Simon Strasser ermittelt in Lago Mortale - Isola Mortale - Acqua Mortale - Giulia Conti - E-Book

Simon Strasser ermittelt in Lago Mortale - Isola Mortale - Acqua Mortale E-Book

Giulia Conti

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Spannende Kriminalfälle und Dolce Vita in einer der schönsten Regionen Italiens - entdecken Sie die ersten drei Fälle für Polizeireporter Simon Strasser in einem Band. Folgen Sie ihm nach Piemont an den Lago d'Orta und lassen Sie sich von hohen Bergen, tiefen Tälern und idyllische Weinbergen verzaubern.  Band 1: Lago Mortale Simon Strasser, ein ehemaliger Polizei- und Gerichtsreporter, hat sein hektisches Leben in Frankfurt gegen die Ruhe und die poetische Schönheit des Lago d'Orta eingetauscht. Er genießt die unversehrte Landschaft, den guten Wein und das piemontesische Essen. In seinem umgebauten Bootshaus lebt er fern von seiner Frankfurter Freundin Luisa, zusammen mit seiner eigenwilligen Ziehtochter Nicola. Eines Morgens, mitten im heißen August, findet Simon auf einem herrenlos auf dem See treibenden Segelboot die Leiche des Fabrikantensohns Marco Zanetti. Unfall oder Mord? Simon folgt seinem Reporterinstinkt und heftet sich an die Fersen der Ermittlerin, seiner alten Bekannten Carla Moretti. Immer tiefer taucht er auf eigene Faust in das Leben der mächtigen Familie Zanetti ein und stößt auf eine Liebe, die um jeden Preis verhindert werden musste. Doch dieses Geheimnis bringt Simon selbst in allerhöchste Gefahr. Band 2: Isola Mortale Nach einer stürmischen Dezembernacht wird am Ufer des Lago d'Orta die Leiche einer Frau angespült. Schnell ist klar, dass sie nicht bloß mit ihrem Ruderboot gekentert ist. Die Tote ist eine junge und ausgesprochen hübsche Nonne, die erst kürzlich auf die Isola San Giulio gekommen war, um nach ihrer verschwundenen Mutter zu suchen. Hat sie etwas herausgefunden, das sie das Leben kostete? Was verschweigen die Besitzer des nahe gelegenen Reishofs? Als am Grund des Sees zudem ein Autowrack mit zwei Leichen geborgen wird, ist es für Simon Strasser wieder nichts mit dem Dolce Vita. In einem Fall, in dem nichts so ist, wie es zunächst scheint, steht der ehemalige Polizei- und Gerichtsreporter der örtlichen Kommissarin erneut zur Seite. Band 3: Acqua Mortale:  Während des jährlichen Halbmarathons am Lago d'Orta bricht der Reisunternehmer Franco Borletti plötzlich tot zusammen. Vergiftet. Mit einem Unkrautvernichtungsmittel, das für einen Skandal in seiner eigenen Firma gesorgt hatte. In dem von ihm produzierten Reis konnten schädliche Rückstände des Mittels nachgewiesen werden. Auch wenn die Liste von Borlettis Feinden lang ist: Wer würde so weit gehen, ihn zu töten? Die militanten Umweltaktivisten? Seine vermeintlich abgebrühte Frau, die mehr Interesse an der Pferdezucht zeigt als an ihrem untreuen Ehemann?  Eigentlich hat sich Simon Strasser auf die Ostertage mit seiner Freundin Luisa gefreut. Doch die Architektin musste wegen eines Bauprojekts kurzfristig absagen. Da kommt ihm die Bitte der aparten Kommissarin Carla Moretti, ihm bei ihrem neuesten Fall zu helfen, gerade recht. Simon ahnt nicht, in welche Gefahr er sich damit bringt …

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Seitenzahl: 1050

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Giulia Conti

Simon Strasser ermittelt in Lago Mortale – Isola Mortale – Acqua Mortale

Drei Piemont-Krimis

Atlantik

Lago Mortale

1

Der Lago d’Orta lag spiegelglatt in der Sonne, die zackige Bergkette im Norden des Sees verschwamm im Hitzedunst. Ein Schwan trieb langsam über das Wasser, reglos, wie von unsichtbarer Hand gezogen. In die Stille hinein begann eine Kirchturmglocke zu schlagen, zwölf lange, dunkle Töne, ein kurzer, heller. Halb eins.

Simon trank einen Cappuccino auf seiner Terrasse und sah auf den See hinaus, der in dem hellen Licht glänzte wie Weißblech. Er überlegte, ob er schwimmen gehen sollte. Sein Haus im kleinen Dorf Ronco, wo er seit einigen Jahren lebte, war früher ein Bootshaus aus Naturstein gewesen, das er zu einem großzügigen Wohnhaus ausgebaut hatte, und so waren es nur wenige Schritte ins Wasser.

Auf der Mauer vor ihm kauerten zwei Eidechsen in der Sonne, regungslos, wie winzige Krokodile. Er mochte die blitzschnellen Tiere mit den langen Schwänzen und verharrte unbeweglich auf seinem Stuhl, um sie nicht zu verjagen. Bei den Temperaturen vermied man ohnehin am besten jede Bewegung.

Noch nie hatte Simon eine solche Hitze an seinem See erlebt. Der August war immer sehr heiß, auch wenn man hier noch in Alpennähe war, der gewaltige Monte Rosa in Sichtweite. Aber dieser Sommer war ungewöhnlich. Seit Monaten hatte es nicht geregnet, und es wurde von Tag zu Tag heißer. Si muore di caldo, man stirbt vor Hitze, sagten die Leute im Dorf, die in Wetterdingen eigentlich nicht zimperlich waren, denn wer hier lebte, kannte eiskalte Wintertage, Regenfluten, wilde Stürme, Hochwasser und tropische Temperaturen. Manchmal bauten sich finstere Wolkenberge über den grünen Hügeln rund um den See auf, um jäh wieder zu verschwinden und der Sonne Platz zu machen; ganz plötzlich brachen Stürme aus, prasselten Regenschauer oder Hagel nieder.

Simon schaute über das silbrig glitzernde Wasser nach Süden, wo sich eine kleine, rundum dicht bebaute Insel wie ein Schiff aus dem See erhob. In der Ferne war schemenhaft ein Segelboot zu erkennen, sehr groß und sehr weiß. Es schien stillzustehen, aber Simon war klar, dass das täuschte. Denn das Wasser dort im Süden war dunkler, fast schwarz und leicht gekräuselt, und diese wellige Fläche trieb langsam nach Norden auf Ronco zu. Simon hatte mit den Jahren gelernt, den See zu lesen, und wusste: Das war der Mittagswind. Er kam immer von Süden, trieb die Yacht bestimmt schon vor sich her und würde die Hitze in Kürze auch in Ronco erträglicher machen.

Bald, wenn die Mittagspause vorbei war, würden sich die Seepromenade und die hölzernen Badestege mit Leben füllen. Aus den alten Häusern kämen die Sommergäste – Deutsche, Franzosen und Schweizer, Familien und Paare, ältere Leute und Kinder –, die im August Trubel in das am Ende einer langen Sackgasse gelegene und außerhalb der Saison vollkommen aus der Welt gefallene Dorf brachten. Oben auf dem Parkplatz, wo die Uferstraße endete und alle ihr Auto abstellten, gab es jetzt keine Lücke mehr. Die rund sechzig Einheimischen, die hier das ganze Jahr über lebten, nahmen den Auftrieb mit Gelassenheit, obwohl sie kaum von ihm profitierten. Die meisten der schönen Häuser am Ufer gehörten Ausländern, die nur hin und wieder an den See kamen und ihre Domizile in der übrigen Zeit an Sommertouristen vermieteten.

Simon rückte mit seinem Stuhl ein Stück weiter in den Schatten des Sonnenschirms und trank noch einen Schluck von seinem Cappuccino, das beständige Brummen der Hornissen über sich wie immer ignorierend. Seit Wochen schon schwirrten sie am Dachgiebel seines alten Steinhauses fieberhaft hin und her. Dem regen Flugverkehr nach zu urteilen mussten es Hunderte sein, die sich dort oben in einem Mauerloch eingenistet hatten. Gestern hatte sich eine von ihnen durch ein offenes Fenster in sein Arbeitszimmer im ersten Stock verirrt. Das riesige Tier war ungestüm und laut brummend durch den Raum geflogen, schließlich gegen ein Fenster geknallt, dann benommen über den Holzboden gekrochen. Simon hatte die Hornisse totgetreten und aus dem Fenster in den See geworfen.

Es war nicht nur die Mittagshitze, die ihm zu schaffen machte. Am Abend war er spät ins Bett gegangen, hatte nicht schlafen können. Er hatte sich eine Weile hin und her gewälzt, mit einem Ohr stets darauf lauschend, ob Nicola in dieser Nacht noch nach Hause kam. Die junge Frau war die Tochter seiner früheren Freundin und lebte seit ein paar Monaten bei ihm. Schließlich war er wieder aufgestanden und hatte noch ein Glas Wein getrunken. Jetzt war ihm etwas flau, und wie immer in diesem Zustand meinte er, nicht ausschließen zu können, auf der Stelle sterben zu müssen. Plötzlicher Herztod. Das war eine Obsession von ihm. Dabei war er ein sportlicher Typ und ziemlich gut in Form, nur sein Herz spielte manchmal kurzzeitig verrückt, pochte heftig oder stolperte. Mit seinen vierundfünfzig Jahren war er auch noch nicht wirklich alt, und natürlich fühlte er sich, wie so viele, mindestens zehn Jahre jünger. Eigentlich war er auch nicht sonderlich wehleidig. Wenigstens glaubte er das, auch wenn Luisa, seine italienische Freundin, die er in Frankfurt kennengelernt hatte und die nach wie vor dort lebte, das anders sah. Wenn sie überhaupt noch seine Freundin war, wie er sich im selben Moment fragte.

Jetzt stand er doch kurz entschlossen auf, setzte seine Kappe ab, zog sein Hemd aus und sprang kopfüber ins Wasser. Vielleicht müsste er doch nicht sterben. Jedenfalls würde er nun erst mal seine übliche Strecke kraulen, gute fünfhundert Meter, die er jeden Tag zurücklegte, manchmal noch mehr.

Im ersten Moment war das Wasser noch frisch, aber je länger er schwamm, umso wärmer fühlte es sich an. Und so weich wie das keines anderen Sees, in dem er jemals geschwommen war. Nur an schlechten Tagen wie heute fragte er sich, ob das womöglich den Schwermetallen zu verdanken war, die sich, tief unter ihm, am Grund des Sees befanden, Ablagerungen aus der Zeit, als er eines der sauersten Gewässer der Welt gewesen war. Dafür hatte als Erste eine nah am Ufer gelegene große Kunstseidefabrik gesorgt. Dann folgten die Metallbetriebe, die in der Hügellandschaft rund um den idyllischen See mehr oder weniger versteckt angesiedelt waren, und die nach dem Krieg einen beispiellosen Aufschwung erlebten und über Jahrzehnte hinweg ihr Abwasser in ihn entsorgten. Bis es vor fast dreißig Jahren, lange bevor Simon den Ortasee für sich entdeckt hatte, zu einer spektakulären Rettungsaktion kam. Tonnenweise Kalk wur de herangeschafft und das übersäuerte Wasser damit neutralisiert. Tatsächlich hatte sich der See, in dem Simon nun seine Runde zog, wieder erholt und zählte mit seinem glasklaren Wasser inzwischen zu den saubersten in Italien.

Mit kräftigen Zügen schwamm Simon einen Dreieckskurs von Boje zu Boje. Er war ein Wassermensch – Schwimmer, Segler, Mitglied im Ruderclub am See. Immer schon hatte er viel Sport getrieben. Als Jugendlicher spielte er im Verein Fußball, war Rennrad gefahren, hätte vielleicht sogar eine sportliche Karriere machen können, aber dann hatte der Journalismus ihn gepackt. Schon als Schüler schrieb er gelegentlich Artikel für eine Frankfurter Lokalzeitung, und daraus war schließlich sein Beruf geworden, neben dem für anderes nicht mehr viel Platz war. Bis er vor ein paar Jahren seinen festen Job bei der Zeitung in Frankfurt gekündigt, das Haus in Italien gekauft und sich damit seinen Traum vom Leben am Wasser erfüllt hatte.

Er kraulte zum Haus zurück, stieg die Badeleiter hoch, griff sich ein Handtuch und rubbelte damit über seinen noch vollen, rotblonden Haarschopf. Die Brise aus dem Süden war am Haus angekommen und kühlte seinen tropfnassen Körper. Es ging ihm jetzt viel besser. Das Schwimmen hatte ihn hungrig gemacht, und er überlegte, was er sich zu essen machen könnte. Im Kühlschrank gab es noch ein paar mit Ricotta und Spinat gefüllte Ravioli aus dem schlichten Pastageschäft in Omegna, dem Industriestädtchen an der Nordspitze des Sees. Beim Einkaufen dort konnte man zusehen, wie die Nudeln mit großen Maschinen hergestellt wurden, um sie dann für einen Spottpreis zu erwerben. Mit ein bisschen Butter und Salbei würde das eine schmackhafte Mahlzeit ergeben.

Als Simon das Handtuch über die Terrassenbrüstung zum Trocknen hängte, ging sein Blick noch einmal über den See. In der Mitte, vielleicht fünfhundert Meter entfernt, zog jetzt ein großes Segelboot vorbei. Es musste das sein, das er kurz zuvor noch bei der Insel gesehen hatte. Der Südwind hatte die weiße Yacht hoch nach Norden getrieben, und sie war nun auf der Höhe von Ronco angelangt. Ein stattliches Großsegel, eine weit aufgeblähte Fock. Das schlanke, wohl fast zehn Meter lange Boot machte vor der Brise stetig Fahrt. Simon meinte, auf dem Großsegel den Schriftzug Dynamic 24.5 zu erkennen, ein wunderschönes, schnelles Boot eines italienischen Herstellers, das er selbst gerne besessen hätte. Aber irgendetwas stimmte nicht. Es war niemand zu sehen, der die Yacht steuerte. Sie war leer.

Die Pasta konnte noch einen Moment warten. Simon holte sein uraltes Fernglas, ein Erbstück seines Vaters, das auf dem See mit seinen überschaubaren Ausmaßen – dreizehn Kilometer lang und maximal zweieinhalb Kilometer breit – noch einigermaßen seinen Dienst tat, und nahm das Boot ins Visier. Es war tatsächlich eine Dynamic, und es musste das Firmenschiff von Zanetti sein.

Der weltweit erfolgreiche Hersteller und Designer von Haushaltswaren war in Omegna zu Hause, und die Zanetti-Yacht war in Seglerkreisen ein großer Name. In wenigen Tagen, an Ferragosto, dem Höhepunkt des italienischen Sommers, würde sie wahrscheinlich wieder einen Sieg einfahren. Dann startete am Lago d’Orta die Sommerregatta, der Cusio Cup, an dem sich die bedeutenden Industriebetriebe der Region immer werbewirksam, aber auch getrieben von sportlichem Ehrgeiz mit ihren firmeneigenen Schiffen beteiligten.

In den letzten Jahren ging es dabei etwas bescheidener zu, und die Zahl der Teilnehmer war geschrumpft. Denn die satten Zeiten der Metallindustrie in der Region waren vorbei. La crisi, die italienische Wirtschaftskrise, gepaart mit der Konkurrenz aus Fernost, hatte sie ins Mark getroffen, und viele Firmen, erst kleine Familienbetriebe, dann auch solche mit großen Namen, hatten dem nicht standgehalten.

Zanetti schien allerdings unangefochten, auch Alessi florierte, und Lagostina schmiedete ebenfalls in Omegna weiter seine Töpfe und Pfannen, aber der Hersteller eines der italienischsten aller italienischen Produkte, Bialetti, hatte die Produktion dort aufgegeben. Seine Moka, die achteckige Espressokanne, blubberte zwar nach wie vor in vielen Haushalten auf dem Herd, wurde inzwischen jedoch in Rumänien produziert. Vor ein paar Monaten war Simon auf dem Begräbnis von Renato Bialetti gewesen. Der mit über neunzig Jahren Verstorbene hatte die Kanne in der Nachkriegszeit mit geschicktem Marketing zu einem Welterfolg gemacht, und in einer Moka als Urne war der alte Herr auf seinen Wunsch auch beigesetzt worden. Die aufgegebene Fabrik in Omegna stand nun schon seit einiger Zeit leer, und mit dem großen Firmennamen war auch die Bialetti-Yacht vom Lago d’Orta verschwunden.

Das war so eine Geschichte, wie sie die deutschen Redaktionen, für die Simon noch immer hin und wieder als freier Journalist arbeitete, gerne nahmen. Bis zu seinem plötzlichen Ausstieg war er Polizei- und Gerichtsreporter bei den Frankfurter Nachrichten gewesen. Aber er hatte ein paar Wirtschaftskenntnisse, Überreste einiger lange zurückliegender betriebswirtschaftlicher Semester, und auf die griff er in seiner neuen Heimat zurück, verlegte sich auf sporadische Berichterstattung aus der italienischen Handelswelt. Die Bialetti-Geschichte hatte er mit einigen Hintergrundinformationen angereichert und an verschiedene Zeitungen geschickt, aber nur sein Stammblatt, der Schotter, ein monatlich erscheinendes unkonventionelles Wirtschaftsmagazin, das ehemalige Kollegen von ihm vor einiger Zeit mit überraschend großem Erfolg lanciert hatten, druckte seinen Text vollständig ab. Die übrigen Publikationen hatten sich auf die Anekdote beschränkt und sie kurz und knapp in der Rubrik Vermischtes gebracht. Was ihn erstaunlich kaltließ. Simon war ohnehin nicht so schnell in Rage zu bringen, aber wenn man früher bei den Frankfurter Nachrichten seine Reportagen gekürzt hatte, war er doch manchmal aus der Haut gefahren. Er konnte sich das leisten, weil er ein renommierter Journalist war. Seine Wirtschaftstexte hingegen überließ er ziemlich ungerührt ihrem redaktionellen Schicksal. Meistens las er sie sogar nicht einmal, wenn sie erschienen waren. Sie waren ein Job, den er mit professioneller Routine, aber leidenschaftslos erledigte.

2

Simon ließ das Segelboot nicht aus den Augen. Da war etwas im Heck, aber er konnte nicht erkennen, was es war, auch dann nicht, als er versuchte, das alte Fernglas schärfer zu stellen. Die Dynamic hielt weiter Kurs nach Norden, auf Omegna zu. Dann durchbrach ein Hupen die Mittagsstille. Dreimal hintereinander und sehr laut. Simon setzte den Fernstecher ab. Es hupte wieder, noch drängender als zuvor.

Erst jetzt sah Simon, dass die alte Azalea, eines der drei Verkehrsschiffe, die den Sommer über regelmäßig auf dem Lago d’Orta verkehrten, der Dynamic entgegen und gefährlich nahe kam. Die allerdings machte keine Anstalten, dem vorfahrtberechtigten Passagierschiff auszuweichen. Einen Moment sah es so aus, als ob auch der Kapitän der Azalea entschlossen war, seinen Kurs zu halten, aber dann drehte er entgegen den seemännischen Verkehrsregeln mit einem abrupten Manöver ab und ließ das Segelboot passieren.

Der ungewohnte Lärm hatte ein paar neugierige Sommergäste aus ihrer Siesta aufgeschreckt und an das Seeufer gelockt, und auch der Holzsteg war mittlerweile von einem Paar belegt, das sich auf Handtüchern in der Sonne ausgestreckt hatte und offenbar durch nichts vom Bräunungsvorgang abzulenken war.

Simon beobachtete weiter mit bloßem Auge das Geschehen auf dem See. Die Azalea war wieder auf Kurs gegangen und steuerte jetzt den Anlegesteg in Ronco an. Mit dem ruhigen Lauf der Dynamic war es allerdings vorbei. Von der Heckwelle der Azalea erfasst, stand sie kurz mit flatternden Segeln im Wind, bis der Baum auf die andere Seite schlug und sie heftig ins Torkeln geriet. Für einen Augenblick glaubte Simon, dass sie kentern würde, obwohl er wusste, dass sie ein Kielboot war, das nicht kentern konnte.

Es hielt ihn nicht länger auf seiner Terrasse. Er musste wissen, was da los war. War das Segelschiff wirklich führungslos unterwegs und deshalb der Azalea nicht ausgewichen? Nur so konnte er es sich erklären. Mit seinem Kajak, das an dem kleinen Strand neben seinem Haus lag, wäre er in wenigen Minuten bei der Zanetti-Yacht.

Einen Moment später paddelte er mit dem schlanken Boot los. Der Wind hatte schlagartig nachgelassen, und Simon war schnell, aber je näher er der Yacht kam, desto langsamer wurde sein Schlagrhythmus. Die Dynamic lag nur noch leicht schaukelnd auf dem Wasser, ganz sacht schlugen die Segel am Mast hin und her. Noch immer war niemand an Deck zu sehen, auch sonst lag der See wie ausgestorben in der Mittagshitze, nirgendwo ein Schiff, außer der Azalea, die schon tief im Süden auf der Höhe der Insel angelangt war. Schwimmer wagten sich ohnehin selten so weit hinaus auf den See.

»C’è nessuno? Serve aiuto?« Simon bekam keine Antwort auf seine Rufe. Es schien niemand da zu sein, der Hilfe benötigte. Das Boot war offenbar tatsächlich leer. Aber konnte er sich da sicher sein? Simon war kein ängstlicher Typ, aber das scheinbar führungslose Boot war ihm doch ein wenig unheimlich. Vorsichtig paddelte er noch etwas näher heran.

»Hallo, ist da jemand?«, wiederholte er seine Frage.

Es tat einen lauten Knall. Für einen Moment hatte der Wind aufgefrischt, eine Bö war in die Segel gefahren, und der Baum mit dem Großsegel mit Wucht wieder auf die andere Seite geschlagen. Simon paddelte jetzt nicht mehr, ließ das Kajak gemächlich auf die Yacht zutreiben, zögerte. Sollte er sie wirklich betreten? Was ging ihn das überhaupt an? In was mischte er sich da ein? Wie immer siegte seine Neugier.

Er machte noch ein paar leichte Schläge mit dem Paddel, dann hatte er das Segelboot erreicht und legte vorsichtig seitlich an. Es knirschte und rumorte. War da doch jemand auf dem Boot, der ihm nur nicht antwortete? Simon spitzte die Ohren und wanderte mit den Augen an der Bordwand entlang. Nichts zu sehen. Er riss sich zusammen; so leicht verlor er üblicherweise nicht die Nerven, und als Segler waren ihm die Geräusche der Wanten und Schoten doch eigentlich vertraut. Er gab sich einen Ruck, vertäute sein Kajak an der Reling und schwang sich auf die Yacht.

Der erste Schritt brachte ihn zu Fall. Er war auf dem feuchten Deck ausgerutscht, fiel der Länge nach hin und stieß sich dabei heftig den Knöchel. Einen Moment blieb er liegen, benommen von dem Sturz, dann rappelte er sich schnell wieder auf. Er musste die Situation im Griff behalten. Sein Fuß tat weh, und er rieb sich den Knöchel. Blut. Seine Finger waren blutverschmiert. Das konnte nicht sein Blut sein. So heftig war der Stoß nicht gewesen. Aber woher kam es dann? Simon blickte nach unten. Er war nicht auf nassem Boden, sondern in einer Blutlache ausgerutscht.

Sein Blick ging wieder hoch und ins Heck des Bootes. Nicht weit von ihm entfernt lehnte dort seitlich an der Bordwand eine Gestalt, der Kopf auf die Brust gesunken. Ein Mann. Hatte er sich gerade bewegt? Einen Augenblick lang fürchtete Simon, er würde sich gleich aufrichten und auf ihn losgehen, oder ein Angreifer, der diesen Mann niedergeschlagen hatte, könnte auftauchen. Simon blieb regungslos, dabei jedoch sprungbereit wie eine Katze. Er hatte gelernt, sich in gefährlichen Situationen zuallererst defensiv zu verhalten, Ruhe zu bewahren und sich einen Überblick zu verschaffen. Noch traute er der Situation nicht, aber hier brauchte jemand Hilfe, das war klar.

Er sah genauer hin. Der Mann war tief in das Bootsheck hineingerutscht, lag dort in sich zusammengesunken, wie tot. Konnte das einer der Zanettis sein? Das Gesicht war nicht zu erkennen. Vielleicht war er ohnmächtig. Die Yacht war hier an Deck nicht besonders groß, mit einem schnellen Schritt war Simon bei dem Mann. Nun sah er auch, dass die Pinne an dessen Knie hängen geblieben war. Das war der Grund, warum das Boot Kurs gehalten hatte, bis es fast mit der Azalea zusammengestoßen war.

Simons Herz schlug wieder langsamer. Er kannte das. Wenn es wirklich brenzlig wurde, überkam ihn eine eigenartige Ruhe. Jetzt sah er auch die klaffende Wunde seitlich am Kopf, aus der das Blut geflossen war. Auch am Baum und am Segel gab es Blutspuren.

War das ein Segelunfall? Womöglich war der Baum gegen den Kopf des Mannes geschlagen. So konnte es gewesen sein, dachte Simon. Wenn es viel Wind gab, man eine Halse fuhr und den Baum nicht unter Kontrolle hatte, konnte das durchaus passieren. Auch ein Freund von Simon war auf diese Weise bei einem Sturm auf dem Chiemsee umgekommen.

Innerhalb von Sekunden registrierten Simons scharfe, adrenalingetränkte Sinne jetzt jedes Detail. Der Mann im Heck war braun gebrannt und athletisch, sein Outfit sportlich und teuer, das Logo der Edelmarke unter dem Blut auf seinem Hemd noch zu erkennen. Um die dreißig Jahre mochte er alt sein, schätzte Simon, während er neben ihm in die Hocke ging. Das alles passte auf die beiden Zanetti-Söhne. Er legte vorsichtig zwei Finger an den Hals des Mannes und suchte seinen Puls. Nichts. Dann hob er dessen Kopf an und sah ihm ins Gesicht. Es war Marco. Marco Zanetti. Seine Augen standen weit offen. Er war tot. Simon hatte in seinem Reporterleben schon viele Leichen gesehen, und sein Blick dafür war untrüglich. Ohne lange zu zögern, griff er zu seinem Handy und alarmierte die Carabinieri.

 

Es dauerte nur wenige Minuten, bis sich das Schnellboot der Polizei in hohem Tempo von Norden her näherte, aber Simon kam es vor wie eine Ewigkeit. Noch nie hatte er eine so lange Zeit auf so engem Raum mit einer Leiche verbracht. Noch dazu mit einem Toten, den er kannte. Nicht sehr gut, jedoch so gut, dass ihn sein Tod sehr berührte. Beim Warten schweifte sein Blick auf der Yacht umher. Sie war in perfektem Zustand, alles penibel aufgeräumt. An der seitlichen Bordwand war eine rote Segeltasche fixiert, eine von diesen praktischen knallbunten und wasserfesten, die auch Simon benutzte. Sie stand offen, und eine schlanke, elegante Thermoskanne lugte heraus, ohne Zweifel eines der edlen Zanetti-Produkte. Darunter, nicht weit von der Leiche entfernt, lag eine Sonnenbrille, auch ein teuer aussehendes Modell mit breiten Bügeln, in die mit Gold die Initialen M.Z. eingraviert waren. Sie musste Marco von der Nase gerutscht sein, als ihn der Baum getroffen hatte oder was immer auf diesem Boot passiert war.

Simon überlegte, wann er dem jungen Mann aus der Fabrikantenfamilie zuletzt begegnet war. Sie liefen sich einige Male im Segelclub von Omegna über den Weg, und Marco war ihm sympathisch gewesen. Er war ein Star im Club, hatte in den letzten Jahren fast alle wichtigen Regatten gewonnen. Auch Simon segelte gelegentlich mit seinem Freund Tommaso bei kleinen Regatten des Clubs mit, immer ohne den Hauch einer Siegeschance. Nach einer der Wettfahrten, die Marco wie stets gewann, hatte Simon mit ihm ein Bier in der Bar des Clubs getrunken, sie hatten ein paar Worte miteinander gewechselt, wahrscheinlich war es ums Segeln und um ihre Boote gegangen, aber näher gekommen waren sie sich nicht.

 

Das Polizeiboot war nun nicht mehr weit entfernt. Die Carabinieri waren zu dritt an Deck, trotz der Hitze alle drei sehr korrekt und schnittig in Uniform und mit Sonnenbrille auf der Nase. Erst knapp vor dem Segelboot nahm der Polizist, der das Boot steuerte, das Gas zurück; mit einer eleganten Kurve und mächtiger Heckwelle näherten sie sich der Dynamic und legten mit tuckerndem Motor auf Simons Seite an.

»Sie haben uns gerufen?«

»Ja, hier im Boot liegt ein toter Mann. Ich kenne ihn, und Sie werden ihn sicher auch kennen. Es ist Marco Zanetti.«

»Ist das Ihr Kajak? Kommen Sie bitte rüber auf unser Boot.«

Es war eine freundliche, aber bestimmte Aufforderung an ihn, den potentiellen Tatort zu verlassen. Wahrscheinlich wollten die Carabinieri ihn schnell loswerden. Das kannte Simon, und er würde sich dem nicht widersetzen. Aber er würde Mittel und Wege finden, trotzdem an der Sache dranzubleiben, dachte er. Wie immer.

Simon wechselte behände über die Reling auf das Polizeiboot und wurde dort von einem Carabiniere mit einer strengen Geste empfangen, fast so, als würde er in Gewahrsam genommen. Womöglich verdächtigten sie ihn, kam ihm jetzt in den Sinn. Dann würden sie ihn wohl doch nicht so schnell loswerden wollen.

Einer der Polizisten hatte inzwischen seine Uniformjacke ausgezogen, ging an Bord der Yacht, verschaffte sich einen Überblick, ließ dann schnell und routiniert die Segel herunter.

»Es stimmt, der Mann ist tot. Es ist Marco Zanetti«, rief er seinen Kollegen zu. »Wir nehmen das Schiff ins Schlepptau.«

Der Carabiniere am Steuer des Polizeibootes warf dem Mann auf der Yacht ein Tau zu, das der sofort fachmännisch am Bug des Segelschiffs befestigte. Dann sprang er mit einem sportlichen Satz zurück auf das Polizeiboot.

»Ihr Kajak schleppen wir mit ab«, wandte er sich an Simon. »Sie kommen mit uns aufs Revier.«

3

Simon wartete jetzt schon eine Stunde auf dem Revier von Omegna. Er hatte Hunger und er war erschöpft. Sein Hemd war verschwitzt, seine Sneaker waren noch immer voller Blut. Nur seine Hände hatte er in einem schäbigen kleinen Badezimmer waschen können. Die Carabinieri ließen sich Zeit. Was wollten sie von ihm? Sollte das eine Zeugenbefragung werden, oder verdächtigten sie ihn, mit dem Tod von Marco Zanetti etwas zu tun haben? Simon starrte entnervt an die Wand des Wartezimmers.

Das Augustblatt des Polizeikalenders, der dort hing, zeigte eine tief dekolletierte Gina Lollobrigida und einen lächelnden Vittorio de Sica in Polizeiuniform. Auf diese Kalender war Simon zum ersten Mal vor vielen Jahren in Süditalien gestoßen, als jemand sein Auto aufgebrochen und er das angezeigt hatte. Damals hatte er eine Ewigkeit in einem augustheißen Wartezimmer auf dem Revier gesessen, bis endlich ein junger Polizist seinen Fall, mit einem Finger in eine altertümliche Schreibmaschine tippend, aufnahm. Auch an der Wand dieses Reviers hatte so ein Kalender gehangen. Der war damals allerdings sehr viel martialischer gewesen. Offenbar hatte sich da etwas verändert, und es war ein schöner Gedanke, fand Simon, dass heutzutage auch die Polizei Augen für die Schönheiten des Kinos hatte.

Endlich ging die Tür zum Wartezimmer auf, und der Carabiniere, der das Polizeiboot gelenkt hatte, rief Simon zu sich. Nachdem sie in Omegna angekommen waren, war er alleine mit ihm den kurzen Weg hoch zu dem hinter dem Marktplatz gelegenen Revier gegangen, während seine Kollegen im Hafen bei der Dynamic geblieben waren. Auf der Fahrt mit der Yacht im Schlepptau hatten die jungen Männer nicht mehr mit ihm gesprochen, und unterwegs mit dem Carabiniere zum Revier schien es Simon, als ob nicht viel dazu fehlte, dass er ihm Handschellen anlegte.

Jetzt nahm er seine Personalien auf, nicht umständlich wie damals in Süditalien, sondern schnell und routiniert. »Ihr Vorname, Signor Strasser, ist Simon oder Simone?«

»Simon.« Zu weiteren Erläuterungen sah er gegenüber diesem Carabiniere keinen Anlass. Seine Eltern hatten ihn Simon getauft, aber seine italienische Mutter hatte ihn immer Simone gerufen, was ihm als kleiner Junge peinlich gewesen war, weil der italienische Männername ihn in Deutschland zu einem Mädchen machte und er deshalb den Spott seiner Altersgenossen hatte ertragen müssen. Das saß tief, und bis heute legte er daher Wert darauf, Simon genannt zu werden, auch wenn er nun in Italien lebte.

»Und Sie haben also die deutsche und die italienische Staatsangehörigkeit?«, fragte der Carabiniere in einem Ton, als ob allein schon diese Tatsache etwas Anrüchiges hatte.

»Ja, meine Mutter war Italienerin, mein Vater Deutscher. Ich bin aber in Frankfurt aufgewachsen.« Wie immer, wenn seine halbitalienische Herkunft zum Thema wurde, meinte Simon, sich sofort für sein nicht ganz perfektes Italienisch entschuldigen zu müssen. Er war nicht zweisprachig aufgewachsen, hatte sich erst spät auf seine italienischen Wurzeln besonnen und die Sprache dann als Erwachsener gelernt. Seine Mutter, die sich das Deutsche erstaunlich schnell angeeignet hatte, hatte zwar aus Simon Simone gemacht, aber sonst fast nie mit ihm und seinem Bruder Italienisch gesprochen, außer wenn sie wütend war oder ihnen Kinderlieder vorsang. Simon warf ihr das später vor, obwohl er wusste, dass das ignorant war. Ihr Versäumnis war dem angestrengten Bemühen geschuldet, sich in ihrer neuen deutschen Heimat kulturell vollkommen einzufügen, und wenn ihr selbst das schon nicht wirklich gelang, wollte sie zumindest ihren Söhnen diese Chance geben.

Es war Anfang der sechziger Jahre gewesen, Wirtschaftswunderzeit, als seine Eltern sich begegnet waren. In Rimini. Ausgerechnet, sagte Simon immer, wenn es um dieses Ereignis ging. Seinen Vater hatte das Südweh über die Alpen getrieben, auf einem alten Motorrad, mit dem er gerade so über den Brennerpass und bis an die Adria gekommen war. Tatsächlich fand er im Sehnsuchtsort der Deutschen die erträumte Francesca, und sie war ihm nach Frankfurt gefolgt. Es gab ein Foto seiner Eltern am Strand von Rimini, das Simon in einer Schublade in seinem Haus in Ronco aufbewahrte. Seine schöne Mutter im quietschgelben Strandkleid, braun gebrannt, sein damals schon etwas dicklicher Vater in kurzen Hosen und mit Strohhut, natürlich ein gelato in der Hand, beide strahlend. Viel war von diesem Glück in Germania nicht geblieben, seine Mutter fühlte sich dort nie ganz heimisch. Sein Vater hatte es im Nachkriegsdeutschland zu etwas gebracht. Zwei Söhne hatten Simons Eltern in die Welt gesetzt, aber es schwer miteinander gehabt, und beide waren früh gestorben. Hinterlassen hatten sie ihnen ein stattliches Erbe, Simon aber vor allem die alte Sehnsucht nach Italien und die ewige Zerrissenheit.

Der Carabiniere sah von seinem Computer auf und blickte ihn an. Undurchdringlich, hätte Simon gesagt, wenn ihm diese Beschreibung nicht so abgegriffen vorgekommen wäre. »Sie waren also mit Marco Zanetti zusammen auf dem Boot?«

»Nein, natürlich nicht. Er war alleine. Ich habe das Boot von meiner Terrasse in Ronco aus beobachtet und bin dann mit meinem Kajak dahin gepaddelt, um zu sehen, was da los ist. Die Yacht ist ja vorher fast mit der Azalea zusammengestoßen. Sie sollten den Kapitän dazu befragen.«

»Wir entscheiden selbst, wen wir befragen, dazu brauchen wir Ihre Ratschläge nicht, Signor Strasser. Sie behaupten also, Sie haben das Segelboot von Ihrem Haus aus beobachtet, sind dann dorthin gefahren, haben den toten Zanetti an Bord entdeckt und uns dann alarmiert? Sie haben viel Blut an Ihren Schuhen. Kann es nicht doch sein, dass Sie mit ihm auf dem Boot waren und dass Sie mit ihm gestritten haben? Dabei ist es dann zu Handgreiflichkeiten gekommen, und Sie haben ihm einen tödlichen Schlag versetzt.«

»Nein.« Auch Simons Ton war nun scharf. »Wie ich Ihnen bereits gesagt habe: Ich habe Marco Zanetti tot auf seiner Yacht gefunden. Sie haben ja mit eigenen Augen gesehen, dass ich mit meinem Kajak da war. Ich weiß natürlich nicht, was auf dem Boot passiert ist. Vielleicht war es einfach nur ein Segelunfall, der Baum hat ihn am Kopf erwischt …«

»Sie müssen uns nicht auf die Sprünge helfen, Signor Strasser. Wir finden schon selbst heraus, was auf dem Boot passiert ist.«

In diesem Moment ging die Tür auf, und Maresciallo Carla Moretti kam herein.

»Buongiorno, Simone.« Die Polizistin ging schwungvoll auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. »Tutto a posto?«

Simon war sofort aufgestanden und Carla, die auch in ihrer eng geschnittenen dunklen Uniformhose und in hellblauem Polizeihemd bella figura machte, entgegengegangen. Der Carabiniere, der das Protokoll aufnahm, blickte von seinem Schreibtisch aus erstaunt zwischen seiner Vorgesetzten und Simon hin und her.

»Ich habe schon gehört«, sagte Carla Moretti lächelnd mit ihrer sehr tiefen Stimme. »Sie waren mal wieder vor uns am Tatort. Immer mit der Spürnase vorneweg. Sie haben sich also kein bisschen verändert.«

Simon und Carla waren alte Bekannte. Sie hatten sich vor zwei Jahren kennengelernt, als Simon sich mehr oder weniger zufällig in den Fall eines ertrunkenen Arztes hatte verwickeln lassen, ein Unglück, das sich als Mord entpuppte und an dessen Aufklärung er mitgewirkt hatte.

Carla Moretti war noch schmaler geworden, seit Simon sie zum letzten Mal gesehen hatte. Sie war vielleicht Mitte dreißig, schätzte er, hatte tiefschwarzes, sehr kurzes Haar, eine Stupsnase, grüne Augen und eine außergewöhnlich hohe Stirn, die sie nicht unbedingt schöner, ihr Gesicht aber erst wirklich interessant machte. Früher hätte man eine Frau wie sie apart genannt, dachte er. Sie gehörte zu den Italienern, die ihn stets mit »Simone« ansprachen, ob bewusst oder aus Unwissenheit, wusste er nicht, aber bei ihr gefiel ihm das, er las es als Zeichen der Akzeptanz und Vertrautheit.

»Hat Franco Sie auf frischer Tat ertappt, Simone?«, fragte Carla sichtlich amüsiert. Sie schien ihre Leute gut zu kennen. Dann wandte sie sich an den Carabiniere, der sich jetzt förmlich hinter seinem Computer zu verstecken schien. »Senta Franco, Signor Strasser ist Journalist, er war früher Polizeireporter bei einer großen deutschen Zeitung, eine echte Spürnase. Eigentlich müssten Sie sich an ihn erinnern. Er hat uns schon vor zwei Jahren bei der Aufklärung eines Falls auf die Sprünge geholfen, als es um diesen Arzt ging, der in Pettenasco ermordet worden ist.«

Auf die Sprünge geholfen – Simon freute sich insgeheim, dass Carla Moretti die gleiche Redensart wählte, die der Carabiniere zuvor benutzt hatte, um ihn in die Schranken zu weisen.

Die Polizistin nahm eine Notiz aus ihrer Hosentasche und wurde ernst. So kannte Simon sie, als eine Frau, die stets ohne Umschweife zur Sache kam. »Sie waren also Zeuge dieses Vorfalls auf dem See, Simone, und haben Marco Zanetti auf seiner Yacht gefunden. Der Kollege hier hat Sie ja sicher schon dazu befragt. Ist Ihnen denn etwas auf dem Boot aufgefallen, bevor Sie uns gerufen haben?«

»Ihr Kollege war mehr damit beschäftigt, mich als Mörder zu überführen.« Simon warf Franco nun ebenfalls ein Lächeln zu. »Aber um Ihre Frage zu beantworten: Nein, mir ist nichts aufgefallen. Ich war auf meiner Terrasse in Ronco und habe das Ganze erst mal von da aus beobachtet. Das sah aus wie eine Geisterfahrt. Ich wollte wissen, was da los ist, bin mit dem Kajak zur Yacht gepaddelt und habe Marco tot aufgefunden. Da ist mir allerdings auch nichts aufgefallen. Jedenfalls nichts, was Sie und Ihre Leute und die Spurensicherung nicht auch sehen werden.«

»Dann lassen wir die Spurensicherung erst mal ihre Arbeit machen«, sagte Carla. »Ich werde jetzt der Familie die traurige Nachricht überbringen. Und Sie, Simone, fahren nach Hause. Ich glaube, auch der Carabiniere ist damit einverstanden.« Carla schenkte dem Kollegen hinter dem Computer noch ein ironisches Lächeln, dann wandte sie sich erneut an Simon: »Ich melde mich morgen wieder bei Ihnen, Simone. Vielleicht fällt Ihnen ja doch noch etwas ein, was Sie bemerkt haben. Wie kommen Sie denn zurück nach Ronco?«

»Das Kajak des Signore liegt unten am Hafen«, kam ihm Franco zuvor. »Ich kann ihn ja mit dem Streifenwagen dorthin bringen.«

Das soll wohl eine Entschuldigung sein, dachte Simon. »Danke, nein, ich finde den Weg schon alleine.«

 

Die Zanetti-Yacht war am Hafen nicht mehr zu sehen, wahrscheinlich war sie von der Spurensicherung weggebracht worden. Aber Simons Kajak lag ruhig im Wasser, dort, wo es die Carabinieri vor rund zwei Stunden an der Hafenmauer festgebunden hatten. Er machte das Boot los. Gut sieben Kilometer waren es bis Ronco, und eigentlich hatte er keine Lust auf diese lange Fahrt, hungrig und erschöpft, wie er war.

Missgestimmt paddelte er los, aber dann tat es ihm doch gut, stimmte ihn gelassener und entspannter. Er fuhr direkt am Ufer entlang, zunächst noch mit unregelmäßigen Schlägen, dann wurde sein Takt ruhiger und gleichmäßiger. Er mochte die Geräusche, das helle Glucksen, wenn er das Paddel eintauchte, das Rauschen des Kajaks im Wasser. Mit winzigen Bewegungen konnte er es lenken und genoss es, die Verbindung von Körper und Boot zu spüren.

In Ronco ließ er das Kajak auf den Strand gleiten. Es ging ihm jetzt besser, aber er musste dringend etwas essen. Auch wenn ihn der Tod von Marco berührte, war ihm der Leichenfund nicht auf den Magen geschlagen. Simon war nicht abgebrüht, aber er hatte seine Gefühle im Griff. Natürlich war es etwas anderes, wenn man am Tatort auf einen Toten traf, den man kannte. War es denn überhaupt ein Tatort? Was war da passiert? Es hatte doch alles nach einem Segelunfall ausgesehen. Aber Simons Instinkt sagte ihm, dass irgendetwas nicht stimmte.

Er würde sich nun erst mal seiner Pasta widmen. Der Gedanke an das Geschehen auf dem See ließ ihn allerdings für den Rest des Tages nicht los.

4

Am nächsten Morgen wachte Simon schon um sechs Uhr auf. Die Stunden im ersten Tageslicht waren in diesem heißen August die schönsten. Das Dorf schlief noch, und die über den Hügeln der anderen Seeseite aufgehende Sonne überzog Ronco mit einem rosafarbenen Schimmer. Ein leichter Windzug ging über den See und bewegte ihn sanft; die Wellenkämme blinkten silbern. Simon war schon im Wasser gewesen und saß nun fast ein wenig fröstelnd auf der Terrasse in der noch angenehm kühlen Morgenluft.

Er sah auf den See hinaus und dachte an Marco Zanetti. Sein Tod ließ ihn nicht los. Schon als er aufgewacht war, waren ihm die Szenen vom Vortag wieder vor Augen gekommen, die führungslose Yacht, der blutüberströmte Tote im Heck. Was war da passiert? Er würde versuchen, im Lauf des Tages mehr zu erfahren. Bestimmt würde auch Carla Moretti sich melden und ihm mehr über das Geschehen auf dem See berichten. Jedenfalls würde er nichts überstürzen, auch wenn sein Wissensdrang noch so groß war.

Gelassenheit war schon immer sein größter Trumpf gewesen. Natürlich war in seinem alten Job als Polizeireporter Geschwindigkeit ein wichtiger Faktor, es war entscheidend gewesen, wer von den Kollegen die Nase vorn hatte, als Erster am Tatort war, zuerst an eine entscheidende Information herankam. Auch Simon war immer schnell gewesen, und wenn er einmal eine Fährte aufgenommen hatte, war er davon nicht mehr abzubringen. Aber er hatte gelernt, Ruhe zu bewahren und geduldig zu sein, und er wusste, dass er damit letztlich am ehesten an sein Ziel kam.

Im Dorf war es noch ganz still; auch die Hornissen schienen noch nicht zur Arbeit angetreten zu sein. Das war ein Gedanke wider besseres Wissen, denn Simon, der sich gefragt hatte, wie er das Nest über seiner Terrasse loswerden könnte, hatte sich vor einiger Zeit im Internet über diese Insekten kundig gemacht. Hornissen schliefen nicht, nur manchmal verharrte auf einmal der gesamte Schwarm für kurze Zeit unbewegt. Vielleicht war das gerade der Fall. Es waren eigentlich friedliche Tiere, hatte er bei seiner Recherche gelernt, die einem nichts taten, wenn man ihre Kreise nicht störte.

Dennoch hatten die meisten Leute im Dorf Angst vor den calabroni, genauso wie vor den harmlosen Schlangen, die an manchen Tagen im See unterwegs waren, aussahen wie große Regenwürmer und ihre kleinen Köpfe aus dem Wasser reckten wie Brustschwimmer. Simon belächelte die Furchtsamkeit seiner Nachbarn etwas, aber er musste zugeben, dass die schiere Größe der Hornissen einen tatsächlich erschrecken konnte, und als er das Insekt in seinem Arbeitszimmer tottrat, hatte er das gewissermaßen im Affekt getan. Er nippte an seinem Cappuccino und biss in eine Brioche vom Vortag. Anders als Wespen hatten Hornissen keinen Appetit auf Marmelade und Schinken und ließen ihn in Ruhe frühstücken.

Nicola schlief noch oben in ihrem Zimmer. Über lange Zeit war die junge Frau nicht Teil seines Lebens gewesen, aber dennoch war sie wie eine Tochter für ihn, und umgekehrt war auch er ein Vater für sie. Einen anderen hatte sie nicht, denn ihr leiblicher schlich sich schon vor ihrer Geburt aus ihrem Leben. Simon hatte in ihren ersten Lebensjahren dessen Stelle eingenommen, bis Nicolas Mutter, als er sich nach ein paar Jahren von ihr trennte, den bis dahin innigen Kontakt zwischen ihm und ihrer kleinen Tochter strikt unterband.

Dann tauchte Nicola im vorletzten Jahr überraschend bei ihm in Italien auf, kurz nach ihrem Abitur. Ganz selbstverständlich. Sie war ohnehin eine beherzte junge Frau, keine, die lange zögerte, und sie fing schnell Feuer für Italien. Das Land kam ihrem Temperament entgegen, sie lernte Italienisch mit großer Leichtigkeit, sprach es inzwischen fast perfekt und ganz ohne Akzent, und sie blieb schließlich dort. Es war eigenartig. Simon fand diese durch und durch deutsche junge Frau viel italienischer als sich selbst. Sie hatte begonnen, in Pavia Kunstgeschichte zu studieren, war dort in eine Wohngemeinschaft gezogen. Aber es war dann wohl einiges schiefgelaufen. Ihre in Köln lebende Freundin hatte sich von ihr getrennt, vielleicht weil die Entfernung zwischen ihnen zu groß war, und Nicola hatte ihr Studium in Pavia abgebrochen.

Nun lebte sie seit ein paar Monaten bei ihm. Wenn man das so nennen konnte. Hatte sie anfangs seine Nähe gesucht, ging sie seit einiger Zeit ganz in ihrer eigenen Welt auf, erzählte nicht mehr viel von sich und verkehrte in einer Szene von jungen Aussteigern, vor allem Deutsche und Schweizer, die sich in einem verlassenen Haus in einem Dorf auf der anderen Seeseite einquartiert hatten.

Tagsüber jobbte sie in einer Bar an der Piazza im wunderschönen Orta San Giulio, dem Touristenmagnet am See, und verdiente sich damit ihr eigenes Geld. Simon hatte ihr einen alten Fiat Panda geschenkt, mit dem sie immer unterwegs war. Gestern war sie spät mit ihrem Hund, einem jungen Terrier, den sie Buffon genannt hatte und der nie von ihrer Seite wich, nach Hause gekommen, begrüßte Simon nur kurz und war sofort in ihr Zimmer verschwunden.

Sie lebten nicht in Unfrieden miteinander, aber es war, als hätte sich eine Milchglasscheibe zwischen sie geschoben. Vor zwei Jahren, als sie ihn nach den vielen Jahren der Trennung zum ersten Mal in Ronco besucht hatte, war sie wie eine Naturgewalt in sein Leben zurückgekehrt. Fast ein wenig zu direkt, zu offenherzig und rückhaltlos hatte er sie zunächst gefunden. Dann hatte er sich an ihre unverstellte Art, an ihren burschikosen Schwung gewöhnt, ja, sie hatte begonnen ihm sehr zu gefallen, vielleicht gerade deshalb, weil er selbst so ganz anders war.

Als sie sich dann in den letzten Wochen immer mehr abgeschottet hatte, schmerzte das Simon, aber er zeigte es nicht und sprach sie erst recht nicht darauf an; das war nicht seine Art. Er war Journalist, aber wie viele Journalisten eher wortkarg, kein besonders kommunikativer Typ. Das war ähnlich wie bei Komikern, fand er. Die waren im wirklichen Leben oft auch nicht besonders lustig. Nicola würde schon wieder die Alte werden, sagte er sich, oder einen neuen Weg finden. Allerdings war er davon nicht mehr ganz so überzeugt, seit das Gefühl von Fremdheit zwischen ihnen nun schon seit einigen Wochen anhielt.

Die Rolle des Vaters, die Nicola ihm schon als Kind und bis heute selbstverständlich zuwies, war für ihn noch immer ungewohnt. Ob das anders gewesen wäre, wenn Nicola seine leibliche Tochter und in seinem Leben immer an seiner Seite gewesen wäre, hätte er, wenn er ehrlich war, nicht sagen können. Er liebte sie wie eine Tochter, und wenn sie »Papa« zu ihm sagte, was in letzter Zeit allerdings nur noch selten vorkam, gefiel ihm das. Aber er war ganz sicher kein väterlicher Typ. In jedem Fall nicht der Typ Vater, den die extrovertierte Nicola erwartet hatte, das spürte er. Natürlich idealisierte sie ihn in den Erinnerungen an ihre Kindheit. Und wahrscheinlich fand sie ihn heute zu ernst und zu abgeklärt. Zu deutsch. War er das? Natürlich war er deutsch, auch wenn seine Mutter Italienerin gewesen war und er jetzt in Italien lebte. Aber er war schließlich in Deutschland groß geworden, hatte dort fast sein ganzes Leben verbracht. Und ernst? Nüchtern, fand er, passte eher. Abgeklärt? In seinem Gefühlsleben war er das bestimmt nicht. Aber nach außen mochte er wohl so wirken.

Simon vertrieb den Gedanken an Nicola. Und auch den an Luisa im fernen Frankfurt. Im Moment hatte er nicht gerade Glück mit seinen Frauen. Das Selbstmitleid, das da gerade in ihm hochkam, musste er schnell loswerden. Er machte sich einen Espresso, setzte sich an den Computer und rief den Artikel auf, an dem er zurzeit arbeitete. Auch dabei ging es, wie der Zufall es wollte, um Zanetti. Es war eine Auftragsarbeit, ein Wirtschaftsporträt für den Schotter, und er war in Verzug. Als er an seinem Schreibtisch saß, die Unterlagen zur Jahresbilanz der Firma studierte, die ihm die Pressesprecherin von Zanetti bereitwillig überlassen hatte, konnte er sich nicht auf die Zahlen konzentrieren. Immer wieder gingen seine Gedanken zurück zu Marco Zanetti und der Frage, was auf dem See passiert war. Sein Handy war still geblieben. Carla Moretti hatte noch nichts von sich hören lassen.

Es hielt ihn nicht an seinem Schreibtisch. Er wollte zumindest erfahren, ob sich die Nachricht vom Tod des jungen Mannes schon herumgesprochen hatte und was man sich darüber erzählte. Dafür gab es keinen besseren Ort als Linos Bar im drei Kilometer entfernten Pella. Die war ohnehin Simons zweites Zuhause. Bei Lino trank er fast an jedem Vormittag seinen Cappuccino und las dazu die Frankfurter Nachrichten, das Blatt, für das er gut drei Jahrzehnte gearbeitet hatte.

Kam Simon in die Bar, lag es immer schon für ihn bereit, allerdings die Deutschlandausgabe; es fehlten die lokalen Seiten. Natürlich hätte er die Zeitung auch zu Hause auf seinem iPad lesen können, aktueller und mit den Nachrichten aus Frankfurt. Aber für ein bisschen Nostalgie musste in seinem digital hochgerüsteten Leben doch Platz sein, fand er, und genoss es, wenn er in der Bar saß und das Papier durchblätterte.

5

In wenigen Minuten war Simon mit seiner Vespa in Pella. Aber es war noch zu früh. Schon als er seinen Roller vor der Bar abstellte, sah er durch die Glastür, dass noch nichts los war. Es war Ferienzeit. Die umliegenden Fabriken machten in der Woche vor Ferragosto fast alle dicht. Der schnelle Espresso und die warme Brioche vor Arbeitsbeginn waren im Moment nicht gefragt.

Wie jeden Morgen hatte Lino einen Ständer mit den Aufmachern der Regionalnachrichten von Il Giorno vor die Tür gestellt: Die Brände infolge der anhaltenden Hitze weiteten sich aus; ein Motorradunfall auf der Seeuferstraße hatte ein Todesopfer gefordert. Die Nachricht vom Tod Marco Zanettis hatte die Presse offenbar noch nicht erreicht.

Simon betrat die Bar und wurde von Lino lauthals begrüßt. Seine Zeitung lag schon für ihn bereit, und auch der Fernseher lief wie immer. Simon hatte den Barchef im Verdacht, dass er ihn nie abschaltete. Lino hantierte an der Espressomaschine, und es dauerte nur ein paar Sekunden, bis er den Cappuccino mit Schwung vor ihn auf die Theke stellte. Simon war dort stehen geblieben, hatte wenig Lust verspürt, sich an einen der Tische in der verwaisten Bar zu setzen – wie bestellt und nicht abgeholt. Was für ein komischer Ausdruck das war. Ob es ein italienisches Pendant gab? Es fiel ihm keines ein.

Simons Repertoire an idiomatischen Redewendungen im Italienischen war durchaus groß, aber er vermied sie im Allgemeinen. Er fand, dass man sich damit lächerlich machte, wenn man kein Muttersprachler war und eine Sprache nicht vollkommen perfekt beherrschte. Sein Italienisch war zwar inzwischen sehr gut und fast akzentfrei, aber wenn er es sprach, kam er sich noch immer ein wenig vor wie ein Schauspieler.

»Tutto a posto, giornalista?«, fragte Lino.

»Sì, tutto a posto.«

Lino empfing ankommende Gäste gerne mit einem Wortschwall, bei Simon hielt er sich jedoch zurück. Obwohl sie sich schon seit Jahren kannten, fast jeden Tag sahen, flößte ihm der wortkarge Journalist, der aus der deutschen Metropole an den See gekommen war, wohl noch immer Respekt ein. Oder Lino findet mich einfach nur seltsam, dachte Simon. Er nahm seine Zeitung und vertiefte sich in den Sportteil.

Es dauerte keine fünf Minuten, bis drei Frauen in die Bar kamen. Eine von ihnen kannte Simon vom Sehen. Catarina, wie immer sehr elegant in einem hellen Leinenkleid, war Sekretärin in der Werft in Pella, wohin er häufig mit seinem Motorboot zum Tanken fuhr und die wie Linos Bar ein Umschlagplatz für Informationen am See war. Catarina winkte Simon freundlich zu und bestellte Cappuccino für sich und ihre Begleiterinnen.

Die beiden Frauen, mit denen sie gekommen war, beide von etwas fülligerer Statur, in engen Jeans, die eine platinblond und kurzhaarig, die andere dunkel und sehr braun gebrannt, steuerten schon laut miteinander palavernd einen der Plastiktische am Fenster an. Catarina kam dazu, ein Tablett mit den Cappuccino-Tassen vor sich, setzte es vorsichtig ab, sagte etwas, und alle drei lachten. Simon verstand nicht, worum es ging, der Tisch der Frauen war zu weit weg, aber der tote Segler war sicher nicht das Thema. Nach einer Weile wurde das Gespräch der Frauen leiser und ernster, und Simon schnappte den Namen Marco Zanetti auf. Er spitzte die Ohren.

Auch Lino hatte offenbar nur auf das Stichwort gewartet, um an den Tisch der drei Frauen zu eilen und sich endlich einzumischen. »Marco Zanetti ist tot, oder? Beim Segeln verunglückt, habe ich gehört. In der Zeitung steht aber heute noch nichts. Wisst ihr denn Genaueres?«

»Nein, keine Ahnung.« Das war Catarina. »Die Carabinieri waren gestern am Abend noch bei uns in der Werft und wollten wissen, ob wir etwas mitbekommen haben, Marco oder sein Boot gesehen haben. Er ist wohl von hier in Richtung Omegna gesegelt. Jedenfalls ist sein Boot auf der Strecke fast mit der Azalea zusammengestoßen. Die ist im letzten Moment noch ausgewichen. Die Carabinieri sind dann mit dem Schnellboot hin und haben Marco gefunden. Tot. Mehr weiß ich nicht. Die Carabinieri wollten nicht sagen, was passiert ist. Es sah ganz so aus, als ob sie es selbst nicht wüssten.«

»Wie alt war der denn eigentlich?«, fragte die Braungebrannte.

»Keine Ahnung, vielleicht um die dreißig. Ein attraktiver Kerl … Der hätte mir gefallen.« Das war jetzt die Platinblonde.

»Ich weiß nicht, ob der sich für dich interessiert hätte, bellissima«, sagte Lino grinsend. »Es gab da so Gerüchte …«

»Basta, hör auf.« Das kam schneidend von Catarina. »Deine Tratscherei kann einem wirklich auf die Nerven gehen.« Sie erhob sich und forderte ihre Begleiterinnen mit einem schnellen Blick ebenfalls zum Gehen auf. »Ich muss sowieso los. Wir haben alle Hände voll zu tun in der Werft. Im Moment ist es total voll am See, und alle wollen ein Boot ausleihen. Und dann auch noch der Cusio Cup an Ferragosto …«

»Stimmt, der Cusio Cup«, meldete sich Lino unbeirrt wieder zu Wort. »Da wäre der Marco doch mitgesegelt. Und bestimmt hätte er wieder gesiegt, er war ja ein super Segler. Vielleicht hat sich da ja jemand einen Konkurrenten vom Hals geschafft … Und wer weiß, ob das Ganze jetzt nicht abgesagt wird.«

»Glaube ich nicht«, fiel ihm Catarina wieder ins Wort, legte ein paar Euro auf die Theke und verließ die Bar, ihre Freundinnen im Schlepptau.

»Hai capito, giornalista? Marco Zanetti ist tot, ist verunglückt«, wandte sich Lino jetzt an Simon, nicht bereit, das Thema so schnell aufzugeben.

Simon stand noch an der Theke, hatte seine Zeitung weggelegt. Aber auch er hatte keine Lust mehr auf das Gerede von Lino. Ein wenig fühlte er sich allerdings durch Catarina ertappt. Neugierig zu sein und Gebrauch zu machen von Indiskretionen hatte nun mal immer zu seinem Reporterleben gehört. Ein solches Unbehagen an der eigenen Rolle war aber nie von Dauer, dafür war er schon zu lange Journalist.

»Sì, Lino, ho capito. Fa un caldo mortale«, beendete Simon kurzerhand das Gespräch. Mit dieser Bemerkung über die mörderische Hitze war ihm schließlich doch eine idiomatische Redewendung herausgerutscht.

Er bezahlte seinen Cappuccino und verließ die Bar. Fast wäre er auf dem Bürgersteig mit einem jüngeren Mann zusammengestoßen, der gerade einen der Tische draußen unter den Sonnenschirmen ansteuerte. Wallende schwarze Mähne, tief in den Nacken gekämmt, obenauf eine Schirmkappe, verspiegelte Sonnenbrille. Davide Longhi. Wie immer sehr gut und teuer gekleidet, was seine halbseidene Ausstrahlung nur unterstrich. Ihm und seinem älteren Bruder Claudio war Simon von ganzem Herzen abgeneigt. Davide war Anfang dreißig und managte die Tourismusorganisation der Region, während Claudio den Familienbetrieb übernommen hatte und einer der großen Wasserhahnproduzenten am See war. Er stellte Luxusarmaturen her, die er unangefochten von der Krise und der chinesischen Konkurrenz in Showrooms in New York und Paris ausstellte und die sich nach wie vor sehr gut verkauften.

Die fratelli Longhi gehörten zur hiesigen Prominenz, und sie verkörperten alles, was Simon an einem bestimmten Typus von italienischen Männern provozierte. Die Cleverness, die Vetternwirtschaft, den blendenden Charme. Er hätte nicht sagen können, wem der beiden Brüder er lieber aus dem Weg ging. Was wahrscheinlich auf Gegenseitigkeit beruhte. Simon hatte einmal auf einer Veranstaltung vehement das Wort gegen die Pläne Davides ergriffen, aus einer brachliegenden Fabrik am Seeufer ein Luxusresort zu machen, und er hatte sich damit viel Sympathie bei den Zuhörern und zugleich die Feindschaft des Managers eingehandelt. Aus dem Resort war bisher nichts geworden, und ein klein wenig war das wohl auch der am See vielbeachteten Brandrede Simons geschuldet.

»Ciao, tedesco. Come va?« Das war Davides Standardbegrüßung, wenn sie aufeinandertrafen. Was sich für einen Außenstehenden freundlich anhören mochte, aber nicht so gemeint war.

»Bene«, antwortete Simon, ging mit schnellen Schritten an Davide vorbei zu seinem Roller und fuhr nach Hause.

6

Der Himmel hatte sich zugezogen, und es war jetzt am späten Nachmittag drückend schwül. Dunkle Wolken ballten sich um den Mottarone, den fünfzehnhundert Meter hohen Hausberg, der Lago Maggiore und Lago d’Orta voneinander trennte. In den vergangenen Tagen hatte der Himmel oft scheinbar das Gewitter angekündigt, auf das alle warteten, aber dann verzogen sich die Wolken zum Abend hin wieder, ohne dass auch nur ein Tropfen Regen gefallen war. Die Kastanienwälder rund um den See hatten schon dürre, braune Blätter; ständig brachen Brände aus. Dann kam das Wasserflugzeug angeflogen, ähnlich dickleibig und brummend wie eine Hornisse, setzte auf dem See auf und schaufelte das Nass in seine Tanks. Wenn es dann wieder durchstartete, schien es einen Moment durch sein zusätzliches Gewicht vom Wasser festgehalten zu werden, bis es langsam und schwerfällig abhob und zum Löschen in die Ferne verschwand.

Simon hatte sich einen Eistee mit Zitrone zubereitet und arbeitete wieder an seinem Zanetti-Artikel. Dafür hatte er vor kurzem Filippo Zanetti, Marcos Bruder, interviewt. Er war der Ältere der beiden, und er war es auch, der mit seinem Vater in der Firma die Fäden in der Hand hielt. Filippo war bei ihrer Begegnung auskunftsfreudig und charmant gewesen, aber Simon hatte ihn nicht besonders sympathisch gefunden, fast zu entgegenkommend, sehr selbstsicher und zugleich kontrolliert war er gewesen. Ein aalglatter Manager, wäre Simon versucht gewesen ihn zu beschreiben, wäre da nicht, wie bei jedem guten Journalisten, die Klischeeschere in seinem Kopf gewesen. Und sympathisch musste Filippo Zanetti schließlich nicht sein, um seine Weltfirma auf Kurs zu halten, was ihm auch in Krisenzeiten bisher gut gelungen war.

Eine Nachbarin, die bei Zanetti in der Designabteilung arbeitete, diente Simon als weitere Informationsquelle. Die schöne Anna war vor zwei Jahren nach Ronco gezogen und lebte dort allein mit ihrer Hündin Emma, die das Wasser liebte wie ein Fisch. Mit ihren vielleicht fünfunddreißig Jahren, wie Simon schätzte, senkte Anna den Altersdurchschnitt im Dorf erheblich. Auch wenn sie zurückhaltend mit ihrem Wissen umging, hatte er von ihr erfahren, dass man immer schon den jüngeren Bruder aus den Weichenstellungen in der Firma herausgehalten hatte. Marco Zanetti hatte das zunächst akzeptiert, vor einiger Zeit jedoch einen Versuch unternommen, gegen die Geringschätzung durch seine Familie anzugehen. Er hatte eine neue Produktlinie vorgeschlagen und war damit gescheitert.

Zanetti verdankte seinen Erfolg dem klassischen, durch das Bauhaus inspirierten Design, und dieser Linie wollten Vater und Bruder auch und gerade in Krisenzeiten treu bleiben, während Marco ein fast schriller Stil vorschwebte, für dessen Gestaltung er mit sehr jungen Designern, die er in Mailand kennengelernt hatte, zusammenarbeiten wollte. Er wurde von der Familie rigoros gebremst, und Anna ließ durchblicken, dass dabei nicht nur geschäftliche Motive eine Rolle gespielt hatten.

Marco war ein bunter Hund gewesen, lebenslustig, gut aussehend und genussfreudig. Simon hatte ihn ziemlich redselig in Erinnerung, und dass er manchmal etwas zu dick auftrug. Aber er wirkte gleichzeitig verletzlich und war ein netter Kerl, fand Anna. Was allerdings auch bei ihr ein wenig abschätzig klang.

Der zwei Jahre ältere Bruder hingegen verkörperte ganz die dezente Eleganz der italienischen Bourgeoisie, mit schmalen Manschetten an zart gestreiften Maßhemden, bläulichen Krawatten und nie einem Glas Wein zu viel. Filippo hatte an der Elite-Hochschule für Italiens Wirtschaftsnachwuchs, der Bocconi-Universität in Mailand, studiert, während Marco, der das Abitur nur mit Mühe geschafft hatte, direkt in den Familienbetrieb eingestiegen war und mit wenig verantwortungsvollen Aufgaben in der Marketingabteilung betraut wurde.

Ob er sich womöglich etwas angetan hatte? Aus Verzweiflung über seinen Misserfolg in der Firma? Sich mit Absicht in den Tod gesteuert hatte? Also selbst dafür gesorgt hatte, dass der Baum ihn erschlug? Das wäre gar nicht so einfach gewesen, einem exzellenten Segler wie ihm jedoch zuzutrauen. Simon konnte sich das allerdings nicht vorstellen. Dafür war ihm Marco zu lebenslustig vorgekommen. Aber natürlich lag man schnell falsch mit solchen Einschätzungen.

Mitten hinein in diese Gedanken klingelte Simons Handy. Er schaute auf das Display; einen Moment hatte er gehofft, es könnte Luisa sein. Aber es war der Anruf, auf den er gewartet hatte, und der war ihm jetzt fast noch willkommener: Carla Moretti.

»Buongiorno, Simone. Wie geht es Ihnen heute? Tutto a posto? Haben Sie Ihre Verhaftung gut überstanden?«

»Sì, sì, Carla. Tutto a posto. Ihre Kollegen gehen ja mit Mördern wie mir sehr anständig um. Aber im Ernst, wissen Sie inzwischen, was mit Marco Zanetti passiert ist?«

»Nein, es ist immer noch unklar. Fest steht, dass er an einer Kopfverletzung gestorben ist, einem Schädelbasisbruch. Wahrscheinlich wurde er tatsächlich vom Baum tödlich am Kopf erwischt. Sie sind ja selbst Segler und wissen, wie schnell das passieren kann. Der Baum könnte beim Halsen unkontrolliert von einer Seite auf die andere geschlagen sein. Wenn man dann den Kopf nicht rechtzeitig ein zieht …«

»Ich habe das auch schon vermutet. Aber Marco war …«

Simon kam nicht dazu, seinen Einwand zu Ende zu bringen. Carla war schneller. »Ich weiß, was Sie sagen wollen. Dass das einem so hervorragenden Segler passiert, ist tatsächlich ungewöhnlich. Ich habe ja auch ein Boot und weiß, wovon ich rede.«

Das war Simon neu, und er hätte gerne gewusst, was für ein Boot sie segelte. Sie wirkte robust und sehr sportlich, wahrscheinlich war sie Jollenseglerin wie er. Aber das war nicht der Moment, sie danach zu fragen.

Carla fuhr auch schon fort: »Und es gibt da noch ein paar eigenartige Dinge, denen ich nachgehen will. Die Sache ist die: Zanetti ist am Morgen mit dem Boot in Omegna gestartet. Allein. Das war gegen zehn Uhr. Da haben ihn ein paar Ruderer gesehen. Komischerweise gibt es jedoch einen Zeugen, einen Angler, der das Segelboot gegen halb zwölf gesehen hat, und sich ziemlich sicher ist, dass da noch eine zweite Person an Bord war. Aber er war zu weit weg, um Genaueres erkennen zu können.«

»Was sagt denn die Spurensicherung?«

»Die sagen, dass alles für einen Unfall spricht. Die Spuren am Baum, die Kopfverletzung. Darauf festlegen wollen sie sich allerdings nicht. Eben aus dem Grund, dass es möglich ist, dass da ein zweiter Mann auf dem Boot war und dass man bei so einer Verletzung auch andere Umstände nicht ausschließen kann – sie können die Wunde schlicht nicht hundertprozentig auf einen bestimmten Gegenstand zurückführen. Die Spuren im Boot sind nicht eindeutig.«

»Was meinen Sie mit ›nicht eindeutig‹?«

»Na ja, das Blut am Baum war merkwürdig verwischt, das könnte auch jemand nach Zanettis Tod dort aufgetragen haben, um es wie einen Unfall aussehen zu lassen.«

»Interessant.«

»In der Tat. Wann hat man es hier in der Gegend schon mal mit einem Mörder zu tun, und dann gleich noch mit einem so raffinierten?«

Simon musste über ihren trockenen Humor schmunzeln. »Und was ist sonst noch eigenartig?«

»Ich kann doch auf Ihre Verschwiegenheit zählen?«

»Ja, sicher.«

»Wir haben etwas Kokain im Boot gefunden. Und ein Notizbuch, das Zanetti gehört hat. Und was das angeht, habe ich eine Frage an Sie. Sie könnten mich nämlich morgen auf eine kleine Erkundung begleiten. Das ist vielleicht nicht ganz vorschriftsgemäß, aber ich könnte Sie gut gebrauchen. Sie sind mir ja schon einmal sehr nützlich gewesen. Wenn Sie also einverstanden wären …«

Natürlich war Simon einverstanden. Sehr einverstanden. »Ja, gerne, worum geht es denn?«

»In dem Notizbuch sind ein paar Kontakte notiert, darunter auch welche zu den jungen Leuten, die in den Hügeln auf der Ostseite des Sees, bei Coiromonte, in einem verlassenen Haus leben. Hauptsächlich Deutsche und Schweizer, ein paar Italiener sind auch dabei. Kennen Sie das Dorf?«

»Ja, da bin ich schon gewesen. Ein schöner Fleck.« Simon überlegte, ob er noch etwas mehr dazu sagen sollte, schwieg dann aber.

»Ein komischer Haufen ist das, diese jungen Leute, die da leben. Eigentlich aber harmlos, denke ich. Marco Zanetti war anscheinend mit einem von denen am Abend vorher verabredet, jedenfalls hat er das in sein Notizbuch eingetragen. Morgen will ich dahin fahren, mir die Leute mal genauer ansehen. Da könnte ich Ihre Hilfe als Übersetzer und Ihren bewährten Instinkt gut gebrauchen.«

»Natürlich. Ich komme gerne mit. Wo wollen wir uns treffen?«

»Ich hole Sie in Ronco ab, ich bin morgen sowieso auf Ihrer Seeseite unterwegs, weil ich vorher noch in Omegna bei den Zanettis bin. Ist sechzehn Uhr in Ordnung? Sie kommen am besten schon nach oben auf den Parkplatz, dann können wir gleich starten.«

Simon legte sein Handy weg und atmete tief durch. Ob Carla Moretti ahnte, was für einen Gefallen sie ihm tat, indem sie ihn zu ihrer Erkundung einlud? Er war nun mit im Boot und würde aus erster Hand Informationen darüber erhalten, was mit Marco Zanetti passiert war.

Aber dass die Polizistin ihn in ihre Ermittlung einbezog, gefiel ihm auch aus anderen Gründen. Es gab ihm das Gefühl, dass er kein Fremder mehr war, dass er dazugehörte und in der Gemeinschaft etwas zählte. Er lebte nun schon seit fünf Jahren in Ronco und hatte viele Bekannte am See, sogar Freunde. Aber wirklich heimisch fühlte er sich nach wie vor nicht. Nicht nur für Davide Longhi, auch für die meisten Leute im Dorf war und blieb er il tedesco, der Deutsche, ein Zugewanderter. Ein extracomunitario. So nannten die Italiener die außereuropäischen Flüchtlinge, die nach unermesslichen Strapazen, oft als Schiffbrüchige, aus Afrika über die Inseln im tiefen Süden Italiens in den Norden gelangten. Simon lag es natürlich ganz und gar fern, seine Situation mit dem schweren Los dieser Flüchtlinge zu vergleichen. Und auch die Leute aus dem Dorf hätten Simon niemals als extracomunitario bezeichnet, denn er war ja Europäer, noch dazu ein halber Italiener. Aber im tieferen Wortsinn fühlte er sich bisweilen so: außerhalb der Gemeinschaft stehend.