Signs of Magic 2 – Die Suche nach Tzunath - Mikkel Robrahn - E-Book
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Signs of Magic 2 – Die Suche nach Tzunath E-Book

Mikkel Robrahn

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Beschreibung

Der zweite Teil der »Signs of Magic«-Serie von Mikkel Robrahn entführt in unheilvolles MarschlandEine trostlose Sumpflandschaft und ein reißender dreckiger Fluss, das sind die Marschlande. Matilda und Albert sind in diesem wundersamen Schnellreisenetz auf der Suche nach Matildas Eltern, die durch das Portal im Keller dorthin entschwunden sind. Die Zeit drängt, denn die Marschlande werden überschattet von Tzunath, einem furchteinflößendem Monster ...Im Fantasy-Abenteuer »Die Suche nach Tzunath« trifft die Kargheit der Marschlande auf den unerschütterlichen Entschluss, Tzunath zu besiegen.Bereits erschienen von Mikkel Robrahn:- Die »Hidden Worlds«-Trilogie

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Seitenzahl: 473

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Mikkel Robrahn

Signs of Magic 2 – Die Suche nach Tzunath

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Kapitel 1Albert TubbsKapitel 2Matilda GodwinsKapitel 3Albert TubbsKapitel 4Matilda GodwinsKapitel 5Albert TubbsKapitel 6Matilda GodwinsKapitel 7Albert TubbsKapitel 8Matilda GodwinsKapitel 9Albert TubbsKapitel 10Matilda GodwinsKapitel 11Albert TubbsKapitel 12Matilda GodwinsKapitel 13Albert TubbsKapitel 14Matilda GodwinsKapitel 15Albert TubbsKapitel 16Matilda GodwinsKapitel 17Albert TubbsKapitel 18Matilda GodwinsKapitel 19Albert TubbsKapitel 20Matilda GodwinsKapitel 21Albert TubbsKapitel 22Matilda GodwinsKapitel 23Albert TubbsKapitel 24Matilda GodwinsKapitel 25Albert TubbsKapitel 26Matilda GodwinsKapitel 27Albert TubbsKapitel 28Matilda GodwinsKapitel 29Albert TubbsDanksagungSigns of MagicLeseprobeDie Spur des Hounds

Für Nils

Kapitel 1

Albert Tubbs

Albert Tubbs war endlich Magier. Nein, er warf immer noch nicht mit Feuerbällen um sich oder ritt auf einem Besen durch den Londoner Straßenverkehr. Aber seine weißen Handschuhe, der Zylinder und der schwarze Frack verrieten sofort, welchem Berufsstand er angehörte.

Zufrieden sah er zu der großen Leuchttafel über der ausladenden Eingangstür.

Tonight: Abraham Kadabraham – magical worlds open up.

Die Buchstaben leuchteten in Neonblau auf und setzten sich von der grauen Fassade des baufälligen Gebäudes ab. Mr Relish senior hatte das alte Theater am Rande Londons für ihre gemeinsame Unternehmung gekauft und die nötigsten Reparaturen und Renovierungsarbeiten veranlasst. Eine funktionierende Heizung, neuer Teppich und Sitze, die nicht nach Muff rochen, und ein Kammerjäger, der in einen Feldzug gegen die Ratten im Gemäuer zog. Die Nager wehrten sich, aber Albert konnte es ihnen nicht verübeln. Das Gebäude hatte mindestens ein Jahrzehnt leer gestanden, also ziemlich viele Generationen für eine Rattenrotte. Es musste ein ganz schöner Schreck gewesen sein, als sie bemerkten, dass ihnen das Theater gar nicht gehörte.

Natürlich trat Albert nicht durch den Haupteingang ein. Nein, der war für die Besucher. Albert durfte durch den Hintereingang direkt in den Backstage-Bereich, geschützt vor neugierigen Blicken und Paparazzi. Er sah sich um. Heute war sein erster Auftritt, weder Besucher noch Paparazzi waren zu sehen, aber die Show würde auch erst in zwei Stunden beginnen.

Er lief an dem Gebäude vorbei über den Parkplatz, auf dem eine flackernde Laterne für eine unangenehme Horrorfilm-Atmosphäre sorgte. Albert ließ einen Brieföffner in seine Hand plumpsen, wie immer, wenn er sich an Orten befand, die ihm nicht ganz geheuer waren. Ein Brieföffner sah wie ein Messer aus, und wer ein Messer mit sich trug, würde nicht überfallen werden.

Bisher hatte es immer funktioniert, denn kein Räuber hatte sich je an ihn herangewagt.

Über der verbeulten Metalltür hing eine Lampe, und eine rote Schrift wies sie als Ausgang aus. Für Albert aber war es das genaue Gegenteil.

Er klopfte an, und die Tür schob sich ein Stück auf. Große, runde Augen starrten ihn an.

»Ja?«, fragte eine tiefe Stimme, und hätte Albert es nicht besser gewusst, hätte er einen Bären hinter der Tür vermutet.

»Ich bin es, Billy.«

»Ja?«, wiederholte die Person. »Ja«, sagte sie dann, aber es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Der Mann riss die Tür auf und trat beiseite. Er war ein Hüne, groß wie breit. Leider galt das nicht für sein Hirn, aber dafür hatten ihn Albert und Mr Relish auch nicht eingestellt. Jedes Theater, war es noch so klein, brauchte eine Security. Und Billy brachte die wichtigsten Eigenschaften mit: kräftige Oberarme, einen festen Griff und die nötigen motorischen Fähigkeiten, um eine Schleuderbewegung zu machen, sollte er einen Gast wortwörtlich vor die Tür befördern müssen. Aber dass er seinen eigenen Chef, das Gesicht der Show und einen der beiden Typen, die beim Einstellungsgespräch auf der anderen Seite des Tisches gesessen hatten, nicht wiedererkannte, war schon ein dickes Pfund.

»Sorry«, murmelte der Mann. Das Licht der Lampe spiegelte sich auf seiner frischpolierten Glatze.

»Alles gut«, erwiderte Albert. »Wir sind alle aufgeregt, heute darf nichts schiefgehen.«

Billy nickte, und Albert schlüpfte an ihm vorbei in die Backstage des Theaters.

Die Backstage war für viele Menschen so ein unerreichbarer Ort wie Fort Knox oder das Klo der Queen. Für Albert war es einfach nur eine Garderobe mit Schminkspiegel, einer muffigen Couch und einem Tisch, auf dem eine Plastikpflanze thronte. In einer Schale lagen kleine Schokoladentaler, und Albert war sich nicht sicher, wie lange sie dort schon standen und ob sie vor den Ratten hier gewesen waren oder nicht. Deshalb machte er immer einen großen Bogen um die in goldenes Papier gewickelten Schokotaler.

Er legte seinen Zauberkoffer auf der Couch ab und setzte sich auf den Stuhl vor den Schminkspiegel. Er sah fürchterlich aus. Tiefe Augenringe, Dreitagebart und ungekämmte Haare. Aber das war okay, denn heute würde jemand vorbeikommen, um ihn zu schminken.

Es klopfte.

»Herein«, sagte Albert und spürte, wie er zufrieden lächelte. Es war ein tolles Gefühl, jemanden in die eigene Garderobe bitten zu können.

Mr Relish trat ein. Sein asketischer Körper steckte in einem schlichten braunen Anzug. Er wirkte ein bisschen aus der Zeit gefallen und altmodisch, aber passte damit perfekt in dieses Theater.

»Bereit für deinen großen Auftritt, Albert?« Er rieb die Hände aneinander.

»Wie viele Karten haben wir verkauft?«, fragte der Zauberer.

»Lass dich überraschen«, erwiderte sein Geschäftspartner mit einem zufriedenen Grinsen. »Wir haben ja auch noch die Abendkasse.«

»Also nicht ausverkauft«, murmelte Albert.

»Das wäre auch ein Wunder gewesen. Wir müssen den Standort und deine Show erst etablieren. Die Zeiten, in denen die Leute blind in jede Zaubervorstellung laufen, sind schon lange vorbei.« Er zog die Augenbrauen zusammen. »Ich bin mir gar nicht sicher, ob es solche Zeiten überhaupt mal gab.«

»Alles klar«, erwiderte Albert. »Vielleicht sollten wir doch Werbung machen?«

Mr Relish schüttelte den Kopf. »Wir setzen auf die Mundpropaganda. Wenn der Vorhang nachher zugeht, werden viele zufriedene Gäste nach Hause gehen und ihren Familien und Freunden davon erzählen, was sie hier gesehen haben. Die werden ebenfalls Shows besuchen, und die Sache wird zum Selbstläufer.«

Albert war sich da nicht ganz so sicher. Sie hatten viele verschiedene Angebote eingeholt: Plakatwerbung in Bussen, Anzeigen in der Zeitung, ein Werbespot im Radio und sogar Influencer, die die Show im Internet bewerben sollten. Das finanzielle Polster für solche Eskapaden wäre durchaus vorhanden. Von ihrem Gewinn der Jadefuchsjagd war immer noch ein Großteil übrig, aber Mr Relish saß auf dem Geld wie ein Drache auf seinem Schatz.

»Kann ich dir noch irgendwas abnehmen? Ansonsten findest du mich im Büro.« Der Geschäftsführer des Theaters war schon fast wieder aus der Tür verschwunden.

Albert überlegte. »Wenn meine Eltern heute die einzigen Gäste sind, werde ich heulend auf der Bühne zusammenbrechen«, sagte er geradeheraus. »Wie viele Tickets?«

Mr Relish schmunzelte. »Albert, die alleinige Tatsache, dass du jetzt deine eigene Show hast, sollte schon genügen. Es ist so viel mehr, als du dir hättest je erträumen dürfen. Es ist ein Privileg, und mit dem Geld, das auf der Bank liegt, können wir über viele Jahre Shows spielen, egal ob deine Eltern Tickets kaufen oder nicht. Aber wenn es dich beruhigt: Es sind mehr als zwei Tickets.«

»Danke.« Mehr als zwei Tickets. Im Kopf ging er durch, wer vielleicht noch ein Ticket gekauft hatte. Seine Ex-Freundin Patty möglicherweise. Sie hatten immer noch unregelmäßig Kontakt, und sie wusste vom neuen Job. Ein paar alte Schulfreunde vielleicht.

Matilda.

Er hatte sie eingeladen, aber nie eine Antwort erhalten. Das Ende der Fuchsjagd war jetzt über ein halbes Jahr her. Wenig Zeit, wenn man ein Theater eröffnete. Viel Zeit, um nichts voneinander zu hören. Hoffentlich ging es ihr gut.

Ein Gong ertönte. »Noch neunzig Minuten bis zum Showbeginn«, sprach eine mechanische Stimme, die vom Band abgespielt wurde. Neunzig Minuten noch. Das bedeutete, dass nun die Türen aufgingen und das Publikum hereingelassen wurde.

Die Angst, dass die Scheinwerfer nachher angingen und er auf leere Ränge sehen würde, überschattete all die Freude, die er verspüren sollte. Albert hatte sich seinen Traum erfüllt, konnte es jedoch nicht genießen. Die letzten Wochen waren hart gewesen, voller Proben, Termine und Gespräche. Er war nicht nur Zauberer, sondern auch Mitinhaber der ganzen Unternehmung. Zwar nahm ihm Mr Relish die wirklich anstrengenden Sachen ab, Behördenkram, Unterlagen für das Finanzamt, Personalfragen, aber Mr. Relish war wichtig, dass Albert über alles Bescheid wusste und in alle Entscheidungen eingebunden war. Das hatte wenig Platz gelassen, um sich über all das zu freuen.

Hoffentlich würde er nach der Show endlich anfangen, das alles ein bisschen zu genießen.

Es klopfte.

»Herein.«

»Boss, hier ist eine junge Frau, sie macht Schminke«, hörte er Billys Brummbärstimme durch die Tür.

»Lass sie herein, sie müsste auf der Liste stehen.« Die Liste war ein Zettel, auf dem Namen von Personen standen, die in die Backstage durften.

»Ach ja, der Zettel«, murmelte Billy. »Sorry, vergessen.«

»Kein Problem«, erwiderte Albert mit der Geduld eines Vaters, der seinem Nachwuchs das Fahrradfahren beibrachte.

Wenige Augenblicke später ging die Tür auf und eine junge Frau trat herein. Sie zog einen großen silbernen Koffer hinter sich her.

»Du bist der Patient?«, fragte sie und sah ihn an, als wäre er ein Gaul bei einer Auktion, den sie zu ersteigern in Erwägung zog.

Albert nickte.

»Dein erstes Mal?«

Nun zog Albert die Augenbrauen hoch. »Was?«

»Das erste Mal, dass du geschminkt wirst, meinte ich«, sagte die Frau und wuchtete den Koffer auf die Couch.

»Ach so, ja.« Albert sah sich im Spiegel an.

»Ich mach nicht viel. Nur ein bisschen Puder, damit du im Scheinwerferlicht nicht so glänzt. Bisschen was gegen die Augenringe. Ein paar Hautunreinheiten verstecken.«

»Super.« Hautunreinheiten? Er suchte im Spiegel nach Pickeln.

Die Frau hatte in kürzester Zeit die ganze Couch mit ihren Kosmetikartikeln in Beschlag genommen. Es roch unangenehm künstlich wie in einer Parfümerie, die Albert einmal besucht hatte, um ein Geschenk für Patty zu kaufen. Die Dämpfe und Gerüche dort hatten sich in kürzester Zeit einen Weg durch seine Nasenlöcher gesucht und ins Hirn gefressen.

Er ließ das Schminken über sich ergehen. Die Frau, die sich noch nicht mal vorgestellt hatte, sagte kein Wort. Der Pinsel kitzelte, als das Puder auf seinen Wangen verteilt wurde.

»Fertig«, erklärte die Frau und drehte den Stuhl so hin, dass sich Albert im Spiegel betrachten konnte. Er nickte, wie er es auch immer bei Friseuren tat, wenn sie ihm ihr Werk zeigten. Nie im Leben würde er in so einer Situation etwas anderes sagen als danke oder wunderbar.

»Wunderbar, danke.«

»Sehr gerne, dann bis nächste Woche«, sagte die Visagistin. Sie hatten die Show erst mal wöchentlich angesetzt, bis der Bedarf steigen und Potenzial für mehr Shows da wäre.

»Bis nächste Woche«, erwiderte Albert, und er sah noch den silbernen Koffer in der Tür verschwinden, bevor sie sich schloss.

Endlich war er wieder alleine.

Die Ruhe umgab ihn wie elektrisch aufgeladene Luft. Nicht mehr lange und er würde auf der Bühne stehen. In diesem Fall war es sogar seine eigene Bühne.

»Noch sechzig Minuten bis zum Beginn der Show«, ertönte dieselbe mechanische Stimme.

Albert wurde schlecht. Er hatte nicht viel gegessen, seit Tagen fehlte ihm der Appetit. Aber seine Mutter hatte ihm eine Banane und eine Scheibe Toast aufgedrängt. »Du musst etwas essen, sonst klappst du auf der Bühne zusammen«, hatte sie gesagt, und Albert wusste, dass sie damit recht hatte.

Obwohl er es sich hätte leisten können, war er immer noch nicht ausgezogen. Stattdessen hatte er sein ganzes Geld in das Theaterprojekt gesteckt. Nervös trommelte er mit den Fingern auf dem Tisch rum und versuchte, sich nicht zu viel im Spiegel anzustarren. Die Stille war so unangenehm wie ein Kettensägenkreischen. Albert war bemüht, sich zu konzentrieren, aber seine Gedanken waren wie ein Hundewelpe, der gleichzeitig fressen, spielen und schlafen wollte. Unzählige Male hatte er seinen Auftritt geprobt und gerade war alles wie weggeblasen.

Langsam wanderte sein Blick zu dem Zylinder, der an der Garderobe hing. Sein Freund würde für ein bisschen Zerstreuung sorgen. Albert lief hinüber und griff in das Hutinnere. Sofort fühlte er den flauschigen Pelz von Butterscotch, seinem Hamster, der so gar nicht nach einem weißen Karnickel aussah, aber dieselbe Funktion erfüllte. Das Tier lebte im Zylinder. Wie das möglich war, wusste Albert nicht. Er musste ihn nicht füttern und konnte ihn tagelang ignorieren. Wenn er ihn aber hervorholte, war er derselbe quietschvergnügte, sehr hungrige Hamster wie immer. Es war also kein gewöhnlicher Hamster, und Albert fragte sich, was ein Tierarzt herausfinden würde, wenn er das Fellknäuel genauer unter die Lupe nahm.

Butterscotch saß auf Alberts Hand und hatte die Nase emporgereckt. Sie zuckte hin und her.

»Nur ein paar alte Schokotaler«, erklärte Albert und zeigte auf die Schüssel. »Ich kann nicht riskieren, dass du dir jetzt, so kurz vor der Show, eine Lebensmittelvergiftung zuziehst. Die Dinger sind älter als der Mörtel in den Wänden.«

Butterscotch plusterte die Wangen auf und quiekte.

»Nein, erst nach der Show.« Sein Handy vibrierte in der Hosentasche, und Albert setzte den Hamster auf dem Tisch ab. Er kramte das Smartphone hervor, es war dasselbe alte Modell, das er sich mit dem von seinem Vater geliehenen Geld gekauft hatte. Er war noch nicht dazu gekommen, sich ein neues zu holen, und vor allem hatte er keine Lust, es neu einzurichten. Eine Nachricht ploppte auf. Wir drücken dir die Daumen, Mum & Dad. Ein Foto war angehängt, und Albert erkannte sofort, was darauf zu sehen war: die Bühne. Sie mussten in der ersten Reihe sitzen.

Albert antwortete nicht. Mehr als ein Danke hätte er sowieso nicht zusammenbekommen, und das konnte er ihnen auch nach seinem Auftritt ausrichten.

Sein Blick wanderte zum Tisch. »Wo bist du?«, zischte er. Das orange Fellknäuel war verschwunden, aber Albert suchte nicht lange. Butterscotch hing kopfüber in der Süßigkeitenschüssel. »Nach der Show.« Albert griff sich den Hamster, der mit seinen kleinen Pfoten einen in Goldpapier gewickelten Schokotaler umklammert hatte, und beförderte ihn wieder in den Zylinder. Er nahm Butterscotch die Schokolade weg und ließ den Taler in die Tasche seines Sakkos wandern. »Nach der Show, habe ich gesagt«, wiederholte Albert. Butterscotch quiekte beleidigt.

Albert wollte sich mit der Hand durchs Gesicht fahren, erinnerte sich aber im letzten Moment an die ganze Schminke. Er würde sie verschmieren, glaubte er zumindest. Die Finger brauchten eine andere Beschäftigung. Ein Deck Karten aus seinem Koffer brachte endlich die gesuchte Ablenkung. Wie an einer Schnur gezogen flogen sie von einer Hand in die andere. Dabei lief er im Raum auf und ab wie ein eingesperrter Löwe.

Er hätte heute Sport machen sollen.

»Noch dreißig Minuten bis zum Auftritt.«

Warum tat er sich das an? Er hätte weiter auf Kindergeburtstagen auftreten können, das Geld war jetzt eh egal. Wenn er sich nicht ganz doof anstellte, hätte er ausgesorgt gehabt. Manche Träume verwandeln sich in Albträume und davor hatte Albert gerade Angst.

Was, wenn die Show nicht beim Publikum ankam? Was, wenn der Strom ausfiel und alles dunkel werden würde? Wenn er beim Betreten der Bühne stolpern und ins Publikum fallen würde? Es gab unzählige Möglichkeiten, heute Abend zu scheitern, und nur eine, unter tosendem Applaus die Bühne wieder zu verlassen.

Albert befürchtete, die Banane würde sich einen Weg nach draußen suchen, und beugte sich über den Mülleimer neben der Couch. Aber es war nur ein Fehlalarm.

»Du schaffst das«, murmelte er und setzte sich den Zylinder auf. »Eine ganz normale Show, wie immer. Stell dir einfach vor, es sei ein Kindergeburtstag.« Seine Arme schlüpften in den Frack.

In Uniform stellte er sich ein letztes Mal vor den Spiegel. Doch, er war ein richtiger Zauberer, und das Publikum würde aus dem Staunen nicht mehr herauskommen.

Wenig später stand Albert vor der Holztreppe, die zur Bühne führte. Sie hatte nur fünf Stufen und wirkte dennoch so unüberwindbar wie ein mit Alligatoren und Wasserschlangen gefüllter Tümpel. Wie lief man noch mal eine Treppe hinauf? Albert hatte es unzählige Male in seinem Leben getan. Zu Hause, in der Schule, beim Benutzen der U-Bahn, in Einkaufszentren. Nun hatte er aber den unbehaglichen Gedanken, dass er irgendwas Wichtiges vergessen hatte, um eine Treppe unfallfrei zu erklimmen. Es war irgendwas von hoher Relevanz. Nicht das Heben der Füße, sondern …

»Bereit?« Liz hatte ein Klemmbrett vor der Brust und sah ihn durch ihre runden Brillengläser an. Sie war Programmleiterin oder so was Ähnliches. Auf jeden Fall war sie verantwortlich für einen reibungslosen Ablauf. Angestellt hatten sie Liz, weil sie irgendwas mit Theater studiert hatte. Irgendwas, was Eltern gerne als brotlose Kunst bezeichneten. Sie schien sehr überrascht darüber, dass sie mit dem Abschluss einen Job bekommen hatte.

»Ja, es ist nur …«, sagte Albert und beendete den Satz nicht.

Liz musste seinem Blick gefolgt sein und betrachtete die Treppe.

»Die Beleuchtung wird hoffentlich nächste Woche angebracht«, entschuldigte sie sich.

»Beleuchtung?«

»Na, damit du die Stufen vernünftig siehst.«

»Ah.« Natürlich, Albert hatte gar nicht vergessen, wie man eine Treppe bewältigte. Sie lag im schummrigen Halbdunkel hinter dem Vorhang und war schlecht ausgeleuchtet, was die Gefahr, den Fuß nicht hoch genug zu heben, ins Unermessliche steigerte.

»Lichter aus«, sprach Liz durch das Mikrofon ihres Headsets. Schlagartig wurde es dunkel im Theater und auf der anderen Seite des Vorhangs hörte Albert ein überraschtes Aufkeuchen. Er kannte es. Seine Mutter klang so, wenn sie etwas sah oder erlebte, mit dem sie nicht gerechnet hatte, wie damals bei der bestandenen Physikarbeit in der neunten Klasse. Zugegeben, Albert hatte ähnlich geklungen, als der Lehrer ihm die Arbeit auf den Tisch gelegt und ein Sehr gut hinterher geschoben hatte.

»Musik starten«, hörte er Liz’ Stimme in der Dunkelheit.

Bei den Bedingungen erwiesen sich die Stufen tatsächlich als ein Problem. Er sah seine eigenen Füße nicht. Waren es vier oder fünf Stufen gewesen? Er würde jeden Schritt zählen müssen, sich vortasten. Es würde alles im Chaos end…

Ein Lichtstrahl beendete die Gedankenspirale. »Das muss vorerst genügen«, erklärte Liz und hielt eine Taschenlampe in der Hand, mit der sie die Stufen ausleuchtete.

»Genügt«, japste Albert. Liz war auf jeden Fall jetzt schon ihr Geld wert gewesen.

»Dreißig Sekunden noch«, sprach Liz in ihr Headset. Albert atmete tief ein und aus. Er war aufgeregt, und zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass es in Ordnung war. Denn das zeigte nur, wie viel ihm an diesem Projekt lag. Er würde die beste Show seines Lebens abliefern.

»Fünf … vier …«, Albert fixierte die Treppenstufen wie ein Hürdenläufer, »zwei«, hatte sie gerade die Drei übersprungen? Albert hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Einen Augenblick später spürte er die Hand der Programmleiterin im Rücken, wie sie ihn auf die Stufen zuschob. »Viel Spaß«, rief sie ihm hinterher, als er genau fünf Stufen nahm und plötzlich im Scheinwerferlicht stand.

Albert sah nicht, wie viele Personen im Publikum saßen. Das Licht blendete ihn. Hätte er schätzen müssen, wäre er irgendwo zwischen fünfzig und hundert gelandet. Vielleicht hatten sie die Hälfte der Tickets verkauft. Das war gut, glaubte er. Vorerst genoss er aber den Applaus des Publikums.

»Danke, vielen Dank«, sagte er und verbeugte sich tief. »Mein Name ist Abraham Kadabraham, und ich werde Sie die nächsten zwei Stunden in meine Welt der Magie entführen.« Keine besonders originelle Ansprache, aber sie war ehrlich. Sie hatten sich gegen eine große Show mit ausladenden Gesten, teurem Equipment und viel Tamtam entschieden. Auf der Bühne würde nur ein Zauberer stehen und zaubern. Keine Ablenkung, keine Tricks, die hatte Abraham Kadabraham nicht nötig. Denn wenn ihn eines von der Konkurrenz unterschied, dann, dass er wirklich zaubern konnte.

In der ersten Reihe erspähte er wie vermutet seine Eltern. Seine Mutter trug ein Kleid und sein Vater einen Anzug, der so schlecht saß, dass Albert vermutete, er hätte ihn das letzte Mal zu seiner Hochzeit getragen. Elani strahlte übers ganze Gesicht, sein Dad nickte zufrieden.

Egal, wie viele Zuschauer im Publikum saßen, die beiden hatten eine Show verdient.

Also legte Albert los.

Mittelpunkt seiner Show war natürlich der Frack. Es gab wenig, was Albert nicht daraus hervorholen konnte, vorausgesetzt, es passte durch die Ärmel und war technisch nicht zu anspruchsvoll.

Und es funktionierte. Keine Buhrufe, keine Gäste, die aufstanden und das Theater verließen. Er sah auch nicht das kalte Licht eines Handy-Displays, das das gelangweilte Gesicht des Besitzers beleuchtete.

Das war gut.

Die halbe Bühne lag mittlerweile voll mit Utensilien, die Albert aus seinen Ärmeln gezogen hatte. Das Ganze war in eine Story eingerahmt, eine Mischung aus Comedy und Zauberei. Es gab niemanden, den er hätte in der Hälfte durchschneiden können, und er wollte auch keine Person in einer Kiste verschwinden lassen. Damit hatte die Familie Tubbs schlechte Erfahrungen gemacht. Er konzentrierte sich voll und ganz auf seine Fähigkeiten, Dinge aus dem Nichts hervorzuholen.

Trotzdem wurde auch in seiner Show das Publikum eingebunden. »Ich brauche einen Freiwilligen«, rief Albert und schirmte die Augen gegen das Scheinwerferlicht ab, um sehen zu können, wer sich meldete. »Eine Person, die etwas vermisst. Oh, und damit meine ich keinen geliebten Menschen oder ein geklautes Auto. Sie sollten bedenken, dass es in meine Ärmel passen muss.«

Ein paar Hände gingen wieder runter, aber es blieben immer noch genug oben. Sogar seine Mutter meldete sich, aber die konnte er nicht nehmen. Zwar erwarteten die Leute regelrecht, angelogen zu werden, wenn sie eine Zaubershow besuchten, aber es war wichtig, dass sie nicht verstanden, wie es passierte. Im Falle von Albert waren es keine Lügen, aber wenn er seine eigene Mutter auf die Bühne holte, würde das Fragen aufwerfen.

»Sie da«, sagte Albert und zeigte auf eine junge Frau, die in den hinteren Reihen saß. »Genau, Sie mit den roten Haaren und dem grauen Oberteil«, bestätigte Albert, nachdem die Frau zögerte. »Kommen Sie bitte auf die Bühne.«

Albert nutzte die Zeit, die die Frau bis nach vorne brauchte, und ließ sich von Liz ein Mikrofon reichen.

Eine Treppe führte vom Zuschauerbereich hoch auf die Bretter. Die Frau war in Alberts Alter, einen halben Kopf kleiner und verhielt sich im Scheinwerferlicht wie ein Hund, der nicht wusste, ob er Sitz oder Platz machen sollte.

»Kommen Sie her«, bat Albert und zeigte mit einer einladenden Handbewegung auf seine Seite. Die Frau stellte sich neben ihn, und er roch ihr Parfüm. Lavendel. Er mochte Lavendel. »Wie heißen Sie?«

»Cynthia.«

»Meine Damen und Herren, einen großen Applaus bitte für Cynthia«, forderte Albert das Publikum auf, und es tat ihm den Gefallen.

»Cynthia, vielen Dank, dass Sie heute Abend hierhergekommen sind. Ich möchte Ihnen zum Abschluss ein Geschenk machen. Etwas, was Sie schon lange vermissen. Vielleicht etwas, das Sie als Kind verloren haben, ein Spielzeug oder etwas Ähnliches. Aber denken Sie dran, es muss durch meine Ärmel passen.« Er wackelte mit den Ärmeln wie eine luftbetriebene Wackelfigur vor Autohäusern.

Cynthia überlegte, und Albert kam es wie eine Ewigkeit vor. Das Scheinwerferlicht brannte auf sie nieder wie die Sonne in einer Wüste, und er spürte, dass das Publikum langsam ungeduldig wurde. Vereinzelte Räusperer waren zu hören, die Leute lehnten sich vor und zurück.

»Irgendwas«, forderte Albert sie auf.

Cynthia nickte nachdenklich. »Da gibt es was«, sprach sie zögernd in das Mikrofon und erschreckte sich vor ihrer verstärkten Stimme.

»Sehr gut«, ermutigte er sie. »Was ist es?«

»Ein Spielzeug«, sagte sie langsam und winkte ab. »Ach, eigentlich ist es total albern.«

»Kommen Sie, wir sind doch unter uns.« Das Publikum lachte, wofür Albert dankbar war.

»Na gut, als Kind hatte ich so kleine Figuren, Tiere. Kühe, Schweine, Hühner, so was.«

»Aus Holz?«

»Nein, nein.« Sie schüttelte vehement den Kopf. »Aus Plastik, und sie waren richtig angemalt. Die Kühe hatten Flecken, die Hühner gelbe Schnäbel, der Dalmatiner war gepunktet und das Zebra hatte Streifen.«

»Klingt nach einem richtigen Zoo«, warf Albert ein.

»Ja«, bestätigte Cynthia, ohne wirklich hinzuhören. Sie schien in ihren Erinnerungen versunken zu sein.

»Also, wer ist ausgebüxt?«

»Der Fuchs«, erwiderte sie sofort und sah ihm plötzlich in die Augen. Ihre erinnerten an enge Schlitze. Alberts Hemdkragen zog sich wie eine Schlinge zusammen, und der Schweiß trat ihm auf die Stirn.

»Ein Fuchs? Den bekomme ich –«

»Es war kein gewöhnlicher Fuchs«, unterbrach ihn Cynthia. »Sie wissen ja: Die anderen Tiere sahen ganz normal aus. Aber der Fuchs …«, sie beendete den Satz nicht, und Albert wusste trotzdem, was sie sagen würde.

»Der Fuchs?«, fragte er dennoch, um die Show am Laufen zu halten.

»Er war grün wie Jade.« Sie sprach die Worte aus, als könnte sie es bis heute nicht verstehen. »Von einem Tag auf den anderen einfach verschwunden. Er war immer in seiner Kiste, können Sie sich das vorstellen?«

Oh, und wie Albert sich das vorstellen konnte. Er wusste sogar ganz genau, wie der Fuchs verschwunden war, nämlich auf einem Container-Schiff.

»Das ist ja was«, murmelte Albert, um nicht zu schweigen. Seine Gedanken waren aber gerade ganz woanders, und alles in ihm strebte danach, von der Bühne zu verschwinden. Er wusste zwar nicht, wer die Frau war, aber er wusste, wer ihr Gehalt zahlte.

Watts & White.

Sie waren ihnen auf die Schliche gekommen.

»Und, können Sie mir meinen Fuchs zurückbringen?«, wollte Cynthia wissen. Von ihrer Unsicherheit war plötzlich nichts mehr zu spüren. Sie hatte die Hände in die Hüfte gestemmt.

»Ich … … äh … … Ja, also«, stammelte Albert. Das Tuscheln im Publikum wurde lauter. »Natürlich. Ein jadegrüner Fuchs?«

»Der Jadefuchs, so habe ich ihn immer genannt«, bestätigte Cynthia.

Schweißperlen traten auf Alberts Stirn. Eigentlich hatte er sich doch deswegen abpudern lassen.

Langsam suchte er die Ränge ab, hielt Ausschau nach einem bestimmten Gesicht. Es glich einer Kröte, und er stellte sich das zufriedene Grinsen bildlich vor. Zum Glück fand er es aber nicht.

»Ein Jadefuchs«, wiederholte er. »Das ist aber ein sehr spezieller Wunsch.«

»Ich hoffe, dass es Ihre Fähigkeiten als Zauberer nicht übersteigt.«

»Ganz und gar nicht, ganz und gar nicht«, murmelte er und konzentrierte sich. Er suchte den roten Faden, der ihm Zugang zur Magie gab. Mittlerweile schüttelte er sich alles Mögliche aus den Ärmeln, ohne nur darüber nachzudenken. Aber unter diesen Bedingungen war es etwas anderes. Sie waren ihm auf die Schliche gekommen, und ein Institut wie Watts & White würde ihn nicht so einfach von der Angel lassen. Zwar hatten sie keine belastenden Beweise gegen ihn, aber die brauchten sie auch nicht. Sie würden ja schließlich nicht zur Polizei gehen, um den Diebstahl eines Naturgeistes zu melden.

Es dauerte einen Augenblick, dann spürte Albert etwas Hartes in seiner Achselhöhle. Es bahnte sich einen Weg durch den Ärmel, heiß wie Kohlen fühlte es sich an. Er wollte es schnell loswerden, abgeben, die Show beenden und sich in der Backstage verkriechen.

Es polterte laut, als das Spielzeug zu Boden fiel. »Hoppla«, entfuhr es Albert, und er bückte sich nach dem grünen Fuchs. Der hatte mit dem echten Jadefuchs nicht viel gemein. Er erinnerte eher an einen heimischen, der in ein Topf grüne Farbe gefallen war. »Ist er das?«, fragte Albert und hielt ihn empor, damit das ganze Publikum den grünen Fuchs sehen konnte.

Cynthia zögerte. Sie kniff die Augen zusammen, als würde sie das Kleingedruckte auf einer Verpackung lesen. »Ich glaube … das ist … ja«, rief sie und spielte das Spiel mit.

Tosender Applaus füllte den Raum aus, aber Albert konnte ihn nicht genießen. Er begleitete Cynthia zur Treppe, verbeugte sich und verließ die Bühne.

Was für ein Finale.

»Sehr gut gemacht«, lobte ihn Liz und klopfte ihm auf die Schulter, aber Albert nahm es kaum wahr. Es war, als wäre er plötzlich von einem dichten Nebel umgeben. Das war kein Zufall gewesen, er war in Mrs Lynbrooks Visier geraten, und er wusste, dass die Frau nur mit großen Kanonen schoss.

»Danke«, murmelte er. »Ich bin Backstage.«

»Aber nicht zu lange, die Leute wollen bestimmt Fotos machen und Autogramme haben.«

Er nickte. »Die Karten sind Backstage.«

»Und zieh dir ein frisches Hemd an. Du hast ziemlich geschwitzt da oben.«

»Verstanden.« Er taumelte zurück in die Backstage und ließ sich auf die Couch fallen. Das war schlecht. Das war nicht nur schlecht, das war richtig beschissen. Am meisten ärgerte ihn aber, dass er aufgrund von Cynthias Auftauchen seinen ersten Auftritt nicht genießen konnte. Er sollte jetzt Sekt trinken und mit dem Team und seinen Eltern anstoßen.

Was hatte die Kröte vor?

Es klopfte an der Tür. »Herein«, stotterte Albert.

Durch den Spalt trat eine Frau mit roten Haaren. Er erkannte sie sofort wieder. »Danke für das Spielzeug«, sagte sie und hielt den grünen Plastikfuchs in die Höhe. Seine Schnauze zeigte genau auf Albert.

»Wie bist du an Billy vorbeigekommen?«

»Hab ihm gesagt, dass ich auf der Liste stehe.«

»Das tust du aber nicht«, erwiderte Albert, »oder?«, schob er hinterher.

Cynthia setzte sich auf den Stuhl am Schminkspiegel und überkreuzte die Beine. Wenn Mrs Lynbrook eine Kröte war, dann war Cynthia eine Löwin. »Oh nein, aber er hatte mich gefragt, ob ich«, sie überlegte kurz, »Elani Tubbs bin. Ja, ich glaube, das war der Name. Und wenn er will, bin ich eben Elani Tubbs.«

Albert fluchte innerlich. Das würde mindestens eine Abmahnung geben. »Du bist im Auftrag von Mrs Lynbrook hier.« Es war keine Frage. In der Hinsicht hatte Albert keinen Zweifel.

»Sehr gut geschlussfolgert.« Cynthia sah sich im Raum um, und ihre Stirn kräuselte sich. »Kann man mit so einem Theater und einer Zaubershow wirklich Geld verdienen? Sieht aus, als müsstet ihr hier bald abreißen.«

Albert atmete laut hörbar aus. Er hatte keinen Nerv für Smalltalk. »Der Business-Plan wird aufgehen, wenn genug Tickets gekauft werden. Mr Relish hat das alles durchgerechnet. Und wenn wir gut angenommen werden, werden wir weiter in die Immobilie investieren.« Das war zumindest der Plan, den Mr Relish vorgeschlagen und Albert abgenickt hatte. Er hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, einen Blick auf die Zahlen zu werfen, er hätte es sowieso nicht verstanden.

»Ihr habt das Ding gekauft?« Das Wort Ding sprach sie aus, als würde sie damit einen Kaugummi unter ihrer Schuhsohle meinen, und Albert konnte nicht anders, als es persönlich zu nehmen.

»Die Stadt hat uns sogar einen richtig guten Preis gemacht, weil sie froh war, dass jemand wieder Kultur in dieses Stadtviertel bringen will«, hielt er dagegen. Langsam spürte er die Wut in sich aufsteigen. Er wollte keine dummen Diskussionen führen, er wollte feiern. »Jetzt rück schon raus: Was will die alte Schachtel?«

»Entschuldige, dass ich dir deine Premierenshow ruiniert habe. Das war so nicht geplant, aber dann hast du mich auf die Bühne gebeten und ich konnte nicht anders, als mir einen Spaß daraus zu machen.« Sie spielte mit einer roten Locke, drehte sie um den Finger und wirkte fast unschuldig.

Albert entschied sich, in Zukunft jemand anderen entscheiden zu lassen, wer auf die Bühne durfte. Er hatte dafür offensichtlich kein Händchen und wollte sich nicht eingestehen, dass er sich vielleicht von Cynthias äußeren Erscheinung hat beeinflussen lassen. »Wenn du hier bist, um mich zu ärgern, dann ist dir das gelungen und du kannst dir dein Geld von Mrs Lynbrook abholen.« Er hielt seine schlechte Laune nicht mehr zurück. »Aber bitte verschwinde jetzt.«

»Oh, damit ist mein Auftrag noch lange nicht erledigt. Das ist gerade erst der Anfang.«

Sie sagte es in einer Art und Weise, die Albert nicht gefiel. Er überlegte, sich einen Brieföffner aus dem Handgelenk zu schütteln. Vorsicht war besser als Nachsicht. Aber sie war nicht hier, um ihn umzubringen. Das hätte sie besser draußen auf dem schlecht beleuchteten Parkplatz erledigen können.

»Mrs Lynbrook weiß noch nicht, was ihr getan habt und vor allem warum, aber der Jadefuchs ist aus seinem Schließfach in der Bank verschwunden.«

»Als wir ihn beim Turnierleiter abgegeben haben, saß er noch in seinem Käfig.« Albert sagte es eine Spur zu schnell. Es verriet, dass er sich die Antwort vorher zurechtgelegt hatte. Dass er wusste, warum Cynthia hier war.

Die Frau nickte. »Ich weiß, Albert, oder soll ich lieber Abraham sagen?«

Ihm entging der Spott in ihrer Stimme nicht. »Albert genügt. Nur auf der Bühne bin ich Abraham.«

»Ist das so ein Zaubererkodex-Ding?« Wieder klang es nach Kaugummi unter dem Schuh.

»Nein.«

»Meine Güte, du bist echt ein schwieriger Gesprächspartner.«

Vielleicht lag es daran, dass er keine Lust hatte, sich mit ihr zu unterhalten. Aber das sagte er nicht, sondern dachte es nur. »Mag sein.«

»Also, du weißt bestimmt nicht, wo der Fuchs ist, und hast auch nichts mit seinem Verschwinden zu tun«, schlussfolgerte Cynthia.

»Richtig.«

»Super, dann werde ich das Mrs Lynbrook ausrichten, und du hast deine Ruhe.«

Albert spürte, wie sich der Nebel lichtete. Das war viel zu einfach gewesen. »Perfekt.«

»Natürlich nicht«, entgegnete Cynthia genervt. »Das wird sie dir nicht glauben, und ich glaube dir auch nicht. Sie weiß, dass ihr irgendwas gemacht und dem Fuchs zur Flucht verholfen habt. Warum, kann sie nur vermuten. Aber sie ist sich sicher, dass ein Magier seine Finger im Spiel hatte. Und wenn ich die Autogrammkarten dort richtig deute«, sie zeigte auf den Stapel auf dem Tisch, »und deine Show vorhin, dann bist du so ein Zauberer.«

Das ließ sich nur schwer leugnen. »Du weißt, was meine Aufgabe bei der Jadefuchsjagd war?«

»Ja, ich habe mir alle Unterlagen angeschaut. Ich weiß auch ganz genau, wer Elani Tubbs ist. Ich weiß sogar, wo deine Eltern wohnen. Und auch, dass du immer noch in deinem Kinderzimmer lebst. Bist du nicht zu alt dafür?«

»Ach, ich komme gut mit meinen Eltern aus«, antwortete Albert und versuchte, cool zu wirken, was ihm aber nicht gelang. Cynthia wusste, wo seine Eltern lebten, und er verstand die Drohung, ohne dass sie sie aussprechen musste.

»Das Problem ist: Mrs Lynbrook kann euch den Sieg nicht streitig machen. Wie du schon richtig erkannt hast, hat der Turnierleiter die Übergabe des Fuchses notariell bestätigt. Wenn sie das jetzt anzweifeln, würde es ein schlechtes Licht auf Watts & White werfen. Und die Bank steht, wie du ja als ehemaliger Mitarbeiter weißt, nicht gerne im Rampenlicht. Es würde so wirken, als würden sie ihre eigene Unfähigkeit auf euch abwälzen wollen.«

»Also macht sie uns das Leben jetzt lieber zur Hölle, wenn sie schon nicht an unser Geld kommt?«

Cynthia schüttelte den Kopf. »Nein, Mrs Lynbrook ist Geschäftsfrau. Sicherlich mit allen Wassern gewaschen. Aber sie schlägt euch ein Geschäft vor.«

»Sie kann nicht ins Theater einsteigen. Mr Relish würde dem nie zustimmen«, erwiderte Albert sofort.

Cynthia lachte laut auf. »Wie kommst du darauf, dass sie in so was investieren würde?«

Stimmt, das war ein dummer Gedanke gewesen. Mrs Lynbrook war an Sachen interessiert, die skalierten. So ein Theater skalierte nirgendwo hin. Wenn man es schaffte, machte es regelmäßig seinen Umsatz, und wenn man nicht ganz unfähig war, blieb auch ein bisschen Gewinn übrig, den man in die Immobilie reinvestieren konnte. So hatte es zumindest Mr Relish senior erklärt. Man machte es, weil man es wollte

Kapitel 2

Matilda Godwins

Matilda Godwins hätte glücklich sein können. Sie hatten entgegen aller Wahrscheinlichkeit einen der bestdotierten Wettbewerbe auf diesem Planeten gewonnen. Sie hatte alle Schulden ihrer Familie abbezahlt. Ihr Vater, ein hoffnungsloser Trinker, war verschwunden, und sie hatte ihre Ruhe.

Aber Matilda Godwins war nicht glücklich.

Sie saß auf der Treppe, die runter in den Keller führte, und starrte in die Dunkelheit. Ihr Hintern war kalt vom rauen Stein. Es roch nach Baustelle, überall lagen Staub und Geröll. Das war schon seit vielen Wochen so. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, aufzuräumen oder zu putzen. Ihr Vater hatte die Mauer nicht nur gebaut, um sie und andere daran zu hindern, den Keller zu betreten. Er hatte sie vor allem errichtet, um etwas davon abzuhalten, die Stufen hinaufzukommen und noch mehr Unheil anzurichten.

Ein paar Menschen waren verschwunden. Angestellte der Familie Godwins, die nur kurz etwas holen wollten. Ein paar Kartoffeln, eingemachtes Gemüse, Wäscheklammern. Aber dieser Keller hatte die Angewohnheit, Dinge und Lebewesen einfach zu verschlucken.

Auch ihre Mutter war verschwunden.

Zumindest glaubte Matilda das.

Sie wischte sich den Baustaub an ihrer Jeans ab. Irgendwann würde sie den Mut aufbringen und dort runtergehen. Aber wenn es eh irgendwann passieren sollte, warum nicht jetzt?

Sie spürte, wie sich ihr Körper aufrichten wollte, aber etwas zog sie runter. Es war wie ein unsichtbares Gewicht.

Matilda Godwins hatte Angst.

Es war Zeit, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Sie wollte nicht auch verschwinden, so wie ihre Eltern. Ihr Vater hatte irgendwann doch noch genug Mut aufgebracht und war seiner Frau gefolgt. Sie wollte die beiden einfach nur zurückhaben und das schuldenfreie Leben auf dem Godwins-Anwesen genießen.

Wäre da doch bloß nicht dieser verflixte Keller.

Es nützte nichts. Seit Tagen starrte sie in die Finsternis, und sie hatte das Gefühl, dass die Schwärze zurückstarrte. Sie musste sich ihrer Angst stellen.

Matilda griff nach der Taschenlampe, die neben ihr auf der Treppenstufe lag. Sie drückte den Knopf, und ein greller Lichtkegel vertrieb die Dunkelheit. Sie sah das Ende der Treppe und den kalten grauen Steinboden des Flurs, der in die Kellerräume führte. Dort stand kein Killerclown, auch kein Dämon oder Schreckgespenst. Nichts, was sie entführen wollte. Aber etwas war da unten. Da war sie sich sicher.

Mit der anderen Hand griff sie nach dem Geländer. Es war genauso kalt und abweisend wie der Boden, auf dem sie saß. Mit einem Ruck zog sie sich hoch.

Heute würde sie es tun.

Über Wochen hatte sie mit sich gehadert, gehofft, dass ihr Vater und ihre Mutter wieder auftauchten. Aber es war nichts passiert. Also musste sie es jetzt in die eigene Hand nehmen, aber sie war auf sich allein gestellt. Botzki war seiner Liebe gefolgt. Albert besaß jetzt ein Theater und war mit anderen Dingen beschäftigt. Die Einladung zur Premiere lag unbeantwortet auf dem Küchentisch. Vielleicht würde sie hingehen, log sie sich an. Sie wusste, dass sie diesen Ort nicht verlassen konnte. Der Keller übte eine unheimliche Anziehungskraft auf sie aus wie ein Licht auf Motten. Sie konnte nicht anders, als hier stundenlang auf der ersten Treppenstufe zu hocken und in die Finsternis zu starren. Matilda war sich nicht sicher, was sie damit bezweckte, ob sie hoffte, irgendwas dort unten zu erblicken. Sie war nicht so naiv, wirklich zu glauben, von hier oben das Geheimnis um die verschwundenen Menschen lösen zu können.

Sie wagte einen Schritt auf die zweite Treppenstufe.

Ihre Nackenhaare richteten sich auf. Ihr Körper wollte nicht, weigerte sich, warnte sie vor der Gefahr. Aber Matilda musste es tun. Wenn sie diese Schritte runter in den Keller nicht machte, hätte sie sich die Teilnahme am Jadefuchsturnier auch sparen können. Sie hatte das Geld gebraucht, um das Anwesen behalten zu können und den Zugang zum Keller nicht zu verlieren. Ohne ihn würde sie nie herausfinden, was ihrer Mutter zugestoßen war.

Noch ein Schritt.

Sie stellte sich vor, was dort unten in den Schatten alles lauerte. Dämonische Fratzen mit blutroten Augen, die sie in ein anderes Reich verschleppten und sie bis in die Ewigkeit folterten.

Plötzlich stand sie am Treppenende. Matilda hatte es geschafft, wenn sie jetzt nicht umkehrte. Es roch muffig und feucht. Wahrscheinlich hatte sich Schimmel in all den Jahren ungestört ausgebreitet. Langsam schwenkte sie die Taschenlampe von links nach rechts. Ein langer Flur erstreckte sich vor ihr, von dem Türen abgingen. Sie war als Kleinkind das letzte Mal hier unten gewesen. Es gab viele Räume: Vorratskammern, Waschküchen, Abstellräume. Das Godwins-Anwesen war riesig, daher war auch der Keller groß. Ein kleines Labyrinth aus Türen und Kammern.

Langsam und vorsichtig lief Matilda den Gang entlang. Die Taschenlampe umklammerte sie mit beiden Händen und hielt sie vor sich gestreckt, als wäre sie eine spitze Klinge. Momentan spendete sie nur Licht und es war das Wertvollste, was sie hier unten hatte.

Ihre Schritte hallten von der niedrigen Decke zurück. Immer wieder blieb sie stehen, sah sich um und lauschte. Aber da war nichts, nur ihr eigenes Atmen und Herzklopfen. Matilda schlich den Gang weiter entlang, das Licht wanderte über die rauen Steinwände, den grauen Mörtel und die verblichenen Holztüren.

Das würde zu nichts führen.

Wahllos öffnete Matilda eine Tür und leuchtete hinein. Sie zuckte zusammen, beruhigte sich aber sofort wieder. Ihre Phantasie hatte ihr einen Streich gespielt und eingelegte Gurken und anderes Gemüse für Gehirne gehalten. Sie schwammen in einer trüben Flüssigkeit in großen Gläsern und standen ordentlich aufgereiht in einem Regal. Eine dicke Staubschicht hatte sich über sie gelegt.

»Nur Gemüse«, beruhigte sich Matilda selbst. »Daran ist nichts ungewöhnlich.«

Sie schloss die Tür wieder. Da drinnen waren weder ihre Eltern noch ein menschenfressender Dämon. Langsam wanderte sie den Gang weiter entlang, bis sie in einen größeren Raum kam.

Planen und Laken spannten sich über Gegenstände. Möbel, vermutete sie. An der Wand hingen Werkzeuge, und eine Werkbank fristete ihr einsames Dasein in der Ecke. Hier wurde schon lange nichts mehr repariert. Matilda hob eines der Laken an, und eine Wolke aus Staub schoss empor. Sie hustete, der Lichtkegel der Taschenlampe wanderte unkontrolliert durch die Finsternis.

»Verdammt.«

Unter dem Tuch befand sich eine alte Truhe. Davon hatten sie viele in ihrem Anwesen stehen. Es waren kunstvoll verzierte Kisten mit geschnitzten Blüten und anderen Reliefs. Viele von ihnen waren von ihren Vorfahren aus Übersee mitgebracht worden, wenn sie auf fernen Kontinenten Gewürze eingekauft und nach England gebracht hatten. Matilda ging in die Hocke und öffnete das Eisenscharnier. Es knarzte und quietschte, aber der Deckel ließ sich anheben.

Matilda leuchtete in das Innere der Kiste. Ein Wust aus Zetteln und Papier bot sich ihr dar. Sie erkannte Zeitungsartikel, Briefumschläge und handgeschriebene Texte. Das alles lag kreuz und quer, ohne Ordnung oder System. Matilda fischte eine Zeitung heraus. Sie sah alt aus, sehr alt. Das Erscheinungsdatum verriet, dass alt gar kein Ausdruck war.

13.01.1901

Sie zog die Augenbrauen hoch. Das Papier war trocken und brüchig, Fotos und Druckertinte zu großen Teilen verblichen. Warum hatte jemand eine so alte Zeitung aufbewahrt? Beim Überfliegen der Schlagzeile hatte sie zumindest eine Ahnung. Viel konnte sie nicht mehr lesen, aber sie war sich sicher, dass es um die Godwins Company ging. So hieß das Familienunternehmen über Hunderte von Jahren, bis irgendeiner ihrer Vorfahren beschloss, dass es Zeit für etwas Moderneres war.

Matilda versuchte, etwas zu entziffern, aber es war unmöglich. Konturen eines Fotos ließen sich erkennen, aber es war vergebliche Liebesmüh. Wieder fischte sie etwas aus der Kiste heraus. Eine Rechnung über drei Kisten Lavendel. Ihr nächster Griff verriet ihr, dass ihr Vorfahr Arnold Godwins eine Schwäche für Tabak gehabt hatte. Zumindest hatte er ihn in großen Mengen importiert. Bestimmt ein gutes Geschäft. Matilda hatte nie geraucht, und sie würde auch nicht damit anfangen.

Sie ließ die Zettel zurück in die Kiste fallen und schloss die Truhe wieder. Vorsichtig, um keine weitere Staubwolke zu provozieren, zog sie das Laken abermals darüber, um die Kiste vor dem Zahn der Zeit zu schützen. Matilda richtete sich auf und leuchtete in den Flur.

Vielleicht war es Zeit, umzukehren.

Nein, sie hatte nicht all ihren Mut aufgebracht, um jetzt umzudrehen.

Sie lief weiter. Ihre Muskeln waren angespannt, als würde sie jeden Moment von einem Raubtier angefallen werden. Sie rechnete hier unten mit dem Schlimmsten und wusste, dass sie gar keine Vorstellung davon hatte, was das Schlimmste sein konnte.

Matilda war sich nicht sicher, aber sie hatte den Eindruck, dass die Luft muffiger wurde. Unangenehm, als wäre irgendwo eine Pfütze stehenden Wassers. Hoffentlich gab es keinen Rohrbruch, der sich hier unten über viele Jahre unbemerkt austoben und das Gemäuer angreifen konnte. Das würde teuer und vor allem aufwendig werden.

Sie folgte ihrer Nase, ließ mehrere Türen links und rechts unbeachtet. Ihre Schritte wurden schneller, sicherer. Das Licht der Taschenlampe strich über Wände und Decken. Sie wusste nicht, was sie erwartete – einen Wasserfall vielleicht. Als sie das Ende des Flurs erreicht hatte, konnte sie es hören.

Ein regelmäßiges Tropfen.

Es war eines dieser Geräusche, die einen nachts um den Schlaf brachten, wenn im Badezimmer ein Wasserhahn im Rhythmus des Sekundenzeigers tropfte. Das stete Aufprallen in der Keramik fraß sich ins Hirn, hinderte es daran, an irgendetwas anderes zu denken als an die Wasserrechnung, die einen erwartete. Ein Tropfen mochte nicht viel sein, aber viele Tropfen über Wochen und Monate, hier unten sogar Jahre oder Jahrzehnte … Matilda wollte den Türknauf schon herumdrehen, hielt aber inne. Sie leuchtete auf den Boden, betrachtete den Türspalt. Alles trocken.

»Lass auf der anderen Seite bitte kein Tümpel sein.«

Matilda öffnete die Tür und erwartete fast, von einer Welle davongespült zu werden. Aber die blieb aus. Dafür kroch sofort der unangenehme feuchte Geruch in ihre Nase. Sie schüttelte sich. Irgendwas stimmte hier ganz und gar nicht.

Langsam wanderte der Lichtstrahl durch den Raum. Es war eine kleine Kammer. Die Backsteine grün und grau. Weiße Muster zogen sich die Fugen entlang. Schimmel. Aber das war nicht alles. Matilda traute ihren Augen nicht, weshalb ihre Finger kontrollierten, was sie sah.

Sie irrte nicht.

Auf den Steinen hingen Muscheln. Kleine und große. Die gehörten nicht an die Wand in einem Keller, sondern an einen Strand.

Sie leuchtete den Boden aus. Auch er war übersät mit Muscheln. Sie türmten sich auf, als würden sie versuchen, die Wand hochzuklettern. Matilda ging in die Knie und fuhr über den rauen Boden. Er war nass. Ein Rohrschaden war also nicht ausgeschlossen, aber das erklärte nicht die Muscheln.

Was für ein Raum war das?

Ihr war niemand in der Familie bekannt, der leidenschaftlich gerne Muscheln gesammelt hatte. Und das hier sah auch nicht wie eine Sammlung, sondern wie eine Hafenkaimauer aus.

Langsam beschlich sie das Gefühl, dass sie der richtigen Sache auf der Spur war. Dieser Raum war nicht normal, so viel stand fest. Aber ein paar Muscheln erklärten noch keine verschwundenen Menschen.

Und vielleicht war es wirklich ein Rohrbruch, und die Muscheln … Nein, dafür fiel ihr kein guter Grund ein. Aber bevor sie durchdrehte, würde sie erst mal die Rohrbruch-Theorie abklären. Für heute hatte sie sich weit genug in den Keller vorgewagt.

 

Matilda lag die halbe Nacht wach. Sie versuchte, sich einen Reim darauf zu machen. Natürlich könnte Feuchtigkeit durch den Boden oder die Wände ins Gemäuer eingezogen sein. Das Haus war alt. Wie alt, wusste sie gar nicht so genau. Auf jeden Fall wurde es zu Zeiten gebaut, als man sich noch keine Gedanken über energetische Bauweisen und Brandschutzvorschriften machte. Wahrscheinlich musste so was irgendwann mal passieren, und sie war sich sicher, wenn sie noch andere Ecken des Kellers erkundete, würde sie viele weitere feuchte Wände entdecken.

Aber die Muscheln.

Nein, nicht nur die Muscheln, der ganze Raum war ihr suspekt gewesen. Er wirkte wie eine Nasskammer, als würde er regelmäßig geflutet werden.

Am nächsten Morgen, nach einer kurzen Nacht und einem ersten Kaffee, fasste sie einen Entschluss. Matilda suchte auf ihrem Smartphone eine Nummer heraus und wählte sie.

»Guten Morgen«, meldete sich eine Stimme, die so freundlich klang wie das Röhren einer Kettensäge.

»Guten Morgen, Godwins ist mein Name. Spreche ich mit Baugutachter Berryfield?«

»Korrekt.«

Matilda war von der Wortkargheit des Mannes etwas überrumpelt. Sie wollte schließlich Geld bei ihm ausgeben. »Ich bräuchte ein Gutachten für meinen Keller. Ich möchte ihn renovieren lassen, und bevor ich Angebote einhole, will ich erst mal wissen, wie der Zustand ist.«

»Wie groß ist Ihr Keller?« Etwas am Tonfall des Mannes hatte sich geändert. Er klang nun nicht mehr ganz so schroff.

»Groß.«

»Können Sie mir die Quadratmeterzahl nennen, Miss Godwins?« Es wäre zu viel gesagt, zu behaupten, er hätte diese Worte durchs Telefon geflötet, aber die Laune des Baugutachters steigerte sich hörbar mit jeder Antwort.

»Nein, aber er ist sehr groß. Ich gehe fast davon aus, dass Sie im ganzen Umkreis keinen größeren finden können.«

»Oh, da helfe ich Ihnen doch gerne aus. Ich würde eine erste Begehung vorschlagen. Passt Ihnen nächste Woche?«

So lange wollte Matilda nicht warten. »Wie viel nehmen Sie für so eine erste Begehung?«

»In der Regel berechnen wir achthundert Pfund. Sie müssen verstehen, dass es nicht nur die Begehung ist, sondern auch die Anreise und -«, fing er an, seinen Preis zu rechtfertigen.

»Ich zahle Ihnen das Doppelte, wenn Sie es noch heute einrichten können.«

Zwei Stunden später stand der Baugutachter vor der Tür und betätigte die Klingel. Geld machte nicht glücklich, aber es beschleunigte viele Prozesse. Das hatte Matilda früh gelernt.

Matilda öffnete die Tür, und ihr gegenüber stand ein großer Mann mit einer schlechtsitzenden Krawatte und einem Jackett, das farblich besser in die 80er gepasst hätte. Die wenigen schwarzen Haare waren mit Gel zur Seite gekämmt, um die kahlen Stellen zu verdecken. In der Hand hielt er einen Aktenkoffer, der aussah, als hätte er bei einem Rugby-Spiel den Ball ersetzt. »Miss Godwins?« Nun flötete er ganz eindeutig. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Martin Berryfield, der bestellte Baugutachter.« Er hielt eine Visitenkarte wie einen Polizeiausweis in die Höhe, die Matilda aus der Entfernung nicht lesen konnte. Aber sie wusste, dass er sich nicht wirklich freute, sie kennenzulernen. Nein, er war froh über das in Aussicht gestellte Honorar. Auf seiner Stirn spiegelte sich die Sonne. Der kurze Marsch von der Auffahrt und die Treppe hoch zur Tür hatte ihn zum Schwitzen gebracht. Hoffentlich würde er im Keller nicht zusammenklappen.

»Schön, dass Sie es so schnell einrichten konnten«, erwiderte Matilda, trat zur Seite und lud ihn mit einer Handbewegung ein, das Haus zu betreten.

Martin Berryfield kam der Aufforderung nach und sah sich in der opulenten Empfangshalle um. »Schönes Haus, in dem Sie wohnen«, staunte er. »Achtzehntes Jahrhundert?«

»Ich wohne hier nicht nur, ich besitze es auch.«

»Oh, verzeihen Sie, so war das nicht gemeint.« Martin Berryfield nahm eine unterwürfige Haltung ein. Trotzdem war er noch einen guten Kopf größer als Matilda.

Die Godwins-Erbin winkte ab. »Wollen wir gleich loslegen? Bei Ihrem Stundenlohn sparen wir uns den Smalltalk lieber.«

Martin überspielte den Seitenhieb mit einem unechten Lachen. »Sehr gut, kommen wir gleich zur Sache, das gefällt mir.« Es gefiel ihm nicht. »Also, wo brennt es?«

»Im Keller.« Matilda zeigte den Gang hinab. »Er war sehr lange zugemauert, und ich habe ihn jetzt freilegen lassen. Ich würde mich über eine gemeinsame Begehung und eine Einschätzung freuen, welche Arbeiten vorgenommen werden müssen. Können Sie das als Baugutachter leisten?«

»Selbstverständlich. Das gehört zu meinem täglich Brot.«

»Okay, dann folgen Sie mir bitte«, sagte Matilda und marschierte los. Wie ein Pinguin watschelte Martin Berryfield hinter ihr her, nichts ahnend, was er gleich sehen würde.

Am Treppenabgang drückte Matilda ihm eine Taschenlampe in die Hand.

»Kein Strom?« Er klang misstrauisch.

»Kein Strom«, bestätigte Matilda. Zwar waren Kabel und Lampen verlegt, aber ihr Vater hatte als letzte Tat, bevor er den Abgang hatte zumauern lassen, den Bereich vom Netz genommen. Ein Kabelbrand hätte das ganze Anwesen zerstört, wenn sie nicht in den Keller gekonnt hätten. Ein seltener, lichter Moment im Leben ihres Vaters.

Martin Berryfield schien der Gedanke nicht zu behagen. »Nun, dann werde ich hoffentlich nichts übersehen. Sie haben nicht zufällig einen Baustrahler?«

»Zufälligerweise nicht«, erwiderte Matilda tonlos. »Passen Sie auf, von den Stufen bröckelt manchmal etwas ab. Vielleicht nehmen Sie das auch in Ihr Protokoll auf.«

Matilda ging vorweg, und heute hatte der Keller einen Teil seines Schreckens verloren. Vielleicht lag es an ihrer Begleitung. Im Falle eines Dämonenangriffs hätte sie genug Zeit, um davonzulaufen, während sich das Monster an dem Baugutachter labte. Nicht wieder alleine hier runterzumüssen, war gut.

Martin Berryfield ächzte hinter ihr bei jeder Stufe. »Altes Gemäuer«, murmelte er. Langsam schritten sie Raum für Raum ab. Der Baugutachter schabte mit einem Stift hier und da im Mörtel, machte sich Notizen und sagte Dinge wie interessant oder schau an. Matilda spielte das Schauspiel mit, tat so, als würde sie wissen wollen, was er von Steinen und Holzbalken dachte, aber eigentlich ging es ihr nicht darum. Langsam, aber stetig arbeiteten sie sich zu der Muschelkammer vor.

»Wie viele Räume gibt es denn hier unten?«, fragte Martin und wischte sich mit einem Tuch über die glänzende Stirn. Trotz der kühlen Temperaturen kam er deutlich ins Schwitzen.

»Viele«, antwortete Matilda.

Martin Berryfield nickte und steckte sich das Tuch zurück ins Jackett. »Ja, den Eindruck habe ich auch.« Aus dem Zettel mit den Notizen waren mittlerweile drei geworden.

Irgendwann standen sie vor der Tür und Matilda roch wieder den muffigen Gestank. »Das dahinter habe ich noch nicht ganz verstanden, vielleicht können Sie mir erklären, was es damit auf sich hat«, deutete sie an und öffnete die Tür.

Der Baugutachter machte einen Schritt hinein und schwenkte die Taschenlampe hin und her. »Das ist …« Er beendete den Satz nicht, sondern sah sich weiter um.

Matilda wollte erst nachhaken, aber sie ließ ihn machen.

Berryfield hob erst den Kopf, als würde er an einem Wolkenkratzer hochblicken, dann sah er nach unten, als würde er am Rande einer Klippe stehen. »Wissen Sie, wofür der Raum mal genutzt wurde?«

»Ich hoffte, Sie könnten mir das sagen.«

Aber Martin Berryfield sagte nichts. Er stand in der Kammer und war dabei zu verarbeiten, was er da sah. Es schien, als ob auch er sich keinen Reim darauf machen konnte. »Verlaufen hier Rohre in der Wand?«

»Das weiß ich nicht.«

»Das wäre auf jeden Fall höchst ungewöhnlich«, murmelte der große Mann in dem schlecht sitzenden Anzug. »Was ist darüber?«

Matilda überlegte und versuchte, den Grundriss im Kopf abzurufen. »Die Bibliothek oder das Herrenzimmer, glaube ich.«

Martin Berryfield sah über seine Schulter und nickte anerkennend. Wahrscheinlich hatte er noch nie ein Haus mit eigener Bibliothek und einem Herrenzimmer betreten. »Das stützt meine These.«

»Was ist Ihre These?« Matilda brannte darauf, sie zu hören, und das war ihr auch sechzehnhundert Pfund wert.

»Grundwasser«, erklärte er hochtrabend. »Es drückt von unten nach oben.« Er machte eine Handbewegung, die das Gesagte unterstrich.

»Erklärt das auch die Muscheln?«

Martin Berryfield drehte sich wieder zu der Wand um und schwieg einen Moment. »Nein«, gab er zu, und es war klar, dass er das nur ungern eingestand. »Das ist ungewöhnlich.«

»Welche Gründe kann das haben?«

Wieder Stille. Martin Berryfield legte den Kopf zur Seite. »Wenn ich ganz ehrlich zu Ihnen bin, und das bin ich meinen Auftraggebern gegenüber natürlich immer, habe ich keine Ahnung. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Wie weit ist die Küste entfernt, Miss Godwins?«

»Weit.« Mit dem Auto brauchte man mehrere Stunden. Unmöglich, dass die Muscheln durch einen Sturm übers Land getragen worden waren und ihren Weg in den Keller der Godwins gefunden hatten.

»Da ist noch eine andere Sache«, murmelte er und hatte sofort wieder Matildas komplette Aufmerksamkeit. Vielleicht würde sie für ihr Geld noch etwas hören, was sie weiterbrachte. Berryfield schabte mit dem Stift in den Fugen. »Der Geruch, das ist kein Schimmel. Keine einfache Feuchtigkeit, wie man es aus Kellern gewöhnt ist.« Er klang, als würde er über Wein reden und diesen in seine einzelnen Noten sezieren. Martin atmete laut hörbar mit der Nase ein. »Da ist etwas, das ich nicht genau zuordnen kann.« Wie ein Trüffelschwein reckte er den Kopf nach links und rechts. Er hatte eine Spur aufgenommen. »Ich habe schon in vielen schimmeligen Kellern gestanden, alles gerochen. Ich erkenne einen normalen Kellergeruch, glauben Sie mir, aber das hier, das ist anders.«

Matilda zog die Augenbrauen hoch. Das war eine Vorführung, die sie nicht erwartet hatte. Vielleicht war der Mann ja doch sein Geld wert.

»Vor vielen Jahren war ich mit meiner Frau, ich meine Ex-Frau«, korrigierte er sich, »im Urlaub. Wir sind mit der