

»Verschwenden Sie bloß kein Mitgefühl, mir tut’s nämlich kein bisschen leid. Zum einen finde ich spielend eine neue Stelle, und zum anderen war’s eher ziemlich witzig.«

Und dann lieferte sie ihm eine mitreißende Wiedergabe der betreffenden Szene samt einer Wiederholung ihrer Imitation Mrs Greenholtz’, die Edward maßlos amüsierte und die Rückkehr zu seinen Pflichten noch weiter verzögerte.

»Sie sind wirklich umwerfend, Victoria«, sagte er. »Sie gehören auf die Bühne!«

Victoria nahm diese Anerkennung mit einem dankbaren Lächeln entgegen und gab dann zu bedenken, dass Edward besser seine Beine in die Hand nehmen sollte, wenn er nicht ebenfalls rausgeschmissen werden wollte.

»Sie haben recht – und einen neuen Job würde ich nicht so leicht wie Sie bekommen. Es muss herrlich sein, eine gute Stenotypistin zu sein!«, sagte Edward mit hörbarem Neid.

»Also, genau genommen bin ich keine gute Stenotypistin«, räumte Victoria freimütig ein, »aber glücklicherweise finden heutzutage selbst die miesesten Stenotypistinnen irgendeinen Job – jedenfalls in der Bildung oder der Wohlfahrt, die können sich keine hohen Gehälter leisten, also nehmen sie Leute wie mich. Jobs in der gelehrten Sparte sind mir am liebsten. Die ganzen wissenschaftlichen Namen und Begriffe sind schon von sich aus so fürchterlich, dass man sich nicht zu genieren braucht, wenn man sie nicht richtig schreiben kann, weil das eh keiner kann. Und was machen Sie so? Ich vermute mal, Sie waren irgendwie beim Militär. RAF?«

»Gut geraten.«

»Kampfpilot?«

»Wieder richtig. Ist zwar hochanständig von den Leuten, uns Jobs und so weiter zu besorgen, aber das Problem, wissen Sie, ist, dass wir nicht übermäßig hell im Kopf sind. Ich meine, bei der RAF brauchte man nicht gerade das Schießpulver erfunden zu haben. Sie haben mich in ein Büro gesteckt, mit einem Haufen Akten und Zahlen und so Sachen, die ziemlich viel Nachdenken erforderten, und ich hab irgendwann das Handtuch geschmissen. Die ganze Sache kam mir ohnehin völlig sinnlos vor. Aber trotzdem. Es schlägt einem schon ein bisschen aufs Gemüt zu wissen, dass man zu nichts zu gebrauchen ist.«

Victoria nickte verständnisinnig; Edward fuhr verbittert fort:

»Ausgemustert. Nicht mehr dazugehörig. Während des Krieges war’s schon in Ordnung – man hat das Seine getan und sich wacker geschlagen – ich hab zum Beispiel das DFC bekommen – aber jetzt – tja, ich könnte mich genauso gut gleich von der Landkarte streichen.«

»Aber es müsste doch …«

Victoria sprach nicht zu Ende. Sie fühlte sich außerstande, ihre Überzeugung in Worte zu fassen, dass die Qualitäten, die ihrem Träger das Fliegerkreuz eingebracht hatten, auch irgendwo in der Welt von 1950 ihre Verwendung finden müssten.

»Es hat mich ziemlich fertiggemacht«, sagte Edward. »Zu nichts zu gebrauchen zu sein, meine ich. Tja – ich sollte mich langsam auf die Socken machen – ach – hätten Sie was dagegen – ich meine – wäre es wahnsinnig ungehörig – wenn ich Sie, also …«

Und noch während Victoria überrascht die Augen aufriss, zückte Edward, stotternd und errötend, einen kleinen Fotoapparat.

»Ich hätte ganz unheimlich gern einen Schnappschuss von Ihnen. Es ist nämlich so, dass ich morgen nach Bagdad abreise.«

»Nach Bagdad?«, rief Victoria bitter enttäuscht aus.

»Ja. Ich meine, ich wollte, es wär nicht so – inzwischen. Noch heute Morgen war ich deswegen ganz aufgekratzt – deswegen habe ich den Job ja überhaupt angenommen: um aus diesem Land rauszukommen.«

»Was für eine Art Job ist es denn?«

»Ziemlich schauderhaft. Kultur – Dichtung, all so Zeugs. Mein Boss ist ein gewisser Dr. Rathbone. Hat außer dem Doktor noch einen ganzen Schwanz von Buchstaben hinter dem Namen und einen Kneifer, durch den er einen ganz seelenvoll anstiert. Ist ganz versessen auf Bildung und darauf, selbige in alle Welt hinauszutragen. Er eröffnet Buchläden an den entlegensten Orten – und jetzt macht er einen in Bagdad auf. Er lässt Shakespeares und Miltons Werke ins Arabische, Kurdische, Persische und Armenische übersetzen und hat die alle auf Lager. Eigentlich idiotisch, finde ich, wo es doch schon den British Council gibt, der überall in der Gegend so ziemlich das Gleiche macht. Aber das hält ihn nicht davon ab. Und da mir die Sache einen Job einbringt, darf ich eigentlich nicht lästern.«

»Was genau machen Sie eigentlich?«, fragte Victoria.

»Na ja, unterm Strich läuft’s darauf raus, den Hansel und Laufburschen des alten Knaben zu spielen. Die Tickets besorgen, die Reservierungen machen, die Einreiseformulare ausfüllen, darauf achten, dass diese ganzen grauenvollen poetischen Schinken auch alle richtig eingepackt sind, hierhin laufen und dorthin rennen und überhaupt. Und dann, wenn wir erst mal dort drüben sind, wird meine Aufgabe darin bestehen, mit den Eingeborenen zu fraternisieren – eine Art Jugendbewegung aufzuziehen – alle Nationen vereint im gemeinsamen Streben nach Büldung.« Edwards Ton war immer kläglicher geworden. »Mal ehrlich, das ist doch ziemlich gruselig, oder nicht?«

Victoria sah sich außerstande, nennenswerten Trost zu spenden.

»Und deswegen«, sagte Edward, »wenn’s Ihnen nicht allzu viel ausmacht – eins im Profil und eins, wo Sie mich direkt ansehen – ah, so ist’s wunderbar, wirklich …«

Die Kamera klickte zweimal, und Victoria legte diese spezielle schnurrende Selbstzufriedenheit an den Tag, die junge Frauen verraten, wenn sie wissen, dass sie auf einen attraktiven Angehörigen des anderen Geschlechts Eindruck gemacht haben.

»Aber es ist ganz schön ärgerlich, jetzt abreisen zu müssen, wo ich Sie gerade erst kennengelernt habe«, sagte Edward. »Ich hätte nicht übel Lust, die Sache zu schmeißen – aber das kann ich wohl kaum, so im allerletzten Moment – nicht nach diesen ganzen fürchterlichen Formularen und Visa und was weiß ich nicht alles. Würde sich nicht besonders gut machen, oder?«

»Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm, wie Sie glauben«, sagte Victoria tröstend.

»Ja, ja«, sagte Edward skeptisch. »Das Komische ist«, fügte er hinzu, »ich werd das Gefühl nicht los, dass da irgendwas faul ist.«

»Faul?«

»Ja. Nicht koscher. Fragen Sie mich nicht, wieso. Ich hab keinen konkreten Grund. Nur so ein Gefühl, wie man’s manchmal so hat. Hatte ich einmal wegen meiner Backbordpumpe. Hab an dem verdammten Ding rumgeschraubt, und tatsächlich, ein Dichtungsring hatte sich in der Ersatzgetriebepumpe verklemmt.«

Die technischen Termini bewirkten zwar, dass Victoria im Detail nur Bahnhof verstand, aber die Grundidee erfasste sie doch.

»Sie glauben, er ist nicht ganz koscher – Rathbone?«

»Ich wüsste nicht, wie das möglich wäre. Ich meine, er ist wahnsinnig hochachtbar und gelehrt und gehört diesen ganzen Gesellschaften an – und ist dick Freund mit Erzbischöfen und College-Rektoren. Nein, es ist nur ein Gefühl – je nun, die Zeit wird’s zeigen. Machen Sie’s gut. Ich wünschte, Sie kämen mit.«

»Ich auch«, sagte Victoria.

»Was werden Sie machen?«

»Zur St-Guildric’s-Agentur in der Gower Street tippeln und mir eine neue Stelle suchen«, sagte Victoria trübsinnig.

»Adieu, Victoria. Partihr, sä murihr an pöh«, fügte Edward mit einem sehr britischen Akzent hinzu. »Diese Franzmänner verstehen schon ihr Handwerk! Unsere eigenen Schreiber faseln bloß was von wegen, Trennung wär ein süßer Schmerz oder so – blöde Hohlköpfe!«

»Adieu, Edward, viel Glück.«

»Ich nehm nicht an, dass Sie je wieder an mich denken werden …?«

»Doch, werde ich.«

»Sie sind absolut anders als jedes Mädchen, das ich bisher gekannt habe – ich wünschte nur …« Die Glocke schlug die Viertelstunde, und Edward sagte: »Ach, verdammt – ich muss flitzen …«

Er hastete eilig davon und wurde bald vom großen Rachen Londons verschluckt. Auf ihrer Bank zurückgelassen, in tiefes Sinnen versunken, war sich Victoria zweier deutlich unterschiedener Gedankenströme bewusst.

Der eine handelte vom Romeo-und-Julia-Motiv. Sie und Edward, fand sie, steckten irgendwie in der gleichen Lage wie dieses unglückliche Liebespaar, auch wenn Romeo und Julia ihre Empfindungen möglicherweise in eine etwas schniekere Sprache gekleidet hatten. Aber die Situation, fand Victoria, war die gleiche. Begegnung, augenblickliche Anziehung – Enttäuschung: zwei liebende Herzen, brutal auseinandergerissen. Prompt fiel ihr ein Gedichtchen ein, das ihr altes Kindermädchen einst zu rezitieren pflegte:

Jumbo sprach zu Alice: Schatz, ich liebe dich!

Alice sprach zu Jumbo: Glaub ich aber nich!

Liebtest du mich wirklich, du würdest niemals dich

Nach USA verdrücken und ließest mich im Stich.

 

Man brauchte bloß die USA durch Bagdad zu ersetzen, und voilà!

Endlich stand Victoria auf, wischte sich Krümel vom Schoß und verließ flotten Schritts die FitzJames Gardens in Richtung Gower Street. Victoria war zu zwei Entscheidungen gelangt: Die erste lautete, dass sie (wie Julia) diesen jungen Mann liebte und fest entschlossen war, ihn zu kriegen.

Die zweite Entscheidung, zu welcher Victoria gelangt war, war die, dass, da Edward in Kürze in Bagdad sein würde, ihr nichts anderes übrig blieb, als gleichfalls nach Bagdad zu fahren. Was sie nunmehr beschäftigte, war die Frage, wie dies zu bewerkstelligen sei. Dass es, auf die eine oder andere Weise, zu bewerkstelligen war, zweifelte Victoria nicht an. Sie war eine junge Frau von großem Optimismus und ebensolcher Charakterstärke.

So süß ist Trennungswehe sprach sie persönlich als Idee kein bisschen mehr an, als sie Edward zusagte.

»Irgendwie«, sagte Victoria zu sich, »muss ich nach Bagdad gelangen!«

Drittes Kapitel

I

Das Savoy Hotel empfing Miss Anna Scheele mit der vornehmen Herzlichkeit, die einem hochgeschätzten Stammgast gebührte – man erkundigte sich nach Mr Morganthals wertem Befinden und versicherte ihr, dass, sollte ihre Suite ihr nicht zusagen, ein einziges Wort von ihr genügte –, denn Anna Scheele bedeutete DOLLAR.

Miss Scheele nahm ein Bad, kleidete sich an, führte ein Telefonat mit einer Kensingtoner Nummer und fuhr dann mit dem Lift nach unten. Sie schritt durch die Drehtür und verlangte nach einem Taxi. Eines fuhr vor, sie stieg ein und gab als Ziel Cartier in der Bond Street an.

Als das Taxi den Vorplatz des Savoy verließ und in den Strand einbog, warf ein brünettes Männlein, das vor einem Schaufenster gestanden hatte, plötzlich einen Blick auf seine Uhr und winkte einem Taxi zu, das praktischerweise gerade des Weges kam und sich erst wenige Augenblicke zuvor seltsam blind für die hektischen Winksignale einer mit Einkäufen beladenen Frau gezeigt hatte.

Das Taxi fuhr gleichfalls den Strand entlang, immer in Sichtweite des ersten. Als eine Ampel beide vor dem Kreisverkehr um den Trafalgar Square zum Stehen brachte, sah der Mann im zweiten Taxi aus dem linken Seitenfenster und machte mit der Hand eine unauffällige Geste. Ein Privatauto, das in der Seitengasse neben dem Admiralty Arch gestanden hatte, fuhr los und fädelte sich in den Verkehr hinter dem zweiten Taxi ein.

Die Ampel hatte wieder auf Grün geschaltet. Als Anna Scheeles Taxi dem Verkehr folgte, der links in die Pall Mall einbog, scherte die Droschke, die das brünette Männlein beförderte, nach rechts aus und fuhr weiter um den Trafalgar Square herum. Der Privatwagen, ein grauer Standard, war jetzt dicht hinter Anna Scheele. In ihm saßen zwei Personen, ein blonder, ziemlich ausdruckslos dreinschauender junger Mann am Steuer und eine elegant gekleidete junge Frau auf dem Beifahrersitz. Der Standard folgte Anna Scheeles Taxi die Piccadilly entlang und schließlich in die Bond Street. Hier hielt er kurz am Straßenrand, und die junge Frau stieg aus.

Zugleich munter und förmlich rief sie:

»Vielen herzlichen Dank.«

Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Die junge Frau stöckelte an der Häuserfront entlang und warf gelegentlich einen Blick in das eine oder andere Schaufenster. Der Verkehr geriet vorübergehend ins Stocken. Die junge Frau überholte den Standard und Anna Scheeles Taxi. Sie erreichte Cartier und betrat das Geschäft.

Anna Scheele bezahlte ihren Fahrpreis und betrat ebenfalls den Juwelier. Ohne jede Eile sah sie sich mehrere Schmuckstücke an. Schließlich entschied sie sich für einen Saphir-und-Diamant-Ring. Sie bezahlte ihn mit einem Scheck, der auf eine Londoner Bank ausgestellt war. Beim Anblick des Namens wurde der Verkäufer noch eine Spur verbindlicher.

»Es ist ein Vergnügen, Sie wieder in London begrüßen zu dürfen, Miss Scheele. Ist Mr Morganthal ebenfalls in der Stadt?«

»Nein.«

»Ich frage nicht ohne Grund – wir haben einen sehr schönen Sternsaphir hereinbekommen. Ich weiß, dass er sich für Sternsaphire interessiert. Wenn Sie vielleicht einen Blick darauf werfen möchten?«

Miss Scheele bekundete ihre Bereitschaft, sich den Stein anzusehen, bewunderte ihn gebührend und versprach, Mr Morganthal davon zu erzählen.

Sie trat wieder hinaus auf die Bond Street, und die junge Frau, die sich derweil Clips angesehen hatte, erklärte, sich noch nicht entscheiden zu können, und verließ ebenfalls das Geschäft.

Der graue Standard war links in die Grafton Street eingebogen und bis Piccadilly weitergefahren und kam jetzt gerade wieder die Bond Street herauf. Die junge Frau würdigte ihn keines Blickes.

Anna Scheele war in die Arcade eingebogen. Sie betrat ein Blumengeschäft. Sie bestellte drei Dutzend langstielige Rosen, eine Schale voll großer süß duftender Veilchen, ein Dutzend Zweige weißen Flieders und eine Vase voll Mimosen. Sie nannte eine Adresse, an die alles geliefert werden sollte.

»Das macht dann zwölf Pfund, achtzehn Shilling, Madam.«

Anna Scheele bezahlte und ging. Die junge Frau, die gerade hereingekommen war, erkundigte sich nach dem Preis eines Sträußchens Primeln, kaufte dann aber keines.

Anna Scheele überquerte die Bond Street, ging die Burlington Street entlang und bog in die Savile Row ein. Hier betrat sie das Etablissement eines jener Schneider, die zwar prinzipiell nur für den Herrn arbeiten, sich aber doch gelegentlich dazu herablassen, für gewisse privilegierte Angehörige des weiblichen Geschlechts ein Kostüm zuzuschneiden.

Mr Bolford empfing Miss Scheele mit der Begrüßung, die einer geschätzten Kundin vorbehalten ist, und man besprach den Stoff für das Kostüm.

»Glücklicherweise kann ich Ihnen unsere Exportqualität offerieren. Wann reisen Sie nach New York zurück, Miss Scheele?«

»Am 23.«

»Das schaffen wir bequem. Sie nehmen den Clipper, wie ich vermute?«

»Ja.«

»Und wie ist die Lage in Amerika? Hier sieht es äußerst düster aus – wirklich äußerst düster.« Mr Bolford schüttelte den Kopf wie ein Arzt, der von einem renitenten Patienten spricht. »Nichts scheint mehr Herzblut wert zu sein, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und es rückt einfach niemand nach, der wirklich wüsste, was Werkstolz bedeutet. Wissen Sie, wer Ihr Kostüm zuschneiden wird, Miss Scheele? Mr Lantwick – zweiundsiebzig Jahre ist er alt, und er ist mein einziger Mitarbeiter, dem ich guten Gewissens den Zuschnitt für unsere besten Kunden anvertrauen kann. Die übrigen …«

Mr Bolfords mollige Hände vollführten eine wegwerfende Geste.

»Qualität«, sagte er. »Dafür war dieses Land einmal berühmt. Qualität! Nichts Billiges, nichts Protziges. Wenn wir uns an Massenfertigung versuchen, kommt nichts Vernünftiges dabei heraus, so wahr ich hier stehe. Darauf ist Ihr Land spezialisiert, Miss Scheele. Wofür wir stehen müssten, und ich wiederhole mich ganz bewusst, ist Qualität. Sich für die Dinge Zeit nehmen – und Mühe geben – und ein Produkt fertigstellen, das auf der Welt seinesgleichen sucht. So, und wann würde es Ihnen für die erste Anprobe passen? Heute in einer Woche? Elf Uhr dreißig? Verbindlichen Dank.«

Nach einer kurzen Wanderung durch ein archaisch düsteres Labyrinth von Stoffballen trat Anna Scheele wieder ans Tageslicht. Sie winkte einem Taxi und ließ sich zum Savoy zurückfahren. Ein Taxi, das auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand und in dem ein brünettes Männlein saß, schlug dieselbe Route ein, bog aber nicht in den Hotelvorplatz ein. Es fuhr weiter zum Embankment und sammelte dort eine kleine, untersetzte Frau ein, die kurz zuvor aus dem Personaleingang des Savoy herausgekommen war.

»Wie sieht’s aus, Louisa? Hast du ihr Zimmer gefilzt?«

»Ja. Nichts.«

Anna Scheele lunchte im Restaurant. Man hatte für sie einen Tisch am Fester reserviert. Der Oberkellner erkundigte sich mit respektvoller Anteilnahme nach Otto Morganthals wertem Befinden.

Nach dem Lunch holte Anna Scheele ihren Schlüssel und begab sich hinauf in ihre Suite. Das Bett war gemacht, im Bad lagen saubere Handtücher, und alles war picobello. Anna ging zu den zwei leichten Luftkoffern, die ihr ganzes Gepäck ausmachten – der eine war offen, der andere abgeschlossen. Sie warf einen Blick auf den Inhalt des offenen, dann holte sie aus ihrer Handtasche die Schlüssel heraus und öffnete den anderen. Alles war an seinem Platz, so ordentlich gefaltet, wie sie es gefaltet hatte; wie es aussah, war nichts bewegt oder herausgenommen worden. Zuoberst lag eine lederne Aktentasche. In einer Ecke waren eine kleine Leica und zwei Rollfilme verstaut. Die Filme steckten noch in ihrer versiegelten Verpackung. Anna fuhr mit dem Fingernagel unter die Lasche und zog sie auf. Dann lächelte sie, sehr verhalten. Das einzelne, fast unsichtbare hellblonde Haar, das darunter geklebt hatte, war nicht mehr da. Geschickt stäubte sie ein bisschen Puder auf das blanke Leder der Aktentasche und blies anschließend darauf. Die Oberfläche war so sauber und blank wie zuvor. Keinerlei Fingerabdrücke. Aber an dem Morgen hatte sie die Tasche in die Hand genommen, nachdem sie sich zuvor etwas Brillantine auf den glatten blonden Haarhelm aufgetragen hatte. Es hätten Fingerabdrücke darauf sein müssen – ihre eigenen!

Sie lächelte noch einmal.

»Gute Arbeit«, sagte sie zu sich selbst. »Aber leider nicht gut genug …«

Flink packte sie eine kleine Reisetasche mit ein paar Sachen für eine Nacht und begab sich wieder nach unten. Ein Taxi fuhr vor, und sie nannte dem Fahrer die Adresse 17 Elmsleigh Gardens.

Elmsleigh Gardens war ein stiller, ziemlich heruntergekommener Platz in Kensington. Anna bezahlte den Fahrer und trippelte die Stufen zu einer Haustür hinauf, von der die Farbe schon abblätterte. Sie drückte auf die Klingel. Kurz darauf wurde die Tür von einer älteren Frau geöffnet, deren argwöhnische Miene sich sofort in ein freudiges Strahlen verwandelte.

»Was wird sich Miss Elsie freuen, Sie zu sehen! Sie ist im Arbeitszimmer, nach hinten durch. In letzter Zeit war der Gedanke an Ihr Kommen das Einzige, was sie noch aufrechterhalten hat.«

Anna eilte den dunklen Gang entlang und öffnete die Tür an dessen Ende. Es war ein kleines, verwohntes, aber gemütliches Zimmer mit wuchtigen, abgewetzten Ledersesseln. Die Frau, die in einem davon saß, sprang auf.

»Anna, Liebste!«

»Elsie.«

Die zwei Frauen küssten sich liebevoll.

»Es ist alles organisiert«, sagte Elsie. »Heute Abend quartiere ich mich ein. Ich hoffe wirklich …«

»Kopf hoch!«, sagte Anna. »Es wird schon alles gut werden.«

II

 

Der kleine brünette Mann im Regenmantel trat in eine Telefonzelle in der U-Bahn-Station High Street Kensington und wählte eine Nummer.

»Valhalla Gramophone Company?«

»Ja.«

»Sanders hier.«

»Sanders vom Fluss? Welchem Fluss?«