Similaun - Hans Haid - E-Book

Similaun E-Book

Hans Haid

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Beschreibung

In einem visionären Werk verbindet Hans Haid die Mythologie der Alpen mit einer schonungslosen Kritik der gegenwärtigen Verhältnisse, in denen die Natur ausgebeutet wird und ein Tal seine Seele an den Tourismus verkauft. Der Similaun, der heilige Gletscherberg der Ötztaler Alpen, soll dem massentouristischen Wahnsinn geopfert werden: Mit einer neuen Seilbahn, mit einer Stadt auf dem Gipfel, mit einem riesigen Staudamm zu seinen Füßen - trotz aller Warnungen vor der drohenden Apokalypse, wenn der Staudamm bricht. Virgil, der Schafhirte, ist einer der wenigen Mahner: Er kämpft für diese Hochgebirgswelt, die den Schafen gehört und den Saligen Frauen in den Kristallpalästen der Gletscher. Similaun ist so nichts weniger als die Synthese von Hans Haids Lebenswerk: Die Auseinandersetzung mit der Natur-, Lebens- und Sagenwelt der Alpen und die konsequente Kritik an den Auswüchsen einer modernen Profitgesellschaft, die sich respektlos über alle Tradition hinwegsetzt.

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1  Das Tal der Sünder

Das erste Siegel wird geöffnet. Das Lamm kommt und öffnet das erste Siegel. Auf einem gehörnten Widder stürmt der Reiter heran. Seine Augen wie Feuerflammen. Es ward ihm gegeben eine Krone und er wird weiden die Völker der Erde und die Herden der Berge. In weißem Leinen angetan werden sie kommen und es werden ihnen folgen die Hirten und Heerscharen, die Herren der zehntausend Schafe.

Virgil, der Hirt, holt die erste Tafel aus der Salzhütte, nimmt Nägel und einen Hammer, rammt den Nagel in den Holzbalken, hängt die Holztafel daran, tritt einen Schritt zurück, einen zweiten, liest die Schrift. Mit der Hand geschrieben. Grob, ungelenk. Fehlerfrei. Er liest laut und geht weiter.

Es ist ein Tal der Sünder, Schneezuhälter, Gletschermörder, der SALIGEN FRAUEN, von Schafen und Schafhirten. Mit dem langen Bergstock schreitet Virgil, der Hirt, aufwärts, vorbei an den letzten Zirbenbäumen, überwechselnd in das tiefgrüne Latschenfeld, vorbei an dreiunddreißig kleineren und größeren Bergbächen, Lawinenstrichen, Baumkrüppeln, auf dem neuen Fahrweg, baggerbewegt, zuschandengerichtet. Es ist der zwölfte Juni.

Ich sehe schon, dass es noch viel Schnee gibt, dass die ersten Gräser nur bis knapp zweitausenddreihundert hinaufreichen, dass die Muren ein paar Schneisen in den Boden gerissen haben, dass hinten im Tal der weiße Similaun voller Schnee herunterleuchtet, wie sich an der Flanke der Nebel hinauffrisst, wie die Nebelfetzen um den Gipfel tanzen, quer zu Mutmal und querend nach Finail. Das alles sehe ich, gemeinsam mit dem Hirten. Seine Schafe erwartet heuer gutes Futter, nicht zu hoch gewachsen, wie sie es am liebsten mögen, und nicht zu knapp, damit sie nicht davonrennen, talauswärts die Weiden der Bauern suchen, dort grasen, sich die Wampen vollfressen, zufrieden wiederkäuend gegen Abend bergaufwärts trotten. Es ist gut so bestellt in diesem Jahr. Es müssten alle eintausendneunhunderteinundachtzig Schafe die beste Sommerweide vorfinden.

Auf der anderen Talseite grüßt die Brutalität der neu erschlossenen Skiabfahrt und der neu gebauten Skihütte, vermehrt von dreißig auf nahezu tausend Sitzplätze. Erst dann werde die Sache rentabel. Der Gstraun baut, dass es brutaler nicht mehr möglich ist. Die Schnee- und Snowherren haben das Maß verloren. Der Gstraun ist der kastrierte Widder. Was er baut und gebaut hat, ist von weitem sichtbar. Gut erkennbar durchziehen braune Streifen in Serpentinen das steile Gelände auf Stablein zu, durchbrochen von Masten, Lawinenschutzmonstern, Dorfschutzsicherungsanlagen aus Stahl und Beton, solche der schlimmsten Sorte, inzwischen dahinrostend, daneben die neuen Kanonen. Die neuen Kanonen. Die Schneekanonen. Der Pfarrer hat sie geweiht. Der Segen ist sicher.

Das mag so sein. Es kann auch anders sein. Der alte Pater hätte die Segnung verweigert. Aber es ist geschehen und niemand hat gegen die Scheußlichkeiten protestiert. Wozu hätten sie sonst zur Anschaffung eines neuen Allerheiligsten, einer Supermonstranz, goldig und edelsteinbesetzt, so viel Geld ausgeben sollen. In ihrer maßlosen Brutalität und ihrem übersteigerten Ausgleich der armen Gehirne und Herzen gegen Geld und Macht und Monstranzspenden haben sie alles andere vergessen. Vom Taleingang zum Snow und hinauf zum Ferner gehört alles ihnen. Sie sind die Besitzer.

Doch halt. Sie sind nur Teilbesitzer. Die von drüben haben hier ebenfalls Eigentum. Seit Jahrhunderten und Jahrtausenden. Deswegen kommen die Hirten und die Schafherden aus Laas, Göflan, Kortsch, Schlanders, vom Sonnenberg. Deswegen geht heute der Hirt mit mir schauen. Die alte Steinhütte hinter der Kaser wird drei Monate lang seine Heimstatt sein, sein Lager, seine Küche, der Hundeplatz für den Waldi, die Ecke für das Hunde-Wasser und das Lager mit neuer Matratze, ohne Strom, ohne Komfort.

Weiter draußen stehen supermoderne Viersternhotels. Mit allem Komfort. Nobler und feiner als in besten Stadtwohnungen. Dreizehn Hallenschwimmbäder in zwanzig Viersternhotels. Wer sonst kann das vorzeigen? Dort der Luxus. Und die inwendige Not. In keiner Zeit der zehntausendjährigen Kultur und Unkultur des Tales ist es so schlimm gewesen mit der Herzens-Kultur, hat der fremde Gast gesagt, mitten ins Gesicht am Abend an der Bar. Der schrecklichste Ort der Ausbeutung und Prostitution sei es geworden.

Aber auf dem Berg der Schafe ist es anders. Der Schäfer ist knapp über dreißig. Ein junger Vinschger. Ein schneidiger Mensch. Dunkelhäutig. Mit durchdringend dunklen Augen. Einem Schnauzer. Stark gebogener Nase. Wie bei den Schnalser Schafen. Der Widderkopf. Wie ein Widderkopf mir seiner Nase. Knapp über einssiebzig. Ich folge ihm knapp. Ich kann ihm kaum folgen. Er geht schnell. Sehr schnell und leichtfüßig und berggewohnt. Nahe den Gletschern. Helle, wache Augen und ein kritischer Blick. Mit einem langen Bergstock, wie ihn die Älpler bis zum heutigen Tag tragen, wie sie ihn seit sechstausend Jahren tragen.

Die meisten leben zufrieden dahin. Bis wieder eine Katastrophe kommt; eine von denen, die seit Jahrhunderten ihr Leben bestimmen. Der halbe Berg kommt herunter. Drei Millionen Kubikmeter Wasser brechen aus und wälzen sich durchs Tal, sechzig Kilometer Zerstörung hinterlassend. Schon tagelang liefen die Warner durchs Tal, von Ort zu Ort, immer lauter schreiend: „Der Ferner* kommt, der Ferner kommt!“ Es ist ein einziger Gletscher gemeint, wenn die Schreienden von Dorf zu Dorf eilen, warnend, rufend, klagend, schreiend, buchstäblich die Seele aus dem Leib schreiend. Es ist nur ein Gletscher gemeint. Das wissen alle im Tal. Der Vernagtferner. Der Ferner zu Vernagt im hintersten Tal, wohin die Landkartenmacher die wildeste Einöde der Alpen hingemalt haben, als sie anno 1604 in die Karte hineinschrieben glacies continua et perpetua und der gross ferner. Riesige zusammenhängende Gletscher- und Eisflächen, nach heutigen Maßen vierhundert Quadratkilometer Gletscherflächen, wie sonst nirgendwo in den Alpen so zusammenhängend, so sich in den breiten Höhenbecken ausbreitend.

Aus dem kleinen Wandschrank in der Schäferhütte holt Virgil, der Hirt, eines seiner Bücher, eines seiner Geheimnisse, greift in die Seiten, schlägt auf und liest. Der weltbeobachtende Mann, das hat er in einem seiner Bücher gelesen und auf einem Zettel notiert. Ein weltbeobachtender Mann, könnte er das sein? Zweifel kommen in ihm auf.

Unstreitig ragten die Gebirge dort am höchsten empor, wo der Alpenhauptkamm hinstrich, und er strich von Nordosten nach Südwesten. Von dort aus trennten die Meere nemlich am ersten von einander. Dort wards am ersten Land. Dort schneit es am ersten, und aus dem Schnee wurd Eis. Diese wurden zusammengeblasen, schmolzen ab und daher begannen die Flüsse, welche die Meere aufnahmen …

Mehrmalen, am öftesten habe ich aber von Norden her diese großen Schnee- und Eislagen gesehen, und mir kamen die, welche um dem Url oder der Wildspitze in Tyrol liegt, als die ausgedehnteste vor; und zwar vorzüglich deßwegen, weil sie weit und breit sich aneinander hängt und in alle Gegenden sich ausleert.

Der weise Pater Plazidus aus dem schweizerischen Kloster wird wohl recht haben. Virgil klappt das Buch wieder zu, geht vor die Hütte und sieht zum ersten Mal die Schrecken des Tales und die inwendige Verheerung, die seine Laster hinterlassen haben in der Verehrung des Goldenen Kalbes. Rundum sieht Virgil die Anzeichen der Verwüstung und der Schäden. Wenn er könnte, würde er sich auf den Felsen stellen und seine erste Felsenpredigt halten. Er hat noch zu wenig Feuer und Mut in sich.

Zuhinterst nennen sie es das Hintere Eis. Hinter den zusammenhängenden und ewigen Eismassen des großen Ferners leben die geheimnisvollsten Bergbewohnerinnen.

Sie leben nicht dahinter, sondern drinnen, unten, im Gletscher, in den weiten, hunderte Meter tiefen Gletscherhallen und Gletschertoren, weit drinnen, wo die Einheimischen vom Kristallpalast erzählen, in dem die Geheimnisvollen wohnen. Es sind die SALIGEN. Manche nennen sie die SALIGEN FRAUEN und andere kennen sie aus der Überlieferung als SALIGE FRÄULEIN. Frau oder Jungfrau, verheiratet, nicht verheiratet, keusch, geschwängert, Mutter, kinderlos, jungfräulich, unbefleckt, rein, unnahbar, zutraulich, wunderschön, rächend, drohend, die Huren der Berge, die Heiligen der Berge, die Lawinenbringerinnen, die Murenhexen, die Helferinnen der Schäfer und Schäferinnen, wunderschön in weißen Kleidern, mit goldenem Strahlenkranz, die Madonna vorweg, der Strahlenkranz über den Häuptern der SALIGEN.

Dort liegt die sommerliche Welt des Schäfers. Romantisch und wildromantisch, Prospekttirol und heile Alpenwelt. Aber auch die verdammte raue Natur, der tagelange Nieselregen, der von den beleidigten SALIGEN heruntergesandte Regen, Nieselregen drei Tage und zwei Nächte und nicht mehr austrocknen, dann der Starkregen und bald darauf der Schnee. Mitten im Sommer, einmal im Juli und zweimal im August der Schnee. Dann das Suchen nach Schafen und Lämmern. Der Hund keucht. Der Schäfer mit der langen Stange. Stochert vor der Überquerung der Schnee- und Lawinenbrücke, ob sie wohl halten wird, tappt vorsichtig drüber, rennt auf der anderen Talseite bergauf, vermutet dort im Tiefschnee steckende Schafe, geduldig im Tiefschnee steckende, wartende Schafe, wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt, und will retten, was noch zu retten ist. Keuchend tappt er bergauf, sich an Alpenrosenbüschen festklammernd, nimmt das Fernglas, putzt es mit dem Taschentuch, es läuft an, er putzt es wieder mit dem sowieso schon angefeuchteten Taschentuch, schaut in die Felsen hinauf zum grünen, zum ehemals grünen Rasenfleck, weil er dort die versprengten, die geduldigen, die gottergebenen Schafe vermutet. Er will hinauf. Eine Lawine bricht los, reißt ihn mit in die Schlucht. Der Hund wühlt im Schnee, reißt ein kleines Loch, der Schäfer bekommt Luft, atmet, steigt heraus, verflucht die Welt, das Wetter, den Schnee, die SALIGEN, sein armseliges Schäferleben.

Hinter allen weiblichen Sagengestalten sieht Virgil, der Hirt, seine große Geheimnisvolle. Er sucht sie. Er findet sie nicht. Deswegen beginnt er eine lange Irrfahrt durch alle Kare und über alle Gletscher.

In seinen Sehnsüchten trifft Virgil, der Hirt, auf die fremde WILDE FRAU. Sie erinnert ihn an die WILDE FRAU vom geheimnisvollen Berg LUIBIS. Sie lebt, wenn es ihr gefällt, in der Doppelrolle. Dann schlüpft sie in die Kleider der Manderleut, will nicht als Frau erkannt sein. Wird da und dort gesehen. Niemand kennt sie. Niemand spricht mit ihr. Sie spricht mit niemandem. Niemand darf nach ihrem Namen fragen. Niemand darf es wagen, nach ihrem Herkommen zu fragen. Sie ist eine Wissende. Eine Allwissende. Manche nennen sie RUSILENA, eine Fremde, eine SALIGE. Der Hirt trifft auf die fremde WILDE FRAU. Er erschrickt und flüchtet.

Die Wilde lässt ihn nicht los. Überall sucht er nach ihr. Auch in den Büchern und Schriften. In einem davon liest er:

Diese Protagonisten der Ausbeutung der heiligen Berge würden ja, wenn sie gekonnt hätten, wenn sie endgültig den Landessieg feiern können, die Totalzerstörung starten, weiterführen und vollenden. Lawinen als Sensationen verkauft. Katastrophen als Chance des geschwundenen Sommertourismus. Ein paar Dutzend Schneetote. Zwischendurch ein Hoch in den Nächtigungen. Gesprengte Lawinen. Mitten durch die Köpfe der Schneetod. Die Herren und Monster im Schneegeschäft: die Zuhälter des „ewigen Schnees“, der allmächtige Holländer, der dickwampige Seilbahnboss, der mehrfach mit Landesorden ausgezeichnete Bergbock, der schleimige Hurensohn, Knecht des größeren Hurensohnes im Monstercentralhotel. In der verschwitzten Zuhälterbar mit der Pseudomadonna mit bloßgelegtem Busen auf dem Porno-alpin-Dach alles voller Diener, Dienerinnen, Huren, Böcke, Kassierer, Geldscheißer, Schnapssäufer, Krawallmacher, mit und ohne Suff. Sonntagsbürger bei der Heiligen Sonntagsmesse beim Kommunionempfang. Bei der Freiwaschung aller Sünden. Das dienende Pfäfflein, das segnende Pfäfflein.

Jetzt werden sie, als Herren im Schneegeschäft, auf der besseren Seite von Porno und Kruzifix die weißen Gipfel erobern, einen nach dem anderen sprengen, mit Plattformen auf den Gipfeln, mit Aussichtsrampen, mit Schneewampen im Suff. Marke Zuhälterei und Porno alpin. Sölden ist geil. Der Sölder Bergbock stinkt. Schneebar fallweise geschlossen. Eintritt frei für die Huren aus Tschechien und Polen. Amen und das Kreuz drauf. Der Pfarrer segnet. Der Landeshauptmann kommt. Die Landespresse feiert den Totalsieg der Perversion. Der Landeshauptmann als Knecht und Vasall.

Am Strick hinaufgezogen & ausgemolken & Ja & Amen gesagt. In katholischen Landen der Segen. Bis auf 3600 Meter hinauf die Totalzerstörung, die Entweihung der heiligen Berge.

Snow und Suff die neuen Brüder. Heiliggesprochene, in der dominanten Regionalpresse im Stil der Seitenblicke-Gesellschaft, schleimerisch dahinkriechende Provinz-Primitiv-Paparazzi & Günstlinge. Alles untergeordnet. Amen.

*      Gletscher

2  Die Apokalypse

Wie in einem schrecklichen Traum kommen die Namenlosen, die Huren, die Heiligen.

Virgil, der Hirt, sucht die alten Kalender in der Schäferhütte. Die frommen Erbauungsbücher. Die alten Geschichten unter dem Brett verborgen, versteckt. Im Holzkasten stecken sie drinnen: die alten und neuen Bücher. Auch vom Zaubern, vom Wettermachen, von Hexenprozessen, vom Bannen. Auch von der Apokalypse des heiligen Johannes, eine über alle geistigen Schöpfungen hinausragende Phantasie, eine nach den Gesetzen der Schönheit erdachte, erfundene, erdichtete Geschichte von den Anfängen und der Zerstörung der Heiligen Stadt. Die Anmut weicht dem Grotesken, dem Übermenschlichen, das Menschliche tritt zugunsten des Lammes zurück, das Unendliche hat ein scheinbar vorläufiges Ende gefunden. Es sind kühne, ergreifende, markerschütternde Gedanken, aus der Seele des gotterleuchteten Propheten hervorgeströmt, in der Nachfolge des Gilgamesch-Epos, die Edda vorausnehmend, die ältesten isländischen Kultdichtungen um Jahrhunderte vorausdenkend, in alpinen Untergangssagen rund um TANNENEH, ONANÄ und DANANÄ weitere Jahrhunderte später weitergegeben, bis in die Gegenwart lebendig geblieben. Zumindest die Erinnerung daran, aufgezeichnet in alten Sagensammlungen, von keiner Kanzel verkündet, von keiner Tourismusprostitution vereinnahmt. Inmitten immer das Lamm und die Hure, das buhlerische Weib, das auf dem Tiere sitzt, dem mit den sieben Köpfen und zehn Hörnern – der Antichrist?

Wieder sitzt Virgil, der Hirt, über den alten Büchern und schreibt langsam, zögerlich, wenig gewandt, eine zweite Tafel voll mit den geheimnisvollen Texten. Wieder geht er vor die Türe seiner Schäferhütte, nimmt wieder einen Hammer und einen Nagel. Diesmal heftet er die Tafel an den Zaunpfahl hinter der Hütte. Nagelt und liest: „SEHET DAS LAMM!“

Er liest laut und geht zurück in die Hütte. Legt den Hammer an seinen Platz. Und sinniert.

Das Lamm öffnet das Buch mit sieben Siegeln, weswegen ihm alle Kreaturen huldigen. Und ich sah in der Rechten dessen, der auf dem Throne saß, ein Buch, überschrieben von innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln. Und ich sah einen starken Engel, der mit starker Stimme rief: Wer ist würdig, zu öffnen das Buch und zu lösen seine Siegel? Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden, noch unter der Erde, konnte öffnen das Buch, noch hineinblicken in dasselbe. Und ich weinte sehr, weil niemand würdig befunden wurde, das Buch zu öffnen und in dasselbe hineinzublicken. Aber einer der Ältesten sprach zu mir: Weine nicht! Siehe, der Löwe vom Stamme Juda, die Wurzel Davids, hat überwunden, zu öffnen das Buch und zu lösen seine sieben Siegel. Und ich sah, und siehe, in Mitte vor dem Throne und den vier lebenden Wesen, und in Mitte vor den Ältesten stand ein Lamm wie getötet, und hatte sieben Hörner und sieben Augen, welche die sieben Geister Gottes sind, ausgesandt in alle Welt. (Apokalypse, 5.1–7)

Und es war wieder das Lamm, vor dem die vier lebenden Wesen und die vierundzwanzig Ältesten niedersanken. Und alle hatten Harfen und goldene Schalen voll Rauchwerk.

Die apokalyptische Katastrophe droht dem Tal, wenn die vier Millionen Kubikmeter gestautes Wasser binnen eineinhalb Stunden ausbrechen und das Tal verwüsten.

Und ich sah, dass es das sechste Siegel öffnete; und siehe, es ward ein großes Erdbeben, die Sonne ward schwarz wie ein härener Sack, und der ganze Mond wie Blut; und die Sterne fielen vom Himmel auf die Erde, wie der Feigenbaum seine unzeitigen Feigen abwirft, wenn er vom Sturmwind bewegt wird. Und der Himmel wich zurück wie ein Buch, das man zusammenrollt; und alle Berge und Inseln wurden von ihrer Stelle bewegt; und die Könige der Erde und die Fürsten und die Heerführer und die Reichen und die Mächtigen und alle Knechte und alle Freien verbargen sich in die Höhlen und Klüfte der Berge und sprachen zu den Bergen und Felsen: Fallet über uns und bedecket uns vor dem Angesichte dessen, der auf dem Throne sitzt, und vor dem Zorne des Lammes! Denn es ist angebrochen der große Tag ihres Zornes; und wer kann bestehen. (Apokalypse, 6.12–17)

Wenn die Wasserfluten durch das Tal hinauswüten, die Ache mit Eis gefüllt, die Berge aus der Verankerung brechen, der Fischbach durch das Sulztal wütet, losgebrochen, losgerissen von den rächenden SALIGEN. Es fiel der Berg vom Himmel und die Wassermassen verwüsteten das Tal. Immer mehr und immer weiter verbreiteten sich die Schreckensmeldungen, von der apokalyptischen Talkatastrophe im Vale de Bagnes bis hinaus zum Bischofssitz von Martigny, dreihundert Menschen hinwegraffend, von der apokalyptischen Talkatastrophe im Passeiertal mitsamt dem ausgebrochenen Wildsee, vierhundert Leichen aus dem Meraner Friedhof hinausschwemmend, dreihundert Tote. Das Leiden kannte keine Grenze. Es ward das Leid vom Himmel geworfen. Die schrecklichen Engel, die verstoßenen Engel hatten zum Endkampf geblasen: Und der erste Engel posaunte; da entstand Hagel und Feuer, mit Blut vermischt, und wurde auf die Erde hinabgeworfen, und der dritte Teil der Erde verbrannte, und der dritte Teil der Bäume verbrannte, und alles grüne Gras verbrannte. Und der zweite Engel posaunte; da wurde etwas wie ein großer brennender Berg in das Meer geworfen, und der dritte Teil des Meeres ward Blut. Und es starb der dritte Teil der Geschöpfe, die im Meer leben, und der dritte Teil der Schiffe ging zugrunde. (Apokalypse, 8.7–9)

Anderswo schickte der dritte Engel oder der vierte Engel einen schrecklichen Tsunami auf die Erde, tötete zweihundertdreißigtausend, ein Drittel der dort Lebenden, und von den Leichen färbte sich das Meer und ward wie Blut.

Noch weit Schrecklicheres folgte mit Heuschrecken und Seuchen.

Es posaunte der dritte Engel, dann der vierte, auch der fünfte. Und diesem folgte der sechste Engel. Aber schon beim Posaunenklang des fünften Engels fiel ein Stern vom Himmel, wurde der Schlund des schrecklichsten Abgrunds geöffnet, kamen Heuschreckenschwärme aus dem Abgrund heraus und es geschah das Geheimnisvollste aller Naturwunder: Es sollten weder die Gräser noch die grünen Bäume noch alles sonstige Grün verletzt werden, sondern nur die Menschen, welche das Zeichen Gottes an ihren Stirnen nicht haben.

Es geschah aber, dass auch die Bewohner der Bergtäler, die um die von katholischen Pfarrern, Kuraten und Domherren verbreiteten Gräuel der Apokalypse wussten, einige Vorstufen der apokalyptischen Geschehnisse erleiden mussten und dass sie daran erinnert wurden, wie der Berg ins Tal stürzt, wie die Wassermassen ausbrechen, wie die Töne der Todesposaunen durch das Tal dringen, Schrecken verbreitend. Es war die Sünde. Es war der Schrecken und die Strafe für Laster, Wollust, Vergeudung, Sakrileg und Sodomie.

Apokalyptische Strafen folgen. Tag und Stunde kennen wir nicht.

Virgil, der Hirt, nahm noch ein glattgehobeltes Brett, zwei Meter lang, einen knappen halben Meter breit, schrieb darauf den nächsten Text, las und nagelte, richtete sich auf, dachte an die Verderbnis der Welt, an die Verderbnis der neuen Zeit in diesem Tale.

Und der fünfte Engel posaunte; und ich sah einen Stern vom Himmel fallen auf die Erde; und es ward ihm der Schlüssel zum Schlunde des Abgrunds gegeben. Und er öffnete den Schlund des Abgrundes; und es stieg Rauch auf aus dem Schlunde, wie der Rauch eines großen Ofens; und die Sonne und die Luft wurden verfinstert von dem Rauche des Schlundes. Und aus dem Rauche des Schlundes kamen Heuschrecken über die Erde, und es ward ihnen Macht gegeben, wie die Skorpionen der Erde Macht haben; und es wurde ihnen befohlen, dass sie weder das Gras der Erde, noch irgend etwas Grünes, noch irgend einen Baum verletzten sollten, sondern nur die Menschen, welche das Zeichen Gottes an ihren Stirnen nicht haben. Und es ward ihnen gegeben, sie nicht zu töten, sondern sie zu quälen fünf Monate; und ihre Qual ist wie die Qual des Skorpions, wenn er einen Menschen sticht. In denselben Tagen werden die Menschen den Tod suchen, aber nicht finden; sie werden begehren zu sterben und der Tod wird vor ihnen fliehen. Und die Gestalt der Heuschrecken war gleich Rossen, zum Kriege gerüstet, und auf ihren Häuptern waren wie goldene Kronen und ihre Angesichter wie Menschengesichter; und sie hatten Haare wie Weiberhaare und ihre Zähne waren wie Löwenzähne; und sie hatten Panzer wie eiserne Panzer und das Rauschen ihrer Flügel war wie das Rasseln der Wagen mit vielen Pferden, die in den Kampf laufen; und sie hatten Schwänze wie die Skorpionen und Stacheln waren in ihren Schwänzen; und ihre Macht den Menschen zu schaden war auf fünf Monate; und sie hatten über sich als König einen Engel des Abgrunds, dessen Name ist hebräisch: Abaddon, und griechisch: Apollyon, das heißt, wie im Lateinischen, der Verderber: Ein Weh ist vorüber, und siehe, noch zwei Wehen kommen danach. (Apokalypse, 9.1–12)

„VERDERBER OH VERDERBER OH VERDERBER“

Es ist wieder eine Frauengestalt aus den Alpen in seinen Sinn gekommen. Auch wieder eine von denen, die ihm so geheimnisvoll scheinen, die ihm solche Zusammenhänge vorgaukeln und die in ihm die Sehnsucht immer stärker anwachsen lassen. Mühsam summt Virgil, der Hirt, die Noten, wie einen alten Choral. Das hat er so gelesen. Die Geschichte ist so niedergeschrieben vor mehr als 1200 Jahren. Nicht weit weg von seiner Hütte und vom elterlichen Bauernhof. Nur über das Joch drüber, den Ofenpass, den Strelapass und drei weitere und das alles kein Hindernis.

Margareta, die SONTGA MARGRIATA, die alte Heilige, lebt als Mann verkleidet auf der Alm. Auf einer Schweizer Alm in Graubünden. Die Männergesellschaft betreibt Sodomie zumeist mit den Geißböcken. Die junge Frau, eine Jungfrau, eine nach der Überlieferung unbefleckte Jungfrau, lebt in dieser Gesellschaft, erduldet und erleidet Männerwahnsinn. Sie muss verkleidet sein, weil Frauen als sündhafte Wesen die Männerwelt zur Unzucht bringen, wie es von katholischen Pfarrern, Kuraten und Domherren verbreitet wird, eingebläut, mit den schrecklichsten Strafen bedroht. Die Frau stürzt über den Felsen, der junge Knabe sieht, wer jetzt entblößt vor ihm steht: eine Frau, eine wunderschöne Frau mit Brüsten. Es folgt das bittere Ende. Die Frau muss weichen. Die Alm wird verflucht. Die Milch soll vertrocknen, die Gräser sollen verdorren, die Kräuter am Boden sollen verwelken. Alles Leben soll weichen. Eine der größten alpinen Poesie-Geschichten endet apokalyptisch.

Die Natur wird nicht verschont. Der Frevel der Älpler hat die härtesten Strafen zur Folge: den Untergang der Alm mit Kräutern, Kälbern, Schafen, Hirten, Sennerinnen und Jungfrau. Es folgt der Schnee, es folgt der Gletscher, es folgt der Untergang ehemals reicher goldener Städte, wie von TANNENEH, ONANÄ und DANANÄ: Dort lebte die DANA. Dort lebte die SONTGA MARGRIATA. Wenn sie weit weg in den Schweizer Bergen wohnt, dann kommen in den Bergen der Ötztaler Alpen deren Sagengestalten auf Virgil zu. Er kann sich kaum erwehren. Rundherum, ummedum solche Frauen. Eine von ihnen die ANA, eine ANNA, eine Mutter. Ehrfurcht und Scheu packt ihn, den Virgil. Jetzt sind sie fortgezogen, alle miteinander, sind verbannt, geächtet, verjagt, missbraucht, geschwängert, der hochalpinen Gletscherherrenprostitution geopfert.

3  Mit dem Schäfer Virgil unterwegs

Virgil, der Hirt, sucht in den Dörfern des Tales nach einer Gefährtin. Er sucht sie im hochgelegenen Berggasthof. Er sucht sie an der Kasse des Supermarktes weit drunten im Dorf. Am Sonntag packt er den Rucksack, stapft in die kleine Dorfkirche hinein, greift zum Weihwasser, tappt mit dem nassen Zeigefinger der rechten Hand auf Stirn, Mund und Brust, versucht ein Kreuz hineinzumalen, dreht sich um, erwischt einen leeren Kirchenstuhl. Schaut auf die Weiberseite. Diejenige, die er sich vorstellen könnte, ist nicht dabei.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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