Sie zählen deine Tage (Maria Martinez 2) - Nikki Owen - E-Book

Sie zählen deine Tage (Maria Martinez 2) E-Book

Nikki Owen

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Beschreibung

Maria Martinez saß im Gefängnis für einen Mord, den sie nicht begangen hat. Doch dann gelang ihr die Flucht. Sie weiß inzwischen, dass sie „Subjekt 375“ eines militärischen Geheimprojekts ist, das die besonderen Fähigkeiten von Asperger-Patienten nutzt, um sie zu Killern zu machen. Als jemand in Marias Haus eindringt und versucht, sie zu überwältigen, erkennt sie, in welcher Gefahr sie noch immer schwebt. Erneut kann sie entkommen – doch die Verfolger sind ihr dicht auf der Spur. Verzweifelt sucht sie Zuflucht im Haus ihrer Mutter, nicht ahnend, dass sie damit ihrem größten Feind in die Arme läuft ...

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Buch

María Martínez saß im Gefängnis für einen Mord, den sie nicht begangen hat. Doch dann gelang ihr die Flucht. Sie weiß inzwischen, dass sie »Subjekt 375« eines militärischen Geheimprojekts ist, das die besonderen Fähigkeiten von Asperger-Patienten nutzt, um sie zu Killern zu machen. Als jemand in Marías Haus eindringt und versucht, sie zu überwältigen, erkennt sie, in welcher Gefahr sie noch immer schwebt. Baltus, ein Freund Marías, nennt ihr einen vertrauenswürdigen Kontaktmann, einen amerikanischen Hacker namens Chris, der in Montserrat bei Barcelona lebt und den sie nun aufsuchen soll. Zusammen mit Chris gelingt es ihr, verschlüsselte Daten ihrer Widersacher zu knacken. Doch nach wie vor sind die Verfolger María dicht auf der Spur, und sie muss erneut fliehen. Verzweifelt sucht sie Zuflucht im Haus ihrer Mutter, nicht ahnend, dass sie damit ihrem größten Feind in die Arme läuft …

Weitere Informationen zu Nikki Owen sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

NIKKI OWEN

Sie zählen deine Tage

Thriller

Aus dem Englischen

von Antonia Noris

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel

»The Killing Files« bei Harlequin Mira,

an imprint of HarperCollins Publishers, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2017

Copyright © der Originalausgabe 2016 by Nikki Owen

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Ilse Wagner

em · Herstellung: ik

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-16710-3V002

www.goldmann-verlag.de

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Für Brian – das hier ist für dich, Mr Blue Sky.

1

Unbekanntes Gefängnis – Gegenwart

Der Raum ist dunkel und feucht. Ich sehe kaum etwas. Ich wurde gefangen genommen, das weiß ich, nur weiß ich nicht, von wem. Vom Projekt? Dem MI5? Von jemand anders? Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin. Und ich habe keine Ahnung, wie ich entkommen soll.

Ich hebe den Kopf, doch er fühlt sich schwer an wie ein Sack voller Kartoffeln. Sacht lass ich ihn wieder sinken. Mein Atem ist heiß, die Luft eine Wolldecke auf meinem Gesicht, dick und rau, und während sich meine Augen allmählich auf die Dunkelheit einstellen, ganz langsam, als höbe sich ein Vorhang vor einer Bühne, erkenne ich nach und nach einzelne Fragmente fester Gegenstände. Wo bin ich?

In einem Raum. Ich glaube, es ist ein normaler Raum, bin mir aber nicht sicher. Was dann? Eine Zelle? Schon wieder Gefängnishaft? Aber ich wurde doch für unschuldig erklärt. Ich bin frei. Ich bin nicht schuldig, habe niemanden getötet. Doch als ich mir selbst die Worte vorspreche, kommen sie mir nicht richtig vor, sondern wirken fehl am Platz, ein in der Mitte zusammengestückelter Code.

Ein Atemzug, zwei. Meine Augen gewöhnen sich immer mehr an die Finsternis, und ich registriere vage Umrisse. Die Ecke einer Wand, die Kante eines Fensters – alles nur Ausschnitte aus einem Gesamtbild. Es gibt eine Art Stuhl, vielleicht einen Tisch, doch dahinter nichts mehr. Die Luft ist zu schwarz, um alles erfassen zu können, die Atmosphäre wie klebriger Teer, der weiches Tageslicht in stickige, finstere Nacht verwandelt. Das Adrenalin schießt mir ins Blut wie abgehackte Alarmsignale. Ich bin hier nicht sicher.

Da höre ich es: eine raschelnde Bewegung.

»Wer ist da?« Meine Stimme klingt trocken und wattig, und ich überlege, wann ich den letzten Schluck Wasser getrunken habe, während mein Gehirn hastig zeitliche Abläufe, Ortswechsel und jede Art von Erinnerung an räumliche Gegebenheiten abzurufen sucht, die es gespeichert hat.

»Wer ist da?«, wiederhole ich, doch es kommt keine Antwort aus der Dunkelheit. Eine Befürchtung wallt in mir auf, die ich unterdrücke, da ich nicht in Panik geraten, nicht hier und jetzt zusammenbrechen will.

Konzentrier dich. Atmen. Ich höre jemanden atmen, dort, durch das Wispern der Luft. Langsam blicke ich nach links, da ich spüre, was dort ist, es jedoch lieber nicht wahrhaben will. Habe ich denjenigen dorthin gebracht, wer auch immer es ist? Ist es das – ein Auftragsmord? Habe ich versucht, denjenigen zu töten? Ich habe den Priester nicht getötet, doch ich habe an mir selbst gezweifelt, vor Gericht, bei der Verhandlung. Und da kommt mir ein entsetzlicher Gedanke. Was, wenn ich für das Projekt im Einsatz war und das hier das Ergebnis ist? Ein Mensch auf dem Boden neben mir, der von mir verletzt wurde und jetzt auf den Tod wartet. Ein Mord, an den ich mich später vielleicht nicht erinnern werde.

Ich wage nicht, mich zu bewegen. Wie bin ich hierhergekommen? Ich überlege angestrengt, verbinde meine kognitiven Gedanken, doch sosehr ich mich auch abmühe, es kommt nichts, als wäre meine Erinnerung ausgelöscht worden.

Als würde diejenige, die ich bin, gar nicht wirklich existieren.

Die andere Person atmet jetzt flach, angestrengt und heiser. Ich weiß, wie sich Ausbluten anhört – das scharfe, schneidende Geräusch der Sauerstoffaufnahme –, doch das ist es nicht. Dennoch besitzt das Atmen eine Dringlichkeit, eine Verzweiflung, die ich nicht deuten kann, und ich frage mich, warum. Ich bin Ärztin und müsste die Anzeichen erkennen, trotzdem kann ich sie nicht einordnen. Was stimmt nicht mit mir?

Ich blinzele dreimal und ringe um Klarheit, darum, mein Gehirn wieder in Funktionsmodus zu bringen, indem ich mich erneut auf den Raum konzentriere und nach Anhaltspunkten suche. Die Kanten. Sie sind in Schwarz gehüllt, doch das Fenster darüber lässt einen schmalen Lichtstrahl durch, der in eine Pfütze zu meiner Linken fällt.

Da sehe ich etwas – einen Arm – und schnappe unvermittelt nach Luft.

Ich blicke an dem Arm entlang, milchweiße Haut an einem schlaffen Handgelenk, anders als meine muskulösen, gebräunten Arme mit ihren abgebissenen Nägeln und dem Schmutz in den Hautfalten. Selbst in dem düsteren Raum hier weiß ich, dass dieser Arm sauber geschrubbt ist.

Ich richte meine Aufmerksamkeit auf den Körperteil, frage erneut zaghaft nach, wer da ist, und zähle beim Warten die Zeit. Die Zahlen beruhigen mich, während die Sekunden in Paaren verstreichen. Die Aktion bremst zumindest vorübergehend die in mir aufwallende Angst, doch als ich erneut frage, wer da ist, und keine Antwort erhalte, stöhne ich unwillkürlich auf. Das urinfarbene Licht ist fast verschwunden, aber auf einmal kommt etwas in mein Blickfeld. Ein langer, mit einem T-Shirt bekleideter Oberkörper. Ein eleganter weißer Hals. Ein Schädel.

Ein Gesicht.

Ein durchdringender Schrei gellt in mein Ohr, und ich stelle schockiert fest, dass er von mir stammt. Ich schnappe nach Luft, wedele hektisch mit den Händen und versuche verzweifelt und mit rasendem Puls, von meinem Sitz aufzustehen. Denn da ist ein Gesicht, ein Gesicht, das mich anstarrt, ein Gesicht, das ich kenne. Rasierter Schädel, hohe Wangenknochen, weit auseinanderstehende Zähne und schwimmbeckenblaue Augen, Augen, die selbst in diesem pechschwarzen Verlies leuchten. Mein Herz rast, mein Brustkorb schnürt sich zusammen. Wie kann sie hier sein? Wie konnte ich das zulassen? Jetzt sind wir alle in Gefahr, wir alle.

»Doc.« Es ist die Stimme des Schädels am Boden.

Ich schließe hastig die Augen, da ich nicht glauben will, wer hier ist, und sage in dem vergeblichen Versuch, mich zu beruhigen, einen Algorithmus auf.

»Doc, alles gut.« Die Stimme ist ein Baumwolllaken, das im Wind flattert, ein Rascheln von grünem Gras. »Doc, mir fehlt nichts.«

Ich öffne die Augen. Einen Millimeter nach dem anderen erlaube ich meinem Sehvermögen, die Arbeit zu tun, die mein Gehirn nicht verrichten will. Meine Freundin ist hier. Meine einzige Freundin auf der Welt liegt zusammengekrümmt am Boden neben mir.

»Patricia?«, sage ich, indem ich das Wort ausprobiere. »Du bist aus Goldmouth raus.«

»Ja, ich bin auf Bewährung rausgekommen, weißt du noch? Zwei Monate nach dir.«

Verwirrung, Sorge. Beides wirbelt in meinem Kopf herum. »Du bist hier. Warum bist du hier?«

»Weil sie uns gefunden haben«, sagt sie, der irische Akzent in ihrer Stimme noch genauso, wie ich ihn in Erinnerung habe, nun aber beschädigt, zerrissen. »Das Projekt hat uns eingeholt. Du kannst dich nicht mehr vor ihnen verstecken.«

Das Projekt hat mich gefunden – deshalb bin ich in diesem Raum zu mir gekommen. Sie haben uns gefangen genommen, und es gibt nur eine Art, wie es enden kann: Jemand muss sterben.

»Wir müssen hier raus. Wie ist dein Status – bist du verletzt?«

Ich horche auf ihre Antwort, doch da ist nur Stille.

»Patricia?« Es kommt keine Antwort, keine Worte. Ich spreche wieder und wieder ihren Namen in die Dunkelheit. Schließlich höre ich auf, lehne mich zurück und werde von Furcht überflutet, Furcht vor mir selbst, davor, wer ich bin. Denn ich bin es gewesen – ich habe all das ausgelöst. Immer wieder lege ich den Kopf in den Nacken, weine laut, brülle in die dichte, schwarze Luft. Warum kann ich mich nicht daran erinnern, wie ich hierhergekommen bin? Warum weiß ich nicht, wo ich bin? Warum?

Warum?

Eine einzelne dicke Träne rinnt mir über die Wange. »Stirb nicht.« Die Worte rutschen mir heraus, leise, unaufgefordert. »Bitte stirb nicht.«

Meine Augen suchen nach Patricias Körper, einem Arm oder dem Kopf, irgendetwas, das mir die Sicherheit gibt, dass ihr nichts fehlt, dass meiner Freundin nichts fehlt.

»Es tut mir leid«, sage ich. »Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid.«

Ich verstumme, sauge Sauerstoff in mich hinein, lausche nach Lebenszeichen, doch in den zehn langen Sekunden, die als Nächstes verstreichen, ist das einzig hörbare Geräusch in der dicken, übel riechenden Luft das Keuchen meines eigenen Atems.

Bergland bei Salamanca, Spanien

34 Stunden und 59 Minuten bis zur Gefangennahme

Die Sonne blendet mich. Ich streife die Laufschuhe ab, halte mir eine Hand vor die Augen und blinzele in die Ferne zu den Bergen, die mit all ihren morgendlichen Geräuschen erwachen. Zirpende Zikaden, das Rascheln von trockenem Sommergras im Wind, üppig tragende Zitronen- und Orangenbäume, die sich unter dem Gewicht praller Früchte biegen und ihren Zitrusduft verströmen, das Meckern einer Bergziege aus der Ferne – all diese Geräusche sind mir vertraut, sind Teil meines Alltags geworden. Die Lämpchen der Überwachungskameras rings um meine Villa leuchten grün, insgesamt sind es sechs Kameras, die jeden Winkel des Anwesens abdecken. Auf dem Land um Salamanca bricht der Tag an.

Ich trinke meinen Kaffee aus, tappe mit der Tasse in der Hand hinein und zähle meine Schritte auf den kalten Terrakottafliesen. Eins, zwei, drei bewegen sich meine Füße vorwärts, bis die vierundzwanzig kommt und ich vor der Spüle stehen bleibe und mich in alle Richtungen umsehe. Ich stelle die Tasse ab, greife nach einem weißen Geschirrtuch und trockne das Geschirr von gestern Abend ab: ein Teller, ein Messer, eine Gabel und ein kleines Weinglas. Ich öffne einen metallenen Schrank und räume die Sachen auf. Alles findet Platz, da nichts anderes auf den breiten, pieksauberen Regalflächen steht.

Ich sehe mich in der Küche um und räume weiter auf. Eine Pfanne, ein weißer Krug mit einem sieben Millimeter langen Kratzer an der Innenseite des Henkels, ein kleiner Metalltopf, um abends Milch warm zu machen, wenn die Sonne schläft und die Decke der Nacht den Himmel überzieht, an dem bis zum Morgen die Sterne leuchten. Ich zähle sie alle und speichere sie in meinem Kopf ab. Zufrieden, dass alles stimmt und da ist, schließe ich sämtliche Schränke, recke die Arme in die Höhe und sage die Worte auf, die ich jeden Tag aufsage, seit ich hierhergekommen bin, um mich vor dem Projekt und dem MI5 zu verstecken.

»Ich bin Dr. María Martínez. Ich bin dreiunddreißig Jahre alt.« Ich bewege die Finger in der warmen Luft, eine sanfte Brise weht durch das kleine, geöffnete Fenster herein, dessen hölzerner Rahmen zwar rissig, aber solide ist. »Ich habe keinen Mord begangen. Ich bin frei.«

Ich recke die Hände weiter ins Leere, meine Muskeln dehnen sich in den freien Raum um mich herum, während ich meine Routine durchlaufe und mir in Erinnerung rufe, wer ich bin, denn wenn ich es mir nicht selbst sage, verliere ich womöglich völlig den Halt. Ich spreize die Finger, meine Muskeln sind stark und angespannt, und wenn ich mich zur Glastür des Backofens umwende, sieht mich mein Spiegelbild an – grüne Kontaktlinsen auf meinen braunen Augen, platinblond gefärbte schwarze Haare, die sich stumpf abgeschnitten um meinen kleinen Kopf legen, die Haut an Gesicht und Körper gebräunt, mit tiefen Falten an den strapazierten Stellen an Ellbogen, Knöcheln und Knien.

»Ich bin Dr. María Martínez. Ich bin dreiunddreißig Jahre alt«, wiederhole ich, während ich einatme, mich bücke und die Handflächen flach auf den Boden lege. Die Fliesen fühlen sich kalt an, kleine, scharfe Schläge, die mich daran erinnern, dass ich am Leben bin. »Ich habe keinen Mord begangen. Ich bin frei.«

Die gelben Strahlen der Morgensonne scheinen mir warm ins Gesicht. Ich schließe die Augen und atme tief ein, gehe umher, atme aus, begrüße die Sonne und spüre, wie mein Körper im Einklang mit meinem Geist arbeitet. Ich chante wieder und wieder mein Mantra vor mich hin, verliere mich in Gedanken an seine heilsame Wirkung und erlaube meinem Gehirn, sich von den Millionen kognitiver Verbindungen zu lösen, die es automatisch zu jeder Sekunde des Tages und der Nacht herstellt. Ich beuge die Knie, gespannte Haut berührt die Terrakottafliesen, ehe ich den Rücken zur Sonne wende, die Augen nach wie vor geschlossen, und in Gedanken gegen die Bilder ankämpfe, die vor meinem inneren Auge vorbeiziehen – Bilder von dem lauten, nach Exkrementen stinkenden Gefängnis, in dem ich inhaftiert war, von der Gerichtsverhandlung, den Schlägen und der Aufdeckung des gesamten Projekts, die ganzen schmutzigen Heimlichkeiten. Ich atme, versuche, die Gedanken vorbeiströmen zu lassen, während sich nun meine Wirbelsäule nach vorn biegt und die Muskeln an meinem Oberkörper in rollende Bewegung versetzt, wobei ich spüre, wie sie sich nach dem Laufen im Freien dehnen, und sich meine Shorts nach oben schieben, mich kratzen und mein ärmelloses Top schweißnass an mir klebt. Obwohl es sich sehr unangenehm anfühlt, konzentriere ich mich weiter, lasse mein Gehirn Frieden damit schließen, wer ich bin, ohne je aufzuhören zu chanten, mich zu erinnern und zu vergessen, denn was wären wir ohne bewusste Gedanken?

Zehn Minuten verstreichen in der frühen Morgensonne, während ich auf den Fliesen und in der leeren Luft meine Übungen vollführe. Als ich fertig bin, richte ich mich auf, atme aus und öffne die Augen. Die Sonne scheint in sie hinein, und ich muss blinzeln, bis sie sich an den dunstigen Film des Tages gewöhnt haben, und mein Gehirn registriert mit einer gewissen Zufriedenheit, dass niemand da ist, mit dem ich Konversation treiben muss, keine sozialen Spielchen, deren Regeln ich enträtseln müsste. Ich drehe mich zur Spüle um, nehme mir ein kleines Glas aus dem Schrank zu meiner Linken und lasse Wasser hineinlaufen. Dann trinke ich es aus, und nachdem mein Mund erfrischt ist, spüle ich das Glas und stelle es wieder zurück.

Als ich sicher weiß, dass alles an seinem Platz ist, wische ich mir die Handflächen hinten an meinen Shorts ab und tappe in Richtung Wohnzimmer, dankbar für meine Alltagsroutine, von der ich jede einzelne Phase selbst ersonnen habe. Seit ich das Gefängnis verlassen habe und mich hier vor dem Projekt und dem MI5 versteckt halte, verbringe ich nach meinem Morgenlauf und meinem Yoga drei Stunden damit, die neuesten Nachrichten über den PRISM-Skandal des US-Geheimdiensts NSA sowie über sämtliche Terroranschläge oder Bedrohungen der Cybersicherheit zu verfolgen und zu dokumentieren, von denen ich glaube, dass das Projekt damit zu tun haben könnte.

Ich bin gerade an den Holzkisten auf dem Fußboden vorbeigegangen und habe das Wohnzimmer betreten, als es plötzlich passiert. Ich weiß nicht, ob es die Überlegung war, die neuesten Nachrichten über die NSA zu analysieren, die es ausgelöst hat, oder ob es daher kommt, dass ich letzte Nacht schlecht geschlafen habe, da mich Albträume vom Gefängnis immer wieder schweißgebadet hochschrecken ließen – die Erinnerung kommt rasch und grell, nicht in verschwommenen Wolken, wie es meist der Fall ist, wenn solche Erinnerungen an die Oberfläche dringen, nein, diesmal geht es schnell wie ein Elektroschock, der meine Gedanken von dem, was sich vor mir befindet, ablenkt und sie auf das richtet, was drinnen ist, auf eine entfernte, von Drogen getrübte Erinnerung.

»Nein!« Der Klang meiner Stimme durchbohrt die Stille und lässt die Vögel in den Bäumen vor dem Haus in alle Himmelsrichtungen davonflattern.

Ich klammere mich ans Spülbecken. Dieser Vorgang, dieses Gefühl, ist mir mittlerweile vertraut, nachdem es im Lauf der Jahre so oft aufgetreten ist, trotzdem wallt Angst in mir auf, da mein Gehirn in die Erinnerung an etwas gestürzt wird, das tief in meinem Unterbewusstsein eingeschlossen ist.

Etwas aus meiner Vergangenheit.

2

Bergland bei Salamanca, Spanien

34 Stunden und 56 Minuten bis zur Gefangennahme

Auf einmal stehe ich nicht mehr in meiner Küche in Salamanca, sondern in einem klinisch weißen Raum, einem Raum, den ich aus meinen Träumen oder vielmehr Albträumen gut kenne.

Ich bin fünfzehn Jahre alt und habe lange dünne Gliedmaßen, staksig wie bei einem Reh. Starr wie ein Roboter sitze ich in einem Metallbett. Meine lange, verfilzte Mähne aus schwarzem Haar fällt über ein weißes Krankenhaushemd, unter dem weiche, von der Sonne geküsste Haut mit Sommersprossen hervorschaut, die noch nicht von den Falten eines längeren Lebens gezeichnet ist. EKG-Elektroden kleben auf meinem mageren Brustkorb; im Hintergrund ist das Ticken eines Herzmonitors zu vernehmen.

Als ich den Kopf drehe, sehe ich ihn. Den Mann. Ich atme scharf ein, doch es ist kein Erstaunen dabei, keine unmittelbare Besorgnis, als hätte ich ihn erwartet, als wäre das hier Routine, die mir einen sonderbaren, perversen Trost bietet.

»Deine Vitalzeichen sind gut«, sagt der Mann. Er spricht mit schottischem Akzent, jedes Wort ein Messerschnitt, die langsame Drehung einer Schraube. »Kannst du mir sagen, wer ich bin?«

»Dr. Carr.« Meine Stimme ist eine Feder, ein Schmetterlingsflügel. Ich erschauere.

Er lächelt schmallippig, was mich an einen Schnitt in meinem Arm denken lässt. »Und du hast einen speziellen Namen für mich, nicht wahr, María – wie lautet er?«

»Black Eyes.«

Ich merke, wie ich nervös werde, und so sehe ich mich zur Ablenkung im Zimmer um. An den weißen Wänden stehen drei Metallstühle und zwei cremeweiße Resopaltische. Es gibt weder Bilder noch Stoffe, nur zwei braune Plastikjalousien und zwei Wachmänner, die bewaffnet mit Pistolen in Gürtelholstern die Türen bewachen. Das gefällt mir nicht, und so beginne ich mit dem Bein zu wippen.

»María, sieh mich an. Kannst du mich ansehen?«

»Nein.« Wipp, wipp. »Ich will nach Hause.«

Sein Lächeln schwindet, und ohne Vorwarnung holt er aus und bringt mein Bein mit einem Schlag zur Ruhe. »Hör auf zu wippen und schau mich an!«

Ein Stechen wie von tausend Nadeln durchdringt meine Haut. Meine Beine erstarren. Ich will ihn anbrüllen, aufgescheucht vom Gefühl seiner Berührung, fürchte mich jedoch zu sehr, weil ich weiß, er könnte schreien, und der Lärm würde mir zu sehr zusetzen, und so versuche ich stattdessen, seine Anweisungen zu befolgen, damit er mich nicht erneut anfasst.

Er zieht die Hand zurück an seinen Körper. »Ich entschuldige mich«, sagt er. »Wir stehen heute unter Zeitdruck.«

Ich spanne die Lider an, zwinge meine Augen dazu, ihn direkt anzusehen, doch es ist schwierig, tut auf fast unangenehme Weise weh, als würde ich, indem ich meine Augen den seinen öffne, zulassen, dass sie in mich hineinblicken, in meine Gedanken. Letztlich schaffe ich es nur, zwei Sekunden lang Blickkontakt zu halten, dann muss ich erschöpft wegsehen.

Er holt Luft. »Ich möchte, dass du in den nächsten Stunden übst, während der Hälfte eines Gesprächs Blickkontakt zu halten. Das hilft dir dabei, müheloser in eine normale Situation einzusteigen, wenn du einmal bei einem Einsatz bist. Es lässt dich … normaler wirken. Ja?« Er lächelt, und ich glaube, winzige Augenfalten in den Ecken seines Gesichts zu sehen, doch ich bin mir nicht sicher. »Ja, María?«

»Ja«, antworte ich mechanisch.

»Gut. Sieh mich an.« Ich gehorche. »Eine Sekunde länger, genau. Zwei, drei, vier … gut. Du kannst den Blick jetzt senken.«

Erschöpft senke ich den Blick, während er sich mit grüner Tinte auf einem gelben Blatt Notizen macht. Hinter ihm kommt eine Frau herein, zierlich, ein Kreuz auf den braunen Hals tätowiert und das Haar so raspelkurz geschnitten, dass ihr Kopf zu leuchten scheint. Die Frau bleibt stehen und flüstert Black Eyes etwas ins Ohr. Ich kann sie nicht verstehen, und so beuge ich mich etwas vor, doch als ich auf meinen mageren Körper mit den EKG-Elektroden in dem Krankenhaushemd herabblicke, stelle ich fest, dass er lediglich gekrümmt ist und sich kaum bewegt hat. Der Herzmonitor neben mir piept schneller.

Ich drehe mich auf dem Bett ein wenig zur Seite. Black Eyes nickt der Frau zu, und zuerst verhallen ihre Worte in der stickigen Luft, doch nach zwei bis drei Sekunden dringen ihre Sätze zu mir durch, als meine Ohren allmählich ganz auf Empfang gehen.

»Das Programm zeigt, dass ihre Fähigkeiten immer besser werden, Dr. Carr«, flüstert die Frau. »Ihr Aufpasser von der Kirche hat uns sehr positive Resultate übermittelt.«

»Was zum Beispiel?«

»Er hat sie einen komplizierten Code knacken lassen, und sie hat es in dreizehn Sekunden geschafft.«

»Gut. Gut. Was noch?«

Sie zieht ihre Notizen zurate. »Die Testperson hat einen außergewöhnlich hohen IQ, ein exaktes fotografisches Gedächtnis – und sie ist besessen von klassischen Komponisten, prägt sich all ihre persönlichen Daten ein, sämtliche Stücke …«

»Hat sie schon Klavierspielen gelernt?«

»Ja. Autodidaktisch, Trinity College London, Leistungsstufe acht innerhalb von drei Wochen. Weitere Informationen: Wie sie Geräusche und Gerüche wahrnehmen kann, ist außergewöhnlich – darüber hatten Sie sich ja bereits Gedanken gemacht.«

»Hmmm.«

»Und ihre händische Geschicklichkeit, ihr technisches Können – sie wird immer schneller. Mittlerweile kann sie zum Beispiel einen Radiowecker innerhalb von drei Minuten auseinandernehmen und wieder zusammensetzen, letztes Mal waren es noch fünf. Das hat ihr Aufpasser an der Schule gemeldet.«

Black Eyes nickt, dreht sich um und wirft mir einen Blick aus schmalen Augen zu. »Wir arbeiten jetzt seit zwanzig Jahren daran, und das ist unser Durchbruch. Sie ist die Einzige, bei der die Konditionierung zu funktionieren scheint.«

»Ja.«

»Der MI5 muss darüber informiert werden.«

Die Frau reicht ihm einen weißen Zettel. »Schon erledigt. Hier sind die Ergebnisse, die wir unserer Kontaktperson dort geschickt haben.«

Black Eyes studiert die Daten, während er das Blatt im Zangengriff seiner Finger hält, jeder davon eine spindeldürre Rebe aus bleichem Fleisch. »Da haben wir so viele Leute konditioniert und getestet, doch niemand war so wie dieses Testkind, diese María Martínez. Was ist noch mal ihre bestätigte Versuchspersonennummer?«

»375.«

»Versuchsperson 375. Genau.« Er tippt auf das Papier. »Wir haben hier einige Szenarien, die ich gern an ihr ausprobieren möchte, um zu sehen, was sie alles kann. Der MI5 drängt uns schon länger, ihnen bei neuartigen Sicherheitsbedrohungen zu helfen – IT-Elemente, Computer und dergleichen. Schauen wir mal, inwieweit sie uns helfen kann.«

Er senkt den Kopf, streckt ohne Vorwarnung seine Spinnenfinger vor und berührt damit meine Wade. Ich zucke unwillkürlich zusammen, doch er scheint es nicht zu bemerken, sondern sich in einer Art Trance zu befinden. »Alles gut«, sagt er zu mir. »Alles gut.« Dann wendet er sich zu der Frau um. »Sie ist kräftig – zwar noch nicht alt genug zum Kämpfen, aber bald …« Er hebt die Hand, Knöchel und Fleisch schweben in der Luft, und mir kommt der Gedanke, dass er mich schlagen könnte. »Wo sie schon hier ist, fragen wir sie am besten gleich, was sie weiß.«

Die Frau runzelt die Stirn. »Aber wird sie das nicht im Gedächtnis behalten, die geheimen Details sind eben – strikt geheim. Was, wenn sie sie verrät, sobald sie wieder in ihrer gewohnten Umgebung ist?«

Er schüttelt den Kopf. »Wir geben ihr Versed, wie immer, und verabreichen es ihr, ehe sie zurück nach Spanien geschickt wird. Bis jetzt hat es gut funktioniert.« Er sieht mich an. »Es löscht ihre letzten Erinnerungen, sodass sie keine Geheimnisse ausplaudern kann – sie wird einfach glauben, sie hat zusammen mit ihrer Mutter wegen ihres Aspergers die Spezialklinik aufgesucht.« Er reicht der Frau das Blatt. »Das Versed sorgt dafür, dass sie sich nicht daran erinnern kann, was sie getan hat, allerdings bleibt im Unbewussten genug Nützliches erhalten, bis sie das Alter erreicht hat, in dem sie voll einsatzfähig ist. Das müssen Sie wissen.« Er verschränkt die Arme. »Die Testperson wird sich vielleicht an einzelne Dinge erinnern, doch lediglich vage – wie an Träume. Und genau das brauchen wir. Diese Daten, dieses Training, dem wir sie unterziehen, müssen irgendwo in ihrem Gehirn abgespeichert sein, damit wir sie zu gegebener Zeit nutzen können.«

»María?« Er spricht mich jetzt direkt an. Eine Hitzewallung prickelt über meinen Körper, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Meine Augen suchen nach einem Ausweg, allerdings gibt es hier nirgends irgendwelche Ausgänge. »María«, sagt er mit ungewohnt leiser, sanfter Stimme, »wo sind wir?«

Doch ich bin zu nervös, und statt zu antworten, presse ich mich in das Bett, wobei mir die kalte Baumwolle des Krankenhaushemds über die Knie rutscht, und die Gänsehaut zu sehen ist.

»Ich will nach Hause.«

»Darfst du. Aber zuerst – ja, so, sieh mich an, gut – antworte mir: Wo sind wir?«

Ich blicke zwischen der Frau und Black Eyes hin und her. Als ich den Mund aufmache, zittert meine Stimme. »Ich bin in einer Einrichtung des Projekts.«

»Und wer ist das Projekt?«

»Eine geheime Gruppierung, die mit dem MI5 in Verbindung steht.«

»Und was tun wir?«

Trotz allem, trotz meines Widerstands, sprudeln mir die Worte aus dem Mund, als wären sie einprogrammiert wie bei einem Roboter. »Das Projekt ist ein Geheimprogramm, das als Reaktion auf die globale Bedrohung durch den Terrorismus und vor allem den Cyber-Terrorismus gegründet wurde. Es bildet Leute mit Asperger aus und nutzt deren einzigartige Fähigkeiten und ihren hohen IQ, um Sicherheitslücken zu bekämpfen. Nur der MI5 weiß, dass es diese Organisation gibt.«

»Und die britische Regierung?«, hakt er nach. »Was ist mit der – weiß sie, wer wir sind?«

»Negativ. Die Regierungsmitglieder wissen nichts von der Existenz des Projekts.«

»Gut.« Seine Brust bläht sich auf und sinkt wieder ein, sein Kopf wippt auf und ab, und ein Lächeln schleicht sich auf seine Lippen. »Gut.«

Die Frau nickt Black Eyes zu und geht dann durch die Tür hinaus, die weder einen Griff noch Scharniere besitzt. Black Eyes wartet, bis sie fort ist, und wendet sich dann wieder mir zu, indem er sich ans Bettende setzt. Ich halte mich an den Laken fest. Zuerst sagt er nichts, doch dann, nach zwei Minuten, macht er den Mund auf, und eine präzise, metallische Stimme dringt heraus.

»Du wirst dich nicht an deinen Aufenthalt hier erinnern, María. Du wirst dich nicht an dieses Gespräch erinnern, du wirst dich nicht an Einzelheiten der Tests erinnern, die wir mit dir durchgeführt haben. Aber du sollst wissen, dass wir dich immer beobachten und immer … für dich da sind. Wir sind überall.« Er beugt sich zur Seite und nimmt eine gefüllte Spritze von einem Metallwagen. Mein Puls schießt in die Höhe.

»Du gehst doch zurzeit zur Schule, oder?«

Ich schlucke verwirrt. »Nein. Zurzeit gehe ich nicht zur Schule. Zurzeit bin ich hier.«

Er hält inne, eine Sekunde, zwei, drei, und scheint die Zähne zusammenzubeißen. »Dein Lehrer nächstes Jahr«, sagt er schließlich und atmet aus, »er arbeitet für uns und hilft uns, dich zu beobachten. Die Leute, die du fast jeden Tag triffst – sie alle sind deine Aufpasser. Selbst euer Familienpfarrer. Aber natürlich wirst du« – ein seltsames, miauendes Lachen dringt aus seiner Kehle –, »wirst du dich nicht daran erinnern.« Er seufzt. »Kaum zu glauben, dass ich dir das alles jetzt erzähle, du vergisst es ohnehin wieder. Aber Pater Reznik, dein freundlicher katholischer Priester – er ist einer von uns.« Ich mache große Augen. Der Priester? Ich habe gesehen, wie er Mama geküsst hat. »Ach, die großen braunen Augen! María, ich kenne dich inzwischen ziemlich gut. Du erinnerst mich an meine eigene Tochter …« Er verstummt und blickt nach unten auf die Spritze zwischen seinen Fingern, während ich zur Tür blicke und wünschte, ich könnte davonrennen. »Jedenfalls«, fährt er nach einer Weile fort, »brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Wenn du auf die Universität gehst und zu arbeiten beginnst, werden wir unsere Leute auch dort platziert haben. Leute vom Projekt wie ich und du, Leute, die darüber wachen werden, was du tust, auch wenn du zu dem Zeitpunkt nicht wissen wirst, dass sie zu uns gehören.« Er schnippt mit einem Finger gegen die Spritze. Schweißperlen brechen aus sämtlichen Poren meines Gesichts. »Oh, du brauchst keine Angst zu haben«, sagt er nun, beugt sich vor und studiert den Schweißfilm auf meiner Stirn. »Wir sind doch Freunde, nicht wahr?«

Ich weiche zurück. »Ich habe keine Freunde.«

Er hält inne und legt den Kopf schief. »Nein. Nein, du hast wohl keine.« Erneut versinkt er einen Moment lang in Gedanken, ehe er die Spritze prüfend ansieht, mein Handgelenk mit zwei Fingern fest umklammert und meinen Arm an sich zieht. »Deine Mutter, Inés – eine reizende Frau, nicht wahr?«

Ich sage nichts, sondern verfolge, wie seine Augen schmal werden, als er die Spritze auf Luftblasen untersucht. Mein Mageninhalt steigt mir in die Kehle.

»Jammerschade, dass sie seit dem Tod deines Vaters Alarico allein ist. Einsamkeit ist etwas Schreckliches. Ein Autounfall, nicht wahr?«

Alarico, mein Papa. Als ich seinen Namen höre, beginnt mein Kopf, sich ein wenig zu drehen, und mein Herz beginnt zu schmerzen. Mein Mageninhalt brodelt.

»Jedenfalls«, sagt Black Eyes jetzt, und sein schottischer Akzent tanzt in der kalten Luft, »ist sie eine starke Frau, deine Mutter, eine Anwältin wie dein Vater, aber – nun ja – resoluter. Sie wird eine gute Politikerin werden, wenn sie ins spanische Parlament kommt, nachdem sie ihre kleine … Krankheit überwunden hat. Dein Bruder auch – Ramón heißt er, nicht wahr? Er wird wohl in ihre juristischen Fußstapfen treten, nachdem er so begeistert im Debattierklub mitmacht. Liegt in der Familie. Und Familie, María, ist wichtig, sie hält uns zusammen …«

Black Eyes beugt sich jetzt so nah zu mir vor, dass ich die vagen Schatten von Bartstoppeln an seinem Kinn sehen kann und den Knoblauch und den Tabak in seinem Atem rieche, der mir gegen den Hals weht. Ich will schreien. Ich will Millionen von Kilometern weit wegrennen, doch ganz egal, wie sehr ich mich auch abmühe, ich kann mich nicht dazu überwinden, mich zu bewegen, und selbst wenn ich davonrennen würde, wohin sollte ich gehen? Wohin sollte ich überhaupt gehen?

»Aber du, María, mein … unser Testkind«, fährt Black Eyes fort, »für dich haben wir Pläne. Wir möchten gern, dass du Ärztin wirst. Versuch mal, das in deinem Unterbewusstsein abzuspeichern, ja? Obwohl das hier alles heute Geschehene auslöschen wird. Am besten plastische Chirurgin. Wir müssen deine Geschicklichkeit testen, sie schärfen, damit sie uns eines Tages nützen kann. Studier in Madrid, an der dortigen Universitätsklinik – dort ist auch einer unserer Aufpasser tätig.« Er lächelt, ein Aufblitzen von schiefen, lückenhaften Zähnen. »Verstehst du?«

Ich nicke.

»Mit Worten.«

»Ich verstehe es.«

»Gut. Denn du bist die Einzige, bei der unsere Konditionierung funktioniert, und wir wollen doch nicht, dass all diese Reisen, die deine Mutter mit dir unternimmt, umsonst sind, oder?«

»Mama glaubt, sie bringt mich in eine Autismus-Klinik«, sage ich, als mich unerwartet ein Funke des Trotzes durchzuckt. »Sie weiß nicht, was Sie wirklich machen. Sie lügen sie an.«

Er starrt mich an. Er richtet seine bodenlosen schwarzen Augen auf mich und wirft mir einen derart eisigen Blick zu, dass ich, sogar mit meinem emotional herausgeforderten Gehirn, vor Schreck erschauere.

»Wir müssen ein bisschen gegen den Terrorismus in der Welt kämpfen«, erklärt er nun, als hätte ich nichts gesagt. »Lästige, kleine Terroristen, die in unsere Computernetzwerke und unsere globalen Infrastrukturen eindringen wollen. Aber jetzt« – Black Eyes tippt mir auf den Arm und senkt die Nadel auf meine Haut – »jetzt, meine liebe kleine María, jetzt wirst du alles vergessen …«

3

Bergland bei Salamanca, Spanien

34 Stunden und 53 Minuten bis zur Gefangennahme

Ich komme zu mir. Ich stolpere in den Tag, schnappe hastig nach Luft und falle gegen den Küchentisch meiner Villa bei Salamanca. Der Schweiß läuft mir über Stirn und Arme und die nackten, wackeligen Beine. Ich ziehe mich hoch, blinzele hektisch, brauche dringend Wasser, doch fast sofort kommt eine weitere unterbewusste Erinnerung an die Oberfläche und zieht mich zurück in einen tieferen, stärkeren Traum. Luzider und greller.

Diesmal sehe ich mich selbst in einem Techniklabor des Projekts an einem Schreibtisch sitzen. Die Wände sind standardweiß gestrichen, und unten am Boden befinden sich lange Leisten gebürsteten Stahls, alles Vorrichtungen für Anschlussdosen mit roten und grünen Lämpchen, die an einer Schalttafel auf der linken Seite unentwegt blinken. Computer stehen an den dafür vorgesehenen Plätzen, und die Akustik ist gedämpft, um die Hintergrundgeräusche für die Testpersonen zu minimieren, Testpersonen wie mich, die sich dauerhaft in diesem Bereich aufhalten. Es gibt räumliche Unterteilungen, Leuchtkörper und Ebenen, die je nach ihrem Verwendungszweck aufgegliedert sind, alles ist Routine, alles wie erwartet.

Meine Finger tippen auf einer Tastatur, und mir fällt auf, dass sie jetzt älter sind, gebräunt und länger, die Finger meines stärkeren, zwanzigjährigen Ichs. Ich gebe aus dem Gedächtnis detaillierte Notizen in eine Online-Datei ein, die als TopSecret klassifiziert ist, Unmengen von Daten und Zeiten und geographischen Angaben, die direkt aus meinem Gehirn in den Computer fließen. Auf dem Bildschirm ist ein Foto von einer Frau mit karamellfarbener Haut und einem Hidschab. Sie hat eine markante Adlernase, und ihre Augen sind so braun, dass sie aussehen, als wären sie flüssig. Ihr Bild überlagert die Datei, und während ich schreibe, memoriere ich Details über sie, diese Frau, die ich seit zwei Jahren kenne, die aber nun dem Projekt Probleme bereitet hat. Meine Informantin, meine Stütze im Einsatz, von mir mit dem Codenamen Raven bezeichnet, weil der Rabe ein Vogel ist, der gute Vorzeichen symbolisiert und trotzdem der Hüter von Täuschung und Tragik ist.

Ein Piepen ertönt, und ich erhebe mich rasch und geschmeidig, das Fohlen ist nun ein Vollblüter geworden. Ich wende mich nach rechts, gehe zur Tür hinaus und in den Hauptkorridor der geheimen Einrichtung des Projekts. Nachdem ich mich in alle Richtungen umgesehen habe, steuere ich Raum sechs an und betrete ihn durch eine dicke Metalltür, die ich schließe, ehe ich mich umwende.

Raven liegt auf dem Boden. Sie ist umgeben von einer Blutlache, und ihr schwarzer Schleier liegt offen da, heruntergezogen bis zum Hals, sodass ihre von Schnitten und Brandwunden überzogene Haut und die eingefallenen Augen zu sehen sind. Verschwunden ist ihr karamellfarbener Teint, und ihre einst rundlichen Wangen sind jetzt zwei ausgezehrte Höhlen. Als ich sie ansehe, weiß ich, dass sie der Feind ist, trotzdem bildet sich aus irgendeinem Grund ein Kloß in meinem Hals, den ich hinunterschlucken muss.

Ein offizieller Mitarbeiter des Projekts, ein jüngerer Mann, kommt zu mir herüber. Er trägt ein graues Hemd aus einem weichen Baumwollstoff, auf dem vorn unterhalb der Schulter der Buchstabe H aufgestickt ist, gefolgt von einer dreistelligen Zahl.

»Ich wurde hierherbeordert«, sage ich. »Was wollen Sie von mir?«

Er wendet sich mir zu, nimmt aber keinen Blickkontakt auf. »Sie müssen die Gefangene bewachen. Ich wurde ins Kontrollzentrum beordert. Ich bin in drei Minuten und dreißig Sekunden wieder da.«

Er dreht sich um und geht hinaus, doch ich rege mich nicht. Ich blicke starr nach vorn, mein Körper nun angespannt, die Muskeln stark, die Hände flink und geschickt von meinem Medizinstudium.

»M-María?«

Die am Boden liegende Frau hebt den Kopf. Sie richtet den Blick auf mich, doch ich sehe sie nicht an. Der Kloß in meinem Hals wird dicker.

»Gefangene dürfen nicht sprechen«, sage ich, die Augen starr geradeaus gerichtet.

»Du bist es doch, nicht wahr? María? Du … du hast dir die Haare schneiden lassen.« Sie hustet. Blut spritzt auf die weißen Fliesen, und ihre Augen wandern hastig nach rechts und links, ehe sie wieder mich ansieht. »Ich weiß, du denkst, ich bin der Feind, aber das bin ich nicht. Das haben sie dir nur eingeredet.« Sie hechelt keuchend. »Sie haben mich reingelegt, María – du musst mir glauben. Sie werden das Gleiche mit dir tun, wenn es sein muss. Ich bin keine Terroristin …« Sie hustet erneut, wischt sich über den Mund. »Sie kommen bald zurück, deshalb musst du mir zuhören. Es gibt … es gibt eine Datei. Sie ist verschlüsselt.« Sie leckt sich die aufgesprungenen Lippen. »Sie ist in einem Ordner auf einem Computer, der nicht … der nicht mit irgendwas verbunden ist, ein Stand-alone-Gerät. Er ist mit keinem Server verbunden, aber er enthält eine Datei, die du selbst erstellt hast, eine verborgene Datei, ohne Wissen des Projekts. Verstehst du? Verstehst du, was das heißt?«

»Gefangene dürfen nicht sprechen.« Ich bemühe mich, sie nicht anzusehen. Sie ist der Feind, und dennoch berühren mich ihre Worte und ihr verletzter Zustand.

»Sie ist voller Details, diese Datei«, fährt sie fort, »Details, die sie nicht verfolgen können. Sie sagt dir alles, was du brauchst – vertrauliche Daten darüber, wer vom Projekt Tests unterzogen wurde, die Daten und Namen der Leute, die sie umgebracht haben. Was sie tun, ist falsch, María. Sie dürfen Menschen nicht so behandeln, sie dürfen nicht wie Götter agieren, aber trotzdem tun sie es. Gib einem Menschen Macht, und ich gebe dir unendliches Leid.« Sie spuckt Blut, und ich kämpfe gegen den Drang an, es wegzuwischen, weil ich mich aus unerfindlichen Gründen mit dieser Frau verbunden fühle, doch ich weiß nicht, warum.

»María?«

»Gefangene dürfen nicht …« Ich verstumme, verwirrt und unsicher, weil ich nicht mehr weiß, auf welcher Seite sie steht.

»Das fällt dir schwer, ich weiß«, sagt sie jetzt leise und angestrengt, »du fragst dich, wer ich eigentlich bin … Aber wir waren gemeinsam im Einsatz, María, ich habe dir geholfen und du mir. Sie werden deine Erinnerungen verfälschen, nachdem sie mich erledigt haben, so, wie sie es immer machen. Die Datei sagt dir alles, was du brauchst, sie sagt dir, was du getan hast – die Wahrheit! Finde heraus, wer du wirklich bist, María! Ich kenne dich, ehrlich. Wir waren … wir waren Freundinnen.«

Da werfe ich einen kurzen Blick zu ihr hinüber, reiße mich jedoch schnell zusammen und sehe wieder weg. »Ich habe keine Freundinnen.«

Die Tür geht auf, und der Agent mit dem H auf dem Hemd kehrt mit zwei anderen, höherrangigen Agenten zurück. Sie stürmen auf Raven zu und zerren sie in die Höhe, doch als sie sie mitnehmen wollen, stemmt sie die Fersen in den Boden. »Die Datei«, flüstert sie. »Finde sie!«

Sie schleppen sie davon, während sie brüllt: »Sie werden dich zwingen, es zu Ende zu führen, María! Bereitet euch vor, haben sie uns gesagt. Wartet. Seid auf der Hut! Schaltet die Bedrohung aus. Sie werden dich zwingen, mich zu töten! Du weißt das, María, ich weiß, dass du es weißt. Kämpf dagegen an«, ruft sie. Ihre Füße hinterlassen Blutspuren auf dem Boden. »Kämpf gegen das Projekt! Hilf mir!«

Doch ich tue nichts, sondern sehe ihr nur nach, und während sie schreiend an den kalten, bleichen Türen im Korridor des Projekt-Gebäudes entlanggeschleift wird, geht mir plötzlich auf, was mich an ihr stört, und das trifft mich wie eine Ohrfeige.

»Ich wusste nie deinen Namen«, sage ich laut zu dem leeren Raum, in eine Leere, die nun nie mehr gefüllt werden kann. »Ich wusste nie deinen Namen.«

Das Bild beginnt davonzuwirbeln, zuerst sachte und dann immer schneller, während in meinen Ohren ein Geräusch gellt, bis ich begreife, dass es der Radiowecker ist, der sich eingeschaltet hat und jetzt die Stimme eines Nachrichtensprechers durch die Küche dröhnen lässt.

Ich hole scharf Luft und reiße die Augen auf, um einen verschleierten Blick in meine sonnendurchflutete Küche zu werfen. Mit einer zitternden Hand berühre ich meinen Kopf, stürze vorwärts, greife nach einem Glas und lasse Leitungswasser hineinlaufen. Ich trinke gierig, bis mir das Wasser übers Kinn läuft und feuchte Klauen nach meiner erschrockenen Haut greifen. Unsanft stelle ich das Glas ab, lasse mich hart gegen die Wand fallen, wische mir mit dem Handrücken über die Lippen und versuche, ruhiger zu atmen. Die Erinnerung, der Traum aus dem Unterbewussten noch frisch im Gedächtnis – solche Bilder haben mich schon öfter überfallen, aber nicht so stark, nicht mit Raven so lebhaft vor Augen. Ich strecke eine Hand seitlich aus, taste mich voran, doch das Bild des Hidschab wirft mich aus der Bahn. Was sie über die Dateien gesagt hat – war das wahr? Hat sie tatsächlich eine Datei beim Projekt hinterlegt? Ist das tatsächlich geschehen? Ich fahre herum, und meine Synapsen feuern in alle Richtungen. Mein Notizbuch. Ich brauche mein Notizbuch, muss alles aufschreiben, es festhalten, damit ich es nachvollziehen und versuchen kann, schlau aus dem zu werden, was sich in meinem Kopf verbirgt.

In den Radionachrichten ist die Rede vom US-amerikanischen Geheimdienst NSA sowie davon, dass Edward Snowden weitere Informationen veröffentlicht hat und sich jetzt verborgen hält. Ich versuche zuzuhören. Ich versuche, mir alles in den Kopf zu pressen, damit ich mich selbst verlieren und alles an meiner Wand festhalten kann, doch es sind zu viele Wörter, die Geräusche sind zu laut, und ich kann nicht klar denken. Der Traum von der Frau und ihren Schreien ist noch frisch in meinem Kopf trotz des hellen Scheins der Sommersonne. Ein dumpfes Stöhnen kommt aus meinem Mund, und ich schlage unsanft auf das Radio, woraufhin es verstummt. Ich zähle meine Schritte, während ich ins Wohnzimmer stolpere.

Automatisch mustere ich den einzelnen Sessel, das alte braune Klavier, das mit dem Rücken zur Wand steht, die Bücherstapel, die wie Wolkenkratzer im Raum verteilt sind, die Tausende von Zeitungsartikeln an der Wand, bedeckt von Anmerkungen mit schwarzem Stift gekritzelt, dazwischen Reißnägel und Skizzen der nichtssagenden Gesichter von Leuten, an die ich mich nicht erinnere. Ich betrachte alles mit verschwommenem Blick, ringe um klare Sicht, bis ich schließlich mein Notizbuch auf dem Schränkchen an der Wand gegenüber erspähe.

Sofort gehe ich hinüber, blättere durch die Seiten voller Algorithmen, Codes und Zeichnungen von den Gebäuden der Einrichtungen des Projekts, alles vage Erinnerungen von Ereignissen und Einzelheiten, und lösche das, was ich soeben gesehen habe. Als ich fertig bin, schlage ich das Buch zu und blicke auf den rissigen braunen Lederumschlag, der sich an den Ecken wellt. Meine Erinnerungen, meine Albträume sind hier drin, die, von denen ich nichts weiß, die Einzelheiten und Fakten, an die ich mich nicht erinnern kann, die sich aber trotzdem irgendwie in meinem Kopf befinden. Trotz der Drogen erinnere ich mich daran. Doch warum?

Ich denke an Raven. Was, wenn es tatsächlich eine Datei gibt? Was, wenn ich mich trotz all der Drogen, die mir Black Eyes eingeflößt hat, gerade an etwas erinnert habe, das vor einem Jahrzehnt geschehen ist? Wenn die Datei, die diese Frau versteckt hat, beim Projekt liegt, heißt das, dass sie sich nach wie vor dort befindet, noch heute, nach so vielen Jahren? Ich strecke die Hände aus, blicke auf meine Finger, schmale, geübte Ärztinnenhände, die Hände einer plastischen Chirurgin, die Gesichter rekonstruieren und Verletzungen heilen kann, und eine Mischung als Ekel und Traurigkeit überkommt mich. Das Projekt hat mich dazu gezwungen, Ärztin zu werden. Es war nicht meine Wahl oder meine bewusste Entscheidung, sondern von vornherein beschlossene Sache, ein abgekartetes Spiel. Aber was sind wir, wenn wir keine Kontrolle über unsere eigenen Entscheidungen und unser Leben haben? Was macht das letztlich mit uns? Und was tun wir als Folge davon?

Erneut starre ich auf meine Finger, meine Haut und meine bis zum Nagelbett abgeschnittenen Nägel. Ich bin Dr. María Martínez. Raven hat gesagt, sie würden mich dazu bringen, sie zu töten.

Habe ich das getan?

Sie haben mich glauben lassen, ich hätte schon einmal getötet, und dafür gesorgt, dass ich wegen Mordes an einem Priester verurteilt wurde, weil sie – der MI5 – mich aus der Schusslinie haben wollten, als der Skandal um PRISM bei der NSA ausbrach, damit das Projekt nicht aufgedeckt wird. Sie haben mich trotz meiner Unschuld im Interesse ihrer eigenen Ziele reingelegt, doch auch damals habe ich an mir gezweifelt, denn wer ich bin und was ich tue, das wurde vom Projekt entschieden und dirigiert. Wenn sie mich die ganze Zeit unter Drogen gesetzt haben, woher soll ich dann überhaupt mit irgendeiner Sicherheit wissen, was wirklich passiert ist?

Und wem es passiert ist?

Erneut schlage ich mein Notizbuch auf. Wenn ich die Seiten noch einmal durchblättere, wenn ich meine Gedanken mit den Informationen an der Wand, meinen Nachforschungen und all den Gesichtern und Fakten verbinde, kann ich vielleicht gewisse Zusammenhänge zwischen dem, was ich weiß, und dem, was ich gerade gesehen habe, herstellen. Ich kann mich in meinen Gedanken verlieren und alles memorieren, was an die Oberfläche meiner Erinnerung geschwommen kommt, und es – falls möglich – mit der NSA, dem MI5 und dem Projekt in Verbindung bringen. Und dann kann ich Trost in der Herausforderung und der Routine und der Ordnung des Ganzen finden, in dem sicheren Wissen, dass ich es nicht weiter verfolgen werde, dass ich nie wieder von hier und der sicheren Zuflucht dieses Orts fort will. Wenn sie mich nicht finden, kann ich mich für immer hier in meinem Haus versteckt halten.

Ich mustere meine Wand und studiere die vielen Zeitungsartikel, die anonymen Gesichter und Fakten und mit Pfeilen versehenen Diagramme, und gerade als ich die Hand ausstrecken will, um einen angepinnten Artikel zurechtzurücken, damit er ordentlich und gerade neben den anderen hängt, zerstört das Klingeln des Notfallhandys die beschauliche morgendliche Stille.

Und alles kommt zum Stillstand.

4

Bergland bei Salamanca, Spanien

34 Stunden und 46 Minuten bis zur Gefangennahme

Ich greife nach dem Telefon und dresche regelrecht auf die Annehmen-Taste ein, damit das gellende Klingeln nicht weiter auf meinen Kopf einhämmert. »Wer ist da?«

»María, ich bin’s, Baltus.«

»Du rufst am Notfallhandy an«, stoße ich hastig hervor. »Gibt es etwas Dringendes?«

»Was? Nein.«

»Warum rufst du mich dann an?«

»Du hast dich seit drei Tagen nicht mehr bei mir gemeldet, und ich habe mir Sorgen gemacht.«

Das Klingeln des Telefons hallt immer noch in meinem Kopf. Ich schüttele ihn. »Seit vier Tagen.«

»Was?«

»Ich habe dich seit vier Tagen nicht mehr angerufen.« Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie der Sonnenschein auf den Fensterscheiben einen Walzer tanzt. Als ich mich darauf konzentriere, beruhigt sich mein Gehirn allmählich. »Du hast gesagt drei.«

Es entsteht eine Pause. »María, als wir uns in London getrennt haben, haben wir vereinbart, dass du in Kontakt mit mir bleibst, dich jeden Tag bei mir meldest. Ich habe mir Sorgen gemacht, als ich nichts von dir gehört habe.«

»Warum?«

»Weil mir etwas an dir liegt. Weil ich deinem Vater vor seinem Tod versprochen habe, auf dich aufzupassen.«

»Oh. Okay.« Die Fensterscheiben glitzern im Sonnenlicht. »Ich hatte heute wieder eine Erinnerung.«

»Was? Wann?«

»Um sechs Uhr zwölf heute Morgen.«

Ich nehme mein Notizbuch und erzähle ihm, was passiert ist. Er hört zu. Das tut er immer, Baltus Ochoa – ich rede, und er hört zu. Als er noch Direktor des Goldmouth-Gefängnisses in London war, wo ich einsaß. Dass er mir zuhörte, führte zum Fund einer verschlüsselten Datei, die das Projekt und meine anschließende Verwicklung darin aufdeckte. Er hat mir immer gesagt, dass er meinem Vater versprochen habe, für mich da zu sein, er versichert mir, dass ihm etwas an mir liegt, und ich ertappe mich bei etwas, was wohl Dankbarkeit ihm gegenüber ist, doch ich weiß nie, wie ich sie ausdrücken soll, begreife nicht, wie Menschen das äußern, was sie innerlich empfinden.

»Das ist seltsam«, sagt Baltus nun, seine Stimme eine Schicht Kies, ein Felsblock auf einem Berg.

»Was ist seltsam?«

»Nun ja … okay, vielleicht hat es gar nichts zu bedeuten, aber irgendetwas stört mich an dem Stand-alone-Computer, den die Frau in deiner Erinnerung erwähnt hat, aber ich komme nicht darauf, was mich daran stört. María – die Episode mit der Frau, mit Raven –, weißt du noch, in welcher Einrichtung des Projekts das war?«

»Nein. Ich erinnere mich nur an die Einrichtung mit Black Eyes, als ich noch jünger war. Das war in Schottland. Die Einrichtung, in die Kurt mich gebracht hat. Erinnerst du dich nicht?«

»Guter Gott, wie könnte ich das vergessen? Ich habe ja dummerweise selbst vorgeschlagen, dass du diesen Therapeuten aufsuchst, nachdem du freigesprochen worden warst – und dann stellt sich heraus, dass er für den MI5 arbeitet.«

»Er hat für das Projekt gearbeitet.«

»Das hab ich doch gesagt.«

»Nein. Du hast gesagt MI5. Kurt – obwohl sein richtiger Name Daniel war, ein hebräischer Name, der ›Gott ist mein Richter‹ bedeutet – hat, als er sich zu den Sitzungen mit mir getroffen hat, nur für das Projekt gearbeitet. Damals …«

»Damals war gerade der PRISM-Skandal bei der NSA aufgedeckt worden, und der MI5 wollte das ganze Projekt in die Tonne treten, weil sie Angst vor einer ähnlichen Bloßstellung hatten.«

Mein Blick ruht auf der Wand, auf meinen Zeichnungen und Zeitungsartikeln, den Verbindungslinien und Notizen.

Baltus seufzt. »Ich weiß nicht, ich kann einfach … was sie gemacht haben. Ich kann immer noch nicht glauben, dass das Projekt dir den Mord an diesem Priester angehängt hat, nur um dich ins Gefängnis zu bringen und aus der Schusslinie zu nehmen, damit sie dich anschließend eliminieren konnten.«

»Damit sie mich töten konnten, um jegliche Verbindung zum Projekt zu kappen.«

»Ja.« Er hält inne. »Ja.«

Das Fenster im Wohnzimmer ist offen, und der dünne Baumwollvorhang weht in der leichten Brise herein und hinaus, wobei er wie ein weißer Schleier sachte über den gefliesten Boden im Zimmer streicht.

»Jedenfalls, hör mal, María«, fährt Baltus nach einer Weile fort und räuspert sich. »Der zweite Grund, warum ich anrufe, ist, dir zu sagen, dass die MI5-Agentin, die als unsere Gefängnispsychiaterin agiert hat – Dr. Andersson – spurlos verschwunden ist und niemand sie gesehen oder von ihr gehört hat. Du hattest ja nach ihr gefragt.«

Dr. Andersson. Sofort habe ich ihr Gesicht vor Augen. Schwedisch-blonde Haare, eisblaue Augen, blasse, sommersprossige Haut. Ein Bild von ihr, wie sie mich dazu anhält, einen Laptop auseinanderzunehmen und wieder zusammenzubauen, wie sie die Zeit stoppt, die ich brauche, um einen Zauberwürfel zu ordnen – all die Aufgaben, denen sie mich unterzogen hat, um mich zu kontrollieren, ohne dass ich es wusste. Ich erschauere. »Sie ist nicht bei dir oder bei jemandem aus Harrys Familie aufgetaucht?«

»Nein. Nein, ich glaube nicht. Aber María, hör mal – wie geht es dir mittlerweile in Bezug auf Harrys Tod? Es ist jetzt sechs Monate her, seit Dr. Andersson ihn auf den Stufen des Gerichtsgebäudes erschossen hat, als sie eigentlich dich töten wollte. Harry war ja nicht nur dein Anwalt oder der alte Freund deines Vaters – ich weiß, dass du eine kleine Schwäche für ihn hattest.« Er hält inne und lässt drei Sekunden verstreichen. »Ich mache mir Sorgen um dich. Es ist für uns alle eine Menge zu verarbeiten, ganz besonders für dich.«

Mir fehlen vorübergehend die Worte, während sich ein seltsamer Druck über meine Brust legt. »Das Trauermodell nach Kübler-Ross besagt, dass ich jetzt in der Akzeptanzphase sein müsste.«

»Und bist du in dieser Phase, María? Akzeptierst du Harrys Tod? Er mochte dich sehr.« Ich höre ihn schlucken. »Das gilt – galt – für uns beide.«

Ich beiße die Zähne zusammen, widerstreitende Gefühle von Wut und Traurigkeit überfluten mich. Eine einzelne Träne rinnt mir aus dem Auge. Ich hebe die Hand und wische sie mir von der Wange.

»Dr. Andersson hat Harry umgebracht. Der MI5 hat Harry umgebracht.«

»Ja.«

Drüben am Fensterbrett landet ein kleiner Vogel mit goldbraunen Federn auf dem weißen Holz. Er senkt den Kopf, hält sich dann ganz ruhig, blickt auf, frei, und fliegt davon. Ein paar Sekunden lang betrachte ich den leeren Platz, wo der Vogel gesessen hat, ehe ich einatme und wieder auf das Handy schaue.

»Ist Patricia auf Bewährung rausgekommen?«

»Ja«, sagt Baltus. Durch die Leitung höre ich Papier rascheln. »Ich habe ihr gesagt, dass es dir gut geht und du dich vor dem Projekt versteckt hältst. Und ich habe ihr erklärt, was du gemacht hast – also die SMS an den MI5 und über Kurts Telefon in London an das Projekt zu schicken, damit sie dich alle für tot halten. Sie weiß, dass du dich verborgen halten musst und dich nicht bei ihr melden kannst.«

»Und Dr. Andersson hat sie nicht verfolgt?«

»Nein. Ich stehe mit Patricia in Kontakt – es scheint alles okay zu sein. Ihr zwei seid in Goldmouth gute Freundinnen geworden. Das freut mich, das ist …« Er hält inne. »Du brauchst Freunde, María. Es gefällt mir nicht, dass du ganz allein bist.«

Ich sehe mich im Zimmer um. Der einzelne Sessel, die nackten, weiß gestrichenen Wände, das auf der umgedrehten Holzkiste liegende Handy, aus dem Baltus’ Stimme dringt.

»Pass auf, María«, fährt Baltus nach zwei Sekunden fort, »ich weiß nicht, warum, aber irgendetwas an deiner Raven-Erinnerung … Ich weiß, ich habe es eben erst erwähnt, aber es … also, irgendetwas daran kommt mir bekannt vor, aber ich weiß nicht, was.«

»Ist es eine Erinnerung aus jüngster Zeit?«

»Ich weiß es nicht. Ich …« Er verstummt. »Es ist bloß etwas, was mir Inés gesagt hat, als sie mich angerufen hat, während du im Gefängnis warst. Ich weiß nicht, ob das überhaupt etwas zu bedeuten hat, aber es war irgendwie unheimlich.«

»Das Wort ›unheimlich‹ deutet auf etwas Übernatürliches hin.«

»Was? Nein, nein, das hab ich nicht …«

»Unheimlich kann auch bedeuten, dass etwas unbekannt ist oder befremdlich.«

»Okay. Jedenfalls wollte mich Inés unbedingt sprechen, sie hat mich angerufen und mir erzählt, was sie gemacht hat.«

»Wann genau war das?«

»Vor der Neuverhandlung.«

»An welchem Datum?«

»Ich weiß es nicht.«

»Warum nicht?«

»María, mein Gedächtnis funktioniert nicht so akkurat wie deines. Aber weißt du, es war seltsam. Wir hatten uns seit Jahren nicht gesprochen – genauer gesagt seit Alaricos Tod –, und dann, nach ihrem Besuch bei dir in Goldmouth, ruft sie mich aus heiterem Himmel an und redet über … mein Gott, was war das noch? Irgendetwas über Geheimnisse … Verdammt noch mal, ich kann mich nicht erinnern. Ich weiß nur, dass sie irgendwie seltsam war.« Er atmet aus. »Wahrscheinlich ist es ohnehin irrelevant.«

»Woher weißt du, dass sie irgendwie seltsam war?«

»Was? Oh, ich weiß nicht, ihr Tonfall vielleicht? Es war, als stünde sie unter Druck oder so, als wäre womöglich irgendjemand bei ihr. Ob sie in Gefahr war? Ich weiß es wirklich nicht genau.«

Ich sage nichts, da ich nicht begreife, wie ein simpler Tonfall zu so vielen unbestätigten Schlussfolgerungen führen kann.

Ich greife nach einem Buch, einem von vielen über Computercode und Sprache, ein vertrautes, strukturiertes Thema, lege es auf einen Stapel mit anderen wissenschaftlichen Werken und wende mich meiner Pinnwand zu. Die Gesichter haben unterschiedliche Mienen, es gibt verschiedene Fotos von Leuten, die ich kenne, und Skizzen derer, an die ich mich aus nebulösen Träumen unter Drogen nur vage erinnere. Meine Mutter Inés sitzt da, ein Foto aus ihrem Eintrag auf der Website des spanischen Parlaments, das Gesicht wie gemeißelt, schick frisiertes schwarzes Haar, Goldschmuck, Schulterpolster und Rouge. Neben ihr mein Bruder Ramón, der jetzt sechsunddreißig ist, hager, gebräunt, pechschwarzes gegeltes Haar über ausgeprägten Wangenknochen und mit einem maßgeschneiderten schwarzen Anzug, wie er ihn stets zur Arbeit in seiner Anwaltskanzlei trägt. Und dann mein Papa, auf einem älteren, noch stärker zerknitterten Foto, auf dem ich trotzdem ganz genau seine Augenfältchen erkenne, seine von Linien durchzogene Haut, sein frisches weißes Leinenhemd, und daneben stehe ich mit langen, dunklen Haaren. Papa hat mir einen Arm um die Schultern gelegt und hält mich fest. Damals war er der einzige Mensch, der mich berühren durfte, ohne dass ich zusammenzuckte oder aufschrie. Ich schließe die Augen. Ich kann ihn immer noch riechen – das würzige Eau de Cologne, die Tinte aus seinem Füller, mit dem er immer in seinem Arbeitszimmer schrieb. Ich öffne die Augen und schaue auf ein weiter rechts hängendes Bild – eine verblasste Aufnahme von Baltus, Harry und mir, die gemacht wurde, kurz nachdem wir in der Neuverhandlung gewonnen hatten und ich freigesprochen worden war. Mit den Fingern fahre ich über Harrys Gesicht. Seine Haut ist weich und schwarz, und wenn er lächelt, hat er genau wie mein Papa Augenfältchen, die sich fächerförmig ausbreiten. Seine Schildpattbrille sitzt auf der Spitze seiner rundlichen, glänzenden Nase. Neben ihm steht Baltus. Baltasar Ochoa. Sein Nachname bedeutet einsamer Wolf. Auf dem Bild sieht man, dass er groß ist und selbst für seine über fünfzig Jahre sehr athletisch. Seine Haut ist von der mediterranen Sonne geküsst, sein schwarzes Haar schon von einigen Silberfäden durchzogen, und sein Gesicht wird von großen braunen Augen dominiert. Doch obwohl Harry und Baltus in lässiger Haltung dastehen und lächeln, ist mein Körper starr und verkrampft und abweisend gegenüber engem Gruppenkontakt, mein olivfarbener Teint fahl von der monatelangen Inhaftierung, die Haare dunkel und ausgefranst, sodass sie Schläfen und Hals streifen, und meine Augen liegen über eingefallenen Wangen. Ich betaste meinen Hals. Die Sonne von Salamanca hat meine Haut mittlerweile goldbraun gefärbt, mein schwarzer Bob ist jetzt platinblond, und meine einstmals braunen Augen wurden durch grüne Kontaktlinsen umgefärbt. Ein falscher Look für eine falsche Welt.

»María? Bist du noch dran? Hör mal, weißt du, was ich mir überlegt habe? Der Erinnerungsflash, den du hattest, die Sache mit der Frau – ich glaube, du solltest herausfinden, wo diese Einrichtung ist und dorthin fahren. Ich kann dir dabei helfen. Wenn es dort Informationen gibt, könnte das heißen, dass wir dem Ganzen ein Ende machen können, diesem ganzen Wahnsinn. María, das könnte das Projekt ein für alle Mal ausradieren.«

Hitze steigt mir in den Kopf, begleitet von einem klaren Bild von Black Eyes und seinem zahnlückigen Lächeln. Mein Blick wandert durch mein Haus, sicher und verborgen. »Nein.«

»Was?«

»Ich habe nein gesagt. Ich will nicht wissen, wo die Einrichtung ist.«

»Aber María, warum all den NSA-Geschichten im Zusammenhang mit dem MI5 nachgehen, sich um die Aufdeckung des Ganzen bemühen, wenn nicht, um das Projekt zu Fall zu bringen?« Er hält inne. »Du bist nicht allein. Ich weiß, du glaubst, du wärst es, aber du bist es nicht. Du hast mich. Du hast Patricia. Mann, du hast sogar deine Mutter und deinen Bruder. Vielleicht können sie auch mithelfen? Inés kennt eine Menge Leute hoch oben in der spanischen Regierung – sie ist jetzt Justizministerin.«

Black Eyes. Raven. Meine quälenden, schweißgebadeten Albträume, die mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißen, wenn niemand da ist, der mich trösten könnte. Ich blicke auf die Skizzen an der Wand. »Nein.«

Er seufzt. »Bitte. Überleg es dir. Sagen wir mal, wenn du das, was mir hoffentlich aus dem Gespräch mit Inés wieder einfällt, mit dem, was du mir über diese Frau – Raven? – erzählt hast, verbinden könntest? Es könnte dir dabei helfen, herauszufinden, woher die Erinnerung stammt. Wenn du die Einrichtung kennst, findest du auch die Datei.«

Ich öffne den Mund, um erneut nein zu sagen, doch ich zögere, ohne zu wissen, warum.

»Diese Frau«, fährt Baltus nun mit eindringlicher Stimme fort, »hat gesagt, die Datei, die sie hochgeladen hat, würde dir verraten, was du wissen musst, dir sagen, was du getan hast, und sie würde dir dabei helfen herauszufinden, wer du wirklich bist. Warum sämtliche Träume notieren, an die du dich erinnerst, María, warum wissen wollen, wie das alles zusammenhängt, wenn du nicht wissen willst, wie du der Sache ein Ende machen kannst?«