Sieh Dich Selbst - Chris Bachmann - E-Book

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Chris Bachmann

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Beschreibung

Seit der Mensch sich selbst erkennt, muss er sich jeden Tag neu entscheiden. Will er gut oder will er böse sein? Der freie Wille, den der Mensch als Geschenk in sich trägt, zwingt ihn, jeden Tag seine Wahl zu treffen. Dabei ist der Weg des Bösen leicht einzuschlagen, oft nicht im ersten Moment erkennbar. Während der Weg für das Gute stets Mut und Entschlossenheit erfordert. Das Gute umfasst die Liebe, das Vertrauen und die Freude. Aber Freude empfinden auch böse Menschen. Freude über begangene Untaten, Freude über gelungene Streiche, Freude über errungene Siege. Allerdings hält diese Freude nie lange an, sie verwandelt sich in Einsicht, in Unverständnis und schließlich in Angst, denn böse Menschen sind vor allem eines, sie sind ängstlich und feige. Im Leben kommt es auf drei Dinge an: Gut sein, Gut werden oder aufgeben. Die Bösen haben irgendwann aufgegeben, gut sein zu wollen und sind nun auf ihrem Weg, alle anderen vom selben Scheitern zu überzeugen. Wenn die Bösen schon nicht glücklich werden können, so ihre Philosophie, dann sollen auch alle anderen das nicht sein. Gewalt, Aggressivität, Unmenschlichkeit und Intoleranz bestimmen ihr kurzes Leben. Liebe verwechseln sie mit glücklosem, leerem Sex. Geld, Hass und Gewalt bestimmen ihr Denken und Handeln. Rainer und Karin, zwei Menschen, die in Liebe vereint ihr Leben teilen, werden Ziel einer aufstrebenden uralten Macht. Anfangs glauben sie nicht daran, doch schon bald geschehen unglaubliche Dinge in ihrem Umfeld und sie müssen sich dem aufgezwungenen Kampf stellen.

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Sieh Dich selbst!

Teil 1

1. Auflage, erschienen 2017

Text: Chris Bachmann

Umschlaggestaltung & Satz: Alina Zaslavskaya

Druck: Buchwerk Verlag

ISBN: 978-3-96229-967-5

Copyright ©Buchwerk Verlag

Inh.: Manfred Schenk KG, Klosterstr. 1, 41363 Jüchen


Persönlich haftender Gesellschafter: Manfred Schenk


Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des aus-zugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz.

Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Gewissen erstellt. Sie erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Verlages. Er übernimmt deshalb keinerlei Verantwor-tung und Haftung für etwa vorhandene Unrichtigkeiten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Sieh

Dich

Selbst

Chris Bachmann

Teil 1

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Vorwort

Seit der Mensch sich selbst erkennt, muss er sich jeden Tag neu ent-scheiden. Will er gut oder will er böse sein? Der freie Wille, den der Mensch als Geschenk in sich trägt, zwingt ihn, jeden Tag seine Wahl zu treffen, eine Wahl zwischen Gut und Böse.

Dabei ist der Weg des Bösen leicht einzuschlagen, oft nicht im ersten Moment erkennbar, während der Weg für das Gute stets Mut und Entschlossenheit erfordern. Das Gute umfasst die Liebe, das Vertrauen und die Freude. Aber Freude empfinden auch böse Menschen. Freude über begangene Untaten, Freude über gelungene Streiche, Freude über errungene Siege. Allerdings hält diese Freude nie lange an, sie verwandelt sich viel zu schnell in Einsicht, in Un-verständnis und schließlich in Angst, denn böse Menschen sind vor allem ängstlich und feige.

Im Leben kommt es auf drei Dinge an: Gut sein, Gut werden, oder aufgeben. Die Bösen haben irgendwann aufgegeben, gut sein zu wol-len und sind nun auf ihrem Weg, alle anderen vom selben Scheitern zu überzeugen. Wenn die Bösen schon nicht glücklich werden kön-nen, so ihre Philosophie, dann sollen auch alle anderen das nicht sein. Gewalt, Aggressivität, Unmenschlichkeit und Intoleranz bestimmen ihr kurzes Leben. Liebe verwechseln sie mit glücklosem, leerem Sex. Geld, Hass und Lügen bestimmen ihr Denken und Handeln.

Die vorliegende Geschichte erzählt vom Einfluss des Bösen auf alle Mitglieder einer Gesellschaft, vom langsamen Wandel und schließ-lich vom Ausbruch offener Gewalt. Dabei vermag der geneigte Leser die oder den Schuldigen leicht zu erkennen. In unserer realen Welt, in unserem täglichen Leben gibt es den EINEN Schuldigen ganz sel-ten oder gar nicht. Seine Getreuen sind uns aber wohl vertraut, sie begegnen uns täglich auf der Straße, in den Medien, sogar in unse-ren Familien.

Wer hat sie angestiftet? Wer bringt sie zurück in den Schoß der Menschen? Wann ist der Zeitpunkt verpasst, an dem man alles noch regeln, noch in Ordnung bringen könnte?

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All diese Fragen kann niemand mit absoluter Sicherheit beant-worten. In einem Buch, in einer Geschichte ist es viel leichter, die Protagonisten ihrem Gewissen folgen zu lassen, die Moral siegen zu lassen. In der Realität bedarf es richtigen Mutes realer Menschen, die sich dem Bösen unerschrocken entgegenstellen und eine Verän-derung einleiten. Wenn es dann keine breite Basis in der Bevölke-rung gibt, die diese entschlossenen Menschen unterstützt, bleiben alle Versuche in der Zeit stecken und letztendlich wird das Böse, das Unvernünftige dennoch siegen.

Doch wie soll man das Böse aufhalten, wenn man es endlich er-kannt hat? Das ist eine sehr schwierige Frage und sie lässt sich nicht mit einer einzigen Antwort zufriedenstellen. Die Antworten müssen vielmehr jeden Tag neu gesucht und gefunden werden.

Die vorliegende Geschichte nimmt nicht in Anspruch, alle Ant-worten zu kennen. Sie ist nur eine von unendlichen vielen Mög-lichkeiten, wie Menschen auf die Versuchungen des Bösen reagieren können.

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Kapitel 1

Rainer erwachte an diesem Samstagmorgen kurz nach halb sechs in der Frühe. Seine Gedanken kreisten noch um einen seltsamen, aber äußerst erotischen Traum. Da war so eine unbekannte, äußerst attraktive Frau mit nichts bekleidet außer einem bezaubernden Lä-cheln, die ihn an seine Frau erinnert hatte, ein wirklich wohltuen-des Gefühl. Als er sich auf die Seite drehte, fiel sein Blick auf eine zurückgeschlagene Bettdecke. Seine Frau war schon aufgestanden. Mist, dachte er, jetzt habe ich schon einmal ordentlich Lust und dann ist niemand da, den das interessiert. Der Tag fing ja gut an.

Er drehte sich wieder auf den Rücken und versuchte, das Traum-bild zurück zu holen, um darin noch ein wenig zu schwelgen. Doch es gelang ihm nicht. Der Tag erwartete ihn und er wusste das. Am nächsten Samstag würde er 51 werden. Keine große Sache, nicht einmal sein fünfzigster Geburtstag war erwähnenswert, nicht für ihn und nicht für seine Bekannten.

Sie lebten in einer kleinen Stadt mit dem klingenden Namen Ar-banow, mit nicht ganz zehntausend Einwohnern. Die Stadt lag hoch im Norden am eisigen, stürmischen Ozean, den alle nur das Eis-meer nannten. Ein Sommer hier war kurz und nicht sehr warm. Die Menschen hatten sich diesem Klima angepasst und blieben in vielen Situationen gelassener, als die Südländer. Hier oben in der Gegend passierte nicht sehr viel. Der stetige Wechsel der Jahreszeiten war schon das Aufregendste, was den Leuten hier auffiel. Doch das sollte sich bald ändern. Unbemerkt hatte sich eine Macht unter die Bevöl-kerung geschlichen, die dem beschaulichen Dasein ein Ende setzen wollte.

Rainers Sohn hatte zum 50. Geburtstag seines Vaters ebenfalls keine großen Anstrengungen unternommen. Eine kurze SMS mit einem schlichten Glückwunsch erreichte Rainer am späten Abend seines Ehrentages, aber er hatte sich dennoch darüber gefreut.

Schließlich hielt Rainer es nicht mehr im Bett aus und stand auf. Seit er das Rauchen endgültig aufgegeben hatte und das waren jetzt

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schon sechs Jahre, hatte er an Gewicht zugelegt. Sein Bauch war wirklich schwabbelig geworden, trotz seiner Bemühungen, sich fit zu halten. Obwohl schwabbelig nicht das richtige Wort war. Er hatte einen Bauch bekommen und wurde ihn nicht mehr los. Er jogg-te, ließ das Auto lieber stehen und erledigte seine Gänge durch die Stadt meist zu Fuß. Doch er hatte immer öfter das Gefühl, er würde schon durchs Einatmen kalorienreicher Düfte zunehmen. Diäten nützten da gar nichts. Auch wenn er die Fünfzig überschritten hatte, glaubte er immer noch an eine Figur, die er eigenverantwortlich for-men konnte, durch Sport, Verzicht und Disziplin. Leider waren die Erfolge sehr gering und ließen ihn langsam aber sicher an seinem Konzept zweifeln.

Schnell wandte er sich vom großen Spiegel ab. Solcherlei Gedan-ken wollte er heute erst gar nicht aufkommen lassen. Er hatte von einer Frau geträumt, die ihn wollte, wirklich wollte. Also konnte er noch nicht sooo hässlich und dick aussehen.

Sein Bademantel hing nicht am dafür vorgesehenen Haken. Mit einer Hand am Kopf kratzend sah er sich auf dem Boden um. Doch da lag er auch nicht. Verdammt, warum mussten diese Dinger sich auch immer über Nacht davon schleichen?! Da fiel ihm ein, dass er seinen Bademantel selbst im Bad hängen gelassen hatte.

Die Kinder seiner Frau, seiner dritten Frau, waren bereits erwach-sen und übers Wochenende bei ihrem leiblichen Vater zu seinem Geburtstag eingeladen. Sie hatten gestern dieses Haus verlassen. Deshalb durfte er in seinem Schlafanzug durchs Haus wandeln und musste keinen Bademantel darüber tragen. Nun, das wäre geklärt, dachte er und machte sich auf den Weg nach unten ins Badezimmer. Auf der Treppe spürte er wieder seine Gelenke. Sie knackten und versprühten einen brennenden Glanz durch seinen Körper. Alt wer-den, dachte er, war wirklich ein schmerzhaftes Abenteuer. Aber be-klagen würde er sich darüber nicht. Schließlich bezeichnete er sich selbst als ein wirklich hartes Stück Mensch, das einiges einstecken konnte.

Unten im Bad brannte Licht. Seine Frau Karin hatte geduscht und stand jetzt in ein Handtuch gehüllt an der geöffneten Balkontür. Ihre kleine Hündin Tina trollte auf der gerade frisch gesäuberten Terras-

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se umher und suchte nach dem perfekten Platz für ihr Morgenge-schäft.

Karin war 2 Jahre jünger als er und bastelte hartnäckig an ihrer gemeinsamen Zukunft. Vor drei Jahren wurde sie geschieden. Ihre Ehe war damals nur noch ein Schatten, der nicht nur ihr Leben ver-dunkelte, sondern auch das ihrer Kinder. Der Gang zum Anwalt war ihr nicht leicht gefallen und ihr damaliger Ehemann ließ sie deutlich spüren, was er davon hielt.

Doch letztendlich schaffte sie den Sprung in eine ungewisse, fi-nanziell äußerst fragwürdige Zukunft. Sie fing wieder an zu arbei-ten, wechselte ihren Bekanntenkreis und lernte Rainer kennen.

Diese neue Liebe war anders. Rainer war anders und doch wollte oder konnte sie dem Ganzen noch nicht so richtig trauen, immerhin war ihre erste Ehe auch in die Brüche gegangen. Wer sagte ihr, dass das nicht wieder geschehen würde? Rainer? Der schon, nur durfte sie dem nicht einfach so glauben. Ihre Beziehung musste schon die eine oder andere Belastungsprobe überstehen, keine Frage. Doch welche würde die letzte sein?

Rainer sah das alles ein wenig entspannter. Er hatte immerhin schon zwei Ehen in den Sand gesetzt. Seine erste Frau heiratete er im zarten Alter von 24 Jahren. Sie war bereits vor der Ehe schwanger und seine Großeltern hatten darauf gedrängt, dass das Kind seinen Namen trug.

Schon während der Trauung wusste er, dass das ein einziger gro-ßer Fehler war. Er liebte diese Frau, die Mutter seines Sohnes, nicht. Es war eine Schwärmerei gewesen, die sie beide aus Mangel an Er-satz aufrechterhalten hatten. Der Ersatz tauchte dennoch irgend-wann auf, zumindest für seine erste Frau und sie reichte daraufhin die Scheidung ein, bei der sie deutlich machte, dass das alles allein seine Schuld sei und sie die alleinige Leidtragende in diesem Drama war.

Das Gericht folgte ihren Argumenten. Natürlich! In dieser Zeit war es für Ehemänner in diesem Land äußerst schwierig vor Ge-richt eine halbwegs humane Figur abzugeben. Niemand glaubte einem jungen Mann, der von einer Frau verlassen wurde, die ihm einen Sohn geschenkt hatte. Die nebensächliche Tatsache, dass sie

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die Scheidung eingereicht hatte und sie bereits in einer neuen Zwei-samkeit schwelgte, änderte nichts an der Tatsache, dass dieser Vater abgestraft werden musste.

Rainer wusste das alles und hatte sich gefügt. Es hätte nichts ge-bracht, sich dagegen wehren zu wollen. Er war nun einmal schuldig und daran würden Trotz oder aufmüpfige Gedanken nichts ändern. So verschwand seine erste Frau aus seinem Leben, aber leider auch sein Sohn. Lange Zeit hatte er keinen Kontakt zu ihm, weil sie es nicht wollte.

Doch sein Leben ging natürlich weiter. Er beendete sein Studium und wurde Software-Ingenieur, ein Beruf, der gerade sehr gefragt war. Arbeit hatte er also genug. Einsamkeit und Langeweile be-stimmten viele Jahre seine Freizeit, bis er seine zweite Frau kennen-lernte.

Sie war erheblich jünger als er, 18 Jahre um genau zu sein, und an-fangs sonnte er sich in dem Glauben, so junges Gemüse immer noch für sich gewinnen zu können. Es schmeichelte seiner Eitelkeit und deshalb übersah er vieles, wollte es gar nicht wahrnehmen. Aber ir-gendwann kam der Zeitpunkt und er musste sich fragen, was ihn wirklich noch an diese Frau band. Sex war es nicht, denn den wollte sie schon lange nicht mehr mit ihm. Sie wollte Sicherheit, ein ange-nehm gefülltes Konto und ansonsten ihre Freiheit. All das hatte sie bei ihm bekommen und sie wollte auch nicht mehr die Beine für ihn öffnen, diesen Teil ihrer Freiheit übernahmen mittlerweile Jüngere.

Mit 45 Jahren war Rainer ein zweites Mal geschieden und allein. Ihm wurde klar, dass er wohl nicht dafür geschaffen war, eine länge-re Beziehung aufrecht zu erhalten. Wobei der Begriff längere Bezie-hung dehnbar war. Das konnte Jahre bedeuten, aber auch nur Wo-chen oder Tage. Er nahm sich nicht mehr vor, die Frau fürs Leben zu finden. Die gab es anscheinend für ihn nicht, oder sie war bereits vergeben und durchlebte den gleichen irren Zirkus wie er auf der Suche nach dem perfekten Match. Als er Karin dann begegnete, war er vorsichtig, zurückhaltend, aber zielstrebig. Er wollte nicht mehr allein leben, allein frühstücken, allein einschlafen und aufstehen müssen. Heute war er wieder allein erwacht und nun küsste er Karin in den noch feuchten Nacken.

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Sie hielt eine kleine Kaffeetasse in der Hand und freute sich über seine morgendliche Begrüßung. Es gab Tage, da war sie fest über-zeugt, dass er sie lieben würde und nichts sie trennen konnte. So wie heute.

„Guten Morgen. Ich konnte nicht mehr schlafen und bin schon mal unter die Dusche gegangen.“, raunte sie ihm ins Ohr.

„Ja, ist mir aufgefallen. Aber ich kann dir versichern, dass du den Tag auch auf eine andere, vielleicht sehr angenehmere Weise hättest beginnen können.“

Karin drehte sich langsam um und sah ihm in die Augen. Sie hatte verstanden und schmunzelte erregt. Die Kaffeetasse stellte sie halb leer auf den Terassentisch, ließ ihr Badehandtuch fallen und zog Rainer mit sich zur Treppe. Der ließ sich willig mitziehen und freute sich auf den nun doch noch stattfindenden Frühsport.

Zwei Stunden später wurde es Zeit, die Aufgaben des Tages in An-griff zu nehmen. Rainer betrieb eine kleine Soft-Ware-Entwicklungs-firma mit bescheidenem Erfolg. Der ganz große Wurf war ihm und seinen Mitarbeitern nie geglückt, doch ließ er sich dadurch nicht entmutigen. Er war sein eigener Chef, verdiente genug für sich und seine Bedürfnisse, musste keine intriganten Menschen ertragen, fand nach wie vor Spaß bei der Arbeit und fühlte sich einfach wohl dabei.

Die Samstage verbrachte er in seiner Firma mit Büroarbeit, die mit jedem Jahr umfangreicher wurde, da sich der Gesetzgeber wirklich Mühe gab, sich immer neue, aufwendigere Schikanen einfallen zu lassen und sie als absolute Notwendigkeit verkaufte.

Als er an diesem Samstagmorgen vor die Tür trat, fing es gerade an zu regnen. Unschlüssig darüber, wie er nun in seine Firma gelangen sollte, blieb er stehen und sah sich den Himmel an. Es würde nicht aufhören mit dem Regen, so viel stand fest. Also drehte er sich wie-der um und suchte im Flur nach seinen Autoschlüsseln.

Er fand sie am Haken über der Tür, genau dort, wo sie sein sollten. Karin wünschte ihm einen angenehmen, produktiven Vormittag und gab ihm einen Abschiedskuss. Sein Weg ins Büro dauerte nicht lange, es waren nur etwa viereinhalb Kilometer.

Karin machte sich an den Hausputz. Sie liebte Reinlichkeit und in-vestierte dafür eine Menge Schweiß, Zeit und Elektrizität. Sie besaß

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gleich vier Staubsauger, so musste sie die schweren klobigen Dinger nicht immer durch das gesamte Haus schleppen.

Als sie mit der Küche und dem Wohnbereich zufrieden war und sich auf den Weg machte, die oberen Räumlichkeiten zu säubern, bemerkte sie einen Schatten am Fenster. Der huschte vorbei, ehe sie erkennen konnte, wer oder was das war. Zuerst dachte sie, ihr Rai-ner hätte etwas vergessen und kam wieder zurück. Doch der Schat-ten hatte sich an der Tür vorbei zur Hintertür des Hauses bewegt. Das konnte also Rainer gar nicht sein, denn er besaß keinen Schlüs-sel für die Hintertür.

Verdutzt ging sie zur Vordertür und öffnete sie mit einem Ruck. Die Einfahrt war leer, nur ihr kleiner, schwarzer City-Flitzer stand neben der Garage und wartete auf eine Wagen-Luxus-Wäsche, die Karin ihm schon vor zwei Wochen versprochen hatte.

Kopfschüttelnd schloss sie die Tür und ging durch das Haus zur hinteren Haustür, um dort nachzusehen. Doch da war ebenfalls niemand. Sie wollte die Begebenheit schon als Trugschluss abtun, als sie auf dem Weg draußen vor der Tür einen Schuhabdruck entdeck-te. Ein einziger Abdruck, recht deutlich und garantiert sehr frisch. Was sollte das? Wer marschierte hier um ihr Haus und hinterließ solche dummen, auffälligen Spuren? Da fing Tina plötzlich an zu bellen. Irgendjemand oder irgendetwas musste im Garten, auf der anderen Seite des Hauses unterwegs sein und Tina, die kleine Mi-schlingshundedame hatte es entdeckt. Karin rannte durch den Flur, durch das Arbeitszimmer, die Küche zur Terrassentür und spähte hinaus. Ganz am Rande ihres Gesichtsfeldes konnte sie eine Gestalt erkennen, die sich schleunigst vom Acker machte.

Nun schon recht wütend riss Karin die Terrassentür auf und eilte dem Unbekannten hinterher. Sie wollte ihn zur Rede stellen. Was fiel ihm ein, hier herumzuschleichen und in fremde Fenster zu star-ren? Aber als sie um die Ecke kam, fand sie niemanden, sah keine menschliche Gestalt, nichts. Auch auf der Einfahrt war nichts zu se-hen, dabei konnte der Kerl noch gar nicht die ganze Einfahrt hinter sich gebracht haben. Dafür hatte er einfach keine Zeit gehabt.

Unsicher geworden drehte Karin wieder um, ging zurück ins Wohnzimmer und wusste nicht so recht, was sie jetzt machen sollte.

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Da klingelte es an der Tür und sie erschrak heftig. Sie spürte ein Kribbeln, das unter der Kopfhaut begann und langsam durch ihren gesamten Körper rieselte.

Erst als die Klingel ein zweites Mal betätigt wurde, gelang es ihr, sich in Bewegung zu setzen. Mit leicht zitternder Hand öffnete sie die Tür und erkannte den Postboten im ersten Moment nicht.

Erst als der ihr das Paket vor die Brust drückte, nahm sie ihn be-wusst war und holte laut Luft. Der Postbote sah sie besorgt an und fragte: „Alles in Ordnung bei Ihnen? Sie sehen echt blass aus!“

Karin versuchte zu lächeln und erwiderte: „Danke der Nachfrage, aber ich bin nur ein wenig zu schnell aufgestanden. Das ist alles. Wo soll ich unterschreiben?“

Der Postbote hielt ihr das elektronische Gerät unter die Nase und Karin unterschrieb mit dem daran baumelnden Stift. Endlich ver-drückte sich der Postbote und Karin konnte die Tür wieder schlie-ßen. Das Paket stellte sie achtlos in den Flur. Die Röcke und das Kleid darin interessierten sie im Moment nicht. Sollte sie Rainer an-rufen und ihn bitten, nach Hause zu kommen?

Nein, sie entschied sich dagegen. Was sollte sie ihm sagen? Dass sie aus dem Augenwinkel jemanden gesehen hatte? Würde er ihr das glauben? Da fiel ihr wieder dieser Schuhabdruck ein. Schnell schnappte sie sich ihr Handy, eilte zur hinteren Haustür, riss sie auf und suchte nach diesem verdammten Abdruck. Fast rechnete sie schon damit, ihn nicht mehr finden zu können. Doch da war er, deutlich und drohend.

Karin suchte mit unsicheren Händen nach der richtigen Taste und machte gleich mehrere Bilder von diesem Abdruck, der sie zu bedrohen schien, der hier auf ihrem Grund und Boden nichts zu suchen hatte. Dann sah sie sich nach einem Besen um und fegte die Spur sorgfältig weg. Nun war nichts mehr von dem Abdruck zu se-hen, der Weg zur hinteren Tür sah so unberührt aus, als wäre noch nie jemand dort entlanggegangen.

Wieder zurück im Wohnzimmer suchte Karin nach dem Festnetz-telefon. Auf der Station war es nicht, natürlich nicht. In den seltens-ten Fällen war das Telefon an dem Platz zu finden, an dem es per Definition sein sollte. Ihr Jüngster telefonierte oft und viel mit sei-

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nen Freunden und verschleppte dabei das Telefon überall hin, ließ es dann dort liegen und vergaß es. Wenn jemand anderes telefo-nieren wollte oder musste, stand immer zuerst die Suche nach dem Mobilteil an. Doch dafür hatte sie im Moment keine Nerven. Sie benutzte ihr Handy, denn das hatte sie ja schon in der Hand.

Die Nummer für Rainers Büro hatte sie nicht gespeichert, aber sie kannte sie auswendig. Schnell war die Nummernfolge eingetippt und sie hörte das Klingelzeichen am anderen Ende der Leitung, auch wenn das gar nicht mehr stimmte, das mit der Leitung. Jeden-falls klingelte es am anderen Ende, doch nahm niemand ab. Karin sah auf die Uhr und überlegte, ob Rainer noch unterwegs sein konn-te. Doch wenn er nicht noch vorher woanders hin wollte, musste er schon längst im Büro sein. War er vielleicht im Haus unterwegs und kam deshalb nicht ans Telefon? Karin legte erst einmal wieder auf und sah sich nach einer Beschäftigung um, die sie die nächsten zehn Minuten ablenken würde.

Sie schnappte sich Tina, knüpfte die Hundeleine an ihr Halsband und zog sich selbst Schuhe und Jacke über. Sie wollte mit Tina eine kleine Runde um die Häuser drehen. Vielleicht entdeckte sie ja ei-nen herumlungernden, dreckigen, fiesen Bösewicht, der um Häuser schlich, in denen er ganz sicher nicht wohnte und konnte noch eini-ge Beweisfotos mehr schießen.

Tina freute sich über die unerwartete Aufmerksamkeit. Eine Ext-ra-Runde durch so viele interessante Gerüche war ihr jederzeit will-kommen. Aufgeregt wackelte sie mit ihrem buschigen Schwanz und sah Karin mit ihren großen, schwarzen, glänzenden Augen freudig erregt an. „Ja, meine Kleine, wir gehen jetzt eine Runde und wenn wir diesen Mistkerl erwischen, was ich nicht glaube, aber wenn wir den sehen, dann fällst du über ihn her und reißt ihn zu Boden. Ich rufe dann schnell die Polizei und die bringen einen Orden für dich mit, den du dann gleich verputzen kannst, denn Hundeorden sind aus Leckerlis gemacht.“ Tina sah sie weiterhin an, verstand kein Wort und wartete geduldig darauf, dass es endlich losging. Sie wuss-te, dass Frauchen vorher immer so ein Gewese darum machte, dass sie nun endlich raus durfte. Tina nahm an, dass alle Menschen so einen Unsinn mochten, aber sie waren eben auch keine Hunde und

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erkannten nicht, was für einen überflüssigen Quatsch sie da veran-stalteten. Endlich schien sie ausgelabert zu haben, denn die Tür öff-nete sich und Tina bekam den ersten richtigen Schwall Außenluft ab. In der Luft waren die verschiedensten Gerüche. Auch einer, den sie noch nie vernommen hatte. Dieser Geruch war dunkel, machte ihr Angst und doch war sie neugierig darauf. Etwas in dem Geruch stachelte sie an, ließ sie suchen, herumschnüffeln, an der Leine zer-ren. Karin sah ungläubig auf ihre kleine Hündin.

Sie war schon alt, nach Hundemaßstäben uralt und zog im All-gemeinen nicht mehr so heftig an der Leine. Doch heute schien sie einem Duft zu folgen, der sie ungemein zu fesseln verstand.

Karin dachte flüchtig an den Unbekannten, den sie bemerkt, aber nicht gesehen hatte. Vielleicht konnte Tina seiner Duftspur folgen und sie, Karin, käme doch noch zu ihrem Wutausbruch, den sie viel lieber dem herumlungernden Bösewicht vor die Füßen knallen würde, als ihrem Rainer, der solche Dinge viel zu oft abbekam, aus Mangel an wirklich schuldigen Gegnern.

Aber Tina verlor die Spur. Plötzlich drehte sie sich nur noch im Kreis und sah dann hilfesuchend zu Karin auf. Die beugte sich hin-unter und streichelte Tina den Kopf. „Sei unbesorgt. Du musst mir nichts beweisen. Ich werde den Mistkerl schon kriegen. Falls der sich noch ein einziges Mal auf unseren Hof traut, werde ich ihm persönlich den Arsch aufreißen.“

Tina spürte die Angst hinter den Worten und schmiegte sich an die schlanken Beine ihrer Herrin. Gemeinsam gingen sie die klei-ne Runde. Einmal über die Straße, die hübsche schattige Allee hi-nunter, links über den kleinen Parkplatz, auf dem Tina gern den Tauben nachjagte und schließlich durch die Einbahnstraße wieder zurück nach Hause. Tina setzte ihre Marken, schaffte sogar ein zu-sätzliches Häufchen, von dem sie wusste, dass ihre Herrin sich aus unerfindlichen Gründen immer darüber freute, sie dafür lobte und ihr Geschäft danach einsammelte. Eigens dafür gekaufte durch-sichtige Dinger hatte ihre Herrin immer dabei, als wenn sie genau wüsste, dass sie, Tina, auch ein großes Geschäft in petto hatte. Dabei gab sich Tina immer die größte Mühe, nichts vorher zu verraten. Dennoch hatte sie Karin noch nie ohne diese durchsichtigen Din-

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ger irgendwo in einer Tasche mit ihr aus dem Haus gehen sehen. Rainer, ihren menschlichen großen Liebling, schon. Der schaute dann, wenn sie ihren kleinen Haufen abgesetzt hatte, schon mal in alle Richtungen und klärte ab, ob jemand zugesehen, wie gut sie ein Häufchen gemacht hatte und wenn er sich einigermaßen sicher war, dass sie nicht gesehen wurden, wobei das gesehen werden nur auf die Zweibeiner zutraf, denn andere Vierbeiner durften ruhig zuse-hen, dann ging er schon mal einfach so weiter, ohne die Hinterlas-senschaft mitzunehmen. Tina wusste nicht genau, warum Rainer das so machte, aber sie schätzte, dass er selber in der Lage war, seine Häufchen irgendwo zu hinterlassen, während Karin das nicht konn-te und deshalb immer ihre, Tinas, klaute, wahrscheinlich um selbst damit angeben zu können.

Wieder zuhause stand Karin vor der Haustür und konnte sich nicht entscheiden hineinzugehen. Tina sah sie an und stupste sie leicht an die Wade. Das hatte bisher immer gewirkt. Doch heute be-merkte Karin das scheinbar gar nicht. Langsam drehte sie sich wie-der um und ging auf eine der Garagen zu. Tina blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.

Karin steuerte auf ihr Fahrrad zu, schloss es auf und schob es auf den Vorplatz. Tina wusste, was nun kommen würde. Karin hob sie hoch und setzte sie in den vorderen Fahrradkorb. Tina liebte es, dort mitfahren zu dürfen. Der Wind verfing sich in ihren großen Schlappohren, brachte eine Vielzahl von unbekannten, spannen-den Gerüchen mit und sie konnte auf diese Weise ein viel größeres Gebiet kontrollieren, durchstreifen, erkunden, als sie es mit ihren kurzen Beinen jemals hätte schaffen können. Die Vorstellung, jetzt in ihrem Haus allein auf Rainer warten zu müssen, immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass der Kerl jederzeit wieder auftauchen könnte, war Karin zuwider. Sie hatte beschlossen, Rainer in seinem Büro zu besuchen. Der Weg war nicht weit, das Wetter nicht so schlecht wie noch vor einer Stunde, also war eine kleine Radtour ge-nau das Richtige für sie. Ihre Nerven waren aufs Äußerste gespannt, sie musste sich beruhigen.

Schon ein wenig entspannter, da sie sich für diesen Weg entschlos-sen hatte, schob sie ihr Fahrrad über die Auffahrt bis zur Straße. Im

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Korb machte Tina es sich bequem und schien sich offensichtlich auf die kommende Radtour zu freuen. Schön, dachte Karin, wenigstens ist hier ein Mitglied meiner Familie guter Dinge und freut sich auf das, was da kommen mag.

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Kapitel 2

Rainer saß angespannt an seinem Schreibtisch. Seit er heute Mor-gen aufgestanden war, spürte er eine innere Unruhe, die ihm schon lange nicht mehr so zu schaffen gemacht hatte. Sein Leben hatte sich durch Karin entscheidend verbessert, sein Job machte ihm weiter-hin Spaß, es gab genug Herausforderungen und ab und an stellte sich richtig guter Erfolg ein. Äußerlich betrachtet war sein Leben also in bester Ordnung.

Doch durfte er die innere Unruhe auch keineswegs außer Acht lassen. Irgendetwas stimmte nicht, das spürte er ganz deutlich, nur konnte er beim besten Willen nicht erkennen, was das sein sollte.

Fahrig durchsuchte er seinen Schreibtisch. Da waren einige Rech-nungen, unbearbeitete Störungsmeldungen, Teile einer neuen Pro-grammierung, die seiner Kontrolle harrten, zwei Bewerbungen für die Stelle der Sekretärin, die endlich durchgesehen werden sollten.

Er entschied sich für die Bewerbungen, für die Programmierung brauchte er volle Konzentration, das konnte er nicht mal eben so nebenbei erledigen. Dabei war er immer so stolz auf seine Konzen-trationsfähigkeit gewesen. Er konnte sich jederzeit und überall auf eine bevorstehende, wichtige Aufgabe konzentrieren, unabhängig von der Tages- oder Nachtzeit. Das Wichtigste zuerst, so hatte er es im Studium gelernt und beibehalten. Doch heute Morgen schien das nicht zu funktionieren. Immer wieder schweiften seine Gedan-ken ab. In seiner Hose meldete sich sein bester Freund und malt-rätierte ihn, in dem er sich versteifte und nach Aufmerksamkeit verlangte.

Rainer fuhr sich mit der rechten Hand durch das immer lichter werdende Haar und flüsterte: „Nun mal langsam. Du bist über fünf-zig und hast es nicht mehr nötig, dir mit der Hand Erleichterung zu verschaffen. Du kannst warten. Im Übrigen ist es egoistisch, einen Orgasmus ohne seine Liebste zu feiern.“ Seinem Freund schien das egal zu sein. Er pulsierte und klopfte gegen die Enge in der Hose, als würde es für ihn um Leben und Tod gehen.

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Rainer beschloss, ihn einfach zu ignorieren und zog die Bewer-bungsunterlagen aus dem großen braunen Umschlag. Seit Neues-tem wurden Bewerbungsunterlagen nur noch ohne Foto geprüft. So wollte man vermeiden, dass weniger attraktive Bewerberinnen nicht von vornherein aussortiert wurden und mögliche Chefs sich nicht schon bei der Bearbeitung der Bewerbung in wilden Fantasien ergossen. Rainer hielt das für ausgemachten Blödsinn. Er wollte wis-sen, wie seine zukünftige Mitarbeiterin aussah. Immerhin musste er mit ihr auskommen und dass es Faktoren gab, die eine sinnvolle Zusammenarbeit von Anfang an ausschlossen, war unbestreitbar und diese Faktoren konnte man mitunter schon an einem guten Foto ablesen, ohne dabei gleich an hemmungslosen, schmutzigen, verbotenen Sex denken zu müssen. Nun, er hatte hier kein Foto, also musste er sie zu einem Vorstellungsgespräch einladen und sie in Na-tura beurteilen. Mit der Bewerbung kam er also nicht weiter. Das verbesserte seine Laune nicht die Bohne und er nahm sich nun doch die Programmierung vor.

Für eine Weile vertiefte er sich in die Zeilen, ging jeden Befehl durch, prüfte ihn auf Logikfehler und verglich ihn mit anderen Möglichkeiten, die denselben Effekt hervorrufen würden.

Eine Gestalt schnüffelte außen am Gebäude entlang und sah sich immer wieder um. Niemand nahm sie wahr, niemand schien sie überhaupt sehen zu können. Radfahrer, Spaziergänger, Moped-Fah-rer und Inline-Skater ignorierten sie und würdigten diesem Schat-ten nicht die geringste Aufmerksamkeit. Die Gestalt nickte langsam. So wollte sie es haben, so sollte es sein. Sie konnte also ungestört ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen – der Zerstörung mensch-lichen Lebens.

Rainer spürte an seinem Schreibtisch sitzend eine Verschärfung der Unruhe in seinem Unterleib. Die Steifheit seines Gliedes nahm immer besorgniserregende Ausmaße an. Seit seiner Jugend hatte der nicht mehr so gepocht und nach Aufmerksamkeit verlangt. Schließ-lich legte er die eng bedruckten Computerausdrucke beiseite und öffnete die Hose. Sofort schnellte der Penis heraus und streckte sich. Die geräumige Unterhose ließ ihm dafür genug Freiraum. Rainer

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schloss die Augen und begann mit der rechten Hand seinem besten Freund einen Dienst zu erweisen.

Karin stellte ihr Fahrrad auf dem kleinen Hinterhof des Bürokom-plexes ab, hob Tina aus ihrem Korb und setzte sie behutsam auf dem steinigen Boden ab. Die Fahrt zu Rainers Büro verlief ohne Kom-plikationen. Der Regen hatte aufgehört, die Pfützen waren nicht so zahlreich wie erwartet.

Tina schnupperte zunächst wie immer ein wenig am Haus und auf dem Vorplatz herum, blieb dann aber wie erstarrt stehen und bellte aufgeregt. Karin sah sich um und suchte nach der Ursache für Tinas Wutausbruch, der meist durch einen anderen Vierbeiner ausgelöst wurde, konnte aber nichts entdecken und beugte sich zu Tina hinunter.

„Hey, kleine Dame, hier ist keine Konkurrenz, also halte dich zu-rück und sei lieb. Wenn wir so einen Lärm veranstalten, wird Rainer uns nicht lange dulden und dann müssen wir wieder allein nach Hause. Das wollen wir aber tunlichst vermeiden, alles klar?“

Tina sah sie an, verstand aber wieder kein einziges Wort. Die Men-schen gingen immer davon aus, dass Hunde die primitive Sprache der Zweibeiner verstanden. Dabei war jedem Hund klar, dass eine einigermaßen sinnvolle Verständigung allein über Gerüche, Gesten und einige wenige Knurrgeräusche klappen konnte. Tina nahm also an, dass ihre menschliche Freundin sie wieder einmal lobte und er-wartete eine Belohnung, die allerdings ausblieb. Menschen verstan-den Hunde eben nie richtig, umgekehrt sah das anders aus.

Karin führte Tina um das Haus herum zum Haupteingang an der Straße. Es gab noch einen Hintereingang, aber der wurde aus-schließlich als Notausgang benutzt und konnte nur von innen ge-öffnet werden. Das Büro ihres Lebensgefährten befand sich in der ersten Etage, die von außen wie ein etwas angehobenes Erdgeschoss wirkte, da das eigentliche Erdgeschoss recht tief angelegt war. Die meisten Leute, die sich hierher verirrten, stutzten über die Bezeich-nung und schüttelten dann den Kopf. Das Erdgeschoss war eigent-lich der Keller und der erste Stock das wirkliche Erdgeschoss. Rai-ner führte dann immer an, dass in dieser Betrachtungsweise dieses

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Haus zwei Kellergeschosse besäße. Kellergeschoss 1 und 2. Aber spätestens dann schalteten alle Besucher ab und brauchten danach eine Weile bis sie zum eigentlichen Anlass ihres Besuches kommen konnten.

So erging es auch Karin. Kopfschüttelnd versuchte sie sich an den Grund für ihr Hiersein zu erinnern. Sie wollte, dass Rainer mit ihr nach Hause kam und den Tag mit ihr verbrachte. Dann konnte sie ihm von ihrem Erlebnis erzählen und vielleicht glaubte er ihr ja auch und würde mit ihr überlegen, wie sie den Mistkerl doch noch erwischen konnten.

Plötzlich verspürte Karin eine Kälte in sich aufsteigen, die nur Tote wirklich kannten und sah sich um. Hier war niemand außer ihr und Tina. Und Tina streckte ihre kleine Stupsnase in den Wind, schnupperte, rieb sich die Nase an der Pfote und schnupperte er-neut, um dann winselnd dicht an Karin heran zu huschen und mit eingeklemmtem Schwanz zu ihr aufzusehen. Karin beugte sich hin-unter und streichelte sie gedankenverloren am Kopf.

„Hey, es war nicht so gemeint. Du darfst natürlich bellen, wann immer du willst, aber hier ist nichts und niemand. Komm, lass uns schnell Rainer suchen.“

Karin ging an dem Fenster vorbei, das zu dem Büro ihres Mannes gehörte und blieb abrupt stehen. Die Vorhänge waren zurückgezo-gen und gaben den Blick ins Innere frei. Was sie dort sah, ließ sie er-starren. Ihr Lebensgefährte saß mit herabgelassener Hose in seinem Schreibtischstuhl und genoss mit geschlossenen Augen die Nach-barin, die ihren Kopf zwischen seinen Beinen auf und ab bewegte.

Auch sie war ziemlich nackt. Karin war schockiert, sie konnte sich keinen Zentimeter bewegen. Alles in ihr schrie, doch nichts drang nach außen.

Schließlich beendeten die zwei ihr Vorspiel auf dem Schreib-tischstuhl und die Nachbarin legte sich breitbeinig auf den Schreib-tisch. Dabei sah sie Karin genau in die Augen und zwinkerte ihr zu.

Mit einer schier unmenschlichen Kraftanstrengung gelang es Ka-rin schließlich, sich umzudrehen und den Weg zurück zu ihrem Fahrrad einzuschlagen. Starr vor Enttäuschung, entsetzt wegen des Vertrauensbruches und wütend über den geilen Wichser, der nur

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das Eine im Kopf zu haben schien, machte sie sich mit ihrem Fahr-rad auf den Heimweg. Der Störenfried an ihrem Haus war verges-sen, ihre Zukunft aber auch.

Rainer hielt im letzten Moment inne. Kurz vor dem Samenerguss hörte er auf, an sich selbst herum zu reiben. Er fand es mittlerweile lächerlich. Da hatte er eine Frau, echt sexy und wirklich frei von zu vielen Hemmungen, und machte sich hier am Samstagvormittag am Schreibtisch seines Büros einen handgemachten Orgasmus, der ihn nicht einmal zehn Sekunden lang befriedigen würde?! Nein, so woll-te er sein Leben nicht gestalten. Er war der festen Überzeugung, dass eine Partnerschaft auf Vertrauen basierte, dass sie nur funktionierte, wenn beide sich aufeinander verlassen konnten. Und dazu gehört eben auch, dass sich nicht gleich jeder Partner, wenn er vor Geilheit kaum noch laufen konnte, zurückzog und die Sache selbst in die Hand nahm. Er würde also warten und heute Nachmittag vielleicht mit seiner Frau ein herrliches Mittagsstündchen in Angriff nehmen und dann zum Abschluss kommen, hoffentlich und alles sprach da-für, dass es wahr werden würde.

Leise lächelnd zog er sich wieder an, schaute zum Fenster hinaus und schüttelte den Kopf. Ihm war doch gerade eben so, als hätte er sie leibhaftig gesehen, seine schöne Karin.

Doch die war zuhause und erholte sich dort vom Stress der Woche. Da war er sich ziemlich sicher. Aber nachsehen wollte er trotzdem. Ein wenig unsicher schob er die Gardinen zurück. Seine Räume hat-ten als einzige im gesamten Gebäude immer noch diese altmodischen weißen Gardinen mit einem farbigen zusätzlichen, zusammengeraff-ten Stoffstreifen an beiden Seiten, der bei Bedarf zugezogen werden konnte und so das Tageslicht aussperrte. Draußen sah er niemanden. Die Sonne schickte einen hellen, warmen Gruß, ein schickes neues Auto rauschte mit überhöhter Geschwindigkeit vorbei, aber der Bür-gersteig und der Fahrradweg waren verwaist. Dort hielt sich niemand auf und sah zu ihm hoch. Da streifte ihn ein unbestimmtes, kaltes Et-was. Er fühlte sich, als hätte er etwas Totes berührt, etwas ohne Leben. Ein wirklich schlechtes Gefühl durchströmte seinen Körper, was ihn im Ganzen schrumpfen ließ. Er kam sich klein und wehrlos vor.

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„Nun nimm dich mal zusammen, du alter Sack. Eben hast du dir noch genüsslich einen runtergeholt und jetzt willst du vom Mutti auf den Arm genommen werden?!“

Wütend riss er sich von dem einsamen Anblick der Straße los und stapfte durch sein Büro. Tief durchatmend sah er sich aufmerksam um. Alles war wie immer, nur die Luft schien um einige Grade kälter geworden zu sein.

Rainer schob es auf seine Gereiztheit. Das Leben wurde nicht leichter im Alter, es rieselte einem immer schneller durch die Finger. Die Jahre flogen nur so dahin und ehe man sich zweimal umsah war man schon einer der grauen Generation. Die Jugend beachtete einen nicht mehr, wirkliche Freunde wurden zu einem Phantom und die eigenen Wünsche und Ziele verloren ihre Farben.

Manchmal wollte Rainer einfach davon laufen, alles stehen und liegen lassen, hinaus in die Welt gehen, sich treiben lassen, das Gefühl von Abenteuer und Lebenslust neu entdecken. Doch dann überlegte er es sich immer wieder anders. Seine liebe Karin würde er nicht mitnehmen können, sie brauchte diesen Quatsch nicht, war zufrieden mit dem, was sie im Leben hatte und sie war nun mal das Wichtigste in seinem Leben geworden. Im Leben ging es schließ-lich um Partnerschaft. Was nützten einem die geilsten Erlebnisse, wenn man sie nicht mit jemandem teilen konnte? Alles verlor an Bedeutung, wenn man es nur für sich selbst hatte. Viele Menschen erkannten diese schlichte Wahrheit, doch viele andere auch wieder nicht und wunderten sich, warum sie nie das fanden, was ihnen den Frieden brachte, nach dem sich jeder Mensch so sehr sehnte.

Rainer wusste, dass er seinen Frieden mit Karin gefunden hatte und wollte nun unbedingt nach Hause. Sie würde seinen Tag retten. Noch einmal überflog er den Schreibtisch, ordnete ein paar Zettel und machte sich dann auf den Weg zu seinem Auto. Auf dem Hof bemerkte er eine Fahrradspur. Vor kurzem war hier jemand mit ei-nem Fahrrad gewesen. Aber im Haus war niemand, er hatte nichts gehört oder gesehen. Wer fuhr an einem Samstagmorgen zu seinem Büro mit dem Fahrrad und meldete sich dann nicht einmal an? Das war schon merkwürdig, doch würde er das Rätsel hier und heute nicht lösen können, das wusste er und machte sich in Gedanken

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eine Notiz, am Montag der Sache weiter nachzugehen. Mit einem Schwung, den er eigentlich gar nicht mehr spürte, warf er sich ins Auto, startete den Motor und fuhr vorsichtig auf die Straße. Hier war eine 70-er Zone, daran musste er sich halten, denn die Polizei kontrollierte sehr oft die tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeiten. Im letzten Monat war Rainer gleich fünf Mal negativ aufgefallen und durfte fünf mittlere Geldbeträge an die Justizkasse zahlen. Da-bei brauchten sie jeden Cent für ihr Bauvorhaben. Sie planten ein kleines schmuckes Eigenheim, das ihnen im Alter alles bot, wonach es ihnen gelüstete.

Rainer fuhr vorschriftsmäßig nach Hause. Dort angekommen sah er, dass Karin mit ihrem Fahrrad unterwegs gewesen sein musste, denn es stand neben dem Eingang und nicht mehr in der Garage. Er vermutete, dass sie Besorgungen erledigt hatte oder noch erledigen wollte. Nun, da er wieder da war, konnte er sie sicher begleiten. So würden sie die lästigen Einkäufe gemeinsam hinter sich bringen und Rainer freute sich auf diese unkomplizierte Zweisamkeit. Er stellte sein Auto vor der zweiten Garage ab und stieg aus. Seine Gereiztheit hatte sich gelegt und eine gewisse Vorfreude breitete sich in ihm aus. Der Sex mit Karin war wunderschön. Nicht nur, dass sie beide so ziemlich das Gleiche mochten, sie hatten auch eine Intimität ent-wickelt, die beiden eine wirklich einmalige Vertrautheit vermittelte, die sie in vollen Zügen genossen und immer wieder neu entdeckten. Der Tag konnte doch noch der Hammer werden.

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Kapitel 3

Karin war irgendwie nach Hausse geradelt. Sie wusste nicht mehr zu sagen, auf welchem Weg sie zurückgefahren war, doch schließlich kam sie vor ihrem Haus an und begegnete ihrer Nachbarin, die doch eben noch den Penis ihres Lebensgefährten im Mund hatte. Ihr ers-ter Impuls war, auf die kleine Dreckschlampe loszustürmen und ihr die Augen aus dem Kopf zu kratzen. Doch ein nicht so kleiner Teil in ihrem Bewusstsein stellte einige laute Fragen.

Wie war es möglich, dass sie in der kurzen Zeit ihren Freund oral befriedigt, sich wieder angezogen hatte, nach Hause gefahren war, ihren großen Hund Gassi geführt hatte, mit dem sie gerade zurück-kam und dann auch noch so aussah, als wäre sie fünfzig Kilometer gejoggt? Da stimmte doch etwas nicht. War es vielleicht denkbar, dass eine ganz andere Drecksau ihren verdammten Exfreund zwi-schen den Beinen massiert hatte? Konnte es sein, dass sie sich so getäuscht hatte? Karin schloss kurz die Augen und ließ zu, dass ihre Erinnerungen ganz kurz wieder aufblitzten. Aber sie war sich sicher. Das da, kniend vor dem Mistkerl, war ihre Nachbarin gewesen, ohne Zweifel.

Sie stellte ihr Fahrrad vor dem Haus ab, holte Tina aus dem Korb und brachte sie schnell ins Haus, ohne ihr dorthin zu folgen. Sie ging stattdessen strahlend auf die Nachbarin zu, die mit einem überraschten Gesichtsausdruck stehen blieb und ihr entgegensah. Der große Hund der Nachbarin trottete einfach weiter. Für ihn war die Begegnung der beiden Frauen völlig uninteressant. Er wusste, sie mochten sich nicht besonders, wechselten ab und an ein paar nichtssagende Worte, achteten aber auf eine gewisse neutrale Kom-munikation, um den Nachbarsfrieden nicht zu gefährden. Für ihn war da nichts zu holen. Aber hinter der Tür da vorne wartete eine le-ckere Mahlzeit auf ihn und die würde er verschieben müssen, wenn die beiden sich da hinter ihm in die Haare kriegen sollten. Nun, er würde das Ganze von der Haustür aus beobachten und bei Gefahr einschreiten, so wie er es immer tat. Seine Größe flößte den meisten

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Menschen Respekt ein und wenn er seinen Körper auf Geschwin-digkeit brachte, hatte er immer deren volle Aufmerksamkeit. Sollten die ruhig ein paar Worte miteinander wechseln, Vorfreude steigerte schließlich den Genuss und er freute sich auf seine wohlverdiente Mahlzeit.

„Hey, Guten Morgen! Habt ihr so früh schon eure Runden ge-dreht?“, begann Karin und fragte sich, ob ihr ihre Wut anzusehen war. Die Nachbarin versuchte ein Lächeln, doch es wollte ihr nicht gelingen, ihre Lippen blieben geschlossen.

„Früh? So früh ist es doch gar nicht mehr. Aber danke der Nach-frage, wir haben es für heute mal wieder geschafft. Warum interes-siert dich das?“

Karin lächelte einfach weiter und dachte fieberhaft nach, wie das alles zusammenpassen sollte. Das war nicht möglich. Die verloge-ne kleine Schlampe konnte nicht mit ihrem Köter gejoggt sein und gleichzeitig ihrem Freund die Eier ausgesaugt haben. Das war zeit-lich und räumlich unmöglich.

Sie wusste, dass ihre Nachbarin durch das kleine Waldstück am Ortsrand joggte und dass sie dafür mindestens eine dreiviertel Stun-de brauchte und sie verhielt sich so, als wüsste sie von nichts. Da war keine Falschheit, keine versteckten Zeichen von Häme oder Scha-denfreude, wie Karin sie sicher bemerkt hätte, wenn sie da gewesen wäre, wo sie sie angeblich gesehen hatte. Nein, ihre Nachbarin war nicht in dem Büro gewesen, das musste sie akzeptieren. Doch wer war es dann? Eine Frau, die genauso aussah wie die hier, war ihr nicht bekannt.

„Ich wollte dich nur fragen, ob du heute Morgen vielleicht jeman-den gesehen hast, der um unser Haus geschlichen ist.“, fiel ihr gera-de noch ein, ehe die Pause peinlich zu werden drohte.

„Hm, heute Morgen? Warte mal, ich habe da so eine männliche Person gesehen, ich dachte, das wäre dein Freund und habe ihn mir nicht weiter angesehen. Aber jetzt, wo du es erwähnst, kam er mir schon ein wenig merkwürdig vor. Er ging so nach vorne gebeugt, als hätte er Schwierigkeiten, die richtige Richtung zu finden, oder er wollte nicht gesehen werden, so einen Eindruck machte er, dabei war er schnell, verdammt schnell.“

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Ihr Interesse war geweckt. Endlich passierte mal etwas in der Nachbarschaft, hoffentlich war das kein harmloser Penner, denn um ihr Haus war der ja nicht herumgeschlichen und ein wenig Aufre-gung konnte sie durchaus vertragen, jetzt, da ihr Ehemann schon wieder eine neue Schwester rumgekriegt hatte. Aufregung weit ge-nug weg, so dass sie selbst davon nicht mitgerissen werden konnte, war für den Anfang eine tolle Sache: Was sich daraus entwickeln wollte, war dann eine ganz andere Sache.

Karin nickte: „Hast du dir seine Haarfarbe gemerkt? Vielleicht sei-ne Kleidung? Wie alt war er? Kannst du ihn mir beschreiben?“

Rainer war für den Moment vergessen. Falls sie die morgendliche Begegnung mit dem Unbekannten aufklären konnte, war der Tag möglicherweise noch zu retten und vielleicht konnte sie sich dann auch einreden, dass sie Rainer gar nicht in seinem Büro gesehen, sondern nur ihre schlimmsten Alpträume vor ihrem inneren Auge für Realität gehalten hatte.

„Warte mal, der Typ war alt, glaube ich, aber ich kann mich nicht so gut daran erinnern. Ich habe nur flüchtig hingesehen. Was er anhatte, weiß ich nicht mehr, aber er war nicht nackt, das wäre mir aufge-fallen.“ Die Nachbarin sah nach oben und kicherte. Alles, was jetzt noch kommen würde, war nur noch ihrer Fantasie entsprungen, das merkte Karin deutlich. Deshalb bedankte sie sich artig und kehrte ihr den Rücken zu. Die Nachbarin sah ihr hinterher und fragte sich, wer das wohl gewesen war, den sie am Morgen dort ums Haus schleichen gesehen hatte. Jung war der nicht mehr, also war es kein möglicher Bettgefährte, auf den sie hätte neidisch sein können. Sie zuckte mit den Schultern und ging auf ihr Haus zu. Der große Hund sah es mit einem Funkeln in den Augen. Endlich war es so weit.

Er würde sich an seine wohlverdiente morgendliche Mahlzeit be-geben können, auch wenn hier so eine stinkende Gestalt herumwu-selte und alle menschlichen Leben aus der Bahn zu schieben schien. Sein Frauchen schloss die Haustür auf, führte ihn an seinen gut ge-füllten Fressnapf und marschierte schnurstracks auf eine Eisentür zu, die der große Hund nie offen erlebt hatte. Geschwind schloss sein Frauchen diese Tür auf, schlüpfte mit einem sardonischen Lä-cheln hindurch und schloss sie hinter sich wieder ab.

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Karin ging ins Haus und setzte sich an den Küchentresen. Ihre Welt drehte sich, ihr wurde übel. Sie musste etwas unternehmen, oder sie würde anfangen zu schreien. Doch plötzlich verdunkelte sich ihre Umgebung. Deutlich spürte sie einen Temperaturrück-gang, es wurde kalt. Stumm sah sie sich nach Tina um, die sie nir-gends entdecken konnte.

Sie versuchte sie zu rufen, doch ihre Stimme versagte. Es kam nur ein Flüstern: „Tina? Wo steckst du? Komm her, du brauchst keine Angst zu haben!“ Ihre Worte hörten sich selbst für ihre Ohren albern an. Tina brauchte keine Angst zu haben? Sie selbst hatte Angst, gro-ße Angst, panische Angst. Was geschah hier nur? Es wurde immer dunkler, die Luft schien zu gefrieren und sie vernahm einen Ton, einen sehr tiefen Ton. Der Ton nahm an Intensität zu und übertrug sich auf ihre Umgebung, so dass alles auf einmal zu vibrieren schien.

Karin fiel in sich zusammen, hockte auf dem Boden und tastete mit beiden Händen ihre Umgebung ab. Dabei rief sie weiterhin nach Tina. Wenn sie ihre kleine Hündin in den Arm schließen konnte, würde alles gut werden. Dieser Gedanke war alles, was sie noch hat-te. Doch sie blieb allein, so schrecklich allein.

Plötzlich ging die Haustür auf und alles verschwand. Die Luft war wieder so warm wie immer, der tiefe Ton war nicht mehr zu hören, auch nicht mehr zu spüren. Tina tippelte auf ihren kurzen Beinen in die Küche und wackelte mit dem Schwanz. Sie hockte sich neben Karin, die nur da saß und mit leeren Augen und pochendem Herzen in die Luft starrte.

Rainer kam herein und rief nach ihr. Ohne eine Antwort zu erhal-ten, zog er sich die Jacke aus und sah sich um. Eben war Tina durch den Flur in die Küche gehuscht, also würde Karin in der Küche zu finden sein, doch erst einmal musste er aufs Klo. Die ganze Aufre-gung, das dumme Handgemenge im Büro, sowas schlug einem auf die Blase.

Nach dem Händewaschen rief er nach seiner Karin, doch erhielt er keine Antwort. Da überkam ihn das erste Mal so ein Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte. Karin begrüßte ihn immer, wenn sie da-heim war und er nach Hause kam. Das war keine dumme Hausfrau-

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ennummer, das war echt und Rainer freute sich immer darauf. Doch heute war einiges anders. Sie war so früh aufgestanden, was sie sonst nicht tat, wenn es sich vermeiden ließ. Stirnrunzelnd verließ er das Bad und ging in die Küche.

Ihm stockte der Atem, als er Karin auf dem Boden hocken sah. Sie war blass und flüsterte wirres Zeug, von wegen tiefer Töne und kalter Luft. Hier waren weder tiefe Töne zu hören, noch die Luft zu kalt. „Was hast du? Warum sitzt du auf dem Boden? Ist dir schlecht geworden? Soll ich einen Arzt rufen? Nun sag doch etwas!“

Rainer versuchte, sie vom Boden hoch zu heben, doch Karin war noch nicht ansprechbar. Sie stammelte vor sich hin und drückte sei-ne Hilfe einfach beiseite.

Rainer musste eine Entscheidung treffen. Sollte er einen Arzt ru-fen oder konnte sie sich selbst wieder ins Hier und Jetzt zurückho-len? Unsicher sah er auf sie hinab und versuchte es noch einmal.

Diesmal flackerte ihr Blick und sie erkannte ihn. Sie hustete und stand ächzend allein auf. Beide Arme von sich gestreckt und mit dem Kopf wackelnd suchte sie am Küchentresen Halt, hielt sich dort fest und atmete zweimal tief durch. Dann hob sie den Kopf und fun-kelte Rainer böse an.

„Wer war mit dir in deinem Büro?“, fragte sie und ließ dabei seine Augen nicht eine Sekunde unbeobachtet. Sie würde erkennen, wenn er ihr etwas auftischen wollte.

Rainer sah sie erschrocken an. Diese Frage hatte er nicht erwar-tet. Wer sollte denn mit ihm in seinem Büro gewesen sein? Es war Samstag, an diesem Tag kam niemand sonst ins Büro, wenn er nicht dorthin bestellt worden war. Diese Tatsache musste ihr klar sein, dennoch wollte sie offensichtlich eine Antwort auf ihre Frage, da gab es keinen Zweifel.

„Ich war allein im Büro, wie jeden Samstag. Aber sag mir doch bitte, was ist mit dir? Du bist blass, hockst auf dem Boden und be-kommst offensichtlich keine Luft. Du brauchst einen Arzt. Setz dich doch erst einmal hin und beruhige dich!“

Ihr Blick ließ ihn verstummen. Frauen konnten einem Mann nur mit Blicken klar machen, dass es besser war, nichts weiter zu sagen und einen gehörigen Sicherheitsabstand einzuhalten.

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„Ich habe dich gesehen und deine Begleitung. Sie hatte nicht viel an und konnte auch nicht viel sagen, denn sie hatte deinen Schwanz tief in ihrem dreckigen Mund und du hast es sichtlich genossen. Erst dachte ich, es wäre unsere Nachbarin, die dich immer so mit den Augen verschlingt, aber die ist eben nach Hause gekommen, sie war es also nicht. Dabei hätte ich schwören können, dass ich sie gesehen habe. Nun ja, es war jemand anderes und ich will wissen, wer es war und dann verschwindest du hier. Also? Wer war das?“

Rainer wich einige Schritte zurück. Ihre Stimme, sie sprach tief und gepresst und leise, erschreckte ihn. Ihre Worte waren einwand-frei zu verstehen, allein der Sinn erschloss sich ihm nicht. Warum fragte sie ihn nach einer Begleitung, die es gar nicht gegeben hatte? Wer sollte mit ihm im Büro gewesen sein und dort seinen Penis im Mund gehabt haben? Das hätte er sicher bemerkt, doch das hatte er nicht, so etwas war nie geschehen. Dennoch schien Karin fest davon überzeugt zu sein, dass es so gewesen war. Ihre Körpersprache ließ keinen anderen Schluss zu. Was sollte er tun?

„Karin, was ist mit dir? Ich war allein im Büro, da war niemand außer mir. Warum fragst du so einen Blödsinn?“

Karin hörte die Unsicherheit in seiner Stimme. Konnte es sein, dass sie sich getäuscht hatte? War sie vielleicht am falschen Haus und hatte jemand völlig anderen gesehen und die Unbekannten einfach als ihren Freund und die blöde Nachbarin erkannt, weil sie dachte, dass er dort sein sollte? War so etwas überhaupt möglich?

„Ich hatte hier ein kleines, aber äußerst schlechtes Erlebnis. Des-halb bin ich mit dem Fahrrad und Tina zu dir gefahren. Wir wollten dich abholen. Als wir an deinem Fenster vorbei gingen, sahen wir dich, breitbeinig auf deinem Bürostuhl, unsere Nachbarin zwischen deinen Beinen nackt und deinen Schwanz in ihrem Mund. Das ha-ben wir gesehen und nun will ich eine Erklärung dafür.“

Dafür hatte Rainer keine Erklärung. Sprachlos setzte er sich auf ei-nen Stuhl. Was sollte er nun tun? Er wusste, spürte, dass es ihr ernst war. Sie würde ihn rausschmeißen, ihre Beziehung beenden.

„Karin, ich weiß nicht, was du gesehen hast, aber ich versichere dir, dass ich allein im Büro war. Keine andere Frau hat sich zwi-schen meinen Beinen zu schaffen gemacht. Ich brauche keine an-

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dere Frau, ich will doch nur dich.“ Seine Stimme war immer leiser geworden und Karin spürte seine Traurigkeit. Wie war es nur so weit gekommen? Sie suchte nach einem Taschentuch und räusper-te sich.

„Ok, mal angenommen, da war wirklich niemand mit dir in dei-nem Büro. Wie konnte ich dann deutlich sehen, wie dir die Stange gelutscht wurde? Es war dein Büro, ein anderes gibt es in dem Haus gar nicht und es war dein Schwanz, den kenne ich ziemlich gut und verwechsle ihn nicht. Wie passt das dann alles zusammen?“

Rainer zuckte mit den Schultern. Ihre Anschuldigungen gingen ihm langsam auf die Nerven. Wenn sie wahr gewesen wären, würde er sich wenigstens schuldig fühlen. Sie waren aber so nie geschehen und er wollte sich auch nicht für Dinge rechtfertigen müssen, die in seiner Realität nicht geschehen waren. „Ich habe keine Ahnung, was du gesehen hast und wo. Aber ich kann dir versichern, dass es nicht ich war, der sich da vergnügt hat. Ich habe an dich gedacht und freu-te mich auf eine Mittagsstunde mit dir und bin deshalb auch früher wieder gegangen, aber das, was du mir vorwirfst, ist so abartig, da-für habe ich keine Erklärung.“ Dabei sah er ihr direkt in die Augen und Karin wusste, dass er nicht log.

Hier war etwas im Gange, dass sie nicht verstand und es machte ihr Angst, gehörige Angst.

„Heute Morgen schlich jemand um unser Haus. Ich konnte ihn nicht genau sehen, aber ich weiß, dass er da war. Erst war er im Gar-ten, dann, als ich ihn bemerkte, floh er nach hinten, zum Hinterein-gang, aber als ich dort war, war er schon wieder um die Ecke. Ich sah immer nur einen Schatten. Und vorhin, bevor du die Tür auf-gemacht hast, wurde es kalt hier drinnen, furchtbar kalt. Und alles vibrierte. Ich hörte so einen tiefen Ton, der sich auf alles übertrug. Ich habe keine Ahnung, wie lange das alles andauerte und das macht mir solche Angst, genau wie der Schatten heute Morgen. Was geht nur vor sich? Was passiert hier? Sehe ich Dinge, die es gar nicht gibt? Verliere ich meinen Verstand?“

Karin hatte die ganze Zeit nur auf ihre Hände gestarrt, doch nun sah sie auf, suchte seinen Blick, suchte Verständnis, Bestätigung und Hilfe. Rainer sah das alles und ihm wurde klar, dass er nicht gehen

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durfte, nicht gehen wollte. Sie brauchte ihn jetzt mehr als jemals zu-vor. Er stand auf und nahm sie behutsam in die Arme. Sie ließ es geschehen und fing an zu zittern.

„Schschsch, ich bin bei dir und halte dich! All das, was du glaubst gesehen zu haben, kann so nicht geschehen sein, denn dann wüsste ich davon, allerdings meine ich mein Büro, nicht das hier.“

Plötzlich fiel Karin wieder ein, dass sie den Fußabdruck fotogra-fiert hatte. Mit sanftem Druck löste sie sich von Rainer und suchte ihr Handy. Rainer sah ihr schweigend zu, fragte sich, was er noch tun konnte, um sie zu beruhigen.

„Hier, sieh dir das an.“ Sie hielt ihm das Handy mit dem Foto ent-gegen. Rainer nahm es an sich und studierte es aufmerksam. Da war ein Abdruck, ein einzelner Schuhabdruck. Er konnte von ei-nem Turnschuh stammen, oder einem beliebigen Freizeitschuh, das konnte er erkennen. Aber was das alles mit dem Dilemma zu tun haben sollte, in dem sie beide gefangen waren, erschloss sich ihm nicht. Dann sahen beide wie Tina erstarrt am Terrassenfenster stand und hinausblickte. Doch draußen war nichts zu sehen und beide, Karin und Rainer, konnten auch nichts Verdächtiges hören.

„Siehst du? Hier passieren Dinge, die einfach keinen Sinn ergeben. Etwas stimmt nicht und das macht mir eine Heiden-Angst. Was sol-len wir tun?“, stieß Karin hervor und wäre am liebsten in den Garten gestürmt, um die oder den Störenfried, der dort seinen Unfug trieb, in den Boden zu stampfen.

Rainer streichelte die kleine Hündin und sprach leise auf sie ein. Zuerst zeigte das keinerlei Wirkung, doch nach einigen wohlwoll-enden, sanften Worten, drehte Tina ihren Kopf in seine Richtung, wedelte mit dem Schwanz und kam dicht an ihn heran, um seine Hände abzuschlecken.

Rainer suchte ebenfalls den Garten mit seinen Augen ab, entdeck-te nichts und sagte: „Das ist schon eigenartig, ja fast gruselig. Was habt ihr beiden heute Vormittag getrieben?“ Es sollte lustig klingen, verfehlte aber seine Wirkung. Er hätte das Wort getrieben nicht ver-wenden dürfen, aber das fiel ihm zu spät ein.

Karin griff es gleich auf und antwortete: „Getrieben? Wir? Nun, getrieben haben wir gar nichts, bei dir sind wir uns noch nicht si-

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cher, doch offensichtlich ist da etwas in unserem Garten. Vielleicht solltest du einmal nachsehen? Aber, bitte, sei vorsichtig.“

Rainer stand auf, sah Karin an und zuckte mit den Schultern. Es war helllichter Tag, der Garten war keine abenteuerliche Urwald-landschaft, dort gab es keine giftigen Reptilien, keine hungrigen Lö-wen oder Wölfe, nicht einmal ekliges Krabbelgetier. Auch Vampire schloss er aus, denn die würden in der Sonne verbrennen. Das wür-de also eine leichte Übung werden.

Er öffnete die Terrassentür, sah sich noch einmal um und ging dann entschlossen in den Garten. Die Luft war mild, sie roch nach Sommer, frisch gemähtem Rasen. Doch es war ruhig, zu ruhig. Kein einziger Vogel beschwerte sich, kein Lufthauch fuhr durch die Zwei-ge der großen Kastanie und keine Seele hielt sich im Garten auf. Rainer sah niemanden, der hier nicht sein dürfte. Der Garten war nicht groß genug, dass sich jemand irgendwo erfolgreich verstecken konnte. Hier war absolut nichts, was Tinas Reaktion oder Karins Erlebnisse vorher erklären würde. Er wollte sich umdrehen und wie-der hinein gehen, da nahm er eine Bewegung aus dem Augenwinkel war und stürzte darauf zu. Hinter der Hecke, eigentlich war es noch keine richtige Hecke, sie würde erst noch zu einer werden, in ein paar Jahren, versteckte sich ein junger Mann. Rainer erkannte ihn, es war der Zeitungsjunge, der das Wochenblatt mit all den Anzeigen in ihrer Gegend verteilte. Was hatte der hier zu suchen? Warum ver-steckte der sich?

Wütend stürzte er sich auf ihn, zerrte ihn aus seinem miserablen Versteck. „Was suchst du hier? Warum belauschst du uns? Hat man dir keine Manieren beigebracht?“, schrie Rainer ihn an.

Der junge Mann, denn als solcher wollte er gesehen werden, wehr-te sich anfangs, entschied sich dann aber für die passive Gegenwehr. Er setzte eine gleichgültige, leicht gelangweilte Miene auf und ließ sich auf die Terrasse zerren. Dort stand er und sah beide siegessicher an.

Karin kam ebenfalls auf die Terrasse und fragte ruhig: „Warum versteckst du dich hinter der Hecke? Was dachtest du, kannst du hier entdecken, ausspionieren? Los rede, oder wir rufen die Polizei und dann wirst du richtig Ärger bekommen.“

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Der junge Mann sah Karin trotzig an, zuckte ganz kurz mit den Schultern und sagte dann: „Ich habe nur die Zeitung ausgetragen und hörte, wie jemand in diesem Haus rhythmisch kreischte, ich dachte, hier wird Hilfe benötigt, deshalb bin ich näher gekommen.“

Rainer und Karin sahen sich an. Das war die dämlichste Ausrede, die sie je gehört hatten. Eigentlich sollte der junge Mann ihnen leid-tun, aber nicht heute. Heute hatten sie genug eigene Probleme, des-halb ging Karin wieder hinein und kam mit ihrem Handy wieder